Britannien: Boris Johnsons Brexit kündigt die verschärfte Senkung von Standards an

Stellungnahme des Politischen Komitees von Red Flag, 29.12.2020, Infomail 1032, 30. Dezember 2020

Was auch immer sich eine knappe Mehrheit der WählerInnenschaft vorstellte, als sie für den Austritt aus der Europäischen Union stimmte, die StrategInnen, die den Brexit planten, wussten genau, was sie wollten. Nigel Farages UKIP (Britische Unabhängigkeitspartei) und die European Research Group (Europäische Forschungsgruppe) mit Jacob Rees-Mogg glaubten wie ihre GesinnungsfreundInnen in den USA, dass der Kapitalismus wiederbelebt werden müsse, indem man sich von staatlich erzwungenen Regelungen und Verträgen befreit.

Rechtes und rassistisches Projekt

Dabei hatten sie die Unterstützung der unternehmerischeren Teile des britischen Kapitals, Leute wie James Dyson und J. C. Bamford, die ihre eigenen Firmen aufgebaut hatten, oft gegen bereits etablierte Konzerne. Außerdem wurden sie stark von Hedgefonds-ParasitInnen wie Crispin Odey finanziert. Aus unterschiedlichen Gründen teilte auch das kleinere Kapital, das enger mit der lokalen Wirtschaft verbunden ist, ihre Feindseligkeit gegenüber staatlicher Regulierung, insbesondere gegenüber ausländischer.

Wenn Deregulierung und Abbau von Schutzgesetzen die Strategie dieser kleinen und nicht repräsentativen Minderheit war, bestand ihre Taktik darin, die zweifellos vorhandene Unzufriedenheit vieler ArbeiterInnen auszunutzen und sie auf „Brüsseler BürokratInnen“ und ArbeitsmigrantInnen zu richten. Dabei profitierten sie von der Unterstützung der rechten MedienbaronInnen, die bereit waren, nach Strich und Faden zu lügen. So versprachen sie „350 Millionen Pfund pro Woche für das Nationale Gesundheitswesen“ durch den Brexit. Und sie griffen auf unverhohlenen Rassismus zurück. „80 Millionen TürkInnen könnten hierher kommen!“ titelte des Boulevard und fasste die Hetze in der zentralen Losung zusammen „Wir müssen die Kontrolle über unsere Grenzen zurückerobern“.

Unterstützt wurden sie auch, zugegebenermaßen in viel kleinerem Umfang, von den vermeintlich „linksextremen“ Organisationen: der Communist Party of Britain, der Socialist Workers Party und der Socialist Party, die die Illusion verbreiteten, dass der Brexit irgendwie den Weg zu einer linken Regierung öffnen könnte, die ein radikales Programm der Verstaatlichung und der Sozialreform einführen würde. Warum von einer kürzlich gewählten Tory-Regierung erwartet werden konnte, dass sie das tut, bleibt ein Rätsel.

Probleme

Der Sieg stellte die Brexiteers jedoch vor ein Problem: Obwohl sie die Unterstützung des größten Teils der Mitgliedschaft der regierenden Tory-Partei hatten, waren sie in deren Führung nicht gut vertreten, deren Verbindungen eher zu den alteingesessenen Teilen des Großkapitals mit ihren engen Beziehungen zum Staatsapparat sowohl des Vereinigten Königreichs als auch der EU bestanden.

Die konservative ehemalige Premierministerin Theresa May, zuvor eine überzeugte Anhängerin eines Verbleibs in der EU, ging als Kompromissvorsitzende hervor. Sie war bereit, den Brexit zu akzeptieren, aber entschlossen, alles zu tun, um enge Verbindungen zu Brüssel aufrechtzuerhalten – eine Position, die später als „Brexit nur dem Namen nach“ verspottet wurde.

May hatte Glück, dass sie das Debakel ihrer eilig einberufenen Parlamentswahlen 2017 überlebte. Ihr knapper Sieg wurde durch die Aktionen des rechten Flügels der Labour-Partei errungen, von dem wir heute wissen, dass er absichtlich jede Möglichkeit sabotieren wollte, dass Jeremy Corbyn Premierminister wird. Mays eigener rechter Flügel jedoch, der ungeduldig auf die Vollendung der Loslösung von Brüssel wartete, während Trump noch im Amt war, machte ihre Position unhaltbar.

Mit Boris Johnson erhielten die Tories einen Vorsitzenden, der in gewisser Weise perfekt geeignet war. In der Öffentlichkeit war er voll des Getöses darüber, dass kein Abkommen besser sei als ein schlechtes Abkommen. In der Privatsphäre des Verhandlungsraums „brachte er den Brexit zustande“, indem er akzeptierte, dass Nordirland den EU-Zollbestimmungen unterworfen bleiben musste und es daher eine Grenze zwischen Großbritannien und ihm geben musste.

Johnsons Problem war, dass die klare Präferenz der Brexiteers für ein Verlassen der EU ohne Abkommen ein Rezept für eine wirtschaftliche Katastrophe war, insbesondere nach Trumps Niederlage. Die VertreterInnen des britischen Großkapitals haben ihm das zweifellos unmissverständlich klargemacht. Seine Lösung bestand darin, die Verhandlungen zu verschleppen, indem er öffentlich auf Bedingungen zu bestehen schien, die Brüssel unmöglich akzeptieren konnte, dieses Mal in Bezug auf Fischereirechte, und er so die Uhr bis zum letzten Moment herunterlaufen ließ. Dann hat er einfach ein Abkommen über die Fischerei abgeschlossen, das jederzeit im vergangenen Jahr hätte vereinbart werden können.

Frühe Zusammenfassungen des Freihandelsabkommens deuten darauf hin, dass es zwar keine Rolle mehr für den Europäischen Gerichtshof gibt, dass aber beide Seiten Zölle auf bestimmte Waren erheben können, wenn die andere Seite versucht, die Kosten zu unterbieten, indem sie z. B. Umweltschutzregeln oder Arbeitsrechte ändert.

Premierminister Johnson mag sich rühmen, dass er den Brexit „hinbekommen“ hat, aber die Realität ist, dass es ein ständiges Feilschen über die Details nicht nur des Handels, sondern auch der Produktion geben wird, zum Beispiel über die Verwendung von Komponenten aus dem Ausland in vermeintlich britischen Waren. Solche Reibereien werden zweifelsohne von der Daily Mail und dem Rest der Regenbogenpresse genutzt, um den Rassismus weiter zu schüren und „Europa“ für jeden Rückschlag verantwortlich zu machen.

Da eine beschleunigte „Deregulierung“ das Hauptziel der Brexiteers war, mag die Übereinkunft für sie wie ein Pyrrhussieg erscheinen. Sicherlich ist die Niederlage von Trump ein Schlag für ihre Pläne. Das gilt auch für den Handelskrieg zwischen den USA und China. Beide waren als HandelspartnerInnen angepriesen worden, die die EU ersetzen könnten, und versprachen eine „goldene Zukunft“ für ein „unabhängiges“ Großbritannien, was sich als eine weitere Fata Morgana von Johnson entpuppte. Auch die Handelsabkommen, die Liz Truss, Ministerin für internationalen Handel, mit anderen Ländern vereinbart hat, das letzte mit der Türkei, tun nichts anderes, als die Bedingungen beizubehalten, die Großbritannien bereits innerhalb der EU hatte.

Was die verarbeitende Industrie und den Export von Gütern betrifft, wird der Brexit also wahrscheinlich einen weiteren Rückgang bedeuten. Großbritannien ist jedoch keine große produzierende Wirtschaft; Finanz- und professionelle Dienstleistungen überwiegen bei weitem die Produktion, aber ein Großteil dieser Sektoren wird von Johnsons Deal nicht erfasst. Im Gegenteil, die EU hat gesagt, dass sie über den Zugang Großbritanniens zum Finanzhandel erst nach dem Ende der „Übergangszeit“ entscheiden wird.

Es bleibt also abzuwarten, ob die City of London ihre Position als globales Finanzzentrum halten kann, aber innerhalb Großbritanniens wird sie zweifellos weiterhin die fortgesetzte Privatisierung von Staatsvermögen und die Rückzahlung der riesigen Kredite fordern, die der Regierung während der Pandemiekrise gewährt wurden.

Spirale nach unten

Sicher ist auch, dass in einer Welt zunehmender innerimperialistischer Rivalität die Bedingungen des Abkommens keinen dauerhaften Schutz für ArbeiterInnenrechte und Arbeitsplätze bieten werden, und zwar auf beiden Seiten des Kanals. Es wurde viel über die „Gleichgewichts“-Klauseln der Übereinkunft gesprochen, die angeblich einen Schutz davor bieten sollen, dass britische Bosse die Standards senken, um europäische KonkurrentInnen zu unterbieten. Allerdings können Klagen gegen solche Änderungen erst nach deren Einführung eingereicht werden. Das bedeutet, dass sie in Kraft sein können, während sich die „Verhandlungen“ hinziehen.

Es gibt nichts, was die UnternehmerInnen in der EU daran hindern könnte, die „Gleichwertigkeit“ aufrechtzuerhalten, indem sie selbst ähnliche Änderungen einführen, was einen Wettlauf nach unten in Bezug auf Gesundheit und Sicherheit, Umweltschutz, Arbeitsbedingungen und Bezahlung auslösen würde. Hier wird der schädlichste Aspekt der gesamten Brexit-Strategie deutlich: die Schaffung von Barrieren für vereinte Aktionen der ArbeiterInnenklasse über Grenzen hinweg.

Das ist der wesentliche Grund, warum die Labour-Partei gegen den Deal stimmen sollte. Als sie im Referendum gegen den Austritt war, hat sie zu Recht gesagt, dass der Brexit die falsche Strategie ist. Die Partei hätte weiterhin erklären sollen, warum das während des anschließenden Kampfes unter den Tories und bei der Wahl 2017 der Fall war. Stattdessen akzeptierten sowohl Jeremy Corbyn als auch jetzt Keir Starmer das Ergebnis und behaupteten, sie könnten eine Version aushandeln, die die Interessen der ArbeiterInnen schützen würde.

Nach dem Brexit, wenn die InvestorInnen und Finanziers aller Länder auf mehr Privatisierungen und mehr Einsparungen bestehen, müssen SozialistInnen für eine vereinte Aktion der ArbeiterInnenklasse kämpfen, um das zu verteidigen, was von den vergangenen Errungenschaften übrig geblieben ist. Das erfordert den Aufbau von Verbindungen, die sich über ganz Europa erstrecken; Basisorganisationen in Gewerkschaften, Verbundausschüsse in multinationalen Konzernen und politische Parteien, die jeden rückwärtsgewandten Nationalismus ablehnen und sich für eine internationalistische Lösung der europäischen Krisen einsetzen, die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa.