Kampf gegen Rentenkürzungen in Frankreich an einem Wendepunkt

Martin Suchanek, Neue Internationale 244, Februar 2020

Die Streikbewegung gegen die Rentenreform steht nach zwei
Monaten von Massenaktionen, die nicht nur Macron das Fürchten lehrten, sondern
auch zu einer Inspiration für Millionen in ganz Europa wurden, an einem
Wendepunkt. Die Regierung und die von ihr forcierten Angriffe sind unverändert
unpopulär, ja verhasst. Macron, der selbsternannte und selbstherrliche
Sonnenkönig eines „humanitären“ (Neo-)Liberalismus, enthüllt einmal mehr sein
arbeiterInnenfeindliches Gesicht. Alle Umfragen zeigen, dass seine „Reformen“
bei einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung weiter auf massive Ablehnung
stoßen.

An den Aktions- und Streiktagen, die von den Gewerkschaften
ausgerufen werden, beteiligen sich nach wie vor Hunderttausende, wenn nicht
Millionen. Die Demonstrationen offenbaren nicht nur tief sitzende Wut und
Empörung, sondern auch die Entschlossenheit, Dynamik, Kreativität und
Kampfbereitschaft der ArbeiterInnenklasse. Seit Anfang Dezember haben die
Streikenden bei der Bahn und Metro sowie die LehrerInnen im öffentlichen Dienst
gezeigt, dass Macron und seine Regierung in die Defensive gedrängt und sogar
gestürzt werden können, wenn die ArbeiterInnenklasse ihre ganze Kampfkraft in
die Waagschale wirft. Millionen Lohnabhängige aus allen Wirtschaftsbereichen,
SchülerInnen, Studierende, die Überreste der „Gilets Jaunes“, alt wie jung
betrachten den Streik als ihre Sache, solidarisieren sich bei den Aktionstagen
oder durch Spenden für Aktive, die seit Wochen die Stellung halten. Wie kaum
ein anderer Ausstand wird der gegen die Rentenkürzungen von unten, von der
Basis der Beschäftigten getragen – und er verdeutlicht damit die Stärken, die
allein schon aus dem spontanen Gewicht der Klassen erwachsen.

Zugleich offenbaren sich aber auch die Schwächen und
Probleme der Bewegung. Im Folgenden werden wir diese kurz darstellen, um dann
auf die Frage einzugehen, wie sie überwunden werden können.

Verrat der CFDT-Führung

Die Regierung Macron hat es geschafft, die Gewerkschaften zu
spalten, indem sie Anfang des Jahres der Streikbewegung ein „Gesprächsangebot“
machte und versprach, einen Aspekt der Reform „auszusetzen“.

Dies war natürlich nie ernst gemeint, was sich schon daran
zeigt, dass eigentlich nur die Aussetzung des „Scharnieralters“, ab dem
Menschen ohne Abschläge in Rente gehen können, für einen Teil der Bevölkerung
in Aussicht gestellt wurde. D. h. jene, die vor dem 64. Lebensjahr zur
Zeit mindestens 41,5 Betragsjahre (ab 2021 mindestens 43 Jahre) vorweisen
können, sollten auch schon früher ohne Verlust in Ruhestand gehen können.

Selbst diese Offerte, die bestenfalls die Verschlechterung
für eine kleiner werdende Gruppe von Lohnabhängigen für einige Jahre
aufgeschoben hätte, war nie mehr als ein unverbindliches Gesprächsangebot.

Der Kern der Reform, den das Unternehmerlager seit Jahren
einfordert, sollte ohnedies nie in Frage gestellt werden. Es geht um die
allgemeine Absenkung aller Renten durch eine Veränderung ihrer
Bemessungsgrundlage. Zur Zeit werden die finanziell besten 25 Beitragsjahre zur
Berechnung der Höhe der Renten herangezogen. Kommt die Reform durch, werden in
Zukunft 43 Beitragsjahre in die Ermittlung des Rentenniveaus für fast alle
Berufgruppen – ausgenommen sind nur wenige wie Militärs, Teile der Polizei,
PilotInnen, OperntänzerInnen – einfließen. Der Rentenklau betrifft also die
gesamte ArbeiterInnenklasse und alle Einkommensschwächeren, Prekären,
Erwerbslosen besonders hart. Dramatische Abschläge und ein besorgniserregender
Zuwachs der Altersarmut sind vorprogrammiert.

Das eigentliche Ziel der Regierung war also offensichtlich
und leicht zu durchschauen: der Streik sollte beendet oder zumindest geschwächt
werden. Die ArbeiterInnen sollten zurück zur Arbeit, während die
GewerkschaftsführerInnen über den Verhandlungstisch gezogen werden.

Die rechts-sozialdemokratische CFDT – nach Mitgliedern die
zweitgrößte, nach gewählten betrieblichen VertreterInnen die größte
Gewerkschaft des Landes – und einige kleinere Verbünde nahmen das „Angebot“
jedoch freudig auf. Der CFDT-Vorsitzende Berger verkündete gar den Sieg der
Streikbewegung, die er ohnedies nie gewollt hatte. Seine Gewerkschaft hatte
ihre Mitglieder und FunktionärInnen nie zum Streik aufgerufen. In den von ihr
organisierten Bereichen kam es kaum zu Arbeitsniederlegungen. Am Beginn hatte
sich die CFDT sogar gegen die Mobilisierung zu stellen versucht, musste dann
aber auf die Bewegung aufspringen und rief Ende 2019 gemeinsam mit anderen
Gewerkschaften zu den Aktionstagen auf, um noch Einfluss ausüben zu können.

Das Angebot der Regierung griff sie umso freudiger auf. Die Spitzen
kleinerer Gewerkschaften wie der UNSA, die vor allem bei der Pariser Metro
stark vertreten ist, folgten dem Kurs der CFDT. Sie stießen aber auf Widerstand
bei ihrer streikenden Basis, die sich gegen den Willen ihrer Vorstände weiter
am Arbeitskampf beteiligte.

Dass sich der Widerspruch zwischen Führung und Basis bei den
regierungsnahen Gewerkschaften manifestiert, zeigt, dass letztere durchaus von
den BerufsverräterInnen an der Spitze gebremst werden kann. Der Streikbruch
v. a. der CFDT verdeutlicht jedoch nicht nur deren verräterischen
Charakter, er hat auch der Regierung geholfen, selbst wieder die Initiative zu
ergreifen, indem sie die Gewerkschaften gegeneinander ausspielt.

Aussetzen der Streikbewegung

Der offene Streikbruch verschärft ein letztlich noch
größeres Problem, nämlich die Tatsache, dass seit Wochen keine neuen Sektoren
in den Ausstand traten. Auch die großen Aktionstage im Jahr 2020 können nicht
über das Problem hinwegtäuschen, dass die Streikfront seit Ende Dezember
zahlenmäßig stagnierte und die Arbeitsniederlegungen in vielen Bereichen
langsam zurückgingen. Auch wenn die bürgerlichen Medien im Januar die
Entwicklung übertrieben, so nahm der Prozentsatz der fahrenden Züge und Metros
doch sichtbar zu.

Am 20. Januar beschloss eine Mehrheit der
Streikversammlungen (assemblées générales, AG) schließlich die „Aussetzung“ der
Arbeitsniederlegungen im Transportsektor. Der unbefristete Streik kam damit
vorerst zum Erliegen und er sollte nur noch an den großen, landesweiten
Aktionstagen aufrechterhalten werden. Auch wenn diese Taktik zu eintägigen
Streiks und Massendemos mit über einer Million führte, so kann und darf die
Aussetzung der Streiks nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bewegung nicht
mehr in der Lage ist, ihr wirksamstes und mächtigstes Kampfmittel gegen die
Regierung einzusetzen.

Dass viele Beschäftige von Bahn und Metro nach 45 Tagen des
intensiven Arbeitskampfes erschöpft sind und sich nicht mehr in der Lage sehen,
die Streikfront pausenlos zu halten, lässt sich leicht nachvollziehen. Die
Einkommensverluste der ArbeiterInnen, die die Bewegung tragen und deren Spitze
stellen, können außerdem nicht vollständig und dauerhaft durch Streikgelder und
durchaus beachtliche Solidaritäts-Spenden von mehreren Millionen Euro
aufgefangen werden.

Hinzu kommt, dass der Sektor, der neben den Beschäftigten
bei Bahn und Metro die meiste Streikaktivität aufwies, die LehrerInnen im
Bildungsbereich, selbst im Gegensatz zum Transportsektor nie flächendeckend und
unbefristet die Arbeit niedergelegt hat. Die LehrerInnengewerkschaft FSU und
die meisten AGs konzentrierten sich auf die Aktionstage, während die große
Mehrheit der LehrerInnen in der „Zwischenzeit“ ihrem Beruf nachging.

Die Erschöpfung der kampfstärksten Schichten der Klasse
kommt nach so langer Zeit nicht verwunderlich. Im Gegenteil, sie haben sehr
lange durchgehalten. Es zeigt sich aber, dass ein solch bedeutender politischer
Generalangriff der Regierung nicht zurückgeschlagen werden kann, wenn die
Streikfront nur auf die Avantgarde der Klasse beschränkt bleibt und keine neuen
ArbeiterInnenschichten in den Kampf treten.

Rolle der Gewerkschaftsbürokratie

Hier stellt sich jedoch die Frage: Woran lag es, dass eine
Ausweitung des Streiks nicht gelang? An Appellen von linken oder kämpferischen
AktivistInnen, an Aktionen wie Blockaden, Besetzungen usw. hatte und hat es
nicht gemangelt. Viele der AktivistInnen der AGs haben immer wieder darauf
gedrängt. Bei den Demonstrationen im Januar waren die Parolen des
„Generalstreiks“ und der Ausweitung des Kampfes wie der Forderungen durchaus
populär, was verdeutlicht, dass die Basis der Bewegung nach einer Lösung für
die aktuellen Problem sucht.

Um zu verstehen, warum der Streik dennoch nicht weiter
ausgeweitet wurde, müssen wir die Rolle der Gewerkschaftsführungen begreifen,
denen trotz der Dynamik von unten letztlich die Führung der Bewegung zufiel.

Anders als die StreikbrecherInnen im Vorstand der CDFT weisen bis heute die meisten Gewerkschaften die „Verhandlungsangebote“ der Regierung zurück. Die gemeinsame Gewerkschaftskoordination Intersyndical aus CGT, FO, FSU, Solidaires, FIDL, MNL, UNL und UNEF gibt letztlich den Takt der Bewegung vor, legt die Aktionstage fest. Sie hofft, mittels weiterer solcher Manifestationen die Regierung zum Einlenken zu bewegen.

Doch schon am Beginn der Streikbewegung zeigte sich die Rolle der Bürokratie dieser Verbände in mehrfacher Hinsicht.

Erstens riefen die meisten der Verbände ihre eigenen Mitglieder über die schon streikenden Sektoren hinaus nicht zu weiteren Arbeitsniederlegungen auf. Gewerkschaftszentralen wie z. B. die FO (nach CGT und CFDT die drittgrößte des Landes) unternahmen praktisch nichts, um den Streik auf jene Sektoren auszuweiten, wo sie stark sind, ihre Mitglieder zur Arbeitsniederlegung aufzurufen und dabei praktisch zu unterstützen.

So befanden sich tatsächlich nur einige Gewerkschaften der Intersyndical im Streik, namentlich CGT, SUD und die LehrerInnengewerkschaft FSU. Und selbst die CGT versuchte kaum, über den Transportsektor hinaus ihre Mitglieder in den Kampf zu rufen.

Zudem verzichteten die aktiveren, linken Gewerkschaften – und hier vor allem die CGT-Führung – darauf, jene, die nicht ständig streikten, dafür offen zu kritisieren, zum Kampf aufzufordern und sich nicht nur an andere Führungen, sondern auch an die Basis zu wenden. Zwischen den Zentralen bestand und besteht jedoch eine Art politisches Stillhalteabkommen, das für die Zeit ihrer formalen Kampfunterstützung auch die CFDT einschloss.

Diese Politik fällt nicht vom Himmel, sondern sie spiegelt auch die Zielsetzung und Taktik der Gewerkschaftsführungen wider, inklusive jener der de facto führenden Kraft CGT. Diese organisiert zweifellos die wichtigsten und kämpferischsten Streikenden im Transportsektor, auch wenn radikalere Gewerkschaften wie Solidaires (SUD) eine Rolle unter einer sehr militanten Minderheit spielen mögen.

Die Massenbewegung, die CGT-Spitze wie die gesamte Intersyndical kritisieren zurecht den politischen, gesamtgesellschaftlichen Charakter der Rentenreform. Doch bei aller kämpferischen Rhetorik führt die Gewerkschaftsführung die Schlacht um die Rentenreform nicht wie einen politischen Klassenkampf mit der Regierung, sondern wie einen besonders bedeutsamen gewerkschaftlichen, also wirtschaftlichen Konflikt.

Letztlich hoffte auch sie, die Regierung durch den Druck der
Aktion zu einem „wirklichen“ Verhandlungsangebot zwingen zu können.

Die Regierung Macron und die gesamte herrschende Klasse
Frankreichs hingegen führen den Kampf als das, was er ist: eine Klassenschlacht,
die nicht nur massive Rentenkürzungen durchsetzen, sondern auch das
Kräfteverhältnis nachhaltig zu ihren Gunsten verschieben soll.

Daher verweigerte sie „echte“ Verhandlungen und spaltete
vielmehr erfolgreich mit einem Scheinangebot. Nachdem der Streik schwächer
wird, tritt sie auch nach und rückt wieder von den Zugeständnissen ab, die der
CFDT versprochen wurden. So verkündete Gesundheitsministerin Agnès Buzyn am 24.
Januar, dem Tag der ersten Lesung des Gesetzesentwurfs im Parlament, dass das
Renteneintrittsalter von 64 „im Gesetzentwurf enthalten“ bleibe.

Gleichzeitig verschärft die Regierung die Tonart gegenüber
den Streikenden und Demonstrierenden. So wurde die Besetzung der CFDT-Zentrale
durch kämpferische ArbeiterInnen in der bürgerlichen Presse als „Terrorismus“
gebrandmarkt. Die Stimmung im Land soll zum Kippen gebracht, also gegen die
„Minderheit“ der Streikenden in Stellung gebracht werden, die alle anderen „in
Geiselhaft nehmen“ würden.

Die Gewerkschaftsführungen waren auf diese politische Gegenoffensive
nicht vorbereitet – nicht einfach aus politischer Unwissenheit oder
Blauäugigkeit, sondern weil sie, selbst wenn sie sich kämpferisch geben, eine
politische Entscheidungsschlacht mit der Regierung vermeiden wollten und
wollen. Denn genau eine solche würde eine Ausweitung des Streiks zu einem
politischen Massenstreik, letztlich zu einem unbefristeten Generalstreik
wahrscheinlich mit sich bringen. Natürlich wäre es auch möglich, dass die
Regierung selbst zeitweilig den Rückzug antritt. Aber angesichts des wichtigen,
strategischen Charakters der Reform für Macron konnte darauf nie spekuliert
werden. Ein Generalstreik hätte daher rasch die Frage seiner Verteidigung gegen
polizeiliche Repression oder gar gegen den Einsatz des Militärs im Inneren
aufwerfen können (wie die Besetzung der Raffinerien vor einigen Jahren) – somit
also nicht nur die Rentenreform, sondern auch die Frage der politischen Macht.

Da die Gewerkschaftsführungen diesem Kampf aus dem Weg gehen
wollten und wollen, spielen sie unwillentlich der Regierung in die Hände.
Sobald diese erkennt, dass die ArbeiterInnenklasse schwächelt, weil deren
Führung zögerlich und schwach ist, setzt sie nach.

Die Schwäche der Bewegung

Die Politik der Gewerkschaftsführungen wird jedoch auch
durch politische Schwächen der Basis erleichtert. Diese ist zwar weit
kämpferischer, betrachtet aber selbst den Kampf über weite Strecken als
gewerkschaftliche Auseinandersetzung, nicht als politischen Klassenkampf. Dies
zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sie bislang die politische Führung der
Intersyndical überlässt.

Auch wenn der Streik von den Streikversammlungen, den
assemblées générales, in den Betrieben getragen wurde, so waren diese doch weit
davon entfernt, die Führung der Bewegung zu übernehmen.

Die AGs stimmten zwar jeden Tag über die Fortführung des
Streiks ab, aber nur ein kleiner Teil wählte oder bestimmte eine betriebliche
Streikleitung oder ein Streikkomitee. Eine über die Betriebe und Abteilungen
hinausgehende Koordinierung gab es nicht, allenfalls in Einzelfällen. In vielen
Fällen beschränkten sich die Versammlungen sogar nur darauf, den Bericht von
GewerkschaftsvertreterInnen zu hören, zu klatschen und auf dessen Vorschlag für
die Fortsetzung des Streiks zu stimmen.

D. h. die faktische Leitung des Arbeitskampfes lag
weiter bei einer, den AGs nicht verantwortlichen Führung, die von den
Gewerkschaftszentralen bestimmt wurde. Ohne Wahl und Koordinierung von
Streikkomitees konnten die AGs zu keinem Zeitpunkt zur Führung des Streiks
werden, schon gar nicht auf überbetrieblicher Ebene. Auf landesweiter Ebene
existiert erst recht keine alternative politische Führungskraft zur von der CGT
maßgeblich bestimmten Intersyndical.

Daran änderte auch das weit verbreitete und berechtigte
Misstrauen der Lohnabhängigen gegenüber der Gewerkschaftsspitze nichts. Diese
vermochte es vielmehr, die politische Verantwortung für die Ausweitung des
Streiks durch ein geschicktes Manöver auf die Basis abzuwälzen.

Da formal nur die AGs über die Durchführung und
Weiterführung des Streiks in einem Betrieb oder einer Abteilung entscheiden,
rechtfertigten die Gewerkschaftszentralen – so auch die linke CGT – ihre
Versäumnisse, aktiv weitere Sektoren in den Kampf zu ziehen und in weiteren
Betrieben und Branchen systematisch zu agitieren, damit, dass sie die
ArbeiterInnen nicht „bevormunden“ möchten. Nur die ArbeiterInnen in den
Betrieben dürften über ihren Streik und dessen Fortführung entscheiden. Das, so
die Bürokratie, würde großzügig respektiert werden. Daher würden sie auf
„bevormundende“ Aufrufe zu allgemeinen Streiks verzichten, dieser müsse „von
unten“ kommen.

Damit schob die Führung der Gewerkschaften jedoch bloß ihre
politische Verantwortung, den Kampf auszuweiten und zu verstärken, auf die
„Basis“ ab, d. h. auf voneinander weitgehend isolierte einzelne
Belegschaften oder Abteilungen.

In der Phase des Aufstiegs und der Ausweitung der
Streikbewegung treten diese Probleme einer solchen Struktur nicht so sehr in
Erscheinung. Getragen von der Nachricht großer Streikbeteiligung, riesiger Demonstrationen
und Solidarität der Bevölkerung stimmen natürlich auch viel leichter AGs für
den Streik. Sobald die Bewegung jedoch rückläufig ist, sobald sich
Ermüdungserscheinungen zeigen, schlägt die Dynamik leicht in ihr Gegenteil um –
mehr und mehr AGs werden, von der allgemeinen Stimmung beeinflusst, zum Rückzug
blasen. Wie der Beschluss zur Aussetzung des Streiks im Transportwesen, der in
vielen Betrieben zeitgleich erfolgte, zeigte, existierte natürlich zu jedem
Zeitpunkt in der Wirklichkeit auch eine überbetriebliche Verbindung – jedoch
keine von der Basis gewählte oder kontrollierte, sondern vom
Gewerkschaftsapparat.

Es ist also, wie bei jeder Bewegung, ein Mythos, dass es
keine Führung gebe. Die scheinbare Selbstständigkeit und Unabhängigkeit jeder Streikversammlung
bedeutet nur, dass die wirkliche Führung, der von der CGT kontrollierte
Gewerkschaftsapparat, schwierige Entscheidungen scheinbar großzügig an die
Basis abtritt. So kann die CGT-Zentrale jede Verantwortung für das Aussetzen
des Streiks abstreiten, indem sie auf die eigenständigen Beschlüsse der
Basisversammlungen verweist – und diese „respektiert“.

Zweifellos kommen der Gewerkschaftsbürokratie dabei
Illusionen der Basis zugute. Gegenüber der berechtigten Befürchtung vor
Bevormundung und Gängelung durch den Apparat erscheint die Demokratie der
Vollversammlung ein wirksames Mittel. Aber es ist ein politisch unzulängliches,
ja wirkungsloses Mittel. Der Zentralisierung des Kampfes durch die Bürokratie
stellt sie eine „Dezentralisierung“ entgegen, der Führung durch einen
reformistischen Gewerkschaftsapparat somit die Illusion des Verzichts auf eine
politische Führung überhaupt.

Die tragische Ironie dieser Selbsttäuschung besteht darin,
dass die Macht der Bürokratie über die Bewegung nicht beseitigt, sondern nur
weniger sichtbar wird, weniger offen und somit indirekt hervortritt. Sie wird
damit aber auch unfassbarer und letztlich auch schwerer zu bekämpfen.

Vor allem aber kann so keine alternative Führung zu jener
der Bürokratie aufgebaut werden, weil auch das Problem der Zentralisierung des
Streiks, der Koordinierung, der Ausweitung und Bündelung der Schlagkraft im
Kampf gegen Kapital und Regierung nicht gelöst werden kann.

Notwendig war und ist es, in der Bewegung gegen die
Rentenreform daher für zwei Forderungen einzutreten:

  • Von den Gewerkschaftsführungen eine konsequente Ausweitung des Kampfes zu fordern, bis hin zu einem politischen Generalstreik zur Rücknahme der Angriffe.
  • Die Wahl, Rechenschaftspflicht und Abwählbarkeit von Streikkomitees aus den AGs und deren Koordinierung zu lokalen, regionalen und landesweiten, der Basis wirklich verantwortlichen Aktions- und Streikleitungen zu fordern. Diese sollten auch jetzt, wo viele AGs den Streik ausgesetzt haben, gewählt werden, um so überhaupt erst eine organisierte Verbindung zwischen den kämpfenden Belegschaften zu bilden, die einen Mobilisierungsplan erarbeitet, um den Streik wieder auszuweiten und voranzubringen. Die Gewerkschaftsführungen müssten aufgefordert werden, sich voll hinter die Beschlüsse solcher Koordinierungen zu stellen.

In der aktuellen Situation müssten diese Forderungen mit
konkreten Schritten verbunden werden, wie das Rückfluten der Streikbewegung
gestoppt und eine neue Ausweitung vorbereitet, ja in Gang gesetzt werden kann. Auch
wenn die Reform wahrscheinlich nur mit einem Generalstreik gestoppt werden
kann, so kann dieser angesichts einer Bewegung, die mit rückläufigen
Streikzahlen kämpft, nicht einfach proklamiert werden. Schon gar nicht wird der
abstrakte Ruf nach einer „Ausweitung“ der Streikbewegung Betrieb für Betrieb zu
diesem Ziel führen können.

Die Taktik der Gewerkschaftsführungen und der Intersyndikal,
die Beschäftigten bei Bahn, Metro, im Bildungssektor und andere regelmäßig zu
Aktionstagen zu mobilisieren, spiegelt in dieser Lage einerseits den weiter
bestehenden Kampfwillen der ArbeiterInnen wider. Sie birgt aber andererseits
die große Gefahr in sich, dass sich die Streikbewegung nach und nach in
Aktionstagen erschöpft.

In dieser Situation kann jedoch die Forderung nach einem
landesweiten Aktionstag, der mit einem Generalstreik möglichst aller Sektoren
verbunden wird, eine wichtige Rolle spielen. Auch wenn eintägige
Arbeitsniederlegungen aufgrund ihres letztlich symbolischen Charakters oft und
leicht als Beruhigungspille missbraucht werden können, so kann ein solcher
eintägiger Streik im Fall einer rückläufigen Streikbewegung auch ein Mittel zur
erneuten Sammlung der Kräfte sein, um der ArbeiterInnenklasse vor Augen zu
führen, dass sie über die Mittel und Kampfkraft verfügt, den Angriff der
Regierung zurückzuschlagen. D. h. ein solcher eintägiger Streik dürfte
nicht als „Höhepunkt“ einer Auseinandersetzung verstanden werden, sondern als
Schritt zur Mobilisierung, zur Vorbereitung eines unbefristeten Generalsstreiks.

Ein solcher könnte nicht nur die Totenglocken für die
Rentenreform, sondern auch für die Regierung Macron läuten lassen – in jedem
Fall wäre er ein Fanal des Widerstandes der ArbeiterInnenklasse in ganz Europa
nach Jahren des Rückzugs, der faulen Kompromisse und des Aufstiegs der Rechten.