Strategiedebatte in Fridays for Future: Grüne Nachtrabpolitik oder Antikapitalismus?

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 244, Februar 2020

Im Jahr 2019 blicken wir auch auf ein Jahr von Klimastreiks zurück. Was
wurde erreicht? Millionen vor allem junger Menschen sind auf die Straßen
gegangen, doch von einem Einlenken der Politik ist bislang nichts zu erkennen –
außer Lippenbekenntnissen und nahenden Strohhalmverboten. Als Trostpflaster hat
die „Times“ Greta Thunberg zur Person des Jahres gekrönt.

Strategiedebatte

Der Tatsache ins Auge schauend, dass die Streiks in ihrer jetzigen Form,
als Eskalationsmittel ungenügend sind, bahnt sich in Fridays for Future (FFF)
Deutschland eine – erneute – Strategiedebatte an. Diese finden innerhalb der
Bewegung zwar alle paar Wochen statt, aber es zeichnet sich eine neue Qualität
ab.

Jene Kräfte, die mit einem bürgerlich-grünen Programm auftreten, agieren
offener und bestimmter. Wir müssen verstehen, dass die Politik, die die Führung
der Bewegung vertritt, FFF zu einer Art Eventkampagne im Schatten der grünen
Partei machen möchte. Programmatisch soll diese durch eine praktisch
unwidersprochene Ausrichtung auf den „Green New Deal“, das strategische Konzept
der Grünen Partei, erfolgen.

Die enge Verbindung führender VertreterInnen und SprecherInnen von FFF
mit den Grünen, zahlreichen der Partei nahestehenden NGOs und somit
professionellen, durchaus finanzkräftigen Kampagnenstrukturen trat in den
letzten Monaten ebenfalls immer deutlicher zutage.

Zeitgleich schwanken die Kräfte des oppositionellen Lagers in der Bewegung
zwischen kleinbürgerlichen Positionen wie Konsumverzicht, Romantisierung der
kleinbäuerlicher Produktion oder einer idealistischen Vorstellung, dass es
einfach reiche, die „Wahrheit“ bekanntzumachen einerseits. Andererseits
erhoffen sie sich von einer bloßen Radikalisierung der Aktionsform
(Besetzungen) und etwas radikaleren Forderungen, die Bewegung nach links
treiben zu können.

Die radikalen und revolutionären Kräfte in der Bewegung treten offen nur
vereinzelt auf, bestenfalls auf relativ isolierten kämpferischen Inseln –
andere ordnen sich praktisch dem Programm der Bewegung unter, um nicht als
„SpalterInnen“ zu erscheinen.

In spätestens solchen Situationen besteht eine zentrale Aufgabe von
RevolutionärInnen innerhalb der Bewegung darin, die Strategiedebatte anhand der
Klassenlinie zu führen.

Die Lager verstehen, um für eine Perspektive kämpfen zu können

Um dies genauer untersuchen und Schlussfolgerungen hieraus ziehen zu
können, ist eine Auseinandersetzung mit den inneren Widersprüchen in der
Bewegung wichtig. Nur so können wir die Bedeutung der Debatte nachvollziehen.
Dies ist Aufgabe aller Kräfte innerhalb der Bewegung, die hinter der Aussage
stehen, dass ein nachhaltiges Verhältnis von Mensch und Natur im Kapitalismus
nie erreicht werden kann und wir deshalb den Kampf gegen die Umweltzerstörung
mit dem Kampf um den Sturz des Kapitalismus verbinden müssen.

Auch wenn die Bewegung enormen mobilisierenden Elan hatte und noch immer
hat, also eine echte Massenbewegung darstellt, so dürfen sich MarxistInnen keine
Illusionen darüber machen, dass solche Bewegungen natürlich immer noch von
„radikalen“ oder „linken“ Spielarten bürgerlichen Bewusstseins geprägt sind. Es
ist daher kein Wunder, dass viele AktivistInnen politisch-ideologisch grünen
oder kleinbürgerlichen Positionen zustimmen, weil diese in der Gesellschaft
ohnedies schon verankert sind, wirkmächtige Gedankenformationen darstellen.

Zweitens umfasst eine SchülerInnenbewegung notwendigerweise (anders
selbst als verbürokratisierte Gewerkschaften) immer AktivistInnen aus allen
Klassen. Dass sich die links-bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Kräfte im
Vorteil befinden, geht dann natürlich auch damit einher, dass die Bewegung von
GymnasialschülerInnen und Studierenden geprägt ist, also selbst stark eine Dominanz
der Kinder aus lohnabhängigen Mittelschichten, der ArbeiterInnenaristokratie
und dem KleinbürgerInnentum aufweist. Natürlich ist es kein Automatismus, dass
damit auch schon eine bürgerliche oder kleinbürgerliche Hegemonie in der
Bewegung besteht – aber es bedarf einer aktiven politischen Intervention von
RevolutionärInnen und klassenpolitisch ausgerichteten Kräften, um eine solche
gegen die bürgerliche Führung durchsetzen zu können. Ansonsten wird deren
Dominanz nur gestärkt, wie wir zurzeit beobachten können.

Bürgerliche Kräfte

Das offenere Auftreten bürgerlicher Kräfte drückt sich dabei an den
unterschiedlichsten Stellen aus. Beispielsweise an einer Stimmungsmache gegen
das Mittel des Streiks als wöchentlichen Kraftakt. Bei Workshops, so z. B. beim
mit 300 TeilnehmerInnen gut besuchten Nordtreffen von FFF, sollten SchülerInnen
Tipps und Tricks für ein nachhaltiges Anlagegeschäft in grüne Konzerne
nähergebracht werden. Es zeigt sich auch beim Verhandeln um
Aufsichtsratpöstchen bei Siemens, bei der Gründung von „Enterpreneurs for
Future“ oder im zaudernden Verhalten gegenüber der notwendigen Konversion der
deutschen Automobilindustrie weg vom Individualverkehr überhaupt. Die Forderung
nach einer Ersetzung des Individualverkehrs durch einen kostenlosen öffentlichen
Nahverkehr wurde von führenden VertreterInnen von FFF mit der Begründung
abgelehnt, dass man auch die Autokonzerne, genauer deren Management, mit ins
Boot holen und nicht weiter „abschrecken wolle“. Umso eifriger wird dagegen die
Forderung nach einer hohen CO2-Steuer für alle unterstützt.

Praktisch folgt dies daraus, dass die wöchentlichen Streiks zwar eine
konsequente UnterstützerInnenschaft haben, jedoch deutlich kleiner sind als in
der ersten Hälfte des vergangenen Jahres. Doch auch hier dürfen wir dies nicht
als Fakt annehmen, sondern müssen es als Produkt einer Politik der Führung der
Bewegung interpretieren.

Hierfür möchten wir vier beispielhafte Themen ansprechen: a) Die Bewegung
als Stimme der Wissenschaft, b) der Umgang mit Repressionen gegenüber
SchülerInnen, c) der Klimageneralstreik und d) den Wandel zu regelmäßigen
Großevents.

Die Stimme der Wissenschaft

Die unterschiedlichen Kräfte in der Klimabewegung hierzulande (bspw. FFF,
XR) verstehen sich als die konsequente Stimme der Wissenschaft. Darin liegt
auch der Verzicht auf ein eigenständiges politisches Programm begraben, das
über die Forderung einer Umsetzung sogenannter Klimaziele hinausgeht. Die
weitest reichende Ausgestaltung des Programms von FFF besteht darin, an den
Staat die Bitte nach einer nicht weiter definierten „sozialen Verträglichkeit“
der notwendigen Maßnahmen zu richten. Verbunden wird das mit dem Aufruf, nur
Parteien zu wählen, die eine ernsthafte Klimapolitik vertreten.

Unter bestehenden Verhältnissen ist diese Aussage gegenüber einer
möglichen schwarz-grünen Koalition auf Bundesebene nicht nur passiv, sie
fördert diese sogar. Die Basis der Bewegung selbst wird hier als Fußvolk für
Politik und Wissenschaft verwendet. Die Entwicklung eigener Inhalte wird
hierfür als nachrangig betrachtet. Somit steht und fällt die Regelmäßigkeit und
Schlagkraft der Bewegung mit dem Eindringen wissenschaftlich notwendiger
Erkenntnisse in die Sphäre der Politik. Das Ziel ist nicht, eine eigenständig
und selbst organisierte Generation von jungen KämpferInnen herauszubilden,
sondern die Herrschenden durch „Aufklärung“ zur Umkehr zu bewegen.

Zusätzlich muss klargemacht werden, dass die naturwissenschaftlichen
Forschungsergebnisse an sich kein eindeutiges Handlungsprogramm vorgeben. Sie
klammern immer die Frage der gesellschaftlichen Kraft, die ihre Interessen und
Maßnahmen umsetzen kann, aus. So kann zum Beispiel die Idee einer Energiewende
an sich als fortschrittlich begriffen werden, unter kapitalistischen
Vorzeichnen verkehrt sie sich jedoch leicht in ihr Gegenteil – Förderung
„alternativer“ Konzerninteressen und von Massenbesteuerung, nimmt also einen
arbeiterInnenfeindlichen Charakter an.

Als RevolutionärInnen müssen wir mit aller Klarheit aufzeigen, dass der
Kapitalismus systematisch zur Senkung der Kostenanteile in der Produktion
gezwungen ist und deshalb diese mit dem Ergebnis einer Umweltzerstörung
externalisiert. So ähnlich wie er auch die Kosten zur Wiederherstellung der
Arbeitskraft (Reproduktionskosten) in ihrem unbezahlten Umfang der Familie und
in ihr der weiblichen Arbeitskraft unterjubelt, drückt er sie hier den
natürlichen Lebensgrundlagen auf.

Der Umgang mit Repressionen

Im Frühjahr 2019, als deutlich wurde, dass die Streiks länger andauern
würden, nahmen Stimmen in der Öffentlichkeit zu, die sie als Schulschwänzen
abtun wollten und sich für Strafen aussprachen. Die Bewegung antwortete darauf
nicht mit geeintem Widerstand, sondern mit etwas, das überspitzt als eine Form
der „Sklavenmoral“ begriffen werden kann. Es ging darum, bewusst die Strafen
hinzunehmen oder ihnen individuell zu entfliehen, durch zusätzliche
Anstrengungen, einen Schulwechsel oder ähnliches. Kollektive Aktionen oder auch
nur offene Widerworte waren die Ausnahme, obwohl diese viel effektiver waren,
in etlichen Fällen zur Rücknahme von „Strafen“ führten und an den Schulen
organisierend wirkten. Doch genau das war von den bürgerlichen Kräften in FFF
letztlich gar nicht gewollt, weil eine von unten organisierte Bewegung schwerer
zu kontrollieren ist.

Der Klimageneralstreik

Einen Tag vor der Europawahl wurde ein Aufruf durch eine Reihe führender
AktivistInnen von FFF veröffentlicht, darunter auch Thunberg und Neubauer
(Aufruf: „Streikt mit uns!“ vom 23.05.19). Dieser rief zwar in erster Linie
allgemein die älteren Generationen auf, sich zu beteiligen. Er richtete sich
auch gezielt an die Lohnabhängigen und forderte zum gemeinsamen, massenhaften
Widerstand auf. Er blieb jedoch abstrakt, zeigte aber das Potential der
Bewegung, Teile der Gewerkschaften in den Kampf zu integrieren. Kräfte wie
ver.di oder die IG Metall bezogen sich zwar positiv auf die Bewegung und den
Aktionstag, jedoch blieben sie in der Mobilisierung passiv. Ver.di rief ihre
Mitglieder sogar dazu auf, nach Möglichkeit außerhalb der Arbeit an den Streiks
teilzunehmen.

Zeitgleich fand innerhalb von Fridays for Future um den Sommerkongress
Anfang August in Dortmund eine Debatte statt. Hier wurde um die Ausrichtung des
Streiks gestritten. Es standen sich die Positionen eines Klimastreiks unter dem
Motto #AllefürsKlima oder eines Klimageneralstreiks entgegen.

Eine Konsequenz war, dass wir auf dem Klimastreik zwar den momentanen
Mobilisierungshöhepunkt der Bewegung erlebten, jedoch eher in Form eines
klassenübergreifenden zivilgesellschaftlichen Blocks. Besonders kritisch zu
bewerten ist dabei die offene Teilnahme der sogenannten „Entrepreneurs for
Future“ (UnternehmerInnen für die Zukunft). Sie erhielten nicht nur die
Möglichkeit, ihre Westen wieder „grün zu waschen“, sondern treten seitdem auch
allgemein offener in der Bewegung in Erscheinung – ganz wie z. B. nach dem
Weltwirtschaftsforum in Davos die „verständnisvollen“ Konzernspitzen als
positive Beispiele gegenüber den „rückschrittlichen“ PolitikerInnen ins Spiel
gebracht werden.

Die Wende hin zu Großevents

Die Bewegung steht und fällt mit ihrer medialen Inszenierung. Dabei sind
die wöchentlichen Streiks schon lange nicht mehr in den Medien präsent wie in
den ersten Monaten. Die größere Aufmerksamkeit erlebten die vier zentralen
Aktionstage von FFF im Jahr 2019. An diesen beteiligten sich innerhalb
Deutschlands am 15. März 300.000, am 24. Mai 320.000, am 20. September 1,4
Millionen und am 29. November 630.000 Menschen. Ab dem zweiten Streiktag fanden
diese parallel zu internationalen Klimagipfeln oder zur EU-Wahl statt.

Auch wenn es grundsätzlich richtig ist, Massenproteste zu diesen Anlässen
zu organisieren, so steckt dahinter auch, dass die FFF-Spitze auf die
Mobilisierung zu diesen Events setzt und nicht auf den Aufbau der
Selbstorganisierung in den Schulen. Eine Streikbewegung muss sich, um lebendig
zu bleiben, aber dort verankern, wo sie ihre Tätigkeit niederlegt. Hier muss
der Druck aktiv ausgebaut werden. Dies durch das Ausbrennen Einzelner zu
rechtfertigen, zeigt viel eher, dass die Bewegung daneben ein Demokratieproblem
hat, als dass es an den Streiks selbst liegt. Werden sie zum Selbstzweck, so
bleiben sie langfristig wirkungslos.

In einzelnen Städten wurde jetzt eine Streikpause ausgerufen ohne
demokratische Abstimmung innerhalb der Basis der Bewegung. In den
Strategiedebatten, wie beispielsweise auf dem Nordkongress oder in der Debatte
der Berliner Ortsgruppe von FFF, wurde hierbei die Frage einer grundsätzlichen
Einstellung der wöchentlichen Streiks in die Diskussion geworfen.

Während das erste Jahr politisch von einem unausgesprochenen und vielen
auch nicht bewussten Kompromiss zwischen unterschiedlichen Programmen und
Kräften innerhalb der Bewegung geprägt war, verändert sich nun die Situation,
indem die Führung ihr links-bürgerliches Programm offener durchzusetzen
versucht.

Wohin?

Die antikapitalistischen Kräfte, die dem nicht offen entgegentreten,
stützen dies somit indirekt, indem sie ihre Aufgaben ignorieren und die
Illusion einer dauerhaften Vereinbarkeit dieser feindlich einander
gegenüberstehenden Programme aufrechterhalten. Dies mag zwar aus der
individuellen Perspektive nachvollziehbar sein, haben sie doch im Fahrwasser
einer Massenbewegung den lang ersehnten Zulauf an neuen AktivistInnen erhalten.
Die Frage bleibt jedoch bestehen, für welches Programm und zu welchem Zweck
diese organisiert werden sollen.

Was wir nun brauchen, ist eine gemeinsame Konferenz der
antikapitalistischen und auf die ArbeiterInnenklasse orientierten Kräfte
innerhalb der Bewegung. Diese Konferenz muss sich über den Charakter der
Bewegung austauschen, darf jedoch nicht in der reinen Diagnose verharren. Sie
muss gemeinsame praktische Schlüsse ziehen und exemplarische Gegenvorschläge
zum vorherrschenden Programm in FFF entwerfen, die dann von allen Teilen der
Konferenz gemeinsam umgesetzt werden. Hierzu bietet sich beispielsweise der
Kampf für einen kostenlosen Nahverkehr als Alternative zum Elektro-PKW an,
organisiert unter Kontrolle der ArbeiterInnen, finanziert durch die Gewinne der
Konzerne. Auch die Frage der offenen Grenzen und vollen StaatsbürgerInnenrechte
ist aktuell. So erleben wir in Österreich eine schwarz-grüne Regierung, die
sich zwar einzelne nachhaltige Ziele gesetzt hat, jedoch weiterhin ein
neoliberales und offen rassistisches Programm vertritt. Wir rufen alle AntikapitalistInnen
in der Bewegung dazu auf, gemeinsam für eine solche Perspektive zu kämpfen!