Iran im Zentrum von Krise und Pandemie

Robert Teller, Neue Internationale 245, April 2020

Schon lange vor Ausbruch der COVID-19-Pandemie war der Iran ein Brennpunkt im Kampf um die politische Hegemonie im Nahen Osten – und steckt zudem inmitten einer Krise, die wiederholt Hunderttausende in den offenen Kampf gegen das Regime getrieben hat. Ausgerechnet hier schlägt die Pandemie am heftigsten zu.

Laut offiziellen Angaben des Regimes wurden bis zum 31. März 44.600 Infizierte im Land nachgewiesen, von denen 2.900 verstorben sind. Eine kanadische wissenschaftliche Untersuchung hingegen schätzte auf Grundlage verfügbarer Daten bereits einen Monat früher, am 25. Februar, die Zahl der Infizierten auf etwa 18.000 (mit großer Unsicherheit). Verschiedene Berichte aus lokalen Krankenhäusern legen nahe, dass in den schwer betroffenen Regionen die tägliche Zahl an Verstorbenen die offiziell gemeldeten Zahlen um ein Mehrfaches übersteigt. Auf Satellitenbildern wurden Massengräber nachgewiesen. Die bürgerliche Oppositionsbewegung der Volksmudschahedin (Modschahedin-e Chalgh) gibt auf Grundlage von Berichten ihres Netzwerkes bis zum 31. März 14.700 Verstorbene an. Es ist keine Spekulation, zu vermuten, dass Iran gemessen an den wirklichen Todesopfern bislang das am schwersten von der Pandemie getroffene Land weltweit ist.

Erste Reaktionen

Bereits im Februar hatte der Ausbruch im Iran bedrohliche Ausmaße angenommen. Doch anstatt Schutzmaßnahmen zu ergreifen, leugnete das Regime den Ausbruch. Ein Lockdown zu diesem Zeitpunkt hätte die Feiern zum Jahrestag der Iranischen Revolution, die eine wichtige Machtdemonstration des Regimes darstellen, gefährdet. Selbst bis zur Parlamentswahl am 21. Februar ergriff das Regime keine Maßnahmen, die Ausbreitung zu kontrollieren. Präsident Rohani bezeichnete die Epidemie als Lüge der USA, die mit dem Ziel verbreitet wird, die iranische Wirtschaft zu schädigen und die IranerInnen von der Stimmabgabe abzuhalten. Ein Sprecher des Parlaments verkündete, dass alle, die „Gerüchte“ über die Epidemie verbreiten, mit ein bis drei Jahren Haft und Peitschenhieben zu bestrafen sind.

Tatsächlich lag die Wahlbeteiligung landesweit bei 42 % – fast 20 % weniger als bei der letzten Wahl – und war damit die geringste Wahlbeteiligung seit der Iranischen Revolution. In Teheran wurde sogar mit nur 26 % der geringste Wert aller Provinzen erreicht. Doch für diejenigen, die sich der Stimme enthielten, war ganz überwiegend nicht die grassierende Coronavirusepidemie ausschlaggebend, sondern der politische Charakter der Wahl, die im Wesentlichen eine Stimmenentscheidung zwischen den Rechten und den Ultrarechten des Mullah-Regimes zuließ. Fast alle Oppositionskräfte hatten zum Wahlboykott aufgerufen.

Sinnbildhaft für die Unfähigkeit des Regimes, auf die Epidemie zu reagieren, stand der stellvertretende Gesundheitsminister Iraj Harirchi, der hustend, fiebernd und mit Schweißperlen im Gesicht vor der Presse verkündete, dass Berichte über einen großen Krankheitsausbruch in der Stadt Ghom Lügen seien. Am darauffolgenden Tag wird bei ihm selbst die Virusinfektion nachgewiesen. Weitere RegierungsvertreterInnen und 23 Parlamentsabgeordnete hatten sich bis Anfang März nachweislich infiziert.

Erst Anfang März reagierte das Regime, indem es Schulen und Universitäten schloss. Seither richtet es regelmäßig Appelle an die Bevölkerung, Vorsichtsmaßnahmen zu beachten, und verurteilt in schärfer werdendem Tonfall das „unverantwortliche Verhalten“ der Massen, die sich den Appellen widersetzen würden. Doch selbst zum persischen Neujahrsfest am 20. März, wenn Millionen IranerInnen gewöhnlich zu ihren Familien reisen, war der öffentliche Verkehr weiter in Betrieb, Industriebetriebe liefen weiter, Märkte und Geschäfte waren weiterhin geöffnet. Erst in der letzten Märzwoche wurden Fernverkehrsverbindungen eingestellt. Einen umfassenden Stopp nicht notwendiger Produktions- und Dienstleistungsbetriebe gibt es bis heute nicht. Zehntausende Gefangene wurden in Anbetracht der Epidemie aus den Gefängnissen entlassen. Politische Häftlinge wurden jedoch bislang trotz gegenteiliger Versprechungen nicht auf freien Fuß gesetzt. Auch die 7.000 Gefangenen der Novemberproteste sitzen bis heute in den Knästen ein und sind damit in akuter gesundheitlicher Gefahr. In Gefängnissen in Saqqez und Schiraz brachen in Anbetracht der Gefahr in den vergangenen Tagen Aufstände aus.

Wirtschaftliche Krise

Der (halb-)staatliche Sektor, insbesondere die Ölförderung samt nachgelagerter petrochemischer Industrie, die Fahrzeugproduktion, die pharmazeutische Industrie und andere sind durch die erneuten US-Sanktionen seit 2018 massiv beschädigt. 2019 schrumpfte die iranische Wirtschaft laut IWF um 9,5 %. Die Ölexporte, die den größten Teil des Staatshaushalts ausmachten, brachen um fast 90 % ein. Angesichts des jüngsten Einbruchs des Ölpreises beantragte des iranische Regime Anfang März einen Kredit von 5 Mrd. US-Dollar beim IWF.

Konsumgüter verteuerten sich 2019 um 31 % (IWF). Die wegbrechenden Staatseinnahmen zwangen das Regime zu sozialen Angriffen wie der Abschaffung von Subventionen. Die Novemberproteste 2019, die Hunderttausende trotz blutiger Repression auf die Straße trieben, waren ein Ausdruck der Radikalität und der Wut, die diese neoliberalen Maßnahmen eines korrupten, theokratischen Regimes hervorrufen‚ aber auch der Verzweiflung des Regimes, das mit blutiger Gewalt reagierte und viele hundert DemonstrantInnen tötete.

Der Grund für die Unfähigkeit, auf die Epidemie angemessen zu reagieren, ist klar: Das iranische Regime steht sowohl ökonomisch als auch politisch mit dem Rücken zur Wand. Präsident Rohani erklärte treffend: „Gesundheit ist für uns ein Prinzip, aber Produktion und die Sicherheit der Gesellschaft ist für uns auch ein Prinzip.“ (29.03.)

Regionalmachtambitionen

Milliarden versickern in den militärischen Interventionen im Irak, in Syrien und im Jemen und in den korrupten Geschäften der iranischen Revolutionsgarden. Das offizielle Verteidigungsbudget liegt bei 16 % des Staatshaushaltes. Nicht berücksichtigt dabei sind weitere Milliarden, die die Revolutionsgarden aus dem Staatshaushalt und aus ihrem Wirtschaftsimperium abzweigen und etwa zur Finanzierung regimetreuer Milizen im Irak verwenden.

Diese Interventionen sind für das Regime einerseits eine politische Lebensversicherung im Angesicht einer drohenden US-Intervention. Sie dienen aber ebenso sehr der Durchsetzung der wirtschaftlichen Interessen eines wichtigen Teils der iranischen Bourgeoisie, der mittels der Revolutionsgarden im Irak wichtige Absatzmärkte für eigene Produkte erschlossen hat und hofft, einen Zugang zum irakischen Ölsektor zu erhalten und beim Wiederaufbau Syriens zum Zuge zu kommen. Ein Lockdown würde nicht nur die Profite der vom internationalen Kapitalmarkt weitgehend abgeschnittenen Bourgeoisie bedrohen, sondern auch die Regionalmachtansprüche des iranischen Regimes.

Widerstand

Vor allem aber ist klar, dass ein umfassender Lockdown, sofern er nicht mit einem massiven staatlichen Nothilfeprogramm verbunden wird, die Lohnabhängigen, die Millionen KleinbürgerInnen, Arbeitslosen und Prekarisierten von heute auf morgen ihrer Lebensbedingungen berauben wird. Die soziale Sprengkraft einer solchen Situation wäre enorm und sie würde den spontanen Widerstand breiter Teile der Bevölkerung herausfordern. Wie bereits im November und nach dem Abschuss der ukrainischen Passagiermaschine Anfang Januar würde eine solche Bewegung sich nicht auf ökonomische Ziele beschränken. Sie würde unmittelbar politischen Charakter annehmen und – wie bereits im November – die reaktionären Militärinterventionen und den korrupten Charakter des iranischen Regimes als Hauptgrund für die Krise anprangern. Die Bewegung könnte sich zudem auf die Massenproteste im Irak beziehen, die ihre Stimme gegen das sektiererische politische System erheben, das vom iranischen Regime dort maßgeblich geformt wurde. Das heißt, das Regime kann zu den drastischen Maßnahmen, die zur Eindämmung der Epidemie nötig wären, nicht greifen, ohne soziale Verwerfungen zu erzeugen, die nicht mehr zu beherrschen wären.

Die Reaktion des iranischen Regimes auf die Pandemie mag im Vergleich zur Politik der westlichen Industrienationen als unverantwortlich erscheinen. Doch die zugrunde liegende Methode ist die gleiche, die alle bürgerlichen Regierungen verfolgen: Die Folgen der Pandemie sollen die Massen schultern. Hierzulande sind in den vom Lockdown betroffenen Branchen Millionen von Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit bedroht, die wirtschaftlichen Kosten der Krise werden auf die Massen abgewälzt. Das iranische Regime dagegen lässt die Pandemiewelle ungebremst übers Land hinweg rollen – nach dem Motto: Wer krank ist, wehrt sich nicht.

Die Pandemie verdeutlicht nicht nur den reaktionären Charakter des iranischen Regimes, das im eigenen Machtinteresse bereitwillig hunderttausende Opfer in Kauf nimmt. Sie verdeutlicht auch, dass der Handlungsspielraum des Regimes dabei gegen null geht. Die einzige realistische Möglichkeit, die sich anbahnende Katastrophe abzuwenden, besteht darin, dem Regime und den mit ihm verbundenen Revolutionsgarden die Kontrolle über die Betriebe zu entreißen und unter Kontrolle der Beschäftigten ein Notprogramm zur Bewältigung der Pandemie umzusetzen. Alle nicht notwendigen Betriebe und Einrichtungen müssen sofort stillgelegt werden, bei Fortzahlung der Löhne – zugleich müssen die Reichtümer der KapitalistInnen, insbesondere im Wirtschaftsimperium der Revolutionsgarden, konfisziert werden, um die Produktion lebenswichtiger Konsumgüter für die Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Arbeitslose und alle, deren Einkommen auf Grund der Pandemie weggebrochen ist, müssen kostenlosen Zugang zu Grundbedarfsgütern erhalten. Das Gesundheitssystem, die pharmazeutische Industrie und die medizinischen Einrichtungen des Militärs, der Revolutionsgarden und der religiösen Organisationen müssen unter Kontrolle der ArbeiterInnen gestellt und mit einem Sofortprogramm aus konfisziertem Vermögen aufgerüstet werden, um die Behandlungskapazitäten zu steigern.

In dieser Situation müssen die politisch bewusstesten und entschlossensten KämpferInnen und mit der ArbeiterInnenklasse verbundene Intellektuelle den Aufbau einer revolutionären, kommunistischen Partei mit dem Kampf gegen Pandemie und Krise verbinden. Eine solche Partei muss sich auf ein Programm von Übergangsforderungen stützen. Sie muss die revolutionäre Perspektive gegen das Mullah-Regime als Teil des Kampfes für eine sozialistische Umwälzung im gesamten Nahen und Mittleren Osten begreifen, eines Kampfes, der sich sowohl gegen die reaktionären Regime aller Art wie die imperialistische Herrschaft über die Region richtet.