Revolution und Konterrevolution in der DDR – Teil 1: Entstehung und Niedergang

Bruno Tesch, Neue Internationale 141, Oktober 2019

2019/2020 jährt
sich die Todeskrise der DDR, die schließlich in der Restauration des
Kapitalismus, Wiedervereinigung und Stärkung des deutschen Imperialismus mündete.
In dieser Ausgabe der Neuen Internationale skizzieren wir Entstehung und
Niedergang der DDR, also die Ursachen, die 1989/90 zu Revolution und
Konterrevolution führten.

Nachkriegsordnung

Bereits vor der
Niederwerfung des deutschen Faschismus wurden Pläne zur territorialen
Neuordnung in Mitteleuropa entworfen. Nach dem Sieg der Alliierten traten jedoch
die grundlegenden Gegensätze zwischen den Systemen, der nunmehr von den USA als
zentraler imperialistischen Macht geführten „freien“ Welt einerseits und dem
degenerierten ArbeiterInnenstaat Sowjetunion andererseits, hervor.

Die Absichten
von Teilen der US-Bourgeoisie zur Zerstückelung und der Morgenthau-Plan von
1944 zur Deindustrialisierung Deutschlands wurden daher recht rasch zugunsten
einer modifizierten imperialistischen Strategie fallengelassen: dem Marshallplan
(European Recovery Program). Danach sollten die von der Roten Armee besetzten
Gebiete durch gezielte Wirtschaftshilfe dem Einfluss der Kreml-Bürokratie
entrissen werden. Das gelang jedoch nicht. So wurden die geopolitisch und
ökonomisch unverzichtbaren Westzonen Deutschlands mittels Marshallplan zum
Bollwerk und Brückenkopf gegen den Stalinismus ausgebaut.

Die
stalinistischen Pläne waren von Sicherheitsdenken geleitet: Deutschland sollte
als entmilitarisiertes, neutrales, jedoch durchaus bürgerlich geführtes und
ungeteiltes Land als Pufferstaat gegen den imperialistischen Westen dienen. Dieser
Plan Moskaus wurde aber durch den Aufbau eines westdeutschen Separatstaates
durchkreuzt. Folglich blieb auch hier keine Wahl mehr, die Kreml-Bürokratie
musste nachziehen und auf ihrem Besatzungsgebiet einen ArbeiterInnenstaat als
Schutzzone etablieren.

Somit geriet Deutschland
zum zentralen Ort der Blockkonfrontation. Schließlich führte die Teilung des
Landes auch zu einer Aufteilung der ArbeiterInnenbewegung unter die Apparate
von SED und SPD, die – wenn auch mit unterschiedlichen Mitteln – ein
politisches Monopol über „ihren“ Teil der Bewegung ausübten. Zweifellos hatten
beide ein beachtliches Eigeninteresse daran und an der Säuberung der Bewegung
von allen widerspenstigen Elementen. Zugleich waren sie aber auch verlängerte
Arme der führenden politisch-militärischen Kräfte „ihres“ Blocks zur Kontrolle
der jeweiligen ArbeiterInnenklasse.

Degenerierter
ArbeiterInnenstaat

Die
stalinistische Sowjetbürokratie ging in der späteren DDR nicht wie teilweise in
Osteuropa über den Umweg der anfänglichen Mitbeteiligung bürgerlicher Parteien
vor. Die Militäradministration der Roten Armee bestimmte direkt die Politik. Sie
schob jeglicher freier Entfaltung der ArbeiterInnenbewegung im Osten einen
Riegel vor. Die eigenständigen Volkskomitees wurden aufgelöst, das Streikrecht
abgeschafft. Als verlängerter Arm dieser Politik diente die bürokratisch
kontrollierte Vereinigung der beiden großen ArbeiterInnenparteien SPD und KPD
zur SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands). Erst nach dieser
politischen Entmündigung der ArbeiterInnenbewegung war die Bahn frei für die
Gründung eines degenerierten ArbeiterInnenstaates, der Deutschen Demokratischen
Republik (DDR).

Zwar bestanden deren
ökonomische Grundlagen in der Unterordnung der Binnenwirkungen des
kapitalistischen Wertgesetzes durch die Nichtverfügbarkeit eines freien Arbeitsmarktes,
die Enteignung des kapitalistischen Privatbesitzes an den Produktionsmitteln
und die Vorgabe eines Wirtschaftsplans und eines staatlichen
Außenhandelsmonopols. Doch die DDR-Staatsmaschinerie war und blieb vom Typus
her bürgerlich, ein abgehobener allmächtiger Apparat. In ihm bildete sich eine
wuchernde Schicht heraus, die sich als unterdrückende Kaste über die
ArbeiterInnenklasse erhob. Dieses Gebilde war unreformierbar und stellte, auch
wenn es der Wirkung des Wertgesetzes Grenzen setzte, letztlich ein Hindernis
beim Aufbau zu einer sozialistischen Gesellschaft dar. Es ist kein Wunder, dass
es später keinerlei Widerstand gegen die Restauration des Kapitalismus leistete
– vor allem aber entfremdete es die Lohnabhängigen über Jahrzehnte von „ihrem“
Staat und der Planwirtschaft und verhinderte die Entwicklung aller Ansätze
proletarischer Selbstorganisation und damit auch die Entfaltung des
Klassenbewusstseins.

ArbeiterInnenaufstand
und Mauerbau

Trotz dieser
Einschnürung der Eigenständigkeit der ArbeiterInnenklasse flammte noch einmal
ein Funke auf. Er entzündete sich an der Einführung des Neuen Kurses durch die
DDR-Parteiführung 1953. Dieser brachte den nichtproletarischen Schichten
Erleichterungen und Vorteile, der ArbeiterInnenklasse hingegen eine Erhöhung
der Arbeitsnormen. Dies führte zu einem spontanen Aufstand, der in Berlin
ausbrach und sich auf das Gebiet der gesamten DDR ausbreitete. Neben
Forderungen nach Rücknahme der Normenerhöhungen wurden auch politische,
darunter nach Wiedervereinigung erhoben. Von Teilen der Klasse, z. B. den
StahlarbeiterInnen in Hennigsdorf und Velten, wurden auch Losungen wie jene
nach einer „MetallarbeiterInnenregierung“ erhoben, die das Streben nach
revolutionärem Sturz des Stalinismus zum Ausdruck brachten.

Der Aufstand
konnte mit Hilfe der stationierten Sowjetarmee niedergeschlagen werden. Die Westalliierten
und deutschen Westparteien hatten das Geschehen eher passiv aus der Entfernung
beobachtet oder blockiert, weil sie genau wie die stalinistische Bürokratie
nichts mehr fürchteten als eine unkontrollierte Störung des Status quo und die
Eigentätigkeit der ArbeiterInnenklasse.

Die Normenerhöhung
wurde zwar zurückgenommen, erkauft aber mit einer politischen Friedhofsruhe und
Festigung der Macht der SED-Bürokratie.

Nicht zufällig
fiel gerade das folgende sinnbildhafteste Ereignis der deutschen Teilung, der
Bau der Berliner Mauer, in eine Zeit, als die internationalen Beziehungen auf
dem Gefrierpunkt angelangt waren und der Kalte Krieg in einen heißen atomaren (Kubakrise)
umzuschlagen drohte.

1961 markierte
einen Wendepunkt in den innerdeutschen Verhältnissen. Ende der 1950er Jahre
wurde das Auseinanderklaffen des Lebensstandards zwischen Ost und West immer
spürbarer und die DDR drohte an qualifizierten industriellen Arbeitskräften,
die in die BRD abwanderten, auszubluten. Dagegen unternahm die Parteiführung in
bürokratischer Manier eine Grenzschließung des letzten Nadelöhrs, das durch die
Viermächtevereinbarung in Berlin bestand.

Auch ein revolutionärer
ArbeiterInnenstaat hätte die nachkapitalistischen Eigentumsverhältnisse
schützen müssen, aber niemals um den Preis, die Bevölkerung in einer
geschlossenen Anstalt mit Freigangsregelung nur in die „sozialistischen
Bruderländer“ zu verwahren. So aber schien die deutsche Spaltung auf Dauer
buchstäblich betoniert zu sein.

Zwar erholte
sich die DDR bis Mitte der 1960er Jahre wirtschaftlich auf der Woge einer extensiven
Ausdehnung der Planwirtschaft wie einer noch günstigen Weltkonjunktur, doch in
den Augen der internationalen ArbeiterInnenbewegung hatte sich das
stalinistische Regime politisch endgültig diskreditiert und besonders in der
BRD dem Antikommunismus auch unter den Lohnabhängigen immens Vorschub
geleistet.

„Normalisierung“
der innerdeutschen Beziehungen

Zugleich wurde
im Westen der Antikommunismus praktisch zur Staatsdoktrin. Nach der Niederlage
der ArbeiterInnenbewegung im Kampf um die Sozialisierung der
Grundstoffindustrien und der Einführung des Betriebsverfassungsgesetzes wurde
auch die KPD im Westen politisch an den Rand gedrängt und schließlich verboten.
Unter der sozialliberalen Regierung vollzog der deutsche Imperialismus jedoch
eine Veränderung seiner Ost-Strategie. Die DDR sollte nicht mehr einfach
dämonisiert, sondern der westliche Einfluss durch Verträge und Handel ausgebaut
werden.

1972 wurde der
Grundlagenvertrag zwischen beiden deutschen Staaten unterzeichnet. Das
BRD-Kapital erkaufte sich mittels der neuen SPD-Ostpolitik durch formale
Zugeständnisse der politischen Nichteinmischung, die das Sicherheitsbedürfnis
der DDR-Bürokratie bedienten, größeren ökonomischen Bewegungsspielraum in der
DDR.

Die scheinbare
politische Anerkennung war allerdings bald begleitet von einer neuen imperialistischen
Offensivstrategie der „Totrüstung“ der ArbeiterInnenstaaten, die zusätzlich die
Wirtschaft der DDR neben den abgestumpften bürokratischen Planmechanismen in
Mitleidenschaft zog. So ließ sich der Milliarden Swing-Kredit von 1983/1984 als
einvernehmliche Hilfe anbahnen und erhöhte damit wiederum die Abhängigkeit von
der BRD, da die RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe)-Zusammenarbeit des
Ostblocks längst nicht mehr griff, sondern zum Klotz am Bein wurde.

Aus der
Schuldenfalle und der damit verbundenen Produktionsspirale für die Erbringung
von Devisen auf Kosten der Gütererzeugung für den Inlandsbedarf konnte sich die
DDR schließlich mit herkömmlichen bürokratischen Methoden nicht mehr aus
eigener Kraft befreien, so dass der BRD-Imperialismus die restaurative
Wiedervereinigung über diesen Umweg objektiv vorbereiten half.

Aushöhlung der
wirtschaftlichen Grundlagen

Die Existenz der
DDR stand und fiel in Wirklichkeit mit zwei Faktoren. Erstens mit der
Stabilität der Nachkriegsordnung. Zweitens damit, den ArbeiterInnen in der DDR
eine wirtschaftliche und politische Perspektive glaubhaft darlegen zu können.
Die stalinistische Herrschaft konnte sich nicht nur auf Repression stützen,
sondern enthielt ein Element des Kompromisses besonders mit den oberen
Schichten der Angestellten und Staatsverwaltung.

Die DDR fiel
jedoch trotz Honeckers Wende 1971 zur Konsumgüterproduktion ökonomisch immer
mehr zurück. Gerade die industrielle ArbeiterInnenklasse spürte diese
Entwicklung: stetige Verschlechterung des Zustands der Produktionsmittel, immer
stärkerer Verschleiß, immer größere Produktion für den Export bei
gleichzeitigem Engpass an Gütern im Inneren, Stagnation der Lebensbedingungen,
immer stärkeres relatives Zurückbleiben gegenüber dem Westen.

In einem
internen Bilanzpapier des Politbüros der SED hieß es: „Die Zinszahlungen … betragen
1989 voraussichtlich 5 Milliarden Mark. Das ist mehr als der gesamte
Jahreszuwachs des Warenfonds im Jahre 1989. Das hängt mit nicht realisierbaren
Kaufwünschen, besonders nach langlebigen und hochwertigen Konsumgütern zusammen
(Pkw, HiFi-Anlage  u. ä.).“

Daraus ergibt
sich, dass die Kernschichten der ArbeiterInnenklasse in der DDR mit dem System
der bürokratischen Planung schon abgeschlossen hatten, bevor es 1989/1990
geschichtlich zur Disposition stand. Selbst die Bürokratie hatte die Hoffnung
verloren, dass dieses System durch eine reformierte Variante der SED-Herrschaft
wieder in Schwung zu bringen sei.

1989

Vom Sommer 1989
bis zur Wiedervereinigung erlebte die DDR eine tiefe politisch-revolutionäre
Krise, die schließlich in einer sozialen Konterrevolution mündete. Im Sommer
hatte eine nicht mehr zu bremsende Massenabwanderung eingesetzt. Im Herbst kam
es dann zu Massendemonstrationen, die sich gegen die Untragbarkeit der
repressiven Zustände wandten und nach politischen Reformen verlangten. Bis zum
November 1989 befand sich die Bewegung in der Offensive. Der Parteiapparat und
die Staatssicherheitsorgane mussten Schritt für Schritt zurückweichen. Daran
zeigte sich, wie morsch das Regime schon war. Daran konnte selbst die
Palastrevolution und die Absetzung Honeckers im Oktober als Parteichef nichts
mehr retten. Auch die UdSSR war nicht mehr bereit, das Staatsgefüge zu stützen.

Der
Zusammenbruch eines Teils der Nachkriegsordnung im Osten, eine
politisch-revolutionäre Krise in der DDR konnte nur zu drei Resultaten führen:
bürokratische Konterrevolution, politische Revolution oder soziale
Konterrevolution.

In der nächsten Ausgabe werden wir uns mit der Entstehung der Bewegung, ihrer ersten, aufsteigenden Phase wie auch ihren inneren Widersprüchen und Schwächen beschäftigen, die es ermöglichten, dass eine halbe politische Revolution in eine ganze Konterrevolution umschlug.