Die nationale Frage in der DDR

Liga für eine revolutionär-kommunistische Internationale, 21. November 1989, Revolutionärer Marxismus 52, November 2019

Obwohl die Teilung Deutschlands eine reaktionäre
Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts der Deutschen war, führte sie zur
Schaffung eines degenerierten ArbeiterInnenstaates, dessen grundlegende
ökonomische Merkmale ein Hindernis für kapitalistische Ausbeutung, die Basis
einer geplanten Wirtschaft und soziale Fortschritte sowie den Ausgangspunkt
zukünftigen Fortschritts der Arbeiterinnenklasse der DDR darstellen.
Kommunistinnen treten daher prinzipiell gegen eine Wiedervereinigung von DDR
und BRD ein, falls diese die Zerstörung der nachkapitalistischen
Eigentumsverhältnisse in der DDR und die Expansion des BRD- Imperialismus zum
Inhalt hat.

Alles in allem hat die Massenbewegung in der DDR die Frage
der Wiedervereinigung bisher nicht als vordringliches Thema aufgeworfen. Das
folgt teilweise aus der Dominanz der offiziellen Ideologie mit ihrer ständigen
Versicherung der Legitimität des Staates, teilweise aus einer „realistischen“
Einschätzung, was die Imperialistlnnen und die UdSSR erlauben werden, und zum
Teil auch aus der Einsicht in den reaktionären Charakter der BRD. Trotzdem ist
es praktisch undenkbar, dass die fortgesetzte politische Krise in der DDR nicht
dazu führen wird, dass die Wiedervereinigung als mögliche Lösung der
ökonomischen Schwäche und der politischen Instabilität gesehen wird.
Revolutionärinnen müssen sich auf die fortschrittlichen Elemente dieser Idee
beziehen. Deshalb ist die Forderung nach revolutionärer Wiedervereinigung
Deutschlands keine untergeordnete taktische, sondern ein Bestandteil des
Programms. Damit meinen wir nicht, dass ein wiedervereinigter deutscher
Arbeiterinnenstaat notwendige Voraussetzung oder Ergebnis siegreicher
ArbeiterInnenrevolutionen in Europa sein muss. Wir erkennen aber, dass die nationale
Frage eine Achillesferse der DDR ist, die kein anderer osteuropäischer
degenerierten ArbeiterInnenstaat besitzt. Eine revolutionäre Antwort auf dieses
spezielle Problem bekommt damit sogar entscheidenden Stellenwert, wenn
nationale Illusionen in den Vordergrund des proletarischen Bewusstseins rücken.
Revolutionärinnen müssen hervorstreichen, dass es natürlich keine Lösung für
die Probleme der DDR in ihren eigenen Grenzen gibt. In diesem Kontext erkennen
wir auch das große ökonomische Gewicht der BRD und ihre Kapazität, den
ökonomischen Wiederaufbau und die Entwicklung in allen degenerierten
ArbeiterInnenstaaten zu unterstützen an. Aber Revolutionärinnen weisen die Idee
zurück, dass das durch die Wiedervereinigung unter einer imperialistischen BRD erreicht
werden könnte.

Die Prosperität der BRD war keineswegs das Ergebnis
irgendeiner dem kapitalistischen System innewohnenden Überlegenheit. Während
der ganzen Nachkriegsgeschichte hat die in der BRD angesiedelte deutsche
herrschende Klasse aus der Existenz ihrer stalinistisch kontrollierten
Nachbarin Vorteile gezogen. Ideologisch half diese Konstellation, die
ArbeiterInnenklasse in der BRD an ihre kapitalistischen, aber „demokratischen“
HerrInnen zu binden. Ökonomisch brachte sie sowohl die Zufuhr gut ausgebildeter
Arbeitskraft (EinwanderInnen vor dem Bau der Berliner Mauer) und den Zugang zu
osteuropäischen Märkten. Die herrschende Klasse der BRD sieht angesichts einer
eigenen exportorientierten Wirtschaft, die eine Rezession und einen darauf
folgenden Niedergang des Welthandels auf sich zukommen sieht, die Krise in der
DDR und in den anderen degenerierten ArbeiterInnenstaaten als Möglichkeit für
eine Weiterführung, ja Ausdehnung der eigenen Produktion. Zweitens sieht sie
darin die Grundlage einer neuen eigenen Rolle im europäischen und schließlich
im weltweiten Rahmen.

Die BRD-Bosse rechnen sich schon jetzt aus, wie sie am
besten aus der Krise des Stalinismus profitieren, wie sie Arbeitslöhne durch
„Flüchtlingsarbeit“ drücken können, wo neue Industrien errichtet werden sollen
und woher sie billigere Rohmaterialien erhalten können. Die
Metall-UnternehmerInnen fordern bereits eine Rückkehr zur 40-Stunden-Woche, die
durch den Druck der Gewerkschaften Mitte der 1980er Jahre abgeschafft worden
war. Um ihre eigenen Interessen und die der ArbeiterInnen in der DDR zu
verteidigen, müssen die Lohnabhängigen in der BRD die Pläne der KapitalistInnen
durchkreuzen. Sie müssen lernen, mit ihren Bossen in derselben Sprache wie die
polnischen, russischen und ostdeutschen ArbeiterInnen zu sprechen, der Sprache
der Massenstreiks und Demonstrationen. Sie müssen nicht nur gleichen Lohn und
gleiche Rechte für alle ArbeiterInnen fordern, sondern auch das Ende der
gegenwärtigen Offensive gegen die DDR. Solange die DDR auf nachkapitalistischen
Eigentumsverhältnissen basiert, muss ihr Existenzrecht verteidigt werden, die
BRD muss ihre Legitimität und die DDR-Staatsbürgerschaft anerkennen.

RevolutionärInnen in der BRD fordern außerdem die Öffnung
aller Bücher der KapitalistInnen, die aus Handelsbeziehungen mit degenerierten
ArbeiterInnenstaaten profitiert haben. Sie werden die Aufnahme direkter
Beziehungen zwischen den Basisorganisationen der ArbeiterInnenklasse auf beiden
Seiten und die Bewilligung auflageloser Kredite und Hilfe für die DDR fordern.
Den Plänen, die DDR als Teil einer Rekapitalisierung in die BRD einzugliedern,
stellen wir das für ganz Europa fortschrittliche Potential einer revolutionären
Wiedervereinigung Deutschlands gegenüber, das heißt den Sturz des
kapitalistischen Staates in der BRD und den der Stalinistinnen in der DDR.

(Aus: Die Krise in der DDR, Resolution der LRKI, 21.11.1989)