USA: Was können wir von „Bidenomics“ erwarten?

Marcus Otono, Infomail 1129, 8. Dezember 2020

Es ist verlockend, einen Blick auf die 50-jährige Karriere des designierten Präsidenten der USA, Joseph Robinette Biden, Jr., in der Politik zu werfen. 48 Jahre agierte er bisher auf nationaler Ebene im Senat und als Vizepräsident. Diese langjährige Bilanz kann uns bei einer aktuellen Einschätzung seiner Wirtschaftspolitik helfen. Und es wäre richtig, wenn man versuchen würde zu beurteilen, wo seine politische und wirtschaftliche Ausrichtung liegt. Wenn uns das Jahr 2020 jedoch irgendetwas gezeigt hat, dann, dass eine rein historische Bewertung, sei es von Parteien oder PolitikerInnen, unter den erdrückenden Bedingungen der anhaltenden und mehrfachen Krisen der Nation nicht ausreicht.

Wie jemand unter den Bedingungen kapitalistischer Stabilität regieren und reagieren wird, im Vergleich z. B. mit der Zeit vor der Großen Rezession von 2008, gilt vielleicht nicht unter dem dreifachen Schlag von COVID-19, einem schweren wirtschaftlichen Abschwung im Zusammenhang mit der Pandemie und einer scharfen Krise der sozialen Gerechtigkeit, die durch den Polizeiterror gegen Minderheiten, insbesondere Schwarze, ausgelöst wurde.

Es ist auch nützlich, sich daran zu erinnern, dass vor der Reihe tiefer wirtschaftlicher Krisen in den 1970er Jahren, die den langen Boom beendeten, als der Neokeynesianismus die vorherrschende Wirtschaftsideologie war, die Vorväter des Neoliberalismus, Ludwig von Mises und Friedrich von Hayek, als ideologische Außenseiter, wenn nicht gar als Sonderlinge angesehen wurden. Nach der „neoliberalen Revolution“ von Reagan-Thatcher waren es die KeynesianerInnen, die wie die Dinosaurier behandelt wurden. Dies sollte uns daran erinnern, dass tiefe kapitalistische Krisen, in denen alte Methoden einfach nicht funktionieren, zu einem umfassenden Umdenken der IdeologInnen führen, und nicht umgekehrt.

Neoliberalismus

Unter den DemokratInnen war Biden ein früher bekehrter Anhänger des Neoliberalismus. Er wurde ein starker Befürworter ausgeglichener Haushalte und unterstützte Steuersenkungen, die die Sozialausgaben einschränkten. Diese endeten in der Ära, die von Roosevelts New Deal bis zu Johnsons Großer Gesellschaft dauerte. Biden stimmte zusammen mit 36 DemokratInnen für den ersten Haushalt von Ronald Reagan. Wie ein kürzlich erschienenes Buch über Biden zeigt, hatte dies schlimme Folgen für die Menschen, die die Demokratische Partei wählten.

„Die Kürzungen haben unzählige Menschenleben ins Chaos gestürzt: 270.000 Beschäftigte im öffentlichen Dienst verloren ihren Arbeitsplatz, mehr als 400.000 Familien wurden von der Sozialhilfeliste gestrichen und mehr als 1 Million Beschäftigte hatten keinen Anspruch auf erweiterte Arbeitslosenunterstützung.“ (Baranko Marcetik, Yesterday’s Man: The Case Against Joe Biden, Verso, New York 2020, S. 49)

Es ist also keine Übertreibung zu behaupten, dass Biden ein entschiedener Anhänger des kapitalistischen Systems und der MilliardärInnenelite ist, die dieses System kontrolliert. Es ist auch nicht falsch zu behaupten, dass Biden kein Problem damit hat, die Ziele des US-Imperialismus in der Welt mit offener und verdeckter militärischer Macht zu unterstützen, was ihn, politisch gesehen, in den USA zu einem Neokonservativen machen würde.

„Ich habe dafür gestimmt, in den Irak zu gehen, und ich würde dafür stimmen, es wieder zu tun“, sagte Biden im August 2003. Er unterstützte auch den Krieg gegen Afghanistan und trat auch für die Invasion Großbritanniens auf den Malvinas ein. (In: Baranko Marcetik, Joe Biden the hawk, Jacobin Magazine, 08.02.2018)

Alle diese Beobachtungen über Joe Biden sind wahr, aber daraus zu schließen, dass sie die Wirtschaftspolitik unter einer Biden-Präsidentschaft kurz- bis mittelfristig, d. h. bei der Bekämpfung des COVID-19-Virus, der Rezession und während des Aufschwungs, bestimmen werden, wäre eine zu voreilige Schlussfolgerung.

Der Grund dafür, dass die politischen Instinkte von Präsident Biden in seinen ersten Jahren abgestumpft oder relativiert werden könnten, lässt sich auf eine Sache reduzieren. Wenn ein Land vor einer größeren Krise steht, ist die erste Pflicht des bürgerlichen Staates – unabhängig von der aktuellen Doktrin – die Rettung des Systems. Die USA taumeln durch eine von einer Pandemie angeheizte Rezession, die schlimmer ist als die, die uns 2008 getroffen hat. Das bedeutet, dass Biden wie ein Getriebener Ausgaben tätigen muss, um überhaupt eine Chance zu haben, das System zu retten, das am Rande des Abgrunds eines möglichen Zusammenbruchs steht.

Bidens politische Karriere hat indessen trotz aller Ideologien, denen er zeitweise anhängt, eines gezeigt: dass er ein politischer Pragmatiker ist. Pragmatisch gesprochen: Wenn Biden Erfolg haben will, darf er nicht an eine Agenda von Sparmaßnahmen und niedrigen Steuern gebunden sein, in der Hoffnung, dass sie fruchtbar wird, denn das war nie der Fall und wird es auch nicht sein.

Natürlich wird der Erfolg von Konjunkturprogrammen nicht allein von Biden und der Demokratischen Partei abhängen. Die Wahlergebnisse haben gezeigt, dass die RepublikanerInnen in keiner Weise aus dem Regierungsrahmen herausfallen. Sie scheinen tatsächlich Sitze im Repräsentantenhaus gewonnen zu haben, obwohl die DemokratInnen dort immer noch über eine knappe Mehrheit verfügen. Und Biden hat die Präsidentschaft gewonnen, obwohl der Wahlverlierer Trump noch nicht formell nachgegeben hat und mit unseriösen Klagen und regelrechten Raubaktionen versucht, die Ergebnisse zu kippen, und mit Verzögerungstaktiken kämpft. Trump wird wahrscheinlich keinen Erfolg haben, aber da er und die Republikanische Partei die Bundesgerichte mit ihrem Gefolge vollgepackt haben, können sie nicht völlig ausgezählt werden, bis das Wahlkollegium zusammenkommt und den Biden-Sieg offiziell macht.

Dann gibt es da noch den Senat, die antidemokratische Institution, die während ihrer gesamten Existenz ein Fluch für progressive Initiativen war. Seit mindestens 2010, als der republikanische Senator Mitch McConnell Mehrheitsführer dieser Kammer wurde, hat er es sich zur Aufgabe gemacht, jegliche Gesetzgebung oder Initiativen der Demokratischen Partei in der Exekutive oder Legislative zu behindern, selbst solche, die als „mitte-rechts“ gelten würden. McConnells Obstruktionspolitik diente nur dazu, „Siege“ der Legislative unter den DemokratInnen zu verhindern, und in dieser Eigenschaft kann von ihm erwartet werden, dass er alles einschränkt, was Biden vorbringt, nur weil Biden ein „D“ (Demokrat) hinter seinem Namen trägt.

Dann stellt sich also die Frage, ob die Republikanische Partei den Senat behalten wird. Diesem Ziel ist sie nach den Wahlen nahe. Sollten sie auch nur eine der Stichwahlen zum Senat in Georgia gewinnen, wird McConnell ein Vetorecht über Bidens Wirtschaftsinitiativen und sogar über die Auswahl seines Kabinetts haben. Mit einer Wende zu Gunsten der Demokratischen Partei bei den Wahlen in Georgia wird Biden jedoch eine effektive Mehrheit haben, eine Stimmengleichheit im Senat mit Vizepräsidentin Kamala Harris als ausschlaggebender Stimme.

Damit die Rechnung von McConnell aufgeht, darf freilich kein/e RepublikanerIn, die Disziplin zu brechen und mit der Demokratischen Partei abzustimmen. McConnell hat während seiner Jahre als Mehrheitsführer die republikanische Disziplin bemerkenswert gut eingehalten, aber es gab gelegentlich Ausreißer, vor allem Mitt Romney, Lisa Murkowski und Susan Collins. Mit republikanischen Siegen in Georgia wird McConnell zumindest die Gelegenheit haben, alles, was Biden zu tun versucht, zu bremsen und möglicherweise zu blockieren.

Besserer Neuaufbau

Was wird Präsident Biden zu tun versuchen, und wie stehen die Chancen, dass es ihm gelingen wird, das als Gesetz in Kraft zu setzen? Nun, es heißt „Build Back Better“ (Besserer Neuaufbau; BBB). Das Konzept basiert, grob gesagt, auf der Katastrophenhilfsstrategie der Vereinten Nationen, die 2015 in Sendai, Japan, für die Planung des Wiederaufbaus nach Naturkatastrophen entworfen wurde. Diese Strategie ist gewissermaßen das Gegenteil dessen, was von Naomi Klein als „Katastrophenkapitalismus“ betitelt wurde. Während der Katastrophenkapitalismus natürliche, politische und wirtschaftliche Schocks nutzte, um ein reines und unregulierte „Überleben des Stärkeren“ des Kapitalismus zu durchzusetzen, was als Neoliberalismus bekannt wurde, nutzt das BBB-Konzept die Wiederaufbaubemühungen nach Katastrophen, um auf eine zentralere Planung zu drängen, mit staatlicher Finanzierung, die eine Wirtschaft auf grünere, gerechtere und allgemein eher „linkspopulistische“ Weise wiederaufbaut. Kurz gesagt, bedeutet dies eher eine Rückkehr zur keynesianischen Wirtschaftspolitik, wie sie von den New-Deal-DemokratInnen in den USA und den sozialdemokratischen und Labour-Regierungen in Europa verfolgt wird. Hinzu kommen Elemente der Modern Money Theory (Moderne Geldtheorie; MMT). In Bidens ursprünglichen Vorschlägen ist die Rede davon, über einen Zeitraum von zehn Jahren mehr als 7 Billionen US-Dollar für die Modernisierung der Infrastruktur, „grüne“ Verkehrsinitiativen und andere Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels auszugeben, aber mit zusätzlichen Maßnahmen, um auch die interne Gewerbebasis des US-Kapitalismus wieder aufzubauen. Dies würde im Idealfall für gut bezahlte Arbeitsplätze innerhalb der USA sorgen.

Ironischerweise greift dieser Wiederaufbau der US-Produktionsbasis auch auf unheimliche Weise Donald Trumps Ideen über die Notwendigkeit deren Wiederaufbaus auf, auch wenn sich das „Wie“ dessen, der Protektionismus bis hin zu Handelskriegen, von Trump unterscheidet. Die Bezahlung für diese ehrgeizigen Programme würde durch eine höhere Besteuerung von Unternehmen und Wohlhabenden erfolgen, zusammen mit einer gewissen geldpolitischen Lockerung im MMT-Stil durch die US-Notenbank und natürlich durch „Wachstum“. Das ist immer der Rückgriff auf einen buchhalterischen Trick im Kapitalismus, um Haushaltsdefizite zu verniedlichen. „Wachstum“ soll immer Defizite abdecken, auch wenn niemand weiß, ob es eintritt oder das auch tut.

Die Inspiration mag der Sendai-Plan sein, aber er leiht sich auch viel von Roosevelts ursprünglichem New Deal in seinem Bestreben, die wirtschaftliche Ungleichheit zu verringern und die Infrastruktur wieder aufzubauen, was mit Roosevelts Kriegsanstrengungen in den 1940er Jahren und mit Trumans Kaltem Krieg erst richtig in Gang kam. Diese Fakten sollten uns daran erinnern, dass die nationale Einheit zwischen den Parteien und mit der organisierten ArbeiterInnenklasse nur unter Kriegs- und Halbkriegsbedingungen möglich war. Und sie wurde durch den massiven Anstieg der Profitrate unterstützt, der durch die Zerstörung, Abnutzung und Erneuerung veralteten US-Kapitals verursacht wurde. Ohne dies hätten die Staatsausgaben allein nicht den langen Boom erzeugt. Als sie Ende der sechziger Jahre zurückging, vervielfachten sich die Krisen mit Stagnation und Inflation, und die Ära des New Deal und der Großen Gesellschaft endete. Der junge New Dealer Biden „reifte“ zu einem Fiskalkonservativen heran. Wird er sich nun wieder zu einem New Dealer zurückentwickeln?

Biden gab den Startschuss für diese Lobbyarbeit zum Wiederaufbau der US-Infrastruktur am Montag, den 16. November, durch ein Treffen mit UnternehmenschefInnen, darunter die Vorstandsvorsitzenden von GM, Microsoft, Target, Gap Inc. und den GewerkschaftsführerInnen, allen voran Richard Trumka von der AFL-CIO, aber auch mit den Vorsitzenden von AutomobilarbeiterInnen-, Dienstleistungs-, Nahrungsmittel- und HandelsarbeiterInnen sowie Staats- und Kommunalbedienstetengewerkschaften. Nach diesem Online-Treffen war er von den Aussichten auf eine Zusammenarbeit zwischen diesen beiden grundsätzlich konkurrierenden Interessengruppen positiv überrascht.

Die obersten GewerkschaftsbürokrateInnn werden sich freuen, im Weißen Haus willkommen geheißen und von Biden als LeiterInnen gewichtiger Institutionen anerkannt zu werden, aber die Ergebnisse für ihre Mitglieder dürften dürftig ausfallen. Die Gegenleistung wird darin bestehen, dass diese FührerInnen ihre Macht nutzen werden, um Biden das Regieren zu erleichtern und jeden wirklichen Kampf zurückzuhalten, wenn er darum geht, die Kosten der COVID-Pandemie und der Rezession auf die Massen abzuwälzen, die für ihn gestimmt haben.

COVID besiegen

Die Katastrophe, die den Versuch, das BBB in Kraft zu setzen, ausgelöst hat, ist die Coronavirus-Pandemie und die daraus resultierenden gesundheitlichen und wirtschaftlichen Schocks, die sie hinterlassen hat. Die Bewältigung eines Winters mit zunehmenden COVID-19-Infektionen, Krankenhausaufenthalten und Todesfällen wird die erste Aufgabe von Joe Biden sein, wenn er im Januar 2021 sein Amt antritt.

Die wahlberechtigte Öffentlichkeit erwartet dies und insbesondere diejenigen, die die Demokratische Partei gewählt haben. Eine jüngste Umfrage von Morning Consult/Politico ergab, dass 69 % der Befragten forderten, die Kontrolle der Ausbreitung des COVID müsse die oberste Priorität der Biden-Regierung darstellen, wobei 66 % die wirtschaftliche Entlastung von der Pandemie und ihren Folgen und 64 % einen allgemeineren wirtschaftlichen Impuls forderten. Hier wird sich die Kontrolle durch den Senat als entscheidend für jeden neuen Wirtschaftsstimulus erweisen.

Aber sie werden auf Widerstand und Sabotage seitens der Mehrheit der RepublikanerInnen im Kongress und in den von ihnen regierten Staaten stoßen. Mitch McConnell hat bereits angedeutet, dass die Republikanische Partei ein weiteres Coronavirus-Konjunkturprogramm nicht für notwendig hält, da sie der Meinung ist, dass sich die Wirtschaft auf dem Weg zurück zur Gesundung befindet. Dies zeigt die Tatsache, dass das 2,2 Billionen Dollar schwere HEROES-Gesetz (Gesetz zu Erholung von Gesundheitswesen und Wirtschaft), das eine Folgemaßnahme zum CARES-Gesetz (Coronahilfs- und Wirtschaftssicherheitsgesetz) darstellt, vor sechs Monaten vom Repräsentantenhaus verabschiedet wurde, aber noch nicht einmal eine Anhörung im Senat erlebte, geschweige denn eine Abstimmung. Dies sagt uns, dass jedes neue Konjunkturpaket, das von einem republikanisch dominierten Senat gebilligt werden soll, wahrscheinlich weniger umfangreich sein wird als das bereits bestehende Paket des Kongresses.

Die UnterstützerInnen des Kapitals, sowohl bei der Demokratischen wie bei der Republikanischen Partei, haben immer die Entwicklung der Wohlhabenden in der Gesellschaft als Indikator für den Zustand der allgemeinen Wirtschaft betrachtet, und in Zeiten kapitalistischer Stabilität kann dies für einen bedeutenden Teil der Bevölkerung ein Zeichen der wirtschaftlichen Erholung sein. In Zeiten extremer wirtschaftlicher Krise, wenn der Populismus rechts und links aufsteigt, ist die Bourgeoisie jedoch auch gespalten. Die Sektion der besitzenden Klasse, die Biden vertritt, sieht die Notwendigkeit einer Ablenkung, die die steigende antikapitalistische Stimmung eindämmt, eine Stimmung, die mit Sicherheit wachsen wird, wenn nichts dagegen unternommen wird, dass während der Pandemie bereits die 11 Millionen Dauerarbeitsplätze verloren gegangen sind, und gegen die Möglichkeit einer massiven Räumungswelle, nachdem der Schutz der MieterInnen durch das CARES-Gesetz am Ende des Jahres ausläuft. Nichts entlarvt den Kapitalismus so sehr wie eine massive Zahl von arbeitslosen Lohnabhängigen und ihren Familien, die ohne Wohnung auf der Straße leben.

Da ist auch die Frage der Zulassung und Verteilung eines Impfstoffs gegen Coronavirus und COVID, wo nach dem klassischen Szenario „gute und schlechte Nachrichten“ verfahren wird. Die gute Nachricht ist natürlich, dass es nicht nur einen, sondern zwei verschiedene Impfstoffe gibt, die in Vorversuchen das Versprechen eines Schutzes gegen das Coronavirus mit einer 95 %igen Effizienzrate gezeigt haben. Die Vorstellung, dass das Ende dieses langen Albtraums von Todesfällen, Krankheiten und wirtschaftlichen Verwerfungen in Sicht ist, ist für die Gesellschaft als Ganzes ungeheuer ermutigend, aber der Prozess und die Infrastruktur für die Verteilung dieses Impfstoffs an die breite Öffentlichkeit ist entmutigend und erfordert eine monatelange Vorlaufzeit. Es ist auch eine Vorlaufzeit, die mit jedem Tag dringlicher, verkürzt wird, an dem Trump und seine UnterstützerInnen, zu denen die gesamte gewählte Republikanische Partei und die Mehrheit ihrer WählerInnen gehören, den Übergang zu einer Biden-Regierung hartnäckig hinausschieben.

Die Entscheidung, welcher Impfstoff verwendet werden soll, die Massenproduktion des gewählten Impfstoffs, die Festlegung der Prioritäten, wer die frühesten Impfungen erhält, die Nachverfolgung der Impfungen, falls mehr als eine erforderlich ist, die Kosten und, wer diese trägt, sowie eine Unzahl anderer Entscheidungen – all dies muss von demjenigen entschieden werden, der 2021 den Amtseid als Präsident ablegt. Angesichts der Tatsache, dass in den USA jeden Tag Tausende von Menschen am SARS-CoV-2-Virus sterben und jede Minute eine neue Infektion auftritt, dass die Krankenhäuser überfordert sind oder kurz davor stehen, überfordert zu werden, tötet jeder Tag der Verzögerung durch politische Spielerei Menschen.

„Bidenomics“ – die fortschrittlichste Wirtschaftspolitik seit dem New Deal?

Einige Medien, insbesondere Newsweek und Fox News, haben behauptet, dass eine Biden-Administration mit Build Back Better die fortschrittlichste Agenda seit Franklin Roosevelts New Deal während der Großen Depression aufgetischt hätte. Kein geringerer reformistischer Schlagzeilenlieferant als Bernie Sanders selbst schloss sich dieser Ansicht über die Politik Bidens an, nachdem die Empfehlungen der Arbeitsgruppe zur Einheit der Demokratischen Partei im Juli veröffentlicht worden waren.

Je nach verwendetem Taktmaß könnte es die erste Verbesserung nach den 40 Jahren Wirtschaftspolitik markieren, die unter Reagan eingeführt und unter Bill Clinton als „Washingtoner Konsens“ gefestigt wurde. Sie reicht jedoch bei weitem nicht an das heran, worauf die „demokratischen SozialistInnen“ wie Sanders und Alexandra Ocasio-Cortez gedrängt haben. Es gibt keine Betragszahlung für alle für Medicare for All (Gesundheitsversorgung für alle), aber es gibt einen Einstiegsplan, der als „öffentliche Option“ bezeichnet wird, eine Entscheidung, die im Affordable Care Act (erschwingliche Versorgung) von 2010 bewusst nicht getroffen wurde. Es gibt keinen einheitlichen Green New Deal, aber viele der Elemente, die den GND ausmachen, sind in Bidens BBB enthalten. Und es ist eine beträchtliche Anhebung des Mindestlohns auf 15 US-Dollar pro Stunde geplant, obwohl dies in Etappen und nicht in einem Rutsch geschehen soll.

Wenn Biden diese linkspopulistische Wunschliste umsetzen könnte, würde er sicherlich den Anspruch erheben, eine transformative Figur in der kapitalistischen Politik zu sein, wie Roosevelt auf der linken oder Reagan auf der rechten Seite. Wie wir oben sagten, ist der BBB das Gegenteil des Katastrophenkapitalismus und wird von der Rechten zweifellos jederzeit als „Katastrophensozialismus“ bezeichnet werden. Doch auch wenn es sich nicht um Sozialismus handelt, wäre die Umsetzung dieser Programme immer noch beinahe ein Wunder unter den gegenwärtigen Bedingungen des kapitalistischen Verfalls und der sinkenden Profitrate eine reine Spekulation. Vor allem die Steuererhöhungen sind schon bei ihrem Beginn tot, wenn die RepublikanerInnen in der Senatsmehrheit bleiben, und das könnte auch dann der Fall sein, wenn die DemokratInnen das ausschlaggebende Mandat gewinnen. Da sie eine kapitalistische politische Partei sind, sind viele demokratische SenatorInnen sehr abgeneigt, Steuern zu erhöhen, selbst bei denen, die sich höhere Steuern am meisten leisten können, den Reichen und den multinationalen Konzernen. Hinzu kommt, dass die Wirtschaft immer noch versucht, sich von der CoVid-Krise zu erholen, und die Aussichten selbst einer bescheidenen Steuererhöhung für Unternehmen bestenfalls zweifelhaft sind.

Nach anfänglichen Versuchen, einige dieser Vorschläge einzubringen, können wir in Anbetracht von Bidens Geschichte berechnen, wo diese „fortschrittlichste Agenda seit dem New Deal“ enden wird. Trägheit ist eine handfeste Angelegenheit, nicht nur physisch, sondern auch in der Politik. Die Trägheit ist auf der Seite der 40 Jahre „Reaganomics“. Wir können einige Maßnahmen gegen die Pandemiekrise erwarten, selbst von McConnell und der Republikanischen Partei. Aber diese würde nicht annähernd das ausgleichen, was die ArbeiterInnenklasse infolge von den wirtschaftlichen Schocks durch das Virus bereits durchlitten hat und was ihr noch in Kürze bevorstehen würde. Die Arbeit an dem Verteilungsprozess des/der Impfstoffe/s wird vorangehen, zumal damit eine Menge Geld zu verdienen ist, und je schneller er verfügbar ist, desto eher werden alle Entschuldigungen für das Herunterfahren der Wirtschaft beseitigt und die Geschäfte können wie vordem weitergehen. Aber was kommt dann?

Wenn es ernsthafte Reformen mit wirklichen Verbesserungen im Gesundheitswesen, im Lohnniveau, gesellschaftlich aufgewerteter Arbeit für die Arbeitslosen und für jene in unsicheren und schlecht bezahlten Beschäftigungsverhältnissen geben soll, kann dies nicht durch das Warten auf Bidens Instinkte, „die Hand zur anderen Seite auszustrecken“, geschehen. Wie Rosa Luxemburg sagt, sind selbst ernsthafte Reformen nur ein Nebenprodukt der Revolution oder der Furcht vor ebendieser. In den 1930er und 1960er Jahren haben Revolutionen außerhalb der USA und massenhafte Gewerkschafts- und Bürgerrechtskämpfe unsere HerrscherInnen davon „überzeugt“, die Bedrohung durch Sozialausgaben und Arbeitsrechte und -beschaffungsmaßnahmen abzuwenden. Wenn der Druck jedoch nachlässt, versucht die herrschende Klasse, alles zurückzuholen.

Die einzige Hoffnung, einen Kongress und einen Präsidenten mit konservativen Instinkten zu überwinden, liegt darin, ihnen Furcht vor massenhaften und militanten Straßen- und Betriebsaktionen einzuflößen. Eine weitere Waffe stellt das Vorantreiben zum Aufbau einer sozialistischen und ArbeiterInnenpartei, die unabhängig von den DemokratInnen auftritt, dar. Ihre erste Aufgabe wäre die Führung und Organisierung von Kämpfen in den Kommunen und Betrieben. Diese sollten nicht nur gegen wirtschaftliche Entbehrungen, sondern auch gegen Rassismus, Polizeigewalt, Rechte von Frauen, LBGTIAQ-Meschen und der indigenen Bevölkerung geführt werden und die Beendigung der Verfolgung von „illegalen“ MigrantInnen einschließen. Außerdem hat sich in den Wahlen 2020 durch Trump der Welt der undemokratische Charakter des Verfassungs- und Wahlsystems offenbart. All diese Punkte müssen sich in einem Aktionsprogramm für eine neue ArbeiterInnenpartei niederschlagen. Wahlen sind wichtig, um die Ideen des echten Sozialismus zu verbreiten und unseren Fortschritt zu dokumentieren. Aber die Orientierung auf Wahlen darf nicht Sinn und Zweck einer solchen Partei sein.

Selbstredend werden die PolitikerInnen der Demokratischen Partei und die falschen FührerInnen in der ArbeiterInnenbewegung darum betteln aufzuhören und wollen uns belehren, dass wir der Sache schaden würden, wenn wir eine solche Offensive ins Leben rufen. Aber dies muss geschehen, wenn wir irgendetwas Substantielles erreichen wollen. So muss Politik für die Linke gemacht werden. Legislaturperioden und Gesetze erfolgen nur auf den Druck der Straße und bestätigen Errungenschaften. Sie gehen ihnen nicht voraus.

Wenn wir selbst Zugeständnisse gegen alle Widrigkeiten und dank eigener Kraft durchfechten, dann kann ein echter Sozialismus für Millionen wieder erstrebenswert sein, wie dies schon einmal in der Zeit den Industrial Workers of the World (IndustriearbeiterInnen der Welt; IWW) mit dem Präsidentschaftskandidaten Eugene V. Debs und den ursprünglichen sozialistischen und frühen kommunistischen Parteien der Fall war.