China nach der Abriegelung: Neue Probleme, alte Politik

Peter Main, Infomail 1106, 7. Juni 2020

Formell ist der Nationale Volkskongress das höchste Organ der Staatsgewalt in China. Obwohl er nur einmal im Jahr, und zwar zwei Wochen lang, zusammentritt, werfen seine Beratungen ein gewisses Licht auf die Prioritäten der Regierung und die Richtung, in die sich die Politik bewegt. Die diesjährige Tagung, die in den letzten beiden Maiwochen stattfand, musste wegen der Covid-19-Epidemie verschoben werden, deren Nachwirkungen offensichtlich einen völlig unerwarteten Kontext für die Pläne der Regierung geschaffen haben.

Die unmittelbare Folge der Abriegelung der Provinz Hubei und des verlängerten Nationalfeiertags Neues Mondjahr  war ein Rückgang des Bruttoinlandsprodukts im ersten Quartal um 9,8 Prozent im Vergleich zum letzten Jahresviertel 2019. Selbst jetzt, wird geschätzt, arbeitet die Wirtschaft nur noch zu etwa 80 Prozent der vorherigen Kapazität.

Nichtsdestotrotz wird Covid-19, wie die meisten Krisen, wahrscheinlich Trends, die sich bereits entwickelt haben, und einen politischen Kurs, der bereits geplant war, beschleunigen. Die Wirtschaft war schon ein Grund zur Sorge, lange bevor ein/e unglückliche/r BürgerIn von Wuhan das neue Virus erstmals aufnahm. Die Exporte, die seit 30 Jahren eine große Rolle für Chinas rasantes Wachstum gespielt haben, gingen 2019 sogar um 0,5 Prozent zurück, nachdem sie im Jahr zuvor um 10 Prozent gestiegen waren. Das BIP insgesamt wuchs nur um 6,1 Prozent, verglichen mit dem offiziellen Ziel von 6,5 Prozent.

Ungleichheit

Angesichts der Drohungen von US-Präsident Trump mit einem Handelskrieg waren schon vor der Pandemie die Aussichten auf eine Steigerung der Ausfuhren als Weg zum allgemeinen BIP-Wachstum nicht gut. Die Steigerung des Binnenkonsums ist daher zu einem wichtigen Ziel geworden, aber es ist eines, das ein Merkmal der chinesischen Gesellschaft offenbart, das oft übersehen wird: die enorme soziale Ungleichheit. Im gesamtgesellschaftlichen Durchschnitt liegt das Pro-Kopf-Einkommen in China bei etwa 30.000 Renminbi, d. h. etwa 4.000 US-Dollar pro Jahr, aber das verdeckt die Tatsache, dass 40 Prozent der Bevölkerung, 600 Millionen Menschen, mit weniger als 1.000 Rebminbi, d. h. etwa 130 US-Dollar pro Jahr, auskommen müssen.

Es ist kein Zufall, dass 40 Prozent der Bevölkerung auf dem Land leben. Einerseits bedeutet dies, dass Geldeinkommen nicht ihre einzige Unterhaltsquelle ist. Auf der anderen Seite macht es sie eindeutig nicht zu einem effektiven Markt für hochwertige Industriegüter, denn jemand mit 130 Dollar im Jahr wird sich kein neues Auto kaufen. Es unterstreicht auch, wie weit die Landbevölkerung von der Integration in die chinesische Marktwirtschaft entfernt ist.

In seiner Rede auf der Schlusssitzung des Nationalen Volkskongresses wies Premierminister Li Keqiang auf die Notwendigkeit hin, das verfügbare Einkommen dieses potentiell riesigen Marktes zu erhöhen, musste aber auch feststellen, dass die Kleinst-, Klein- und Mittelbetriebe, von denen man erwarten könnte, dass sie ihn bedienen, mit zunehmenden Schwierigkeiten zu kämpfen hätten. Diese beziehen sich auf ein weiteres Hauptthema in Lis Rede, nämlich die Notwendigkeit, sich mit der wachsenden Verschuldung und den „untilgbaren Krediten“ zu befassen, d. h. solchen, für die sich die KreditnehmerInnen nicht einmal die Zahlung von Zinsen leisten können.

Der Lösungsvorschlag der Regierung hierfür lautet wie schon seit vielen Jahren „Öffnung des Finanzsektors“. Dies ist die Formel, mit der Marktreformen in den staatlichen Banken gefördert werden sollen, die nach wie vor staatseigene und daher sehr große gegenüber kleinen, privaten Unternehmen bevorzugen. Die Tatsache, dass dies fast ein Jahrzehnt lang eines der Hauptziele von Präsident Xi Jinping war, unterstreicht die Hartnäckigkeit des Problems.

Ziel

Die Auswirkungen der Epidemie auf die Wirtschaft lassen sich daran ablesen, dass China zum ersten Mal seit mehr als 40 Jahren kein offizielles Wachstumsziel ausgibt. Die „Global Times“, Pekings offizielles Sprachrohr, bemerkte zu dieser Ankündigung von Li, dass jeder Vorschlag, das zuvor erwartete Ziel von „6 Prozent plus“ anzustreben, eindeutig unmöglich sei und „ein niedrigeres Ziel wäre nicht erhellend gewesen“. Mit anderen Worten, jede deutlich niedrigere Zahl als ursprünglich erwartet hätte sowohl die Industrie als auch die Provinzregierungen im ganzen Land entmutigen können.

Unmittelbar nach der Aufhebung der Sperre im März lag der Schwerpunkt verständlicherweise darauf, „die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen“, und die Erreichung dieses 80-Prozent-Wertes innerhalb von etwa sechs Wochen könnte recht beeindruckend aussehen. Es stellt sich jedoch die Frage, was mit den verbleibenden 20 Prozent geschieht.

Die Zahl der WanderarbeiterInnen in China wird auf 174 Millionen geschätzt. Da sie nicht als StadtbewohnerInnen registriert sind, erscheinen sie, wenn sie keine Arbeit haben, nicht in der Arbeitslosenstatistik. Es kann davon ausgegangen werden, dass praktisch alle zum Mondneujahr in ihre Heimatdörfer zurückgekehrt waren, aber Umfragen haben ergeben, dass nur 123 Millionen nach dem Jahresurlaub in die Städte zurückgekehrt sind, so dass etwa 50 Millionen noch auf dem Land leben.

Darüber hinaus gibt es 149 Millionen Selbstständige, die im Dienstleistungssektor und im kleinen Einzelhandel tätig sind, die beide sehr stark von der Kombination aus Epidemie und dem allgemeineren wirtschaftlichen Abschwung betroffen sind. Hinzu kommen etwa 8 Millionen Schul- und HochschulabgängerInnen, die im Laufe des Jahres in den Arbeitsmarkt eintreten werden. Aus diesen Zahlen geht klar hervor, dass China mit einem gravierenden Anstieg der Arbeitslosigkeit konfrontiert ist und die Mehrheit der Betroffenen keinen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung haben wird. Das ist eine potentiell gefährliche Aussicht.

Xi Jinpings zunehmend repressive Innenpolitik und aggressive Außenpolitik sind zweifellos zum Teil auf die Erkenntnis zurückzuführen, dass die sozialen Unruhen wahrscheinlich zunehmen werden. Wie viele andere „starke“ nationale FührerInnen benutzt er den Patriotismus, um Maßnahmen zu legitimieren, die eigentlich darauf abzielen, „sein“ eigenes Volk zu kontrollieren und zum Schweigen zu bringen. Die Sofortmaßnahmen, die eingeführt wurden, um der Epidemie zu begegnen, die massenhafte Unterdrückung der UigurInnen von Xinjiang, die strenge Kontrolle der sozialen Medien und des Internets und der umfassende Einsatz von Gesichtserkennungstechnologie zur Überwachung von Menschenmassen auf den Straßen sind alles Elemente einer systematischen Strategie zur Kontrolle potenzieller Unruhen.

Natürlich lässt sich Patriotismus am leichtesten durch Hinweise auf ausländische Bedrohungen aufpeitschen, und hier kann man sich darauf verlassen, dass Donald Trump sowohl mit seiner Rhetorik als auch mit seiner Handelspolitik ein leichtes Ziel bietet. Auf der diesjährigen Tagung des Nationalen Volkskongresses war es jedoch die Entscheidung, Hongkong stärker zu kontrollieren, die für Schlagzeilen sorgte. Die Ausweitung der nationalen Sicherheitsgesetzgebung auf Hongkong zielt offensichtlich darauf ab, die Oppositionsbewegung in der ehemaligen britischen Kolonie zu kriminalisieren. Forderungen nach mehr Demokratie, geschweige denn nach Unabhängigkeit, könnten als „Untergrabung der Staatsmacht“ eingestuft werden, und die Organisation von Demonstrationen oder Streiks könnte als Beweis für „Terrorismus“ oder „Einmischung ausländischer Mächte“ gelten.

Peking hat auch deutlich gemacht, dass es seine eigenen Sicherheitsdienste dort stationieren wird, falls es der lokalen Hongkonger Verwaltung nicht gelingt, den politischen Protesten und Demonstrationen, die das Gebiet seit mehreren Jahren wiederholt erschüttert haben, Einhalt zu gebieten. Dies wurde als ein Zeichen der Verärgerung gegenüber der Chefin der Hongkonger Exekutive, Carrie Lam, gewertet, ist aber eher als ein Schritt in Richtung eines längerfristigen Ziels zu verstehen.

Für die Kommunistische Partei Chinas war die Annahme der Formel „ein Land, zwei Systeme“, die den Status Hongkongs als „Sonderverwaltungszone“ Chinas untermauert, eine rein pragmatische Taktik, um die Rückkehr des chinesischen Territoriums unter chinesische Herrschaft zu erleichtern. Es war das letzte Echo der ungleichen Verträge, die China im 19. Jahrhundert akzeptieren musste, und besitzt als solches keine moralische Autorität. Es ist beabsichtigt, dass Hongkong mit der Zeit vollständig in die so genannte Greater Bay Area der Provinz Guangdong integriert wird.

In diesem Szenario ist jede Andeutung, dass andere Staaten wie Großbritannien oder die USA irgendein Recht haben, Einfluss darauf zu nehmen, wie das Territorium regiert wird, einfach ein Versuch, Chinas Souveränität erneut einzuschränken. Revolutionäre InternationalistInnen haben keinen Grund, in Streitigkeiten zwischen imperialistischen Regimen Partei zu ergreifen, aber jeden Grund, sich auf die Seite jeder Bevölkerung zu stellen, deren demokratische Rechte bedroht sind.

Die potenzielle Tragödie in der gegenwärtigen Situation besteht darin, dass die radikaleren Oppositionellen in Hongkong Peking in die Hände spielen, indem sie an die Unterstützung der anderen imperialistischen Mächte appellieren oder, schlimmer noch, sich für die Forderung nach Unabhängigkeit einsetzen. Dies ist nicht nur eine unpraktikable Forderung, sondern eine völlig verfehlte Strategie. Anstatt dem „Festland“ den Rücken zu kehren, ist es weitaus besser, die demokratischen Rechte, die sie noch haben, zu nutzen, um für diese Rechte zu kämpfen, und mehr noch, um sie auf ihre Landsleute in ganz China auszudehnen.

Da sich die Welt am Rande einer Rezession befindet, die sich bereits vor der Pandemie entwickelt hat, aber durch sie sicherlich noch verschärft wird, ist gewährleistet, dass die Rivalität zwischen den Großmächten von der Rhetorik zum Handelskrieg und möglicherweise zu einer tatsächlichen militärischen Konfrontation eskalieren wird. Wie wir bereits sehen können, wird dies mit zunehmend autoritären Regimen im Inneren einhergehen, die mit der Notwendigkeit gerechtfertigt werden, die „ausländische Bedrohung“ zu bekämpfen. Umso wichtiger ist es, dass die SozialistInnen in den imperialistischen Staaten nicht nur erkennen, dass der/die HauptfeindIn der ArbeiterInnenklasse im eigenen Land steht, sondern dass sie selbst international gegen alle ImperialistInnen organisiert werden müssen.