Hölle auf Erden – Geflüchtete wie Tiere zusammengepfercht

Dilara Lorin, Infomail 1096, 20. März 2020

Vor noch nicht allzu langer Zeit, um genauer zu sein, vor 2–3
Wochen, war es ein Skandal, als die Türkei am 4. März 2020 die Grenzen zur EU
öffnete, obwohl die EU dem türkischen Staat jährlich mehrere Milliarden Euro
bietet, damit die geflüchteten Menschen ja nicht nach Europa kommen. Heute
spricht niemand mehr darüber. Dabei stecken mehrere tausend Menschen im
Grenzgebiet zwischen Türkei und Griechenland fest. Es gibt praktisch keine
Hoffnung für diese auf ein menschenwürdiges Verfahren, denn seit dem 1. März
lässt Griechenland keine Asylanträge mehr zu. Die EU und Frontex schotten
weiter ihre Grenzen ab und gehen dort rigoros gegen Menschen vor. Handgranaten,
Tränengas, Gummigeschosse werden eingesetzt.

Videos, Bilder und Berichte, sofern diese noch möglich sind,
zeigen ein deutliches und grauenvolles Bild der EU und der Nationalstaaten
Türkei und Griechenland. In einigen Videoaufnahmen sieht man, wie türkische
Sicherheitskräfte Hand in Hand mit faschistischen Strukturen Geflüchtete erst
in den Bus zerren und dann im Niemandsland im Grenzgebiet mit Gewalt und einer
gezückten Waffe nach draußen schleifen. Videoaufnahmen zeigen eindeutig, wie
die griechische Küstenwache mit einer Eisenstange versucht, ein Schlauchboot
mit mehreren Dutzend Geflüchteten zurückzudrängen, oder Aufnahmen von wütenden
InselbewohnerInnen und FaschistInnen aus ganz Europa, die an den Küsten warten,
nur um Menschen, die vor Leid, Elend, Krieg und Tod fliehen, anzugreifen und
wieder ins Wasser zu jagen. Erst letzte Woche wurden Kader neofaschistischer
Organisationen und der „Identitären Bewegung“, darunter auch aus Deutschland,
in Griechenland gesichtet. Diese waren nur da, um bewaffnet Jagd auf
Geflüchtete zu machen und „ihre“ Grenzen zu schützen. Zwar wurden einige von
ihnen, darunter auch Mario Müller, zusammengeschlagen, aber dies ist leider nur
ein Tropfen auf den heißen Stein. Am Gesamtbild ändert es nichts.

Die Angst vor COVID-19 und die Angst der Geflüchteten

Die Situation in den Camps auf den fünf Inseln in Griechenland
war schon immer scheiße und wird immer verheerender. Auf den Inseln Lesbos,
Samos, Chios, Leros und Kos leben bis zu 42.000 AsylbewerberInnen. Dabei ist
jedes Camp überfüllt und beherbergt mehr Menschen, als für die es vorhergesehen
war.  In Moria, einem der größten
Camps auf Lesbos, sollten eigentlich nur 3.000 Menschen unterkommen, jedoch
leben nach aktuellen Schätzungen dort 20.000 bis 24.000 unter schlimmsten
Bedingungen. Wenn hier das Virus ausbrechen sollte, dann wird es katastrophale
Folgen haben und zahlreiche Tote mit sich bringen. Um die Situation noch einmal
zu verdeutlichen:

  • Es gibt einen Wasserhahn für je 1.300 Menschen
  • 167 Menschen teilen sich eine Toilette
  • 240 Menschen teilen sich eine Dusche
  • Seifen oder ähnliches sind kaum vorhanden
  • Familien mit fünf oder sechs Personen müssen auf höchstens 3 m2 schlafen

Ständiges Händewaschen oder Social Distance? Diese
Hygienemaßnahmen können nicht eingehalten werden! Aktuell gibt es einen
bestätigten Fall von COVID-19 auf Lesbos. Dieser kommt aus dem Süden der Insel
und hatte kaum Kontakt zu den Geflüchteten. Jedoch ist es nur noch eine Frage
der Zeit, bis das Virus auch im Camp angekommen ist.

Ein antifaschistischer Aktivist aus Dresden vor Ort sagt dazu: „Generell gibt es eine große Angst vor dem Corona-Ausbruch im Camp. Dabei ist eher die Gefahr, dass die Seuche von außen hineingeschleppt wird und weniger, dass die Menschen, die dort sind, diese Krankheit mitgebracht haben, wie von Rassist:nnen gern behauptet wird.“

Und wie reagiert die griechische Regierung? Die
rechtspopulistische konservative Partei von Kyriakos Mitsotakis, Nea
Dimokratia, schürte schon immer Hetze und Anfeindungen gegen die Geflüchteten.
Sie hört auch in Zeiten des Corona-Virus nicht damit auf. In den Medien und
auch in Interviews hört und sieht man immer wieder, wie Geflüchtete mit
Kriminellen und DrogendealerInnen gleichgestellt werden.

Sie müssen auch als Sündenbock für den Niedergang der
griechischen Wirtschaft herhalten. Dass die EU mit ihren Spardiktaten und die
Troika die griechische Wirtschaft bis zum letzten Rest ausgesaugt haben, wird
kaum mehr diskutiert. Geflüchtete sind die neuen Sündenböcke für Konservative,
RassistInnen, RechtspopulistInnen und FaschistInnen. Wir kennen das schon aus
Deutschland, Frankreich, Polen oder der Türkei.

Abschottung der Geflüchteten

Zumindest für die nächsten zwei Wochen dürfen keine
BesucherInnen mehr die Camps betreten, darunter zählen auch die wenigen noch
verbliebenen NGOs. Auch diese HelferInnen dürfen nicht in das Camp hinein. Außerdem
darf seit Anfang der Woche nur noch eine Person pro Familie das Lager einmal am
Tag verlassen, um Erledigungen auf der Insel zu tätigen. Andere
Außenaktivitäten sind nicht mehr gestattet. Das bedeutet: keine Schulen, keine
sportlichen Aktivitäten, kein Besuch in der Bibliothek. 24.000 Menschen sollen,
abgeschottet in einem Freiluftgefängnis, unter schlimmsten hygienischen
Bedienungen ausharren. Dass diese Situation den ohnehin traumatisierten und
entkräfteten Menschen noch mehr zusetzen wird, ist deutlich. Ohne äußere
Ablenkungen werden vor allem Kinder, die sich schon vor der COVID-19-Pandemie
versucht hatten, das Leben zu nehmen, unter nun noch krasseren psychischen
Bedingungen leiden. Und wir sprechen hier nicht von wenigen.

Der ansteigende Rassismus der InselbewohnerInnen zeigt sich
auch darin, dass mit den Freien BürgerInnen (Eleftheri Politis) eine explizit
rassistische Partei in den Dorfparlamenten sitzt und 12 Sitze in den
Regionalparlamenten der südlichen Ägäis hat.

George Hatzimarkos, der Gouverneur der südlichen Ägäis,
kündigte an, als angebliche weitere „Schutzmaßnahme“ gegen die Ausbreitung des
Virus einen Zaun um das Camp Moria bauen zu lassen. So wird es dem Bild eines
Freiluftgefängnisses immer ähnlicher. Die rassistische Hetze der Türkei,
Griechenlands und der Nationalstaaten Europas führte vermehrt dazu, dass
faschistische Banden an den Grenzen und auf den Inseln patrouillieren. Auf den
Inseln ging die Gewalt soweit, dass JournalistInnen zusammengeschlagen und ihr
Equipment wie Kameras ins Wasser geschmissen wurden. Die Situation ist
weiterhin angespannt, gerade wenn sich die Zivilgesellschaft nur noch Gedanken
um das Corona-Virus macht. Die Geflüchteten sind in dreifach lebensbedrohlichen
Situationen.

Schäbiges Gezerre um Kinder

Sieben EU-Staaten, darunter auch Deutschland, erklärten sich
nach wochenlangem Gezerre „bereit“, gerade 1.600 Kinder aus dem Camp
aufzunehmen. Nun ist selbst diese vollkommen unzureichende Geste wieder
umstritten. Es wird so getan, als sei von den Geflüchteten zu befürchten, dass
mit ihrer Einreise die Anzahl der Infektionen weiter ansteigen würde. Wie
rassistisch das doch ist, verdeutlicht schon, dass aktuell die meisten
Infizierten in Ländern wie China, Italien, Deutschland, Frankreich, Spanien –
und zum Glück nicht in den Camps – zu finden sind.

Es ist auch keine Gnade der EU, dass sie 1.600 geflüchtete
Kinder aufnehmen wollte, sondern eine Schande. Es ist eine symbolische Geste,
die notdürftig die reale, rassistische Grenzpolitik beschönigen soll. Was wir
jetzt brauchen? Die Aufkündigung des Flüchtlingsdeals mit der Türkei, welcher
am 13. März erneuert und erweitert wurde! Die Geflüchteten dürfen kein
Spielball zwischen den Mächten und ihren Interessen und Profiten sein! Öffnung
aller Grenzen und die Zerschlagung von Frontex – jetzt! Aufgrund der
andauernden Krisen und Kriege, vor allem auch in Idlib, fliehen Millionen
Menschen und es muss unsere Aufgabe sein, für alle und jede/n ein
menschenwürdiges Leben zu erkämpfen! Nicht in Lager, zwischen Grenzzäunen oder
Camps! Für die sofortige Evakuierung aller Camps. Es gibt nur eine einzige
humanitäre Lösung, die diesen Namen verdient – die Öffnung der Grenzen der EU,
die Aufnahme der Menschen in den EU-Mitgliedsstaaten ihrer Wahl, die Schaffung
und das Zur-Verfügung-Stellen von Wohnraum, von kostenloser medizinischer und
psychologischer Betreuung, von Ausbildung und Schulung sowie von
Arbeitsplätzen, die zu tariflichen Löhnen bezahlt werden. Geflüchtete, die vom
Virus infiziert sein sollten, sollen kostenlos in Krankenhäusern untergebracht
und betreut werden.

Um zu verhindern, dass bürgerliche Regierungen und rechte
DemagogInnen die Geflüchteten gegen Lohnabhängige – z. B. Erwerbslose,
prekär Beschäftigte oder Menschen in Altersarmut – ausspielen, geht es darum, Arbeit,
ein Mindesteinkommen, soziale Leistungen wie Alterssicherung für alle zu
erkämpfen – bezahlt aus der Besteuerung der Gewinne und großen Vermögen. Um
dies zu erreichen müssen sich antirassistische Bewegungen zusammenschließen mit
Gewerkschaften, ArbeiterInnenorganisationen, Geflüchteten und migrantischen
Strukturen!