Von der Pandemie zur Weltwirtschaftskrise, Teil 2: Die drohende Katastrophe

Markus Lehner, Neue Internationale 245, April 2020

Diese Krise der Gesundheitssysteme, mit der wir uns im ersten Teil des Artikels beschäftigt haben, ist der Vorlauf für eine allgemeine ökonomische Krise. Mehr oder weniger alle betroffenen Länder müssen große Bereiche des Wirtschaftslebens aufgrund der Pandemie für einen bestimmten Zeitraum stillstehen lassen. Bei der „Herden-Immunität“-Politik wird das Wirtschaftsleben durch die große Zahl der gleichzeitig Erkrankten und das – angeblich – schnelle Abebben der Pandemie danach zwar nur kurz unterbrochen, die größere Zahl von Toten kostet aber viel mehr Arbeitskräfte und KonsumentInnen. Die restriktive Bekämpfung der Epidemie würde weite Teile der Produktion für mehrere Monate still legen, erlaubt aber dann mit weitgehend voller Menschen-Stärke die Produktion wieder aufzunehmen.

Prognosen

Die „Flatten the curve“-Strategie, die von den meisten
imperialistischen Staaten betrieben wird, soll das Stillstehen auf ein bis zwei
Monate beschränken, dann aber, aufgrund der sich länger hinziehenden Epidemie,
für den Rest des Jahres weitere teilweise Einschränkungen in Produktion und
Zirkulation mit sich bringen. Die Schätzungen für OECD-Länder, basierend auf
Stillstand von 50 % der Wirtschaftsbereiche in einem Monat und 25 %
für einen zweiten Monat, prognostizieren einen Einbruch des BIP
(Bruttoinlandsprodukt; engl.: gross domestic product, GDP) in diesem Jahr um
6,5 %. Die sehr wahrscheinliche Annahme von einem weiteren Monat mit
25 % Einschränkung führt sogar schon zu einem Rekord-Minus von 10 %.
Die Chefin der EZB, Lagarde (FAZ, 18.3.), rechnet optimistisch für den
Euro-Raum mit einem Minus von 5 % in diesem Jahr und hält die 10 %
für noch etwas zu pessimistisch. Jedenfalls sind alle Prognosen bereits jetzt
schlimmer als der Einbruch, der bei der „großen Rezession“ 2008/2009 gemessen
wurde (damals: -4,4 % im Euro-Raum). Auch die Chefin des IWF, Georgiewa
(SZ, 27.3.), erklärte, dass sich die USA und der Euro-Raum schon in einer
Rezession befinden, die schlimmer als die letzte große werden würde. Und
schließlich erklärte auch der OECD-Generalsekretär, Gurria (SZ, 27.3.), dass
jeder Monat mit den jetzt üblichen Einschränkungen etwa 2 %
Wirtschaftswachstum kostet. Mit den Mehrbelastungen im Gesundheitssektor kommt
man dann auch auf sicher über 5 % BIP-Schrumpfung.

Hinzu kommt aber, dass sich der Einbruch nicht nur im
nationalen Maßstab abspielt, sondern die Pandemie die Weltwirtschaft als Ganze
betrifft. Ökonomische Einschränkungen für die Weltwirtschaft gibt es sowohl
beim Angebot wie bei der Nachfrage. Einerseits bedeutet Stillstand bestimmter
Produktionen auch weniger Export von Waren und Dienstleistungen, ob es sich um
Produktions- oder Konsumgüter oder aber auch Einschränkungen beim Transport
handelt. Andererseits bricht gerade auch die Nachfrage, z. B. nach
Rohstoffen wie Öl oder Metallen, stark ein. Der Welthandel setzt heute Waren
und Dienstleistungen im Wert von etwa 50 % des Weltsozialprodukts um.
D. h. jeder Einbruch bei einer größeren Zahl von Export-/Import-Nationalökonomien
muss sofort eine Kettenreaktion von Problemen mit Gütermängeln in anderen
Ökonomien auslösen. Insbesondere der Einbruch bei der „Lokomotive“ der
industriellen Weltproduktion, der prognostizierte Rückgang des chinesischen
Wirtschaftswachstums in diesem Jahr von den bereits „schwachen“ 6 % des
Vorjahres, auf unter 4 %, bedeutet hier eine dramatische Abwärtsspirale.

Praktisch alle großen globalen Produktionsketten sind heute
von dem mehrwöchigen Stillstand in wichtigen chinesischen Industriezentren
betroffen. Dies, nicht so sehr die Pandemie-Politik, war auch der wesentliche
Grund für den Produktionsstillstand wesentlicher europäischer Industrien
(z. B. der Automobilindustrie in Deutschland). Die andere Seite des
Angebotsrückgangs auf dem Weltmarkt betrifft eine tatsächliche Verknappung
wichtiger Güter. Dies wurde schon erwähnt in Bezug auf medizinische Produkte,
trifft aber selbst alltägliche Konsumgüter. Die Probleme mit Grenzschließungen
führen selbst in europäischen Ländern zu Einbrüchen beim Import von Lebensmitteln
oder Arbeitskräften für die Lebensmittelproduktion. Zur Aufrechterhaltung der
Grundversorgung wird auch hier zu staatlichen Maßnahmen (bis hin zur
Zwangsarbeit von Geflüchteten) gegriffen. Die Einbrüche auf dem Weltmarkt, der
Zusammenbruch des Tourismus und der Rückgang der Rohstoffnachfrage treffen die
ohnehin schon stark gebeutelten halbkolonialen Ökonomien aber besonders heftig.

Finanzmärkte und Finanzpakete

Während die letzte globale Krise durch die Finanzmärkte
ausgelöst wurde, schienen diese lange Zeit von der heraufdämmernden Gefahr
unbeeindruckt. Erst Ende Februar begann an den Börsen Panik um sich zu greifen,
um Anfang März, als die wirtschaftlichen Folgen absehbar waren, in einem der
größten Börsenabstürze der Geschichte zu münden. Dies an sich könnte noch als
zu erwartende Korrektur der überbewerteten Anteilswerte gesehen werden.
Gleichzeitig bringt die Neubewertung vieler Unternehmen deren tatsächlich
schlechte finanzielle Situation zum Vorschein, sowohl was ihre reale
Eigenkapital- und Liquiditätsausstattung angeht, als auch in Bezug auf ihre
Verschuldung.

Tatsächlich ist in den letzten Jahren aufgrund der niedrigen
Zinsen der Markt für Unternehmensanleihen als eine Art festverzinslicher
Wertpapiere mit scheinbar hoher Rendite extrem stark gewachsen, inzwischen auf
13 Billionen US-Dollar weltweit. Dabei wurden wie vor der letzten Krise immer
weniger Bonitätsprüfungen gefordert, so dass heute etwa zwei Drittel dieser
Anleihen als fragwürdig gelten (es wurden immer mehr schlecht laufende Unternehmen
finanziert, um darauf spekulativ „hoch-rentable“ Wertpapiere zu verbriefen).
Auf diesen Märkten stiegen die Zinsen (insbesondere für kurzfristige
Unternehmensanleihen) schon seit geraumer Zeit und explodierten geradezu mit
der aufkommenden Corona-Panik. Hier drohte die Differenz zwischen Anleihezinsen
und langfristigen US-Staatsanleihen das Niveau der letzten Finanzmarktkrise zu
erreichen. Mit den fallenden Kursen tendieren die AnlegerInnen, aus den immer
riskanter werdenden Anleihen auszusteigen. Angesichts der einbrechenden
Realwirtschaft und der schwachen Liquiditätsausstattung droht damit eine akute
Zahlungsunfähigkeit vieler, auch großer Unternehmen (insbesondere in den USA
und China). Fürs Erste wurde dies durch die massiven Aufkäufe der Zentralbanken
von Unternehmens- und Staatsanleihen verhindert (EZB: 750 Milliarden Euro, FED:
700 Milliarden US-Dollar). Entgegen ihrer ursprünglichen Funktion pumpen sie
nicht mehr nur über die mit ihnen handelnden Banken, sondern über direkte
Kreditbeziehungen Geld an Unternehmen und Staaten. Im Grunde werden die
mächtigsten Zentralbanken der Welt, die von den USA, China, Japan und der EU,
zu den Agenturen einer vom Finanzkapital kontrollierten Vergesellschaftung
weiter Teile der globalen Ökonomie.

Diese Institutionen sind es auch, die ihren Regierungen
erlauben, staatliche Ausgabenprogramme zur Corona-Krisenbekämpfung zu
finanzieren, nach dem Motto von Mario Draghi: „Koste es, was es wolle!“. In
Deutschland wurde ein Fiskalpaket aufgelegt, das etwa 4,6 % des BIP
entspricht, ergänzt durch einen Stabilisierungsfonds für Garantien,
Anleihekäufe und Kredite der staatlichen KfW, was die Summe der Maßnahmen auf
22 % des BIP bringt. Ähnliches lässt sich vom 2-Billionen-US-Dollar-Paket
des US-Kongresses sagen. Auch wenn für die Kosten des Gesundheitssystems und
die sozialen Abfederungen beträchtliche Teile abgerechnet werden, so wird
behauptet, dass diese Summen ein Einbrechen des BIP um 10 % abfedern
können.

Allerdings weiß niemand, ob die Anleihekäufe von Zentralbanken
und Staaten wie auch die Garantien für Bankkredite die Finanzmärkte und Banken
tatsächlich zu einer weiteren Finanzierung von Unternehmen bewegen werden, die
in nächster Zeit wenig Profiterwartung, aber große Schuldenberge aufzuweisen
haben. Sollte es somit zu einer Welle von Insolvenzen kommen, werden die
Regierenden schnell vor die Alternative gestellt: noch mehr Billionenprogramme
von Staat und Zentralbank,  direkte
Verstaatlichung (z. B. von als „strategisch“ bezeichneten
Luftfahrtunternehmen) oder doch, den Bankrott dieser „Millionengräber“
zuzulassen. Die Banken, die derzeit aufgrund restriktiverer Kredit- und
Wertpapiergeschäfte nach der letzten Krise noch relativ günstige Bilanzen
aufweisen, könnten durch die neuerliche Tendenz zur Übernahme von Risiken
schnell selbst wieder zu Problemfällen werden – weshalb ihre Bereitschaft zur
„Krisenintervention“ wohl nicht so ausgeprägt sein wird. Angesichts der Größe
des maroden Anleihemarktes (13 Billionen US-Dollar) sind die Summen, die bisher
geflossen sind, wahrscheinlich nicht ausreichend, um gezielte Spekulationen
gegen Zusammenbrüche bestimmter Staaten und Unternehmen zu unterbinden.
Immerhin deuten die Bewegungen auf den Derivatemärkten (Finanzmärkte, auf denen
verbriefte Wertpapiere wie Optionen, Futures etc. gehandelt werden) schon
wieder darauf hin, dass die großen Finanzkapitale sich nicht besonders von den
Aktionen der Zentralbanken beeindrucken ließen. In Erinnerung an die Euro-Krise
spricht vieles dafür, dass dieses Mal andere, schwer von der Krise getroffene
Staaten wie Italien und Spanien das „neue Griechenland“ werden könnten.

Die unmittelbaren sozialen Folgen

Wie auch immer diese Rettungsmaßnahmen ausgehen, die
Unternehmen setzen schon jetzt die Maßnahmen um, durch die sie am schnellsten
Kosten einsparen können. Zuerst fällt ihnen dabei natürlich ein, diejenigen
Arbeitskräfte „freizusetzen“, die sie aufgrund der derzeitigen Maßnahmen oder
der Folgeerscheinungen der Krise nicht einsetzen können. Ob dies durch Formen
des Zwangsurlaubs, Formen der Übernahme der Kosten durch den Staat (z. B.
in Deutschland durch das Kurzarbeitergeld) oder der Entlassung in die
Arbeitslosigkeit geschieht – immer handelt es sich um Wege, wie das Kapital die
Krise auf die ArbeiterInnen oder die Allgemeinheit abschiebt.

So schnellte die Zahl der Erstanträge auf Arbeitslosengeld
in den USA in der ersten Woche der Einschränkungsmaßnahmen um 3,3 Millionen
Betroffene in die Höhe (ein Teil des Billionenpakets des Kongresses dient der
bescheidenen Aufstockung dieses Hungerlohns). In gleicher Weise wird in
Deutschland mit einer Höhe von über 2 Millionen Anträgen auf Kurzarbeit
gerechnet (bei dem sich die deutsche Bundesregierung beharrlich geweigert hat,
über die üblichen 60 % aufzustocken). Ein anderer Teil wird über Formen der
Lohnfortzahlung von Erkrankten oder von der Arbeit Freigestellter, die
teilweise vom Staat (oder Krankenkassen) finanziert wird, auch dem Kapital
abgenommen. Dazu kommt, dass schon die letzte Krise dazu genutzt wurde, vieles
an Arbeit in prekäre Beschäftigung auszulagern (z. B. Teilzeit,
Scheinselbstständigkeit, Leiharbeit, Zero-Hour-Contracts). Hier kann das
beauftragende Kapital ganz einfach Kosten reduzieren, ohne dass die staatlichen
Schutzmaßnahmen für „Normalbeschäftigte“ wirken. Auch wenn die Fiskalpakete für
manche dieser Formen (insbesondere wenn sie als „Selbstständige“ verkauft
werden können) kleine Unterstützungen vorsehen, ist die langfristige
Einkommensperspektive für viele verzweifelt. Größere Konflikte trägt das
Kapital derzeit mit sich selbst aus, wenn es um die Nichtbezahlung von Mieten
oder die Stornierung/Verschiebung von Aufträgen geht. Auch dies wird in einigen
Ländern durch spezielle Fonds des Staates abgefedert. Solche Ausfälle bei den
Mieten könnten ja die für das Finanzkapital so wichtigen Immobilienmärkte ins
Rutschen bringen.

Die Krise in den Halbkolonien

Alle diese Maßnahmen nach dem Motto „Koste es, was es wolle,
wir haben genug Geldmittel!“, mit denen Staaten und Zentralbanken hier jetzt
agieren, gelten nur für die imperialistische Welt. In den Halbkolonien sind
nicht nur die Gesundheitssysteme mit der gegenwärtigen Krise völlig
überfordert. Dass in den imperialistischen Ländern in Zeiten der Krise „genug
Geld“ da ist, hat seinen Grund, ja gehört zu den Zentralelementen der
imperialistischen Architektur der Weltökonomie.

Die Krise, die sich schon vor Corona in der Weltwirtschaft
abgezeichnet hat, hat schon seit mindestens 3 Jahren zu einem massiven Abfluss
von Kapital auch aus einst gelobten „Schwellenländern“ (wie der Türkei, Indien
oder Brasilien) in die „sicheren Häfen“ der Weltökonomie geführt, d. h. in
Anlagen in den USA, Europa, Japan und China. Dies wird insbesondere an der
Konjunktur der Auslandsdirektinvestitionen deutlich, deren Wert (der
Neuinvestitionen) seit 2016 um mehr als 50 % gesunken ist. Noch stärker
ist sogar der Abfluss von Finanzinvestitionen (insbesondere zurück in die USA,
seit den Steuerreformen der Trump-Regierung). Die Halbkolonien, die zur
Stützung ihrer oft lebensnotwendigen Importe Währungsabwertungen und damit
Handelsbilanzdefizite und Kapitalabfluss vermeiden müssen, sind daher zu extrem
restriktiver Haushalts- und Geldpolitik bei gleichzeitiger Konzentration der
Wirtschaftspolitik auf den Export gezwungen (beides auch, um genügend
Dollarreserven für die Verteidigung der eigenen Währung aufzubauen).

Dies bedeutete auch, dass gegenüber der Niedrigzinspolitik
in den imperialistischen Metropolen der Rest der Welt zu hohen Zinsen und
Schuldenabbau gezwungen war – dies führte auch nach der Finanzkrise zunächst zu
einem Zufluss von Kapital. Mit dem stagnierenden Wachstum der Weltwirtschaft,
der schlechten Rohstoffkonjunktur und dem Nachlassen des China-Effekts für die
Wirtschaftszyklen der Halbkolonien ließ sich diese Haushalts- und Geldpolitik
immer weniger aufrechterhalten. Kapitalabfluss, Währungsabwertungen und
Zinssenkungen (Wiedererhöhung der Verschuldung) gingen Hand in Hand und führten
in vielen Schwellenländern seit 2017 zu schweren Krisen, sowohl im Wachstum wie
auch in Bezug auf Inflation (Argentinien, Brasilien, Indien, Pakistan, Türkei,
Ägypten, …).

Von der jetzigen neuerlichen Weltwirtschaftskrise werden
diese Länder daher besonders schwer getroffen. Es gibt weder für die
Gesundheitssysteme noch für kriselnde Unternehmen die Mittel des „Koste es was
es wolle“-Prinzips. Natürlich gibt es wieder Versprechungen von IWF und den
G-20 auf Billionen-Hilfen – die es aber wie immer nicht gratis gibt. Die
meisten dieser Länder stöhnen schon jetzt über IWF-Auflagen oder den neuen
„Washington Consensus“ – was in den meisten Ländern (z. B. in
Lateinamerika) große soziale und politische Unruhen ausgelöst hat. Eine weitere
Erhöhung von Massenarbeitslosigkeit und vermehrt zusammenbrechende staatliche
Unterstützungsleistungen wird dies weiter zuspitzen – entweder in eine
revolutionäre Richtung oder sehr viel offener diktatorischer Regime, die sich
jetzt schon im Zeichen des Corona-Krisenmanagements aufzubauen drohen.

Der Kapitalismus ist die Krise

Bei allen Betrachtungen der unmittelbaren Krisenentwicklung
und dem gegenwärtigen Krisenmanagement des Kapitals müssen MarxistInnen die
grundlegenden Veränderungen im Kapital/Arbeit-Verhältnis, die hinter jeder
kapitalistischen Krise stehen, aufdecken. Und natürlich ist auch diese Krise
nicht einfach im für alle überraschende Auftreten einer Pandemie begründet,
ebenso wie die letzte Krise nicht einfach auf einen schlecht regulierten
Finanzmarkt zurückzuführen war.

D. h. die Pandemie ist nur das Element, dass das Fass
zum Überlaufen gebracht hat, das schon vorher bis zum Rand voll war. Der
deutlichste Ausdruck davon sind die seit der letzten Krise in den großen
Industrienationen zu bemerkenden ökonomischen Kernindikatoren: geringe Rate an
Neuinvestitionen insbesondere im produzierenden Gewerbe, erst stagnierende,
dann fallende Profitraten für die nicht-finanziellen Unternehmen, steigende
Abhängigkeit des operativen Geschäfts von Verschuldung, Abhängigkeit des
Wachstums von Finanz-, Immobilien- und unproduktiven Dienstleistungsbereichen.
Dies wurde bis Mitte des letzten Jahrzehnts durch China noch konterkariert, das
aber seitdem selbst unter stark steigender privater Verschuldung und sinkenden
Profitraten leidet. Damit haben sich wie vor der letzten Krise große
Kapitalmengen aufgebaut, für die es ein ernstes Verwertungsproblem gibt. Diese
Kerndaten wurden seit mehreren Jahren z. B. im Blog von Michael Roberts
(https://thenextrecession.wordpress.com/) ausführlich dokumentiert und müssen
hier nicht weiter ausgeführt werden.

Wie Marx im „Kapital“ festgestellt hat, besteht in jedem Gesellschaftssystem die Notwendigkeit, die Produktivkräfte (ob es sich um materielle Produktionsgüter oder um Arbeitskräfte handelt) periodisch zu reproduzieren. Im Kapitalismus ist dieser Zwang zur Reproduktion der realen Produktionsvoraussetzungen verbunden mit der Notwendigkeit, den Wert derselben, also das investierte Kapital, auf erweiterter Stufenleiter zu reproduzieren. D. h. es geht nicht nur darum, das Kapital zu erhalten, sondern dasselbe um mindestens den gesellschaftlichen Durchschnittsprofit vermehrt aus dem Produktions- und Zirkulationsprozess zurückzuerhalten. Der ökonomische Reproduktionsprozess ist im Kapitalismus zugleich ein Verwertungsprozess.

Natürlich ist der gegenwärtige teilweise Stillstand von
Produktion und Zirkulation daher auch ein enormes Verwertungsproblem. Durch die
verschiedenen Finanzzuwendungen an das Kapital kann der ausfallende Umsatz
teilweise ersetzt werden, um die grundlegenden Kapitalkosten zu decken. Sie
bewirken aber nicht die für die Reproduktion des Kapitals notwendige
Verwertung. Schlimmer noch: Die gegenüber dem überakkumulierten Kapital zu
geringe Profitmasse hatte schon vor der Krise Verschuldung als Ersatz für
fehlende Investitionen und (preisbedingt) sinkenden Umsatz zur Verwertung
notwendig. Sollte die Masse des Kapitals in den Metropolen auch durch diese
Krise hindurch wieder durch noch größere Steigerung der Verschuldung vor der
Zahlungsunfähigkeit bewahrt werden, so stehen daher dann noch viel weniger
Mittel für Neuinvestitionen und den eigentlich dringenden Umbau der Ökonomien
in Bezug auf digitale, ökologische und jetzt auch gesundheitssystemische
Herausforderungen bereit.

Dieser Mangel an Mitteln für Neuinvestitionen nach der Krise, das Verbrennen von Milliarden für den bloßen Erhalt von Kapital, die nochmals gewachsene Verschuldung, alles was die Verwertungskrise des Kapitals ausmacht, ist entscheidend für die Frage, wie die Weltökonomie aus der Krise kommt. Die ursprüngliche Prognose vieler ÖkonomInnen, dass die Entwicklung eine U- oder V-Form annehmen würde, also nach einem starken Einbruch (der mehr oder weniger lang eingeschätzt wurde), ein ebenso rascher Aufschwung folgen würde, setzte gerade auf die Impulse von Investitionen und den nachholenden Konsum, die nach so einem Einbruch rasch einsetzen würden. Dies ist also angesichts der erwähnten Kapitalknappheit, die am Ende der Krise zu erwarten ist, sehr unwahrscheinlich. Auch viele bürgerliche ÖkonomInnen gehen daher bei einem längeren Stillstand auch von einem sehr schleppenden Aufschwung aus. Tatsächlich besteht die Gefahr, dass durch Firmenzusammenbrüche, langfristige Schwäche des Welthandels und der nur langsamen Wiederherstellung der globalen Produktionsketten den großen in Umlauf gebrachten Geldmengen ein weiterhin nur langsam wachsendes Angebot gegenübersteht. Das heißt, eine langfristige Depression mit inflationären Tendenzen ist eine ebenso wahrscheinliche Entwicklung.

In der letzten Krise wurde die große Kapitalvernichtung
insbesondere dadurch vermieden, dass Profitabilität durch Mittel der absoluten
Mehrwertsteigerung verbessert wurde – insbesondere durch Zunahme prekärer
Beschäftigung, Verschlechterung von Arbeitsbedingungen, Intensivierung der
Arbeit und schlechtere Entlohnung. Während das Kapital in dynamischen Zeiten
die Produktivkräfte revolutioniert und über die Steigerung des relativen
Mehrwerts eine längerfristige Aufschwungperiode ermöglicht, hat man im letzten
Jahrzehnt im Wesentlichen von den Errungenschaften der Globalisierungsperiode
in Kombination mit erhöhter Ausbeutung gelebt. Natürlich gab es einige
wesentliche Neuerungen (vor allem im digitalen und ökologischen Bereich), die
aber noch nicht zu einem nachhaltigen neuen Produktionsmodell geführt haben.
Wenn das Kapital, wie es derzeit aussieht, wiederum versucht, einem großen Schnitt
auszuweichen, und damit wiederum die Mittel für einen grundlegenden Umbau
fehlen, so ist zu erwarten, dass dies auf eine weitere Orientierung in Richtung
Ausdehnung der absoluten Mehrwertproduktion hinausläuft. Also weiterer Abbau
von „Normalarbeitsverhältnissen“, indem die gegenwärtigen Krisenmaßnahmen zu
einem Abbau von Beschäftigtenrechten und zu weiterem Outsourcing benutzt
werden. Dies wird jedenfalls in der ersten Phase, sowohl bei einem langsamen
Aufschwungszenario als auch bei der Abwärtsspirale einer Stagflation, zunächst
durch einen großen Aufbau von offener oder versteckter Arbeitslosigkeit
vermittelt werden. Die Deregulierungen der letzten Jahrzehnte ermöglichen dann,
dass Neueinstellungen vor allem wieder in prekäre Beschäftigung stattfinden
werden.

Vor einem „neuen Kapitalismus“ oder welche Antwort brauchen
wir?

Einige vermuten einen „neuen Kapitalismus“, der wieder sehr
viel mehr Staat und nationale Orientierung beinhaltet. Die staatlichen
Stützungsmaßnahmen und de facto Wirtschaftsplanungen werden als etwas verkauft,
das nach der Krise wieder einen sehr viel aktiver in die Wirtschaft
eingreifenden Staat schaffen würde. Ebenso werden die in Folge von
Exportbeschränkungen und Problemen in den globalen Lieferketten entstandenen
Substitutionsbestrebungen als etwas so Positives gesehen, dass im Kapitalismus
nach der Krise wieder verstärkt auf eigene Produktion und lokale Zulieferketten
gesetzt würde (von der Globalisierung zur „Lokalisierung“). Beides sind eher
unwahrscheinliche, die eigentlich der Krise zugrunde liegenden
Verwertungsprobleme missachtende Extrapolationen:

(1) Die imperialistischen Staaten können ihre besondere
Krisenrolle nur durch ihre Verbindung zu den globalen Finanzmärkten spielen,
von denen sie durch die gestiegene Verschuldung sogar noch abhängiger sein
werden. Nach der Krise werden sie rasch das gerettete Kapital wieder an seine
Finanziers privatisieren. Der bürgerliche Staat spielt hier in Krisen- oder
Kriegszeiten nicht zum ersten Mal die Rolle des ideellen Gesamtkapitalisten,
der dann wieder im freien Spiel der konkurrierenden Kapitale virtualisiert
wird.

(2) In Zeiten der Überakkumulation stehen der
Renationalisierung der Weltwirtschaft enorme Hindernisse entgegen. Im
nationalen Rahmen schlagen Überkapazitäten und Profitabilitätsprobleme noch
schneller zu! Die Globalisierung ist eine wesentliche entgegenwirkende Ursache
gegen diese Probleme. Ein nationaler Rückzug würde die internationale
Konkurrenz um die Abwälzung von Krisenfolgen auf andere Kapitale noch verschärfen
durch noch mehr Protektionismus, noch mehr Währungskriege, noch mehr Kampf um
Weltmarktanteile. Die Illusion von der Rückkehr von starken Nationalstaaten und
-ökonomien wird weiterhin eine an den kapitalistischen Realitäten scheiternde
Chimäre sein, die sozialdemokratisch-reformistische Politik diskreditieren und
nur der Rechten für ihre nationalistischen Mobilisierungen nützen wird.

Die Re-Nationalisierung droht natürlich, jedoch nicht, weil
sich dabei ein neues, vorgeblich harmonischeres „Modell“ des Kapitalismus
abzeichnet, sondern weil die Krise die Frage aufwirft, welches Kapital
vernichtet, welches nationale Kapital, welche imperialistische Macht gestärkt
hervorgeht, welche zu noch mehr Protektionismus greift. Kurzum, jede
Renationalisierung würde unweigerlich einem verschärften Kampf um die
Neuaufteilung der Welt einhergehen.

Die ArbeiterInnen, prekär Beschäftigten, Arbeitslosen, arme
Landbevölkerung, sozial Unterdrückten werden weder von den Billionen-Pakten
gerettet noch von einem guten, fürsorglichen Staat noch von einem Pakt mit den
auf „nationale Produktion“ umschwenkenden UnternehmerInnen – weder was die
Krise des Gesundheitssystems betrifft, noch in Bezug auf die Folgen der jetzt
einsetzenden Wirtschaftskrise!

Die kapitalistische Klasse, ihr Staat und ihre
internationalen Institutionen werden vielmehr versuchen, diese Krise ein
weiteres Mal zu wenden, um ihr Ausbeutungssystem zu retten, das eben auch diese
jetzt für alle offensichtlichen Mängel im Gesundheitssystem hervorgebracht hat.
Bei all den Mitteln, die uns heute zur Verfügung stehen, um ein gesundes und
gutes Leben zu ermöglichen, die ökologischen Folgen unserer Lebensweise zu
korrigieren und Arbeit gerecht aufzuteilen und enorm zu verkürzen, ist es klar,
dass es vor allem ein Hindernis dafür gibt, dies wirklich anzupacken: die
kapitalistische Produktionsweise und ihre Marktwirtschaft! Statt Burgfrieden
mit dem Kapital in den beiden heutigen Krisen brauchen wir einen klaren
Klassenstandpunkt. Die Gewerkschaftsführungen und reformistischen Parteien
dagegen machen mit bei den „Rettungspakten“, stimmen für die Einschränkung von
ArbeiterInnenrechten und schüren die Illusion in die große segensreiche Rolle
„unseres Staates“ – alles für ein paar Brosamen, die unsere „Existenzen
sichern“, tatsächlich aber unsere bessere Ausbeutbarkeit für das Kapital
erhalten und ausbauen sollen. Deswegen ist es so entscheidend, jede Maßnahme zum
Gesundheitsschutz, zur Verhinderung von Entlassungen, zur Sicherung von
Einkommen, ja selbst zur Verstaatlichung mit dem Kampf um
ArbeiterInnenkontrolle zu verbinden.

Nur durch die aktive Organisierung und gesellschaftliche
Kontrolle kann der Kampf dagegen angegangen werden, dass all diese Maßnahmen
nur die weiteren Angriffe auf das Gesundheitssystem und unsere sozialen Rechte
vorbereiten. Nur aus diesem international zu führenden Kampf um die Kontrolle
unserer Klasse über diese Maßnahmen kann die Macht erwachsen, die dieses
krisenhafte und lebensbedrohende System ersetzt durch eine Wirtschaftsweise,
die das enorme Potential der heutigen Produktivkräfte und Wissenschaft nutzt
für eine soziale und ökologische Wende, hin zu einer sozialistischen Gesellschaft.

Wenn die Klasse aus dem pandemischen Halbschlaf erwacht sein
wird, werden wir uns nicht nur in den Halbkolonien auf schwere soziale
Auseinandersetzungen um die Krisenbewältigung vorbereiten müssen. Der Gegner
hat nicht nur gewichtige finanzielle Waffen – er wird jegliche Alternative zu
seinem Krisenprogramm auch mit sehr realen Geschützen bekämpfen. Daher kann der
Kampf um ArbeiterInnenkontrolle nur erfolgreich sein, wenn er organisiert
verteidigt und letztlich von einer revolutionären Organisation geführt wird.
Unser Programm der antikapitalistischen Krisenbewältigung kann nur erfolgreich
sein, wenn es mit dem Kampf um die politische Macht, dem um eine sozialistische
Revolution verbunden wird, der von Anfang an international ausgerichtet sein
muss!