Tarifrunde öffentlicher Dienst: ver.di kapituliert!

Mattis Molde/Helga Müller, Infomail 1123, 28. Oktober 2020

Es war zu befürchten. Nach dem „Angebot“ von 3,5 % für eine Laufzeit von drei Jahren, das die ver.di-Spitze als „dreist, respektlos, provokant“ bezeichnet hatte, schloss sie am 26. Oktober minimal über diesem Angebot ab. Der Empörung der ver.di-Spitze waren vor der letzten Verhandlungsrunde nur halberzige Bemühungen gefolgt, die Warnstreik-Aktionen zu steigern. Wenn es solche gab wie z. B. im Krankenhausbereich, dann lag das tatsächlich an der Empörung von Belegschaften über dieses skandalöse „Angebot – ein klares Indiz dafür, dass trotz der Provokation ein Abschluss um fast jeden Preis angestrebt wurde.

Corona musste als Begründung dafür herhalten, schon im Vorfeld von Aktionen diese aktiv zu demobilisieren. Einzelne lokale GeschäftsführerInnen erklärten, dass „weniger TeilnehmerInnen“ sogar besser wären. Gegen Demonstrations- und Versammlungsauflagen von Seiten der Ordnungsbehörden wurde nicht juristisch vorgegangen. Die Niederlage zeichnet sich damit schon in der Vorwoche ab.

Die ver.di-Verantwortlichen verzichten in ihren Stellungnahmen zum Abschluss im öffentlichen Dienst nicht darauf, immer wieder zu wiederholen, dass sie die Tarifauseinandersetzung gar nicht gewollt hätten, sondern ihnen diese von den öffentlichen Arbeit„geber“Innen aufgezwungen worden wäre. Eine Haltung, die sie auch während der gesamten Tarifauseinandersetzung oft geäußert hatten.

All das wirft ein Licht darauf, dass ver.di während der ganzen Tarifrunde vermieden hatte, diese als eine politische Auseinandersetzung anzusehen und sie entsprechend zu führen. Das „Angebot“ der Arbeit„geber“Innenseite vom Freitag, den 16. Oktober, mit einer Laufzeit von 3 Jahren und 6 Null-Monaten vorneweg, der Absenkung der Sonderzahlung im Sparkassenbereich, Abgruppierungsforderungen und dem ständigen Verweis auf die leeren Kassen und deshalb geforderte „notwendige Planungssicherheit für die Kommunen“ zeigten ganz deutlich, dass die „Vereinigung der kommunalen Arbeitgeber“ (VKA) die Krisenlasten auf die Beschäftigten im öffentlichen Dienst abwälzen wollte und dies weiterhin will. Dass die Spitze der Angriffe, der Versuch der Abgruppierung in dieser Tarifrunde, zunächst einmal abgewehrt werden konnte, ist den vielen Warnstreiks vor allem in den letzten Wochen – auch in Bereichen, die vorher als nicht mobilisierbar galten – zu verdanken!

Ergebnis

Dies Ergebnis stellt den Versuch der Bürokratie dar, auch in der Krise das übliche Spiel der SozialpartnerInnenschaft fortzusetzen, wenn auch mit einigen Besonderheiten. Dazu gehört die lange Laufzeit von 28 Monaten mit mindestens 7 Monaten, in denen es außer der gestaffelten „Corona-Prämie“ (als Einmalzahlung, die nicht tabellenwirksam wird) nichts gibt. Die ersten linearen  Erhöhungen beginnen erst ab 1. April 2021 mit 1,56 % und ab 1. April 2022 1,8 % mit einer Laufzeit bis 31.12.2022 (1 Jahr weniger als die öffentlichen Arbeit„geber“Innen wollten). Für dieses Jahr bedeutet das Ergebnis nicht mal einen Ausgleich der Inflationsrate.

Auch wenn man den Mindestbetrag von 50,- Euro ab 1. April 2021 dazurechnet, der die unteren Lohngruppen etwas besserstellt – was grundsätzlich zu begrüßen ist –, und auch wenn man die Jahressonderzahlungen (umgangssprachlich: Weihnachts- und Urlaubsgeld) dazurechnet, die ab 2022 um 5 % erhöht werden sollen, ist jetzt schon abzusehen, dass dies auch für die nächsten beiden Jahren gelten wird. Das bedeutet: Reallohnverlust auf Dauer! Nichts ist davon zu spüren, dass der öffentliche Dienst für Nachwuchs- und Fachkräfte attraktiver werden soll, um deren Mangel entgegenzuwirken. Die Bezahlung bleibt vielmehr weiter weit hinter der Privatwirtschaft zurück!

Auch wenn für die Pflegekräfte und ÄrztInnen im Vergleich zu den Beschäftigten in anderen Bereichen mehr vereinbart wurde – so bekommen z. B. Pflegekräfte ab März 2021 eine Zulage von 70 Euro und ab März 2022 nochmals 50 Euro mehr und die Zulage im Intensivbereich steigt zum gleichen Zeitraum von 46,02 auf 100 Euro –, wird auch das nicht dazu beitragen, das eigentliche Problem, nämlich die nicht ausreichende Anzahl an Pflegekräften, irgendwie zu lösen. Mit dem Beginn der zweiten Corona-Infektionswelle und der zunehmenden Zahl von PatientInnen, die eine Intensivbehandlung benötigen, wird sich diese zusätzliche Belastung durch Personalmangel nicht ändern lassen.

In anderen Bereichen, wie z. B. bei den Sparkassen, wurde zwar der generelle Eingriff in die Reduzierung der Sonderzahlung um 20 Prozent abgewehrt. Stattdessen wurde aber ein Deal auf Kosten der Beschäftigten vereinbart: Sie erhalten ab 2021 einen zusätzlichen und ab 2022 zwei zusätzliche freie Tag/e, dafür aber wird die Sonderzahlung entsprechend reduziert und zusätzlich kann diese Sonderzahlung weiter abgesenkt werden durch die freiwillige Inanspruchnahme von zusätzlichen freien Tagen. Also eine Arbeitszeitreduzierung, die die KollegInnen selbst bezahlen dürfen, und die Reduzierung der Sonderzahlung wurde damit mit Gewerkschaftshilfe ermöglicht. Für die Beschäftigten bringt sie ebenfalls Reallohnverzicht.

Im Flughafenbereich laufen derzeit aufgrund der Corona-Krise Verhandlungen um sogenannte Notlagentarifverträge, die betriebsbedingte Kündigungen ausschließen sollen. Auch hier ein Deal: Die Arbeit„geber“Innen erhalten dafür als Gegenleistung von den Beschäftigten die Möglichkeit, die ausgehandelten Tariferhöhungen befristet nach hinten zu schieben! Also auch hier bezahlen die Beschäftigten für die Auswirkungen der wirtschaftlichen Einbrüche.

Maßgeschneidert für wen?

Ver.di verkauft diesen Abschluss als ein maßgeschneidertes Ergebnis und bezogen auf die verschiedenen Beschäftigtengruppen als positiv. Der Versuch der Arbeit„geber“Innenverbände, die Beschäftigtengruppen gegeneinander auszuspielen, sei mit diesen Abschluss abgewehrt worden. Das Eigenlob ist fehl am Platz. Die Mehrheit der Beschäftigten kann sich ausrechnen, dass sie mit dem ersten Angebot vom Wochenende nicht oder nicht viel schlechter gefahren wären. Bis auf die Pflegekräfte, KollegInnen im Intensivbereich und ÄrztInnen im Gesundheitsamt haben alle Beschäftigtengruppen einen Lohnverzicht und auch Eingriffe in Regelungen des Tarifvertrages hinnehmen müssen. Es gibt hier also nichts zu beschönigen.

Die Bundestarifkommission hat diesen Abschluss mit großer Mehrheit angenommen. Es gibt noch eine sogenannte Erklärungsfrist bis zum 26. November, innerhalb welcher der Abschluss von beiden Seiten noch abgelehnt werden kann. Ver.di ruft auf, diesen Abschluss in den Büros, Kliniken, Dienststellen zu diskutieren.

Auch wir denken, die Beschäftigten sollten tatsächlich auf Mitglieder-, Betriebsversammlungen über dieses Ergebnis insgesamt diskutieren und ihre Meinung auch an den Bundesvorstand, an die Fachbereichsvorstände und an die Bundestarifkommission schicken. Dafür ist aber auch notwendig, dass die KollegInnen sich selbst ein Bild über diesen doch sehr komplexen Abschluss bilden können, ohne vorgefasste Meinung von Seiten der GewerkschaftssekretärInnen, BetriebsrätInnen oder Tarifkommissionsmitglieder, die die Beschäftigen in Richtung Annahme des Ergebnisses drängen wollen. Viele Stellungnahmen von Beschäftigten zeigen einen großen Ärger über diesen Abschluss.

Dieser Ärger darf nicht der Resignation weichen und auch nicht isoliert bleiben. Dieser Abschluss macht deutlich, dass es immer dringlicher wird, dass die KollegInnen selbst über die Forderungen, über die Vorgehensweise in der Tarifauseinandersetzung und über die Verhandlungen selbst diskutieren und entscheiden müssen.

Die Einführung von TarifbotschafterInnen als Delegierte aus den Betrieben und Dienststellen und Zusammenführung in Videokonferenzen war sicherlich ein Schritt, die Vorgehensweise transparenter zu machen, aber solange die KollegInnen nicht selbst miteinander diskutieren und die Tarifkommissionsmitglieder nicht auf die Umsetzung der Beschlüsse der Beschäftigten verpflichtet werden können, wird es immer zu Abschlüssen kommen, die den Arbeit„geber“Innen nicht zu sehr weh tun und sie noch zusätzlich dazu ermuntern, noch weiter zu gehen. Aber alleine reicht das nicht.

Herbe Niederlage

Der Tarifabschluss stellt eine herbe Niederlage dar. Das „Handelsblatt“ kommt zu der Einschätzung, dass „die Kosten des Abschlusses … nur um rund 100 Millionen Euro über der Summe“ des letzten Angebotes lägen. 100 Millionen mehr für 2,3 Millionen Beschäftigte bedeutet im Klartext: Weniger als 50 Euro pro Beschäftigter/m beträgt für Frank Werneke die Differenz zwischen einem „respektlosen“ Angebot und dem „respektablen Abschluss“, den er jetzt unterschrieben hat.

Diese Niederlage besteht aber nicht nur in dem miesen materiellen Ergebnis, das die Belastungen durch Inflation und die Corona-Krise für die große Masse der KollegInnen nicht ausgleichen kann. Sie besteht darin, dass der gesamte ver.di-Apparat wie auch die Führungen der anderen Gewerkschaften, der SPD und LINKEN dabei mitspielen, die Lasten der kapitalistischen Krise auf die arbeitende Bevölkerung abzuladen. Sie alle akzeptieren es, alleine der Lufthansa eine fast  doppelt so hohe Summe in den Rachen zu werfen, wie dieser Tarifabschluss über fast drei Jahre umfassen soll, der allgemein mit 4,9 Milliarden veranschlagt wird.

Dahinter steht die politische Unterwerfung der reformistischen Führungen mit dem Ziel, das System aufrechtzuerhalten und dabei mitzuspielen, damit in dieser weltweiten Krise „Deutschland besser durchkommt als die anderen“, wie es Merkel formuliert. Frei nach dem Motto: Geht es den Herrschenden wieder gut, geht es auch deren Lohnabhängigen wieder besser.

Dieses Vorgehen und die dahinter stehende, bestenfalls naive Hoffnung macht die ArbeiterInnenklasse nicht nur ärmer, sie entwaffnet sie auch politisch: Wenn ver.di auf diesen frechen und durchaus einschneidenden Angriff des Kapitals und seines Staates nicht mit ernsthafter Mobilisierung und Vorbereitung eines Streiks antwortet, was soll dann geschehen, wenn sich die Krise verschärft?

Dieses Ergebnis ist aber auch ein Alarmsignal an alle unzufriedenen, kämpferischen Kolleginnen und Kollegen im Öffentlichen Dienst wie an alle Linken und AntikapitalistInnen: Aus Niederlagen muss man lernen! Es gilt, eine Opposition in den Betrieben und Verwaltungen, in den Gewerkschaftsstrukturen und den Betriebs- und Personalräten aufzubauen, eine klassenkämpferische Bewegung der Basis! Wir müssen uns vernetzen und gemeinsame politische Antworten finden. Wir müssen Forderungen an die Gewerkschaftsführungen stellen – nicht, weil wir auf sie hoffen, sondern weil wir sie daran messen wollen, was nötig ist, und zugleich alle unzufriedenen Kolleginnen und Kollegen um diese gruppieren müssen.

Die Tarifauseinandersetzungen um den öffentlichen Personennahverkehr laufen noch. Die Stellenbesetzungen in den Krankenhäusern sind immer noch unterirdisch. In anderen Bereichen wie Handel oder Metall drohen Entlassungen. Wir brauchen eine gemeinsame Antwort auf diese Krise. Eine Führung, die solche Tarifabschlüsse organisiert, ist ein Teil des Problems und nicht der Lösung.