Perspektive Kommunismus: mit Nachbarschaftshilfe zum revolutionären Bruch?

Robert Teller, Infomail 1101, 27. April 2020

Perspektive Kommunismus (PK) hat ein Papier mit dem Titel „Thesen zu den Aufgaben der revolutionären Linken in der Corona-Krise“ veröffentlicht. Völlig zu Recht gehen sie davon aus, dass auch in der Coronavirus-Krise eben nicht alle Klassen im selben Boot sitzen:

„Die aktuelle Krise ist nicht nur eine des Gesundheitssystems und offenbart nicht nur die völlig mangelhafte Vorbereitung auf eine Pandemie. Das Corona-Virus trifft auf eine kapitalistische Wirtschaft, die schon seit Monaten in eine tiefe Krise schlittert. Alles spricht dafür, dass diese nun verstärkte Krise massive gesellschaftliche, politische und ökonomische Verwerfungen produzieren wird.“ (Thesen)

Das Virus selbst unterscheidet zwar an sich nicht zwischen oben und unten, aber für „die oben“ und „die unten“ ist das Oben- oder Untensein nicht erst im Krankheitsfall wichtig. So hängt der Zugang zur Gesundheitsversorgung auch von der Wohngegend ab, also ob die zuständige Intensivstation noch Beatmungsplätze frei hat. Ein privilegierter privater Versicherungsstatus, bessere medizinische Versorgung von Vorerkrankungen und Wohnort in besserer Gegend geht mit erhöhten Heilungsaussichten einher. Natürlich hängt bereits das individuelle Infektionsrisiko maßgeblich davon ab, ob jemand im nach wie vor gut frequentierten Nahverkehr zur „unentbehrlichen“ Lohnarbeit pendeln muss. Viele aus der Unterschicht aber werden die Krankheit nicht als Lungenentzündung kennenlernen, sondern als Kurzarbeit mit Lohn- oder Sparprogramm mit Jobverlust. PK zieht daraus die richtige Schlussfolgerung:

„In dieser Situation müssen wir jede Form der ‚Burgfriedenspolitik’ zurückweisen. Wir dürfen in keine ‚nationale Einheitsfront gegen das Virus’ einschwenken!“ (Thesen)

Schon in „normalen“ kapitalistischen Krisen fordern die Bosse von den ArbeiterInnen gewöhnlich „Zusammenhalt“ ein – was konkret bedeutet, dass letztere die Kosten der Krise selbst bezahlen sollen. In der aktuellen Situation erhält diese Forderung natürlich erhöhte Überzeugungskraft, weil der Auslöser der Krise eben rein mechanisch betrachtet kein gesellschaftlicher, sondern ein biologischer ist, und biologisch sind wir alle gleich. Doch die „nationale Koalition“ macht eben gerade nicht alle gleich: So entscheiden hierzulande nach wie vor die KapitalistInnen selbst, ob die Produktion von SUVs oder der Versandhandel mit Krimskrams wichtiger ist als die Gesundheit der hierfür notwendigen LohnarbeiterInnen. So manche KapitalistIn wird die Stunde der Einheit nutzen, um lange bekannte strukturelle Überkapazitäten abzubauen.

All das schreibt auch PK und folgert korrekt: Linke müssen nun der Burgfriedenspolitik den Kampf ansagen  – auch gegen die Außerkraftsetzung demokratischer Grundrechte, welche eine massive Schwächung, wenn nicht Verunmöglichung ernsthafter gewerkschaftlicher Abwehrkämpfe bedeutet.

Burgfrieden und Bürokratie

Leider ist in den Thesen von PK verlorengegangen, dass in den reformistischen Führungen der ArbeiterInnenbewegung die „Burgfriedenspolitik“ unter der Bezeichnung „Sozialpartnerschaft“ hoch im Kurs steht und die Krisenpolitik der Großen Koalition maßgeblich auch auf der aktiven Demobilisierung betrieblicher Kämpfe durch die reformistischen Apparate beruht. Die Absage jeglicher Kampfaktionen in der Metall-Tarifrunde bereits im Januar (wohlgemerkt, bevor COVID-19 zu einer Pandemie und globalen Krise geworden war) und der Abschluss einer Corona-Nullrunde am 20.03. stellen eine Art nationalen Schulterschlusses dar, der von der Bürokratie über den grünen Klee gelobt wird. „Dieser Abschluss ist ein Beitrag zur Abfederung der Corona-Krise und stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt“, verkündet der IG Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann. Die „Unterbrechung“ der Tarifrunde Nahverkehr durch ver.di wird mit ähnlichen Worten begründet: „Wir halten die Uhr an, denn für uns steht jetzt an erster Stelle, in dieser Krise mit einmaligem Ausmaß verantwortungsvoll zusammenzustehen und Gesundheit und Einkommen zu sichern.“ Dies ist die Gestalt der, wie PK es nennt, „nationalen Einheitsfront“. PK widmet der systematischen Klassenzusammenarbeit durch die Führung der DGB-Gewerkschaften aber nur eine, noch dazu beschönigende Randnotiz:

„Die – leider sehr defensiven – Tarifverhandlungen der IG Metall beweisen den allgemeinen Ernst der Lage.“ (Thesen)

PK beansprucht richtigerweise, die Corona-Krise im Allgemeinen wie im Konkreten, also etwa in der Nachbarschaftshilfe, mit politischer Propaganda hinsichtlich des Klassencharakters der beschlossenen Maßnahmen zu verbinden. Sie lehnt dabei aber den entscheidenden Punkt ab: hierfür innerhalb der ArbeiterInnenbewegung zu kämpfen, also auch innerhalb der Gewerkschaften den Kampf gegen die reformistischen Apparate als wichtigem Standbein der Großen Koalition in ihrer Krisenbewältigung zu führen und eine klassenkämpferische Opposition aufzubauen. Stattdessen die hoffnungsvolle Ankündigung, dass das gar nicht nötig ist, denn:

„Die Krise wird zu ideologischen Brüchen führen. Viele Menschen, die bislang für uns kaum erreichbar waren, werden nach Orientierung suchen und für revolutionäre Forderungen offener werden. Wir müssen daher noch stärker als bisher auf diese Menschen zugehen, ihnen die Perspektive des Sozialismus und einer klassenlosen Gesellschaft verständlich machen. Wir müssen an ihren Problemen andocken, uns dabei einfach und verständlich ausdrücken und den Menschen auf Augenhöhe begegnen. Letzteres verweist auf einen weiteren, eigentlich logischen, Punkt: Es muss erkennbar sein, von welchem Standpunkt aus wir agieren. Wir sind nicht nur die netten NachbarInnen, die beim Einkaufen helfen, und nicht einfach GewerkschafterInnen, die da sind, wenn es um Entlassung und Kurzarbeit geht (die sind wir natürlich auch): Wir sind KommunistInnen und müssen als solche erkennbar sein.“ (Thesen)

Anstatt den politischen Charakter der Gewerkschaftsbürokratien offenzulegen, die im Sinne der Sozialpartnerschaft auch noch so geringe Tarifforderungen kampflos preisgeben, brauchen wir: auf die Menschen zuzugehen, uns zu erkennen zu geben und ihnen die Vorzüge der klassenlosen Gesellschaft darzulegen. Die sicher kommenden ideologischen Brüche erfordern dann nur noch die angemessene pädagogische Behandlung.

Übergangsforderungen

Dieser Ansatz umgeht die Frage, welches Programm, welche Forderungen, welche Politik die KommunistInnen in den Gewerkschaften, in den Betrieben oder auch in der Nachbarschaftshilfe vertreten sollen. Und er tut so, also müssten die KommunistInnen nicht zugleich einen politischen und ideologischen Kampf gegen bürgerliche Einflüsse, bürgerliches Bewusstsein in der Klasse ausfechten – vor allem die Notwendigkeit, ihn gegen die wichtigsten Träger- und VerbreiterInnen einer falschen Politik der Klassenzusammenarbeit und des nationalen Schulterschlusses in der ArbeiterInnenklasse –  zu führen – also gegen die Strategie und Politik der reformistischen Apparate.

Dieser Ansatz verkennt von Grund auf, dass die Frage der Kampfmethoden auch in gewerkschaftlichen Kämpfen immer eine politische ist und KommunistInnen in allen Detailfragen des Klassenkampfes mit konkreten Positionen und Aktionen versuchen müssen, die Teilkämpfe in den Kontext ihres historischen Ziels zu stellen, d. h. der Errichtung der ArbeiterInnenmacht. Ansonsten bleibt „Sozialismus“ eine abstrakte Phrase. Folgerichtig bleibt die einzige konkret anwendbare Schlussfolgerung bei PK der Ratschlag für die Nachbarschaftshilfe: erzählt den NachbarInnen vom Kommunismus. Der gewerkschaftliche wie der Kampf für Minimalziele überhaupt (darunter auch in der Nachbarschaftshilfe) sind bei PK strikt getrennt vom hehren Ziel der klassenlosen Gesellschaft. Zwischen diesen beiden Extremen besteht keine Vermittlung. Verbesserungen im Hier und Jetzt werden nicht mit einem strategischen und programmatischen Bezug zum Kampf für eine andere Gesellschaft verknüpft. Somit kann die PK den Kommunismus nur als ein fernes Endziel verkündeten. Im Hier und Jetzt vertritt sie – ähnlich wie die Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg oder der Reformismus generell – nur ein Minimalprogramm. Dabei bestünde die Aufgabe von RevolutionärInnen gerade darin, die beiden Extreme durch ein System von Übergangslosungen zu verbinden. So müssten z. B. Forderungen nach ausreichendem Gesundheitsschutz mit der Losung der ArbeiterInnenkontrolle über deren Umsetzung verbunden werden. So könnten z. B. Nachbarschaftskomitees durch die Forderung nach Kontrolle über staatliche oder kommunale Hilfsgelder und deren Verteilung politisiert werden.

Ohne eine solche Methode von Übergangsforderungen steht der von PK nicht näher definierte „revolutionäre Bruch“ unvermittelt neben der Forderung, sich mehr in der Bevölkerung zu verankern.

Um die aktuelle Krise im Interesse der ArbeiterInnenklasse zu lösen, wären aber zuallererst konkrete Schritte gegen die Abwälzungspolitik des Kapitals notwendig. Der Kampf gegen Kurzarbeit und Entlassungen und für die Weiterbeschäftigung aller bei vollen Lohnzahlungen durch die Unternehmen, die Bildung von Komitees aus Belegschaften und ArbeiterInnenbewegung, die über notwendige Produktionsstopps beraten und entscheiden, der schnellstmögliche Ausbau der medizinischen Versorgung durch Einstellung von Personal zu vollen tariflichen Gehältern, bezahlt durch Besteuerung von Unternehmen und unter Kontrolle der ArbeiterInnen – das sind nur einige Forderungen, die notwendig sind, um die gesundheitlichen und sozialen Folgen auf die Klasse zu begrenzen. Diese Verknüpfung von unmittelbaren Zielen mit der Selbstorganisation der Klasse und der Bildung von Machtorganen würde zudem die Möglichkeit schaffen, dass die Massen tatsächlich „revolutionär brechen“ können.

Diese Maßnahmen stehen aber eben nicht auf der Agenda der Gewerkschaften. Sie können offensichtlich nicht erkämpft werden, ohne zugleich der Politik der Sozialpartnerschaft den Kampf anzusagen. Für PK scheinen Reformismus und Sozialpartnerschaft Dinge der Vergangenheit zu sein, die im Zuge der Krise von alleine diskreditiert werden. Klar ist, dass die Krise zu sozialen Verwerfungen und zu Kämpfen führen wird. Aber im genannten Verhalten vom IGM und ver.di zeigt sich, dass gerade in der Krise die Bürokratie stramm in der Front zur Rettung der Nation steht – und dies ist nicht nur in der Konzeption der Sozialpartnerschaft, sondern generell in rein gewerkschaftlicher und reformistischer Politik angelegt, die immer einen Klassenkompromiss anstreben muss.

Um in der Krise die ArbeiterInnenklasse aus der Passivität zu holen und Widerstand zu organisieren, müssten revolutionäre Linke jetzt die Maßnahmen der GroKo zurückweisen – die Außerkraftsetzung von demokratischen Rechten, die Einführung von 12h-Tag und 60h-Woche, die Abwälzung der Kosten auf die Klasse durch Ausweitung der Kurzarbeit, die nationale Abschottungspolitik und die Schließung der Grenzen für Flüchtlinge.

Stattdessen müssen Linke dafür kämpfen, den Gesundheitssektor und die pharmazeutische Industrie sofort entschädigungslos zu enteignen und unter ArbeiterInnenkontrolle zu stellen, für ein Sofortprogramm zur Erhöhung der Behandlungskapazitäten, bezahlt aus den Profiten der Unternehmen, für die Abschaffung des Geschäftsgeheimnisses und die Offenlegung aller Forschungsergebnisse zu Impfstoffen und Medikamenten, damit möglichst schnell wirksame Behandlungsmöglichkeiten gefunden werden können. Derartige Forderungen sucht man bei PK vergeblich. Statt Menschen für einen Kampf gegen die Krise zu organisieren, der ihnen erlaubt, die Verhältnisse zu verstehen – auch die Stützung der Bourgeoisie durch die ReformistInnen – will PK den „Bruch“ dadurch erreichen, dass die Menschen sehen, dass KommunistInnen doch auch gute Menschen sind.