Britannien: Labour-Vorsitzender Keir Starmer erklärt Linken den Krieg

Dave Stockton, Neue Internationale 248, Juli/August 2020

Die plötzliche Entlassung von Rebecca Long-Bailey aus dem Labour-Schattenkabinett durch den Parteivorsitzenden Sir Keir Starmer ist eine Kriegserklärung an die Linke innerhalb der Partei. Sie ist Teil seines Werbens um die konservative und die liberale Presse, die ihm im Gegenzug als echten Staatsmann schmeichelt, weil er Boris Johnson wegen dessen massiv inkompetentem Umgang mit der COVID-19-Pandemie minimalen Widerstand entgegenbringt.

Ziel des Angriffs

Mit seiner brutalen Entlassung von Rebecca Long-Bailey will er die Linke – wahrscheinlich immer noch die Mehrheit der Parteimitglieder – einschüchtern. Zweifellos glaubt er, dass sie nach der „katastrophalen Niederlage“ im Dezember zu sehr demoralisiert ist, um sich ernsthaft zu wehren. Außerdem kann er darauf hoffen, einen Konflikt zu provozieren, während sich die Parteigliederungen nicht treffen können und die Konferenz auf unbestimmte Zeit vertagt ist. Auf jeden Fall wird sich Starmer kaum Sorgen machen, wenn seine Aktionen den Austritt der Hunderttausende beschleunigen, die sich Labour unter Corbyn angeschlossen haben.

In diesem Zusammenhang ist Rebecca Long-Baileys Widerstand dagegen, dass Starmer den die LehrerInnengewerkschaften dazu drängte, die Wiedereröffnung von Schulen zu akzeptieren, kein unbedeutender Faktor. Wie die früheren Labour-Vorsitzenden Blair und Miliband vor ihm weiß auch Starmer, dass der Schlüssel zur Demonstration seiner „Glaubwürdigkeit“ darin liegt, seine Unabhängigkeit von den Gewerkschaften zu belegen. Er hat damit begonnen, indem er mit der LehrerInnengewerkschaft eine kleinere Organisation ins Visier genommen hat, und zwar eine, die nicht der Labour-Partei angeschlossen ist.

Aber wenn die Mitgliedsgewerkschaften ihre Scheckbücher weiterhin bei Bedarf öffnen, dann wird die neue Normalität die alte der 30 Jahre vor Corbyn bleiben. Allerdings hat sich Starmer, ein Mann, der trotz oder vielmehr wegen seiner „herausragenden Laufbahn“ in der Justiz noch dünnere Wurzeln in der ArbeiterInnenbewegung hat als Neil Kinnock, Tony Blair oder Gordon Brown, vielleicht nur verkalkuliert. Wie viele Rechte vergisst er leicht, dass es einen Klassenkampf außerhalb der Manöver in den parlamentarischen Hinterzimmern gibt.

Die Aufgabe der Linken ist es, ihm unmissverständlich zu zeigen, dass er sich in der Tat schwer verkalkuliert hat. Dazu gehört nicht nur eine robuste Antwort auf Starmer und seine Gefolgsleute und deren fortgesetzte Brandmarkung von AntirassistInnen als RassistInnen, sondern auch eine kämpferische Reaktion der gesamten ArbeiterInnenbewegung auf die kommende Welle der Massenarbeitslosigkeit und die erneuten Sparmaßnahmen von Premerminister Johnson und den UnternehmerInnen.

Wir haben einen Parteivorsitzenden, der es kaum wagen wird, sein Büro für die Plattform von Massendemonstrationen zu verlassen, geschweige denn für Unterstützung von Streikpostenketten. Die Abgeordneten der Socialist Campaign Group (Sozialistische Kampagnegruppe) und die Basis in den Wahlkreisen, die angeschlossenen Gewerkschaften und die Parteibewegung Momentum müssen gegen einen Vorsitzenden ins Feld ziehen, der die Zeit auf vor 2015 zurückstellen will.

Demagogie

Wie die Labour-Recht in den letzten Jahren greift auch Starmer im Kampf gegen die verbliebenen Linken auf Demagogie und die verlogene Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus zurück.

„Ich habe es mir zur obersten Priorität gemacht, den Antisemitismus zu bekämpfen, und der Wiederaufbau des Vertrauens in der jüdischen Gemeinde hat für mich oberste Priorität“ – so Starmer.

Rebecca Long-Bailey unterzeichnete während ihrer Wahlkampagne zum Labour-Vorsitz eine 10-Punkte-Erklärung der Parlamentsfraktion und bezeichnete sich bei einer Wahlversammlung der Jewish Labour Movement, einer der Labour Party angeschlossenen zionistischen Organisation, sogar selbst als Zionistin. Vielleicht dachte sie, dies würde sie vor den abscheulichen Verleumdungen schützen, denen der vorherige Vorsitzende Jeremy Corbyn und viele andere ausgesetzt waren. Diese Hoffnung war offenkundig vergebens und naiv.

Starmer agiert als ihr Richter, Geschworener und Henker in einer Person. Er beschuldigte Long-Bailey der Weiterleitung eines Artikels, der angeblich Verschwörungstheorien beinhaltet hätte. Sein Urteil lautete:

„Die Weitergabe dieses Artikels war falsch … weil der Artikel antisemitische Verschwörungstheorien enthielt. Daher habe ich Rebecca Long-Bailey aus dem Schattenkabinett abberufen.“

Tatsächlich könnte man beim besten Willen nicht einmal den Tweet von Long-Bailey, der ein Interview von Maxine Peake in der Zeitung „The Independent“ lobt, als Zustimmung zu antisemitischen Verschwörungstheorien bezeichnen. In dem Interview erklärte Peake:

„Systemischer Rassismus ist ein globales Thema… Die Taktik, die die Polizei in Amerika anwendet, indem sie auf George Floyd kniet, wurde aus Seminaren mit israelischen Geheimdiensten gelernt.“

Die Behauptung, dass die US-Polizei ihre Taktik von israelischen Geheimdiensten übernommen hätte, war ein sachlicher Irrtum, obwohl der Fehler ursprünglich von Peake und nicht von Rebecca Long-Bailey begangen wurde. Sogar „The Independent“ veröffentlichte das Interview unter Berufung auf einen Bericht von „Amnesty International“ zur Bestätigung der Behauptung. „The Independent“ korrigierte sich später und erklärte: „Unser Artikel implizierte auch, dass dieses Training auch Knien-in-den-Nacken-Taktiken hätte beinhalten können“.

Auch wenn nicht bewiesen werden kann, dass die US-Polizei diese spezielle Taktik von israelischen staatlichen Stellen „gelernt“ hat, wissen wir doch, dass beide sie regelmäßig gegen unbewaffnete ZivilistInnen bei der Unterwerfung von rassistisch unterdrückten Minderheiten einsetzen. Es geht nicht darum, ob diese oder jene bestimmte Methode angewendet wird, sondern um die umfassendere Frage nach der institutionellen Beziehung und der gemeinsamen Architektur des Terrors, die von zwei Polizeikräften zur Unterwerfung rassistisch und demokratisch unterdrückter Bevölkerungsgruppen eingesetzt werden. Sicher ist jedoch, dass all, die es ablehnen, die Aufmerksamkeit auf die Behandlung der PalästinenserInnen durch den israelischen Staat zu lenken, gleichzeitig gewalttätigen RassistInnen in die Hände spielen.

Rebecca Long-Bailey bestand darauf, dass ihr Tweet ohnehin keine Unterstützung dieser Behauptung sei, sondern des Hauptanliegens des Interviews, Corbyns politisches Vermächtnis an Labour zu unterstützen und die Mitglieder aufzufordern, die Partei nicht zu verlassen.

Kurz gesagt, Starmers Gründe für die Entlassung von Rebecca Long-Bailey waren ungerechtfertig und seine Bemerkungen über Maxime Peakes Interview eindeutig verleumderisch. Die Wahrheit ist, dass die GegnerInnen der israelischen Verbrechen gegen das palästinensische Volk einer konzertierten Kampagne unterzogen werden, um sie zum Schweigen zu bringen, indem man ihnen die üble Ideologie des Antisemitismus vorwirft. Die Labour-Rechte hat dies zynisch aufgegriffen, um ihre linken GegnerInnen anzuschwärzen und die Mitglieder und die öffentliche Meinung für eine Säuberung weichzuklopfen.

Ihr eigentliches Ziel ist es, in Großbritannien die Kritik an der Apartheidpolitik des israelischen Staates und die BDS-Kampagne nach dem Vorbild derer gegen das rassistische Südafrika zu unterdrücken. Großbritannien ist wie die USA ein entscheidendes Schlachtfeld für diesen Kampf, da das zionistische Projekt langfristig zunächst vom britischen Kolonialismus abhängig war und dann als Vorposten für die wirtschaftlichen und militärischen Ressourcen des US-Imperialismus im Nahen Osten fungierte.

Die Entsorgung von Corbyns Erbe

Im Zusammenhang damit und als Hauptgrund für die Entschlossenheit der gesamten britischen Medien und des politischen Establishments, Corbyn loszuwerden, stand seine beachtliche Bilanz der Opposition gegen die vielen imperialistischen Kriege, Bombenangriffe und Besatzungen von Argentinien bis Südosteuropa, zum Nahen Osten und Zentralasien. Dazu gehörte seine Bereitschaft, Menschen in der so genannten Dritten Welt, die gegen den US- und britischen Imperialismus kämpfen, kritisch zu unterstützen – in Vietnam, Chile, Irland, Nicaragua, Venezuela und natürlich in Palästina und im Nahen Osten.

Dies trug ihm die Verleumdung ein, dass er TerroristInnen unterstützt habe. Dabei ist er jedoch nie von seinem Eintreten für friedliche und demokratische Methoden abgewichen. Er war und ist kein Revolutionär, sondern ein prinzipientreuer und mutiger Reformist und „Friedensstifter“. Aber das allein reichte schon aus, um ihn von dem Einzug in den Amtssitz des Lord of the Treasury und seit 1905 auch immer Premierministers (Downing Street Nummer 10) auszuschließen.

Innerhalb einer Woche, nachdem Corbyn Labour-Führer geworden war, zitierte die „Sunday Times“ einen „hochrangigen diensttuenden General“, der sagte, die Streitkräfte würden „direkte Maßnahmen“ ergreifen, um eine Regierung Corbyn zu stoppen – ein Ereignis, das effektiv eine Meuterei darstellen würde. Darauf folgte eine Reihe von Berichten im „Daily Telegraph“, in der „Times“, der „Daily Mail“ und der „Sun“, in denen ehemalige oder gegenwärtige Mitglieder der Armee, der Marine und der Spezialeinheiten sowie der Geheimdienste MI5, MI6 und ein ehemaliger hoher Beamter zitiert wurden. Es gab gut 440 Artikel, in denen Corbyn als „Bedrohung für die nationale Sicherheit“ erwähnt wurde.

Es überrascht also nicht, dass Corbyn keine Sicherheitsfreigabe vom „tief wurzelnden“ oder „permanenten“ Staat erlangte, d. h. von den wirklichen „VerschwörerInnen“, die sich hinter den samtenen Vorhängen des britischen Parlamentarismus versteckten. Gleichzeitig unterstützte er, im Gegensatz zu jedem anderen Labour-Führer seit dem Krieg, jeden größeren und viele kleinere Streiks und den Kampf der ArbeiterInnen für die Rettung ihrer Arbeitsplätze, öffentlichen Dienste, Löhne und Gewerkschaftsrechte.

Die herrschende Klasse hat nichts dergleichen vom hochwürdigen Sir Keir Starmer, seines Zeichens Befehlshabender Ritter des Bathordens, Königlicher Anwalt, Parlamentsabgeordneter, zu befürchten, der (aus ihrer Sicht) fünf Jahre lang untadelig als Direktor der Staatsanwaltschaft der Krone tätig war. Hier weigerte er sich, den betreffenden Polizisten für die „unrechtmäßige Tötung“ von Ian Tomlinson während einer Anti-G20-Demonstration 2009 in der Stadt strafrechtlich verfolgen zu lassen, und drängte auf eine entschlossenere Verfolgung von „SozialbetrügerInnen“ zu einer Zeit, als SteuerhinterzieherInnen frei herumliefen.

Hauptversäumnis

Die Hauptanklage, die wir an der Basis der Labour Party gegen Jeremy Corbyn erheben müssen, ist, dass er nicht annähernd weit genug gegangen ist, um die einfach Mitgliedschaft zu stärken. In Wirklichkeit schreckten er und sein BeraterInnenkreis davor zurück, die Mitglieder in einen Kampf um demokratische Kontrolle über die parlamentarische Labour-Partei, die FunktionärInnen der Partei in der Victoria Street, die StadträtInnen und die BürgermeisterInnen zu führen. Abgesehen von den Manifesten 2017 und 2019, die bereits in der Mülltonne gelandet sind, sind die politischen Ergebnisse in der Tat dürftig.

Die Errungenschaften der Linken waren vor allem dem Vorrecht des Parteivorsitzenden zu verdanken, die Politik zu bestimmen, einer Macht, die in die von Blair, Brown und Miliband geschaffene Rolle investiert wurde, ohne zu ahnen, dass diese jemals in die falschen Hände geraten würde. Was die formalen Strukturen der Parteidemokratie betrifft, so erzielten die Jahreskonferenz und der Nationale Vorstand erst spät einen gewissen Einfluss.

Die Wahrheit über das Corbyn-„Experiment“ besteht darin, dass die prokapitalistische ArbeiterInnen- und Gewerkschaftsbürokratie niemals zulassen wird, dass „ihre“ Partei friedlich – demokratisch oder auch nur bürokratisch – in eine kämpferische Partei der ArbeiterInnenklasse verwandelt wird, was notwendigerweise eine internationalistische Partei bedeutet, die überall an der Seite der unterdrückten Völker steht und gegen Imperialismus und Ausbeutung auf der ganzen Welt kämpft.

Starmer tut alles in seiner Macht Stehende, um sich dem britischen Imperialismus und damit seinem Verbündeten im Nahen Osten als sicherer Parteigänger zu erweisen. Das Team Starmer führt einen kompromisslosen Kampf, der darauf abzielt, sozialistische, internationalistische Ideen zu diskreditieren und Labour wieder zu einer „loyalen Opposition“ – loyal zum britischen Kapitalismus – zu machen, die die ArbeiterInnenbewegung vor das Joch der Klassenzusammenarbeit einspannt.

Wir müssen gegen die Entlassung von Rebecca Long-Bailey durch Starmer protestieren und ihre Wiedereinstellung mit einer vollen und demütigen Entschuldigung fordern. Wir müssen die Hexenjagd gegen AntizionistInnen beenden, die den Auftakt zu einer umfassenderen Offensive gegen alles Positive verkörpert, was vom Erbe Corbyns übrig geblieben ist.

Wir müssen eine mächtige Einheitsfront der Labour-Linken aufbauen, die sich nicht scheut, Starmer so energisch entgegenzutreten wie die Rechte Corbyn – wenn auch mit prinzipientreuen politischen Argumenten, nicht mit schmutzigen Gerüchten und Verleumdungskampagnen. Die stürmischen Klassenkämpfe, die ausbrechen werden, wenn die Tories versuchen, die ArbeiterInnen für die Coronavirus-Krise und die drohende große Rezession bezahlen zu lassen, und zu denen noch der Wahnsinn von Brexit hinzukommt, werden eine politische Führung erfordern, die sich nicht scheut, die neue rechte Führung der Labour Party aufs Korn zu nehmen, wenn sie zögert oder den Widerstand anprangert.

Die vor uns liegenden Monate und Jahre des Kampfes werden für Sir Keir und seine HexenjägerInnen nicht leichte sein. Wir sollten uns nicht eine Minute lang vor seinen Drohungen und Verfolgungen fürchten – Widerstand, nicht Nachgiebigkeit sollte unsere Haltung ausmachen.

Dieser Kampf muss die Grundlage dafür bilden, die Schlussfolgerungen aus den Corbyn-Jahren zu ziehen und den Kampf für eine echte sozialistische, internationalistische und antiimperialistische Partei der ArbeiterInnenklasse erneut aufzunehmen.