Anmerkungen zur Vergabe eines Literaturnobelpreises

Martin Suchanek/Markus Lehner, Infomail 1073, 23. Oktober 2019

Teil 1: Preis, Moral und Politik

Die diesjährige Verleihung des
Literaturnobelpreises an Peter Handke hat sich längst zum „Fall Handke“
entwickelt. Die Diskussion geht nicht über das Für und Wider der kunst- und
kulturkritischen Öffentlichkeit hinaus, sondern wird mittlerweile vor allem als
moralischer Disput ausgetragen.

Eigentlich wollten wir uns nicht weiter mit
Handke und erst recht nicht dem Nobelpreis beschäftigen. Angesichts der aktuellen
politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen kommt der
Preisverleihung durch die ohnehin fragwürdige Institution, so wie der ganzen
„Auszeichnungskultur“, an sich keine besondere Bedeutung zu.

Halten wir uns jedoch den Fokus der Diskussion vor Augen, erhebt sich die Frage, warum die Verleihung eines Literaturnobelpreises zu einer moralischen Frage wurde? Warum es weit mehr um die Person als das literarische Werk geht?

Moralische Frage?

Ein Grund dafür findet sich, wenn wir den
Literaturnobelpreis mit anderen Sparten der Preisverleihung vergleichen.

Die PreisträgerInnen für Chemie, Physik wie auch
für Medizin/Physiologie können darauf verweisen, das  menschliche Wissen und/oder dessen praktische Anwendung
weitergebracht zu haben, mag auch die jeweilige Entscheidung umstritten sein.
Unter den auf diesen Gebieten Ausgezeichneten finden sich zweifellos
unbestrittene Größen ihres Faches, die Einsteins, Heisenbergs, Curies, …,
zumeist aber Menschen, die über ihr Wissensgebiet hinaus nur wenigen bekannt
sind. Daher und weil moralische Kriterien für die Auswahl dieser
PreisträgerInnen offenkundig nichts taugen, eignen sie sich nicht wirklich für
moralische Dispute.

Auch auf dem Gebiet der Ökonomie stoßen wir
rasch auf wenngleich anders gelagerte Probleme, ironischerweise, weil die
Ausgezeichneten einigermaßen den Stand der bürgerlichen Wirtschaftswissenschaft
wiedergeben. Der Nobelpreis gilt gewissermaßen als Jahresranking, bei dem sich
je nach politischer Konjunktur VertreterInnen der vorherrschenden neo-liberalen
Doktrin mit ihren keynesianischen Counterparts und ErfinderInnen „alternativer“
Wundermittel wie Tobin-Steuer und Mikrokredit abwechseln. Die Humanwissenschaft
Ökonomie taugt wenig zur moralischen Geste, weil sie zu eng verstrickt ist mit
dem Ideologisieren der Profitmacherei oder den Behelfskonstruktionen am
Krankenbett des Kapitalismus.

Für die „höhere Moral“ und „Menschlichkeit“
scheint eigentlich der „Friedensnobelpreis“ auserkoren zu sein. Doch gerade auf
diesen Gebieten erweisen sich dessen TrägerInnen regelmäßig als zweifelhafte
„Autoritäten“. Unter ihnen tummeln sich die fragwürdigsten Figuren, darunter
ehemalige Staatspräsidenten wie Obama, Sadat oder Peres, die mehr zum Krieg als
zum Frieden beitrugen. Arafat oder Gorbatschow erhielten die „Auszeichnung“
umgekehrt als Trostpreis für Niederlagen, Rückzug oder Kapitulation. Umgeben
werden die PolitikerInnen von einer Reihe von „Friedensinstitutionen“ und
Initiativen, vom Roten Kreuz bis zu Mutter Theresa, also dem humanitären
Aufputz der imperialistischen Ordnung.

Dass sich gerade in der Sparte „Frieden“ so
viele KriegsherrInnen finden, gewissermaßen siegreiche HerstellerInnen des
Friedens, wird gern dem Nobelpreiskomitee angelastet. Diese Kritik verbleibt
freilich an der Oberfläche. Mit dem Frieden verhält es sich wie mit allen
Zielen, Werten oder moralischen Grundsätzen einer Klassengesellschaft so
einfach eben nicht. Jede Gesellschaft, die auf der Ausbeutung der Mehrheit
durch eine Minderheit beruht, entwickelt notwendigerweise Institutionen zur
Sicherung dieser Herrschaft – nach innen wie nach außen. Der Krieg ist in der
Tat nur die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, kein außerhalb der
Politik und des gesellschaftlichen Lebens stehendes „undemokratisches“ Anderes
– ganz so wie die bürgerliche Demokratie wesentlich eine Herrschaftsform des
Kapitals und kein Instrument zur Menschheitsbeglückung ist oder sein könnte.

Das Nobelpreiskomitee versteht sich jedoch als
ideelle moralische Vertretung scheinbar über allen Klassen stehender Menschheitsideale,
die Fragen nach den gesellschaftlichen Interessen und Zwecken der jeweiligen
„Friedenspolitik“ notwendigerweise ausblenden muss oder allenfalls nur
oberflächlich anerkennen darf. Als Referenzpunkt dient dem Komitee dazu die
Sicherung des Friedens der bestehenden bürgerlichen Gesellschaftsordnung. Deren
Legitimität wird einfach vorausgesetzt, drängt sich ohne viel Zutun einfach
auf. Ein Beispiel dafür, dass die herrschenden Ideen und damit auch moralischen
Vorstellungen eben jene der Herrschenden sind.

Der Klassencharakter des Nobelpreisgeschehens
macht sich jedoch, sehr zum Leidwesen der moralisch Interessierten, dennoch
geltend, aber nur an dessen Oberfläche in Form immer fragwürdigerer
PreisträgerInnen.

Im Kalten Krieg noch hatte der Preis eine recht
klare politische Funktion für die zur „Weltgemeinschaft“ verklärten
imperialistischen Demokratien. Er fungierte als, wenn auch untergeordnetes,
moralisierendes Kampfmittel.

Doch in der aktuellen politischen Lage vermag er
nicht mehr so einfach, den ideellen Gesamtnenner der herrschenden Klassen der
westlichen imperialistischen Demokratien zum Ausdruck zu bringen. Das liegt
natürlich nicht an der Institution Nobels, sondern an den verschärften
innerimperialistischen Widersprüchen wie den offen hervortretenden Gegensätzen
innerhalb der Bourgeoisien selbst. Umgekehrt entspringt gerade aus dieser
konflikthafteren, instabileren Lage der Bedarf nach scheinbar über allen
Klassen stehenden Institutionen, nach „Menschheitspreisen“, die eine scheinbar
über allen Widersprüchen stehende Moral und Werte verkörpern. Die
Auszeichnungen können daher nicht bloß den Werken gelten, auch die
PreisträgerInnen sollen eine höhere Moral möglichst personifizieren.

Und die Literatur?

Angesichts der Fragwürdigkeiten und Schwierigen
bei anderen Sparten, soll anscheinend der Literaturnobelpreis in die Bresche
springen. Bei der Diskussion um Peter Handke spielt die Frage nach der Qualität
des literarischen Werkes mittlerweile kaum noch eine Rolle.

Etliche, die sich in den letzten Tagen über den
„Skandal“ entrüsten, erklären sogar freimütig, von Handke bislang kaum eine, ja
gar keine Zeile gelesen zu haben. Mit der Unkenntnis des kritisierten Werks
geht das umso apodiktischere moralische Urteil einher. Ein Mensch wie Handke,
einer mit seinen Anschauungen verdiene den Preis nicht. Basta!

Maßgeblich dafür sind die unleugbaren
reaktionären und rückständigen Seiten des Menschen, seine politischen wie
menschlichen. Zurecht werden ihm herablassende und sexistische Äußerungen
gegenüber #MeToo vorgeworfen und die gewaltsamen Übergriffe gegen seine
ehemalige Lebensgefährtin Marie Colbin kritisiert, die Handke reuig eingesteht,
wenn auch in seiner verschrobenen Art.

Zum anderen und vor allem steht seine
Parteinahme für Serbien im Jugoslawienkrieg im Zentrum der Kritik, die er
sowohl in „Gerechtigkeit für Serbien“ als auch mit Besuchen bei den Kriegsverbrechern
Milošević und Karadžić zum Ausdruck
brachte.

Zweifellos vertrat Handke in all diesen Fragen
reaktionäre Positionen, wenn auch nicht immer jene, die ihm von manchen (nicht
lesen wollenden) KritikerInnen zugeschoben wurden.

Zweifellos äußerte sich Handke sexistisch
gegenüber #MeToo und dies wurde zu Recht kritisiert. Dass diese Äußerungen so
berechtigte Empörung verursachten, sollte jedoch nicht vergessen lassen, dass
sich in seinem Werk selbst ein recht widersprüchliches Frauenbild (wie
Menschenbild) findet. So finden sich erfrischende, dekonstrukivistische
Infragestellungen von tradierten Geschlechterrollen neben fast schon
mythologisierenden Formulierungen.

Dies hängt damit zusammen, dass sich bei Handke,
selbst Idealist und nicht Materialist, immer wieder zwei Ausdrucksformen
finden, die schwer miteinander in Einklang zu bringen sind. Einerseits ein
scharfes, mitunter provokatives und sprachlich höchst lesenswertes enthüllendes
Darstellen der hinter der Fassade des bürgerlichen Lebens verborgenen
Widersprüche, Abgründe und Abscheulichkeiten. Zum anderen aber auch die Suche
nach einer imaginären, tief in der Persönlichkeit, wenn man so will in der
Seele, verborgenen „Wahrheit“ – einer falschen Wahrheit, die zwangsläufig zu
identitärer Setzung führen muss.

Die Spannung zwischen diesen Momenten sowie die
Schwächen und Grenzen dieser Methode offenbaren sich auch in der Schrift
„Gerechtigkeit für Serbien“, einer der weniger lesenswerten Arbeiten des
Autors.

Einerseits bildet die Kritik an der westlichen
Kriegsberichterstattung, der Dämonisierung „der SerbInnen“ und „Serbiens“ den
Ausgangspunkt seiner Betrachtungen und darin auch ein richtiges Moment seiner
Kritik. Anders als seine damaligen wie heutigen KritikerInnen nahm Handke das
Verbrecherische des NATO-Krieges gegen Serbien wahr wie auch die historische
Zäsur, die damit gerade in Deutschland einherging. Zum ersten Mal seit 1945
nahm die Bundesrepublik offen an einem Krieg teil. Das „Verteidigungsbündnis“
NATO führte erstmals erklärtermaßen einen „Out of area“-Krieg gegen ein
Drittland. Und schließlich wurden die „humanitäre“ Rechtfertigung für den
Angriff auf Serbien und die Bombardements von Belgrad auch zum Vorbild für die
Legitimation späterer Kriege im Namen von Menschenrechten und Frieden
(Afghanistan, …).

Andererseits kennt Handke bei „den SerbInnen“
keine Klassen, keine Interessen, nur allzu menschliche Menschen. Der serbische
Nationalismus kommt bei ihm allenfalls als mythologisierte Vorstellung eines
„Jugoslawien“ vor, das in den Kriegen und Bürgerkriegen zerstört wurde. Er
erscheint ihm nicht als reaktionäre, mörderische Ideologie und Politik, die für
den Tod zehntausender BosnierInnen verantwortlich ist, die Handke selbst
rassistisch und chauvinistisch verhöhnt und die bei ihm in der Regel nur als
„MuselmanInnen“ vorkommen. Der serbische Nationalismus erscheint eigentlich gar
nicht als solcher, sondern als Restbestand eines nationsübergreifenden
jugoslawischen Staatsverbandes, so dass er  nicht als ein Versucher des Zerfalls, sondern als dessen
Opfer erscheint. Solchermaßen stellt Handke die Dinge wirklich auf den Kopf. Die
treibenden Kräfte des Zerfalls Jugoslawiens werden ausgeblendet oder
mythologisiert.

Warum die Härte der Kritik?

Nun sind reaktionären Positionen von
Kunstschaffenden wie von großen LiteratInnen zu politischen oder
gesellschaftlichen Fragen nichts Ungewöhnliches. Handke hat sich zweifellos vor
den Karren des serbischen Nationalismus spannen lassen. Er äußerte sich
zweifellos sexistisch.

Damit nimmt er jedoch keine Sonderstellung ein.
Im Gegenteil. Knut Hamsun war bekanntlich ein Bewunderer des
Nationalsozialismus, Rudyard Kipling verklärte die „Zivilisierung der Wilden“
zu einer „ethischen Last“ – für die Weißen. (George) Bernard Shaw verteidigte
die Schauprozesse und Säuberungen Stalins, der einstige Linke Mario Vargas
Llosa wurde zum glühenden Verfechter des Neoliberalismus. Von den „Werten“, die
der Literat Winston Churchill verteidigt haben soll, wollen wir hier erst gar
nicht reden.

Diese Liste ließe sich lange fortsetzen. Auch
der Literaturnobelpreis erweist sich als fragwürdig, wenn es um die moralische
Eignung der Person geht. Das erkennen sogar Mitglieder des Nobelpreiskomitees
an, die bei ihrer Verteidigung der Entscheidung nicht nur einige falsche
Vorwürfe gegenüber Handke – so hat er weder die Massaker von Srebrenica
geleugnet noch zum Krieg aufgerufen – entkräften, sondern auch die moralische
Überfrachtung der Würdigung zurückweisen. Zu Recht bestehen sie darauf, dass
der Preis einem literarischen Gesamtwerk gilt. Darüber hinaus ist es praktisch unmöglich,
irgendwelche Kunstschaffende zu finden, die „unstrittige“, einfach nur
„moralisch“ richtige politische Positionen beziehen würden – es sei denn, man
unterstellt, dass die Verteidigung der westlichen bürgerlichen Demokratie keine
Parteinahme für das Herrschaftssystem und die Interessen einer bestimmten
Klasse wäre.

Die KritikerInnen konzentrieren sich daher aus
gutem Grund auf den Handke der „Gerechtigkeit für Serbien“. So wie der Literat
die Frage nach den materiellen Ursachen und politischen Zielen der
Kriegsparteien und die Gräuel an den BosnierInnen und AlbanerInnen ausspart,
verklären sie den NATO-Krieg gegen Jugoslawien zu einer humanitären Operation.
Die imperialistischen Ziele werden negiert, verleugnet, tabuisiert. Wer Zweifel
an der Gerechtigkeit des NATO-Krieges aufwirft, muss zum Schweigen gebracht
oder zumindest als politisch-moralische Unmöglichkeit entlarvt werden. Ein
Autor bringt das im SPIEGEL mit dankenswerter Deutlichkeit zum Ausdruck.

„Die eigentliche, die größere Frage
hinter der Debatte um Handke ist die nach dem Selbstverständnis der westlichen
Welt: Der NATO-Angriff auf Jugoslawien 1999 war ein historischer Moment. Hier
vollzog sich vollends die moralpolitische Wende des Westens, die bis heute die
deutsche Außenpolitik prägt. Diese Moralpolitik aber ist unter Druck geraten,
seit Trump, seit Syrien. Die Wortgefechte um Handke sind auch Rückzugsgefechte.

Indem der Schriftsteller um die
Jahrtausendwende diese Politik kritisiert hatte, sagte er indirekt auch: Ihr seid
gar nicht die Guten, für die ihr euch haltet. Die Reaktion vieler westlicher
Intellektueller und Medienleute, die er dabei direkt oder indirekt angegriffen
hatte, war entsprechend: Für sie war Handke der Bösewicht.“

(https://www.spiegel.de/plus/sasa-stanisic-gegen-peter-handke-ein-roman-der-live-entsteht-a-00000000-0002-0001-0000-000166490235)

Tragischerweise erleichtert es Handkes
einseitige, politisch naive und falsche Positionierung für den serbischen
Nationalismus, ihn zu entlarven und damit auch gleich seine Kritik an der NATO
zu diskreditieren. Dafür verdient der Autor auch kein Mitleid und erst recht
keine politische Nachsicht. Er leistet damit nämlich all jenen, die den
serbischen und kroatischen Nationalismus wie die imperialistische Intervention
bekämpft haben, all jenen, die das Selbstbestimmungsrecht Bosniens und des
Kosovo verteidigten, ohne deren nationalistische Führungen politisch zu
unterstützen, einen Bärendienst. Er erleichtert entgegen seinen eigenen
Absichten durch sein „Narrativ“, seine Story die Verbreitung der
imperialistischen Rechtfertigungsideologie bis zum heutigen Tag.

Wie das obige Zitat zeigt, wurde Handke nicht
zum „Fall Handke“ wegen seiner Fehler, sondern letztlich wegen seiner richtigen
Momente.

Die Balkankriege haben nicht nur
nationalistische Gegensätze verschärft und furchtbare Gemetzel gebracht,
zehntausende unschuldigen Menschen – darunter zum größten Teil BosnierInnen –
das Leben gekostet und Hundertausende – darunter auch Hundertausende SerbInnen
– aus ihren Heimatorten vertrieben. Sie haben die Länder des ehemaligen
Jugoslawiens auch zu halbkolonialen Einflusszonen der Europäischen Union und
insbesondere des deutschen Imperialismus gemacht, zu wirtschaftlichen und
politischen Klientelstaaten oder Regionen. Dort, im Westen, sitzen auch die
eigentlichen GewinnerInnen und ProfiteurInnen dieser Kriege.

Bis heute wurden und werden die Verbrechen an diesen
Ländern, die „Kollateralschäden“ demokratischer Bombardements vertuscht oder
verniedlicht. Sie wurden als „selbstlose“, geradezu moralisch aufgezwungene
Interventionen, ja als Lehren aus den Verbrechen des Nationalsozialismus
beschönigt. Für diese moralisierende imperialistische Politik gerät die Vergabe
des Nobelpreises an Handke in den Verdacht der „Relativierung“ der humanitären
Höhen des Westens. Jede Kritik an bundesrepublikanischer und internationaler
Intervention im Namen der Menschenrechte soll aber nicht nur wegen vergangener
imperialistischer Kriege diskreditiert werden, sondern vor allem, um zukünftige
zu rechtfertigen.

Gerade weil in Zukunft mehr, nicht minder
zweifelhafte und womöglich verlustreichere Waffengänge ins Haus stehen, soll
falscher Zweifel am „gerechten“ Bombardement erst gar nicht aufkommen. Bei der
Mythologisierung des NATO-Einsatzes geht es darum, der bürgerlichen Öffentlichkeit
die Mär vom gerechten und selbstlosen imperialistischen Krieg aufzutischen.

Aus diesem Grund müssen sich RevolutionärInnen,
trotz der zweifellos zu kritisierenden reaktionären Positionen Handkes, davor
hüten, in den Trommelwirbel der bürgerlichen Kritik einzustimmen, ja sie müssen
vor allem diesen in aller Schärfe zurückweisen.

Teil 2: Autor und Werk

Die Debatte um Handke konzentriert sich fast
ausschließlich um wirkliche oder vermeintliche Haltungen und Einstellungen der
Person, das Gesamtwerk wird zur Nebensache. Dabei gehört er, auch von den
meisten KritikerInnen unbestritten, zu den bedeutendsten VertreterInnen der
deutschsprachigen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg.

Anders als bedeutende AutorInnen der
Nachkriegsliteratur war Handke kein politischer Schriftsteller im eigentlichen
Sinn. Seine großartigen Frühwerke waren von Sprachbeherrschung, innovativer
Form und einem guten Stück Provokation geprägt wie beispielsweise
„Publikumsbeschimpfung“ oder „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“.

In Erzählungen und Romanen wie „Der kurze Brief
zum langen Abschied“, „Wunschloses Unglück“ oder „Die linkshändige Frau“
vermochte es Handke, große Themen kondensiert literarisch darzustellen.
Insbesondere das „Wunschlose Unglück“ warf ein bezeichnendes, kritisches Licht
auf den Mief und die Fortsetzung der Strukturen von Austrofaschismus und
Nationalsozialismus im Österreich nach 1945.

Zum bekannten Wenders-Film „Der Himmel über
Berlin“ verfasste er das Drehbuch. Schon in den 1980er und 1990er Jahren machte
sich bei Handke ein stärkerer Zug zur „Innerlichkeit“ deutlich – zweifellos
selbst ein Abbild einer Zeit des Rückzugs und der Suche nach der „eigentlichen
Wahrheit“ des Menschen im Persönlichen, Innerlichen.

Die Tendenz zum Esoterischen, zur
Selbstverliebtheit war bei Handke immer schon vorhanden. Früher als andere,
explizit weit politischere AutorInnen, die in der österreichischen
Nachkriegszeit groß geworden waren, schaffte es Handke zu offizieller
Anerkennung. In den 1980er und frühen 1990er Jahren hätten nur wenige gedacht,
dass die als „Kommunistin“ madig gemachte Elfriede Jelinek vor Handke den
Nobelpreis erhalten würde.

Wie alle großen künstlerischen Gesamtwerke
bildet auch jenes von Handke ein Opus, das seinen Schöpfer weit übertrifft.
Politisch erwies er sich mit seiner Parteinahme für den serbischen
Nationalismus bestenfalls als Idiot, menschlich offenbarte er seine Abgründe
als Frauenschläger und mit sexistischen Anmerkungen zu #MeToo.

Solche Abgründe stellen in der Welt der Kunst
(wie generell im öffentlichen Leben) keine Ausnahme dar. Nur, wer reaktionäre
Haltungen bloß als Ausdruck der „inneren Werte“ eines Einzelnen begreift,
verkennt, dass gerade politische Haltungen und Einstellungen immer schon ein
gesellschaftliches Produkt darstellen, das sich in Einzelnen – und natürlich
auch in Personen des öffentlichen Lebens manifestiert. Die Qualität eines
Werkes zeigt sich jedoch nicht einfach darin, ob der/die Schaffende über
besondere moralische oder menschliche Qualitäten verfügt oder ein besonders
richtiges und weitsichtiges politisches Urteilsvermögen, sondern ob darin
wirkliche Probleme der Gesellschaft, des menschlichen Lebens literarisch,
musisch oder bildnerisch zum Ausdruck gebracht werden. Dies setzt Können voraus
wie auch die Fähigkeit, ein Werk zu schaffen, das sich über die individuellen
Schwächen, Einstellungen, … des Schaffenden erhebt.

Natürlich wird dabei oft eine fortschrittliche
Weltanschauung des/der KünstlerIn von Vorteil sein, weil diese hilft, den Blick
auf die inneren Spannungsmomente des Gegenstandes eines Werks zu richten. Aber
in Literatur, Musik, Malerei … finden sich immer wieder auch weltanschaulich
rückständige KünstlerInnen, die es vermögen, dieser zum Trotz wirkliche
Widersprüche, Probleme, Entwicklungen, Gefühle, … zum Ausdruck zu bringen.
Immer wieder finden wir eine Kombination rückschrittlicher Elemente mit
fortschrittlichen Themen oder Formen vor. Anders gesagt, jedes Kunstwerk
enthält auch einen inneren Spannungsbogen, eine oft unbewusste Anwendung der
Dialektik auf dem Gebiet der Kunst. Gerade weil die Kunst eine eigene Sphäre
des Schaffens darstellt, begegnen wir immer wieder dem Gegensatz zwischen einem
inspirierenden oder fortschrittlichen Werk und gleichzeitigen Brüchen – bis hin
zu tiefsten Vorurteilen, reaktionären Einstellungen oder rückschrittlichem Verhalten.

Bei der Bewertung eines Lebenswerkes muss dieses
daher gesondert von der Person betrachtet werden, die es hervorbringt.
Ansonsten kann dieser durchaus übliche Gegensatz gar nicht verstanden oder in den
Blick genommen werden. Natürlich ändert das nichts daran, dass es eine
Verbindung von KünstlerIn und Werk gibt, so wie es eine Verbindung von
ArbeiterInnen und Produkt gibt. Aber das Werk, auch das Kunstwerk, ist als
Produkt notwendigerweise etwas vom/von der KünstlerIn Geschiedenes, hinter dem
die persönlichen Eigenschaften der hervorbringenden Person zurücktreten oder
gar irrelevant werden.

In der Spätphase der bürgerlichen Gesellschaft
erhält die Frage nach der „Persönlichkeit“ des/der KünstlerIn jedoch eine
gegenüber früheren Gesellschaftsformationen ungleich größere Bedeutung in der
öffentlichen Wahrnehmung. Die Entstehung der Massenkultur, einer Kultur- und
Kunstindustrie, eines riesigen Geschäftes und eines kommerziell-kapitalistischen
Betriebs – also eigentlich die reale Entindividualisierung – manifestiert sich
als ihr Gegenteil, als enge Verschmelzung von Kunst und KünstlerIn. Während
Kunstschaffende wie das Publikum mehr und mehr nur kleine Rädchen im großen
Kulturbetrieb darstellen, ihre Rollen unbedeutender und austauschbarer werden,
soll der Blick auf die Persönlichkeit, die Motive und Meinungen des/der
„Kulturschaffenden“, zumal der „Stars“ im Betrieb, Individualität, Nähe
vorgaukeln, wo eigentlich keine ist oder ihr nur allenfalls drittrangige
Bedeutung zukommt.

Das Werk erscheint vor diesem Hindergrund als
Entäußerung des „Inneren“ – auch oder paradoxerweise vor allem in der industriell
gefertigten Massenkultur, z. B. beim Schlager, Pop, Hip-Hop, … Je
gleicher und eintöniger, umso weniger voneinander unterscheidbar mehr und mehr
wird, umso „individueller“ wird es vermarktet, natürlich auch in großen Massen.
Das Besondere am Werk (nicht nur) Handkes, seine Qualität wird nicht in seiner
Literatur gesucht. Das „Besondere“ wird in der eigentlich eher trivialen Person
des/der KünstlerIn gesucht.

Diese Betrachtungsweise spiegelt eine für die
bürgerliche Gesellschaft typische Vorstellung vom Menschen wider. Er/sie wird
nicht als arbeitendes, etwas hervorbringenden Wesen begriffen, als
Arbeitende/r, deren Produkte und Tätigkeit, deren Sein daher immer schon
gesellschaftlich bestimmt sind. Vielmehr scheint „die Innerlichkeit“, die öde
Wüste des „Seelenlebens“ „den Menschen“ auszumachen. Dies verkennt, dass das
Innere, unsere Empfindungen, ja selbst unsere Individualität … ein
gesellschaftliches Produkt darstellen, das einer bestimmten Entwicklungsstufe
der gesellschaftlichen Arbeit und Arbeitsteilung entspricht.

Dass Kunstwerke wie z. B. Handkes
„Wunschloses Unglück“ die Gefühlswelt, die Spannung, Tristesse, Unzufriedenheit
einer ganzen Generation tief, treffend und bewegend ausdrücken können, setzt
natürlich eine/n AutorIn voraus, der/die über eine enorme Sprachbeherrschung
verfügt, also eine/n SprachkönnerIn. Ohne diese wäre Literatur nicht möglich.
Zugleich erfordert es auch die Fähigkeit, die inneren Spannungen, Widersprüche,
wie sie sich in der Lebenswelt eines jungen Menschen im Österreich der
Nachkriegszeit manifestieren, nicht nur zu kennen, sondern auch in der Form eines
Romans zu entfalten, also eine gewisse gesellschaftliche und politische
Sensibilität.

Es ist aber auch kein Zufall, dass das Buch
1972, also in einer Phase des gesellschaftlichen Umbruchs, der Wirkungen der 1968er-Bewegung
einerseits wie auch als Resultat einer progressiven Entwicklung in der
österreichischen Literatur geschaffen wurde, die viele andere wichtige
AutorInnen hervorbrachte. Handke war Teil dieser beiden Bewegungen, was auch
viele der starken Seiten seiner Arbeiten beförderte.

Systemkritisches Frühwerk

Überhaupt hatten viele seiner frühen Werke
durchaus bedeutende systemkritische Inhalte. Exemplarisch sei auf „Die Chronik
der laufenden Ereignisse“ eingegangen, In diesem Fernsehfilm nimmt Handke im
Drehbuch die Funktion dieses Genres in der kapitalistischen Gesellschaft
auseinander (tatsächlich wurde das Projekt unter Handkes Regie 1970 im WDR
realisiert und 1971 ausgestrahlt). In dem Stück lässt der Autor Robert
McNamara, einen der obersten Vietnamkrieger (Verteidigungsminister und später Weltbankpräsident)
als Sprecher für die „Lohnunabhängigen“ mit Verständnis für die Einbindung der
„Lohnabhängigen“ auftreten.

Letztere müssten zur Anerkennung dessen gebracht
werden, „dass sie bloße Trinkgeldempfänger sind, und dass, indem sie ihr Leben
von Trinkgeldern fristen müssen, notwendig auch ihre Gefühle, Wünsche und
Gedanken Gefühle, Wünsche und Gedanken von Trinkgeldempfängern werden, mithin
alle ihre Erlebnisse und Erlebnismöglichkeiten von dieser Funktion bestimmt und
durch diese Funktion verkümmert sind, so dass sie schließlich nicht nur zu Erlebnissen,
sondern sogar zur bloßen Möglichkeit von Erlebnissen unfähig werden müssen“.
Eine Alternative zu dieser armseligen Welt würde nur im Traum oder der
Schizophrenie erscheinen, da sie, „wenn sie leben, wenn sie arbeiten, nicht bei
sich selber, sondern bei den Sachen sind“. Daher wäre es die Aufgabe der
MachthaberInnen, dass „Träume und Schizophrenie zu gesellschaftlichem
Bewusstsein“ würden, um unschädlich zu sein. Diese Funktion der „Beherrschung
der Träume“ fällt offenbar der medial vermittelten Massenkultur zu, die die
Schizophrenie der „nicht bei sich selbst Seienden“ durch „Traumfabrikation“ in
feste Bahnen lenkt. Insofern ist das Drehbuch voll von einzelnen typischen
Versatzstücken von Fernsehfilmen, die, aus dem Zusammenhang üblicher Plots
gerissen, darauf aufmerksam machen, wie stark diese Einzelbilder jeweils an
Traumsequenzen erinnern.

Diesem traumhaften Einrichten im falschen Leben
seien nun einige (und hier nimmt Handke offenbar Bezug auf die Bewegungen des
Jahres 1968 und gegen den Vietnamkrieg), die aufbegehren, oder wie Handke es
McNamara sagen lässt: „… es gibt auch welche, die wollen es nicht anders (i. e.
nehmen das Angebot Traumwelt statt repressiver Staatsgewalt nicht an)…;
ungeduldig gegenüber dem vernünftigen, logischen Ablauf von Gedanken,
ungeduldig gegenüber der praxisorientierten Logik der Geduldigen, unvernünftig
gegenüber der bisherigen Praxis der Logik der Geschichte, existieren sie … nur
in Gefühls- und Gedankensprüngen und müssen, sofern sie diese Gefühls- und
Gedankensprünge auch in der Gesellschaft … praktizieren, als sozial krank und
mithin verbrecherisch bezeichnet und bekämpft werden“ (alle Zitate aus der
Suhrkamp Taschenbuch-Ausgabe 1971, S. 48 f.).

Dagegen setzt er eine euphorische
Zusammenfassung des „Programms der Bewegung“: „Alles ist im Umbruch begriffen.
Kein Wort wird als gesichert betrachtet, keine Ordnung gilt mehr als endgültig.
Alle Vorstellungen von Gut und Böse, Recht und Unrecht, Wahr und Unwahr sind
über den Haufen geworfen. Keiner mehr ist seiner Sache sicher. Eine heilsame
Verwirrung hat überall eingesetzt und jedermann nachdenklich gemacht. Verstört
beginnt man sich allerorts zu fragen, wie man denn leben solle. (Absatz) Das
Problem, wie man die Verhältnisse zueinander neu ordnen könne, geht an
niemandem vorbei; es beschäftigt die Menschen in den Betrieben, in den Büros,
in den Warenhäusern: kaum jemand kann sich der Überzeugungskraft der neuen
Ideen entziehen. Es muss etwas gesehen!“ (ebd., S. 9 f.).

In diesen beiden Polen des Fernsehstücks wird
die Spannkraft des Frühwerks von Handke deutlich, die auch später bei ihm noch
wirksam ist: die Überzeugung vom Leben in einer falschen, entfremdeten Welt, in
der alle Worte und (Fernseh-)Bilder falsch sind, gegenüber der Notwendigkeit,
alles, auch den sprachlichen Ausdruck, radikal in Zweifel zu ziehen und nach
einer Neuordnung, einem Ausbruch aus der alltäglichen Schizophrenie zu suchen.
Abgetrennt von einer wirklichen politischen Bewegung, immer mehr vereinzelt
wurde daraus bei Handke ein immer abgehobener werdender Sprachmystizismus bzw.
Rückzug in Kleinwelten (wie seine Naturbetrachtungen, die Elogen über das
Sammeln von Pilzen,….).

Letztlich war auch seine falsche Jugoslawienposition
ein hilfloser Rückfall in die Radikalität seiner Frühwerke: Während viele
andere seiner 1968er-Generation längst selbst zu besagten McNamaras geworden
waren und nunmehr auch selber bereit waren, „gerechte Kriege“ zu führen
(McFischer, McCohn-Bendit,…), blieb Handke beim fundamentalen Zweifel an den (Welt-)Mächtigen
unserer Tage, auch wenn sie im Namen der Menschenrechte auftreten. Seine
Stellungnahme war weniger eine reale Parteinahme für eine Seite als vielmehr
der schon immer von ihm betriebene Zweifel an den „produzierten Bildern“, an
den klaren Formeln von „Wahr und Unwahr“, der Kriminalisierung derer, die eine
Weltordnung nicht anerkennen. Die Wut, mit der der Elfenbeinturm-Dichter Handke
von vielerlei nunmehr angefeindet wird, ist zu einem guten Teil die Wut derer,
die früher wie er gedacht haben und nunmehr bei der „praxisorientierten Logik
der Geduldigen“ angekommen sind.

Irrungen

Dass sich Handke in
den politischen Wirren der Balkan-Kriege verirrte, trifft ihn natürlich auch
persönlich. Aber es greift viel zu kurz, seine Anpassung an den serbischen
Nationalismus bloß als individuellen Fehler oder gar als schlechtere
Charaktereigenschaft zu begreifen. Handke vollzog literarisch im Grunde nur den
Schritt, den viele (ehemalige) StalinistInnen oder andere „FreundInnen
Serbiens“ auf politischer Ebene machten. Wo der westliche Imperialismus ein Minus
machte, machten sie ein Plus – und schon wurden sie scheinbar zu
„Anti-ImperialistInnen“. Handkes Irrtum bestand darin, die richtige und
notwendige Opposition zum europäischen und US-amerikanischen Imperialismus mit
Beschönigung, Idealisierung des serbischen Nationalismus zu verknüpfen, ja zu
verwechseln. Zweifellos muss dieser politische Irrweg überwunden werden – aber
im Rahmen einer politischen Klärung und Diskussion, nicht durch stupide
Psychologisierung. Vor allem aber befinden sich die KritikerInnen Handkes in
der Balkan-Frage längst nicht auf der politisch-moralisch erhabenen Position.
Sie vertreten vielmehr jene der imperialistischen Siegermächte. Ihre
Handke-Kritik entbehrt jedes fortschrittlichen Gehalts. Sie trieft geradezu vor
Verlogenheit und Doppelmoral. Daher auch die Gehässigkeit und das Geifern der
pro-westlichen MoralistInnen.

Ob Handke seine Fehler in der Balkan-Frage eingestehen
oder gar korrigieren wird, mögen wir nicht zu sagen. Wir halten es für recht
unwahrscheinlich. Doch letztlich sind seine politischen Anschauungen auch
drittrangig, wenn es um die Beurteilung seines literarischen Werkes geht, das –
bei allen Schwächen und rückschrittlichen Positionen des Menschen Handke –
insgesamt einen fortschrittlichen Charakter trägt. Dass dieser im Frühwerk viel
deutlicher hervortritt, liegt nicht an seiner Person, sondern am
unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Klima, in dem er zu wirken
begann.

Auch darin zeigt sich, nebenbei bemerkt, dass die
Möglichkeit der Überwindung rückschrittlicher, falscher oder reaktionärer
Positionen, die in der Klassengesellschaft notwendigerweise hervorgebracht
werden, selbst an gesellschaftliche Bedingungen gebunden ist – in erster Linie
an die Stärke oder Schwäche, Aufstieg oder Rückzug des Widerstandes, des
Klassenkampfes gegen die bestehenden Verhältnisse.

Kunstschaffende fungieren hier – wie die
kleinbürgerliche Intelligenz insgesamt – als Spiegel der Zeit, als Seismograf
gesellschaftlicher Tendenzen und Stimmungen, nicht jedoch als deren eigentliche
Ursache. Und natürlich sind sie weder frei von den rückständigen
Bewusstseinsformen, die diese Gesellschaft hervorbringt, noch können sie
einfach individuell eher oder leichter über diese erhaben sein als andere
Menschen. Diese wäre so, als würden wir ernsthaft erwägen, dass die bürgerliche
Ideologie auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft abgestreift oder das
Bedürfnis nach Religiosität in einer Gesellschaft beseitigt werden können, die
täglich den Bedarf nach Trost in einer trostlosen Welt hervorbringt.

Die moralisierende Betrachtung der Vergabe des
Literaturnobelpreises will ohnedies nicht die bürgerliche Ideologie bekämpfen.
Sie will vielmehr dem demokratischen Imperialismus Geltung verschaffen – auch,
aber sicher nicht nur auf dem Gebiet der Moral.

Uns MarxistInnen hingegen liegt es fern, die
Hauptverantwortung für reaktionäres Gedankengut, falsche Positionen, bürgerliche
Ideologie und Denken beim Einzelnen zu suchen. Eine auf Ausbeutung basierende
Gesellschaft bringt notwendigerweise Entfremdung, reaktionäres Denken und
Handeln hervor, auch bei „fortschrittlichen Menschen“ und bei Ausgebeuteten und
Unterdrückten.

Wir kritisieren und bekämpfen reaktionäre
Einstellungen (Sexismus, Nationalismus, Rassismus, …) gerade auch in unserer
Klasse, weil sie in jeder Form ein grundlegendes Hindernis für den Kampf
darstellen, weil sie letztlich der Aufrechterhaltung von Ausbeutung und
Unterdrückung dienen. Dazu dienen jedoch nicht minder die ideologischen
Rechtfertigungen der „westlichen“ bürgerlichen Demokratie.

Wer Sexismus und (nicht nur serbischen)
Nationalismus den Boden entziehen will, kann und darf nicht mit der Messlatte
einer scheinbar ewigen, bürgerlichen Klassenmoral messen. Es geht vielmehr
darum, jene Verhältnisse, die sie hervorbringen, umzuwerfen, revolutionär zu
stürzen.