Kemmerich – ein Ministerpräsident von AfD Gnaden

Martin Suchanek, Infomail 1088, 5. Februar 2020

Bis vor kurzem kannten ihn nur wenige. Nachdem Thomas L.
Kemmerich am 5. Februar zum Thüringer Ministerpräsidenten gewählt wurde, warfen
wohl viele die Suchmaschinen im Internet an, um mehr über einen Mann zu
erfahren, der bisher im bürgerlichen Parlamentarismus und auch in der FDP
allenfalls eine drittrangige Rolle spielen durfte.

Der Thüringer FDP-Fraktionsvorsitzende Kemmerich gehörte von
2017–2019 zu den HinterbänklerInnen, den grauen Mäusen im Bundestag. Bei den
Landtagswahlen 2019 schaffte seine Partei gerade 5 %. Der Unternehmer und
Vorsitzende der FDP-nahen Vereinigung „Liberaler Mittelstand“ war bisher nur
durch notdürftig als „Mittelstandpolitik“ verbrämten Neo-Liberalismus und als
Betreiber einer Friseurkette aufgefallen, die Jobs mit „flexiblen
Arbeitszeiten“ verspricht.

Wahrscheinlich wäre Kemmerich auch eine unbekannte
Randfigur, eine der zahlreichen StatistInnen des bürgerlichen Politbetriebs
geblieben, hätte ihn nicht die politische Lage in ungeahnte „Höhen“ gehievt.
Schließlich kommt es auch in deutschen Landtagen nur höchst selten vor, dass
ein Mitglied der schwächsten Partei zum Ministerpräsidenten gewählt wird.

Erklärbar ist seine Wahl nur als Folge des politischen
Patts, das die Wahlen 2019 in Thüringen mit sich brachten – und der
offenkundigen Bereitschaft von CDU und FDP, auch mit der AfD „bürgerliche
Mehrheiten“ zu organisieren.

Die Linkspartei konnte zwar zulegen und wurde mit 31 %
stärkste Partei. Allein verfügt sie über 29 der 90 Sitze. Aber ihre
Koalitionspartnerinnen schwächelten: Die SPD sackte auf 8,2 % ab und die
Grünen schafften mit 5,2 % gerade den Einzug ins Abgeordnetenhaus. Daher
verfügte die rot-rot-grüne Koalition gerade über 42 Stimmen, während die AfD
(22 Mandate), CDU (21) und FDP (5) eine gemeinsame Mehrheit bilden konnten.

Bürgerblock

Union und FDP standen also vor der Wahl, entweder mit der
AfD zu kooperieren oder Rot-Rot-Grün und damit den bisherigen
Ministerpräsidenten Ramelow zu „tolerieren“.

Nachdem Ramelow in den ersten beiden Wahlgängen jedoch keine
absolute Mehrheit erringen konnte, zog die AfD im dritten ihren Kandidaten
zurück – und erklärte wie schon in den letzten Wochen, den FDP-Mann Kemmerich
zu wählen. Dieser errang die Mehrheit. Mit 45 gegenüber 44 Stimmen für Ramelow
wurde er bei einer Enthaltung als neuer Ministerpräsident gewählt.

Zufall stellt die Wahl von Kemmerich natürlich keinen dar.
Schon im Vorfeld hatte er erklärt, dass er sich auch von der AfD zum
Ministerpräsidenten wählen lassen würde. Während Bundes-CDU und -FDP
„offiziell“ noch von der „Abgrenzung“ und „Nichtzusammenarbeit“ mit der rechten
AfD schwadronierten, kümmerte die Thüringer Abgeordneten dieses leere Geschwätz
offenkundig schon lange nicht mehr.

Der Feind der Union und FDP wird dort offenbar bei den
„Roten“ – und sei es ein noch so blasser Roter wie Thüringens Ramelow –
verortet. Den Hauptfeind für Union und FDP bildet schließlich die
ArbeiterInnenbewegung und nicht der Rechtspopulismus, in dessen Reihen sich
neben (halb)faschistischen Flügel-Leuten auch viele ehemalige CDUlerInnen und
FDPlerInnen tummeln. Hier wächst anscheinend zusammen, was, jedenfalls für
bedeutende Teile der Union und FDP, zusammengehört.

Zu solch einer Wahl gehört auch die Legendenbildung.
FDP-Bundesvize Kubicki erklärt gar, dass die Wahl einen großen Erfolg seiner
Partei darstelle, da diese schließlich die „demokratische Mitte“ darstelle –
einen Erfolg, für den FDP und CDU den politischen Sieg der AfD billigend in
Kauf nehmen. Kemmerichs FDP und erst recht die Thüringer CDU stellen den
Ausgang so dar, also hätten sie nur „zufällig“ den Liberalen mit den Stimmen
der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt, da sie Höcke und Co. nicht an ihrer
Stimmabgabe „hindern“ hätten können. Dabei hätten sie das natürlich können. Sie
hätten sich nur der Stimme enthalten müssen.

Die TaschenspielerInnen des Parlamentarismus ziehen es
offenkundig vor, sich blöd zu stellen. Das glaubt zwar niemand, aber solche
„Erklärungen“ sollen wenigstens den Bundesparteien erlauben, weiter so zu tun
können, als ob sie mit der AfD nicht kooperieren würden, als ob es sich nur um
einen „Sonderfall“ oder „Betriebsunfall“ handeln würde. FDP-Chef Linder phantasiert
sogar davon, dass es gar keine Kooperation mit der AfD gegeben habe – man habe
sich schließlich nur von ihr wählen lassen.

In Wirklichkeit stellt die Thüringer Wahl des Ministerpräsidenten ein Politprojekt einer CDU/FDP-Koalition von AfDs Gnaden dar. Auch wenn es durchaus möglich ist, dass die Bildung einer Landesregierung Kemmerich durch CDU und FPD mit Duldung der AfD scheitert, so sollte doch niemand deren Bildung ausschließen. Schließlich zeigte der 5. Februar, zu welchen Manövern Teile von FDP und CDU mittlerweile bereit sind.

Schließlich entspricht die Bereitschaft der CDU und FDP in
Thüringen auch der Überzeug weiter Teile ihrer Parteien und von Fraktionen der
herrschenden Klasse, dass Koalitionen mit der AfD eine Option werden könnten,
wenn sich die Krise der EU weiter verschärften sollte. Hinzu kommt, dass damit
in jedem Fall auch der Druck auf die Grünen oder andere „PartnerInnen“ nach den
nächsten Bundestagswahlen erhöht werden kann. Sollten sie sich der CDU/CSU
nicht fügen, hätte diese dann eben auch eine Alternative.

Klassenpolitik

Thüringen zeigt auch, dass – unabhängig von allen
„zufälligen“ Momenten der Wahl – Klasseninteressen allemal bedeutender sind als
Beteuerungen, undemokratische, rechtspopulistische, rassistische Parteien
„auszugrenzen“. Wenn es um die Sicherung bürgerlicher Macht und vor allem auch
um die Option eines aggressiveren, nationalistischen Kurses zur Wahrung der
Interessen des eigenen Kapitals in der internationalen Konkurrenz geht, will
und wird sich die herrschende Klasse nicht den „Luxus“ einer „Ausgrenzung der
AfD“ leisten. Solche Schritte müssen freilich vorbereitet werden – und dazu
kann eine regionalpolitische Entscheidung, bei der für alle unappetitlichen
Tabubrüche im Zweifelsfall die LandespolitikerInnen verantwortlich gemacht
werden können, den Boden bereiten.

Diese Schlussfolgerung sollten sich auch alle jene zu eigen
machen, die hofften und hoffen, die AfD im Gleichschritt mit den bürgerlichen
Parteien zu „stoppen“. Dies trifft bei aller Empörung über die Manöver von FDP
und CDU auch auf die SPD, Grünen und Linkspartei in Thüringen zu. Die Grünen
werfen der FDP vor, sich von FaschistInnen wählen zu lassen – ein Akt, der
jedoch im Gegensatz zu den Vorstellungen dieser bürgerlichen DemokratInnen
leider nicht einzigartig in der deutschen Geschichte ist.

Die SPD verspricht, dass sie mit Kemmerich nicht kooperieren
wolle. Diese „Härte“ fällt ihr freilich leicht. Ausnahmsweise muss sie ihre
„Prinzipien“ nicht über Bord werfen, denn sie wird im Thüringer
Kabinettsschacher ohnedies nicht gebraucht. Nach dem Rechtsruck im Landtag
müsste sie eigentlich die Große Koalition auf Bundesebene aufkündigen – doch so
treu will die Sozialdemokratie zu ihren angeblichen Prinzipien wieder auch
nicht stehen. Stattdessen wird sich die SPD wohl auf Allerweltsfloskeln
beschränken wie etwa Kevin Kühnert, der in einer ersten Stellungnahme erklärte,
dass „Wachsamkeit … das Gebot der Stunde“ sei.

Schließlich muss sich aber auch die Linkspartei fragen,
wohin sie ihr Hofieren der Thüringer CDU, die Spekulationen und
Hinterzimmergespräche mit Gauck über eine „Projektregierung“, also eine Duldung
von Rot-Rot-Grün durch die CDU, gebracht haben. Selbst das zahme rot-rot-grüne
„Projekt“ wollten CDU und FDP nicht länger erdulden – es zweigt sich einmal
mehr, dass diese parlamentarischen Kombinationen kein Schutz vor dem Rechtsruck
und dem weiteren Aufstieg der AfD darstellen. Der 5. Februar legte nicht nur
die Leere der „Abgrenzung“ von CDU und FDP gegenüber der AfD offen, sondern
auch die Leere der – auch von der Linkspartei geteilten – „Einheit der
DemokratInnen“, von offen bürgerlichen Kräften, und der, wenn auch
verbürgerlichten, ArbeiterInnenbewegung.

Dass die Thüringer Vorsitzende der Linkspartei,
Hennig-Wellsow, Kemmerich einen Blumenstrauß vor die Füße wirft, drückt
schließlich nicht nur berechtigen Zorn, Wut, ja Abscheu aus – es verdeutlicht
auch ungewollt das illusorische Vertrauen, das die Linkspartei in CDU und FDP,
also in die Parteien des Kapitals, hegt(e).

Auch Parteichef Riexinger beklagt diesen „bitteren Tag für
die Demokratie“ – als ob diese erst gar keine Herrschaftsform des Kapitals
wäre. In Wirklichkeit zeigt der Urnengang eben auch, dass „die Demokratie“
keine über den Klassen schwebende politische Institution darstellt, dass die
„demokratischen Parteien“ der Bourgeoisie eben auch zur Kooperation mit den
wenig demokratischen, rechtspopulistischen politischen Parteien bereit sind.

Die AfD, Rechtspopulismus, Rechtsruck und erst recht der
Faschismus werden durch die gemeinsame „Ausgrenzung“ dieser Parteien weder in
den Parlamenten noch in der Gesellschaft gestoppt werden können. Im Gegenteil.
Die „Ausgrenzung“ durch CDU und FDP hat sich als Chimäre, als Illusion
erwiesen. Der Kampf gegen rechts – diese Lehre verdeutlicht das Thüringer
Ergebnis einmal mehr – kann letztlich nur als Teil des Klassenkampfes, gegen
Rassismus, Faschismus, Ausbeutung und Unterdrückung geführt werden. Einheit
also nicht „der DemokratInnen“, sondern der sozialen und ArbeiterInnenbewegung
mit eigenen Zielen und Forderungen gegen den Rechtspopulismus als eine, wenn
auch aggressivere Spielart bürgerlicher Politik.