10 Jahre Stuttgart 21: Und täglich grüßt die Dauerbaustelle

Karl Kloß, Infomail 1090, 16. Januar 2020

Vor 10 Jahren, am 2. Februar 2010, wurde offiziell mit dem
Bahnhofsprojekt „Stuttgart 21“ (bekannt als S21) begonnen. Das Ganze erfolgte
symbolisch durch das Entfernen eines Prellbocks im Stuttgarter Hauptbahnhof.
Dann fing der reale Umbau der östlichen Innenstadt an. Straßen, Fußwege, U- und
S-Bahnen wurden ab-, um- und neu gebaut. Ein riesiges Loch ist heute da, wo
einst die Bahnhofsgleise lagen. Daneben erstreckte sich ein Park mit uralten
Bäumen. Die Planungen wurden immer wieder geändert, die Termine verschoben und
die Kostenrahmen gesprengt. Sicher ist heute, dass der geplante Tiefbahnhof für
jegliche Verkehrswende zu klein ist, selbst für die Pläne des bahnfeindlichen
Bundesverkehrsministers.

Die Geschichte von S21 ist auch die von Massenprotesten, wie
sie die behäbige Stadt sehr lange nicht gesehen hatte. Sie veränderten die
Politik im Land und hätten noch viel mehr bewegen können.

Baubeginn … und Massenproteste

Nach dem symbolischen Baubeginn, der übrigens schon zu jenem
Zeitpunkt von einer Protestkundgebung mit etwa 500 Leuten begleitet wurde,
passierte recht wenig. Erst im Juli 2010 wurde der sogenannte „Nordflügel“
abgerissen – ein Teil des Hauptbahnhofes, der der Errichtung einer Baugrube für
ein Technikgebäude im Weg stand. Schon bei diesem Abriss kam es zu einer kurzen
Besetzung, welche innerhalb kürzester Zeit von einem SEK beendet wurde. Dieses
Vorgehen sollte ein kleiner Vorgeschmack auf das werden, was danach folgen
sollte.

Besonders in Erinnerung geblieben ist der Polizeieinsatz vom
30. September 2010, der bis heute unter dem Namen „Schwarzer Donnerstag“
bekannt ist. An jenem Tag sollten die ersten vorbereitenden Baumaßnahmen im
Schlosspark beginnen und auch einige Bäume gefällt werden. Außerdem war für
diesen Tag ein Schulstreik der „Jugendoffensive gegen S21“ angesetzt, bei dem
es darum ging aufzuzeigen, dass die Milliarden, welche für S21 vergraben
würden, dringender in Bildung investiert werden sollen.

Als dann jedoch der „Parkschützeralarm“, eine SMS-Kette des
Bündnisses „Parkschützer“, ausgelöst wurde, machten sich zahlreiche
SchülerInnen auf den Weg in den Schlosspark, wo sie mit bereits anrückenden
Polizeieinheiten konfrontiert wurden. Im Laufe des Mittags waren dann etwa
tausende Menschen im Schlosspark versammelt, um gegen das Baumfällen wie auch
die Polizei zu demonstrieren.

Dies nahm der damalige Innenminister Heribert Rech (CDU) zum
Anlass, den Marschbefehl für insgesamt 1.000 PolizistInnen zu erteilen, um die
Demonstration aufzulösen. Neben Einsatzkräften der Bereitschaftspolizei aus
Baden-Württemberg waren auch Hundertschaften des Unterstützungskommandos (USK)
aus Bayern an diesem Einsatz beteiligt. Letztere gingen besonders brutal vor
(u. a. Schläge und Tritte gegen Köpfe usw.). Zusätzlich wurden vier
Wasserwerfer aufgefahren, die auf höchster Druckstufe (etwa 20 bar) die
AktivistInnen von „Robin Wood“, welche vorher Zelte in den Bäumen errichtet
hatten, regelrecht „herunterschossen“. Ein Demonstrant wurde dabei besonders
schwer von einem Wasserwerfer am Kopf getroffen, so dass er fast komplett
erblindete. Er wurde dadurch zum Symbol der friedlichen Bewegung und der
brutalen Polizeigewalt.

Die Landesregierung wollte die Proteste ersticken. Sie goss
Öl ins Feuer. Als Reaktion darauf setzten Massendemonstrationen ein, die bis
heute in Stuttgart von ihrer bloßen TeilnehmerInnenzahl her unerreicht sind.
Regelmäßig gingen Zehntausende auf die Straße. Immer wieder kam es zu
Besetzungsaktionen und an den Großmobilisierungen beteiligen sich bis zu 150.00
Menschen. Nie wieder gelang es in den letzten 10 Jahren, so viele auf die
Straßen zu bringen, obwohl dies mehr als notwendig wäre angesichts der
aktuellen Ereignisse.

Ein Großteil der Bewegung gegen S21 dachte, dass man aufgrund
der riesigen und regelmäßigen Aktionen und der Unterstützung durch die Mehrheit
der Bevölkerung Stuttgarts einen großen Erfolg erringen könnte und das Projekt
eingestellt würde. Doch man täuschte sich. Erst wurde ein Schlichtungsverfahren
im Fernsehen inszeniert und die Massen sollten so von der Straße geholt werden.
Auch die Ablösung der CDU-geführten Regierung – natürlich ein Erfolg der
Bewegung – stoppte das Projekt nicht.

Die CDU, welche zuvor 58 Jahre lang meist allein herrschen
konnte, wurde in die Opposition gedrängt und die Grünen stellen mit Winfried
Kretschmann seither den Ministerpräsidenten. Zwar wurden sie bei der
Landtagswahl 2011 hinter der CDU mit 28 % „nur“ zweitstärkste Kraft,
konnten aber aufgrund ihres Erfolges und dem Wahlergebnis der SPD mit dieser
eine neue, mehrheitsfähige Landesregierung stellen. Zusätzlich wurde 2012 mit
Fritz Kuhn ein Grüner zum Oberbürgermeister Stuttgarts gewählt.

Illusionen und Profitinteressen

Dieser Erfolg auf Wahlebene verstärkte die Hoffnungen und –
wie sich herausstellen sollte – auch die Illusionen in die bürgerliche
Demokratie.

Nach der Wahl von Rot-Grün vereinbarte die damalige
Landesregierung eine Volksabstimmung, um über die Fortsetzung oder Beendigung
des Projekt abstimmen zu lassen. Damit rückten die Grünen von ihrem Versprechen
ab, den Bau stoppen zu lassen. Die SPD, die ursprünglich S21 an der Regierung
mit der CDU unterstützt hatte, brauchte ihre Position nicht offen zu ändern.
Das „Volk“ sollte entscheiden.

Was sich „demokratisch“ gab, entpuppte sich freilich als
Mogelpackung. Die Volksabstimmung basierte auf einer irreführenden
Fragestellung, nämlich nicht nach einem Ja oder Nein zu S21, sondern ob das
Land Baden-Württemberg das Kündigungsrecht des Projektes ausüben solle, um aus
S21 auszusteigen. Damit wurden auch gleich zwei Tricks verbunden. Erstens wurde
der Bevölkerung damit auch vermittelt, dass das Land Baden-Württemberg hohe
Ausstiegskosten und Entschädigungen an die Bahn zu tragen hätte. Zweitens
sollte nicht die Bevölkerung der Stadt Stuttgart, sondern des ganzen Landes
Baden-Württemberg abstimmen. Damit wurde von Grün-Rot praktisch automatisch das
Gewicht der Bewegung in Stuttgart geschwächt. Die Niederlage bei der
Volksabstimmung wurde vorprogrammiert.

Aufgrund des Ergebnisses – 58,9 % stimmten gegen das
„S21-Kündigungsgesetz“ – erklärte Kretschmann, man würde nun das Projekt
kritisch begleiten: „Der Käs isch gessa“. Auch sein Verkehrsminister und
Vornamensvetter Winfried Hermann, ebenfalls bei den Grünen, akzeptierte nun  die Fortsetzung des Projektes, auch
wenn er selbst sich weiterhin als Projektgegner bezeichnete.

Hatten nicht all die Machenschaften der abgewählten
Regierung, ihre Lügen und Tricks, die Rechtsbeugung von RichterInnen und die
Knüppel der Bullen genügend Anlässe gegeben, über die Funktion und das
Funktionieren des bürgerlichen Staates und seines Apparates nachzudenken? Es
waren nicht nur die Grünen, die anfangs die Bewegung führten. Auch radikalere
UmweltaktivistInnen, die ihnen die Führung streitig machen wollten, setzten den
Illusionen in die bürgerliche Demokratie nichts entgegen – außer einem
Aktivismus der Tat. Heute, wo die Bewegung auf wenige Hundert Unentwegte
geschrumpft ist, hat sich auch die Linkspartei in den Reigen der
KleinbürgerInnen eingeordnet und kämpft für die Einhaltung von Bau- und
Umweltnormen und hofft auf Unterstützung durch das Eisenbahnbundesamt. Dabei
ist die Aufgabe des Amtes, der DB und den anderen Konzernen zu erlauben,
Schienenverkehr zu Profitzwecken zu betreiben. Es tut also das, was im Großen
die Aufgabe des bürgerlichen Staates ist: der herrschenden Klasse die Profite
sichern und ihre Macht als Minderheit in der Gesellschaft.

Das „bessere“ Konzept

Zusätzlich glaubte man, dass man die technische
Unterlegenheit von S21 gegenüber dem eigenen Konzept des Erhalts des
Kopfbahnhofs bei der TV-Schlichtung allen beweisen könne. Noch heute hält sich
der verbliebene Rest der Bewegung gegen S21 vorwiegend mit technischen Fragen
wie der Neigung der Bahnsteige oder dem unzureichenden Brandschutz auf und
sieht darin den Beweis für die Unumsetzbarkeit von S21 ungeachtet des
Baufortschrittes als erbracht an. Dass die technischen Aspekte bei diesem
Projekt allerdings nicht die entscheidenden Fragen sind, hatten wir von der
Gruppe ArbeiterInnenmacht bereits vor 10 Jahren dargelegt.

„Auf der anderen Seite werden ca. 100 Hektar Gleisfläche
im Zentrum der Stadt frei und damit zum gefundenen Fressen für
Grundstücksspekulanten und Baukonzerne. ‚Das neue Herz Europas’, wie das
Projekt von den Befürwortern genannt wird, soll die größte Baustelle Europas
werden und bei geplanten 10 Jahren Bauzeit über 4 Milliarden kosten – doch alle
wissen, dass es am Ende mehr kosten wird.

Damit steht S21 nicht nur für den Größenwahn
prestigegeiler Politiker und Funktionäre, sondern v. a. für eine gewaltige
Privatisierung öffentlicher Gelder, eine Umverteilung zu Lasten der
ArbeiterInnen und BahnfahrerInnen, mit Kürzungen bei Sozialleistungen,
undemokratischen Entscheidungsprozessen, kurz für die parasitäre und
destruktive Weise, wie Krisenbewältigung auf kapitalistische Art verläuft. Was
die Bevölkerung als Verschwendung öffentlicher Gelder in einer Zeit wahrnimmt,
in der die öffentlichen Haushalte durch die Krise bereits ausgelutscht sind,
ist aus Sicht der Kapitalisten und ihrer Parteien eine Investition in die
Zukunft.

Nur in diesem Zusammenhang wird verständlich, warum sich
jetzt die Massen mobilisieren, nachdem schon bald zwei Jahrzehnte an diesem
Projekt gestrickt wird und die offiziellen Entscheidungsfindungen längst
gelaufen sind – wenn auch mit allen nur denkbaren parlamentarischen und
juristischen Kniffen.“ (Lorenz Seifers/Renate Röckenwies, Die Stadt, die
Zerstörung und der Profit, in: Neue Internationale 149, Mai 2010)

Aus dieser Analyse, die der Gang der Ereignisse voll bestätigt
hat, wird deutlich, worum es bei S21 eigentlich geht. Nicht etwa darum, dass
die Bahn nicht planen kann oder die Umsetzung ihrer eigenen Projekte aus dem
Ruder läuft und Unsummen kostet wie etwa die Neubaustrecke zwischen München und
Berlin über Nürnberg, Erfurt, Halle/Saale und Leipzig (Baukosten: ca. 10 Mrd.
Euro; Bauzeit: ca. 25 Jahre), sondern darum, dass hier die Interessen rein
kapitalistischer Profitlogik unterliegen.

In erster Linie natürlich diejenigen der Bauindustrie. Für
diese stellt selbst eine endlose Bauverzögerung nur bedingt ein Problem dar,
solange an der Baustelle weiter verdient werden kann. Weiterhin handelt es
sich, wie in jenem Artikel beschrieben, bei S21 auch um ein Spekulationsobjekt,
denn auf den 100 Hektar Fläche soll in erster Linie neben dem bereits
errichteten Shopping-Tempel „Milaneo“ auch Wohnraum entstehen. Angeblich
handelt es sich dabei um „sozialen Wohnraum“ der Stadt Stuttgart.

Wer sich allerdings mit den hiesigen Gepflogenheiten bei
Wohnbauprojekten auch nur ein bisschen auskennt, wird sehr schnell feststellen,
dass dieser „soziale Wohnraum“ nicht mehr als ein leeres Versprechen ist. So
werden sich in absehbarer Zeit die Immobilienhaie (egal ob die
HalsabschneiderInnen von Vonovia oder welchen Namen sie auch haben) auf die zu
erwartenden Grundstücksflächen stürzen und ganz im eigenen Sinne von
Dividendenralleys durch steigende Mieten die Mietpreise durch die Decke jagen.
Somit ist es sicher, dass Stuttgart seinen Titel als „teuerste Großstadt“ bei
den Mietpreisen weiterhin verteidigen kann.

Der strategische Fehler

Der Protest erfasste alle Schichten. Das ist auch bei
ökologischen oder demokratischen Bewegungen oft der Fall. In Stuttgart war eine
Besonderheit, dass sich auch viele Prekarisierte, Arbeitslose und SozialhilfeemfängerInnen
an den Protesten beteiligten. Sie sahen endlich mal eine Chance, sich gegen
„die da oben“ zu wehren – eine Volksbewegung also, ohne populistische
Demagogie.

Die Führung der Bewegung aber orientierte sich vor allem
an den „oberen“ Schichten. Sie war begeistert ob der Beteiligung der
„Halbhöhenlage“, wie in Stuttgart das gehobene BürgerInnentum bezeichnet wird,
das sich gerne zentrumsnah, aber erhöht am Rande des teuren Talkessels breit
macht. Schon der Hinweis, dass S 21 etwas mit Kapitalismus oder der damals
gerade überstandenen Krise desselben zu tun haben könnte, war bei diesen
unerwünscht wie auch bei allen, die die „Halbhöhenlage“ nicht verschrecken
wollten.

Letztlich hat sich bestätigt, dass nur eine
antikapitalistische Perspektive die Bewegung hätte politisch weiterentwickeln
können. Die „Halbhöhenlage“ konzentriert sich längst wieder auf ihre lukrativen
Gschäftle. Die Prekären aller Art bleiben ohne Perspektive und diejenigen, die
den entscheidenden Hebel hätten ansetzen können, die ArbeiterInnen, wurden
erfolgreich von SPD und Gewerkschaftsbürokratie rausgehalten: Sie hätten einem
breiten sozialen Aktionsprogramm die Kraft gegeben, auch der anti-ökologischen
Profitmacherei von S21 den Rest zu geben.

Die Forderungen, die wir damals vorgeschlagen hatten, sind
aber derzeit hoch aktuell:

  • Milliarden für den Ausbau des öffentlichen Nah- und Regionalverkehrs im Interesse der lohnabhängigen NutzerInnen! Kostenloser Nahverkehr für alle!
  • Keine Privatisierung, kein Börsengang der Bahn! Rückverstaatlichung der Bahn und der anderen Verkehrs- und Transportunternehmen! Kontrolliert nicht durch BeamtInnen oder ManagerInnen, sondern durch Komitees der Beschäftigten und der BenutzerInnen!
  • Kein Lohnverzicht bei der Bahn und anderen Transportunternehmen! Gegen Arbeitshetze und immer schlechtere, gesundheitsschädliche Arbeitsbedingungen der Beschäftigten unterstützen wir den Kampf der Gewerkschaften für die Erhöhung der Löhne und Gehälter der Beschäftigten, v. a. in den unteren Lohngruppen, und den Kampf für die Arbeitszeitverkürzung!
  • Verbinden des Widerstandes gegen S21 mit dem Kampf gegen die Krise: Kürzungen im sozialen Bereich, Entlassungen und S21 haben die gleiche Ursachen: Die Krise des Kapitalismus und die Versuche der Herrschenden, ihre Krise auf alle anderen abzuwälzen.

Folgerungen

Auch wenn die Bewegung
gegen S21 eine schwere Niederlage erlitt, so ging sie in die Geschichte nicht
nur der Stadt Stuttgart ein. Sie hat gezeigt, dass sich selbst in einem Land,
wo die CDU den Posten des Ministerpräsidenten gepachtet zu haben schien,
innerhalb kurzer Zeit die Verhältnisse ändern können. Hunderttausende, die
vielleicht noch Monate vor der Bewegung kaum zu mobilisieren waren, gingen
entschlossen auf die Straße. Tausende stellten sich mutig und entschlossen den
Wasserwerfern und prügelnden Bullen entgegen.

Dass S21 dennoch nicht
gestoppt wurde, verdeutlicht die Bedeutung des Kampfes um die politische
Ausrichtung einer solchen Bewegung. Dass das ruinöse Milliardengrab weiter als
Dauerbaustelle besteht, hängt untrennbar mit dem Verrat von Grünen und SPD, der
Passivität der Gewerkschaftsführungen und der Unfähigkeit der Linkspartei
zusammen, eine politische Alternative zu repräsentieren.

Mit den Mitteln des
Klassenkampfes – mit Massenstreiks und Arbeitsniederlegungen – und einem oben
skizzierten Aktionsprogramm, das die Frage eines rationalen Verkehrsystems und
ökologischer Nachhaltigkeit als Teil des Klassenkampfes begreift, hätte S21
gestoppt werden können.

Heute erleben wir das
Entstehen einer globalen Bewegung gegen die drohende Klimakatastrophe. Bei
allen Unterschieden stellen sich auch ähnliche strategische Probleme –freilich
solche, die wir lösen können, wenn wir den Kampf gegen die Zerstörung der
Lebensgrundlagen als Systemfrage, als Teil des Kampfes gegen den Kapitalismus
begreifen.