Nationalratswahlen in Österreich: ÖVP-Hoch und SPÖ-Tief fordern sozialistische Antworten

Michael Märzen, Neue Internationale 241, Oktober 2019

Die
Nationalratswahlen am 29. September haben einen haushohen Sieg für die ÖVP
unter Sebastian Kurz gebracht. Die Konservativen erzielten mit 37,1 % (+5,7)
den größten Vorsprung zur zweitplatzierten Partei in der Geschichte der
Republik. Jene, die SPÖ, fuhr mit 21,7 % (-5,1) das schlechteste Ergebnis ihrer
Geschichte ein. Die FPÖ wurde mit 16,1 % (-9,9) bedeutend abgestraft und sieht
sich in einer Krise. Die Grünen haben mit 14 % (+10,2) den Wiedereinzug in den
Nationalrat geschafft und die größten Zugewinne erhalten. Die liberale Partei
NEOS hat mit 7,8 % (+2,5) ihre Position weiter ausgebaut. Auch wenn diese
Zahlen aufgrund der ausstehenden Briefwahlstimmen hochgerechnet und noch nicht
das endgültige Ergebnis sind, wird sich nicht mehr viel bewegen, schon gar
nichts Substantielles.

Gegenüber den
letzten Nationalratswahlen zeigt das Ergebnis bedeutende Veränderungen im
politischen Kräfteverhältnis, das jeder fortschrittlich orientierte Mensch vor
allem zuerst zwischen den Klassen sehen muss.

Politisches
Kräfteverhältnis

Mit Sebastian
Kurz hat die ÖVP den politischen Anliegen der Reichen und der KapitalistInnen
zu einer Zustimmung verholfen, die es seit Anfang der 2000er nicht mehr in
diesem Land gab. Mit seinen als „Entlastungen“ verschleierten Umverteilungen
und seinem Aufspringen auf die rassistische Welle hat Kurz in den letzten zwei
Jahren nicht nur die große und mittlere Bourgeoisie sowie große Teile der
„Mittelschichten“, sondern selbst viele ArbeiterInnen hinter sich vereint. Von
seinen Steuersenkungen sollen nicht nur die Reichen und die Konzerne
profitieren, sondern auch mal diese oder jene Gruppe, beim Familienbonus vor
allem gutverdienende Familien, bei der Steuerreform auch kleine und mittlere
Einkommen, vor der Wahl dann die PensionistInnen usw. Vor dem Hintergrund eines
kleinen Wirtschaftsaufschwungs konnte er auf diese Weise und mit kräftiger
Hilfe der Medien die Ideologie verankern, dass von einer Entlastung der
KapitalistInnen („Standortpolitik“) alle profitieren würden oder zumindest
diejenigen, die es verdient hätten. Während er mit einer Hand geschickt
umverteilt, schlägt er mit der anderen gegen wichtige Errungenschaften der
ArbeiterInnenbewegung, so die Ausweitung der Tageshöchstarbeitszeit, die
Stärkung der UnternehmerInnen in der Sozialversicherung oder (geplant, aber
nicht umgesetzt) die Reform von Arbeitslosenversicherung und Notstandshilfe
sowie die Schwächung der ArbeiterInnenkammer. Kurz versteht es wie kein
anderer, sich hier und dort die Unterstützung aus politisch rückständigen
Schichten der Bevölkerung zu generieren, um insgesamt gegen die
ArbeiterInnenklasse vorzugehen.

Die enorme
Stärkung der ÖVP findet allerdings vor dem Hintergrund einer Verschiebung im
reaktionären Lager statt. Die FPÖ, die in der Vergangenheit mit aggressivem
Rassismus und Nationalismus von den Abstiegsängsten und der politischen
Perspektivlosigkeit des KleinbürgerInnentums und vieler unbewusster ArbeiterInnen
stark profitieren konnte, hat erneut bewiesen, dass sie nicht die Partei „des
kleinen Mannes“ ist, und befindet sich in einer ernsthaften Krise. Mitte Mai
hatte die Süddeutsche Zeitung ein Video von FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache
und dem damaligen Klubobmann Johann Gudenus veröffentlicht, das die beiden bei
korrupten Geschäften mit einer vermeintlichen russischen Oligarchin auf Ibiza
zeigt. Was wohl für alle bürgerlichen Parteien inoffiziell zum politischen
Geschäft gehört, war in der Öffentlichkeit untragbar. Hinzu kommen nun auch die
Korruptionsvorwürfe im Zusammenhang mit dem Glücksspielkonzern Novomatic und
die Spesenaffäre von H.-C. Strache in der eigenen Partei. Konnte die FPÖ bei
der Europawahl Ende Mai noch um einen Prozentpunkt besser abschneiden als
jetzt, waren die Skandale nun noch einmal für einige eingefleischte
Freiheitliche mehr zu viel. Dadurch wechselten 258.000 WählerInnen zur ÖVP,
235.000 ehemalige FPÖ-WählerInnen blieben enttäuscht der Wahl fern.

SPÖ-Desaster

Gleichzeitig hat
die Sozialdemokratie erneut ihre Unfähigkeit bewiesen, die arbeitende
Bevölkerung und die Jugend für ihre politischen Anliegen zu mobilisieren.
Dieses Versagen wirkt in diesen Wahlen doppelt schwer, denn nicht nur die
freiheitlichen Skandale, sondern auch jene um die Parteispenden der ÖVP
(maßgeblich finanziert von der Milliardärin Heidi Goess-Horten sowie den
Kapitalisten Klaus Ortner und Stefan Pierer) haben aufgezeigt, wie diese beiden
Parteien mit dem Kapital verbunden sind. Demgegenüber wäre es verhältnismäßig
leicht gewesen, die gemeinsamen Interessen der ArbeiterInnen in Abgrenzung zu
ÖVP und FPÖ darzulegen und deren Interessenvertretung für die Sozialdemokratie
zu reklamieren.

Dazu gehört auch
die Einbeziehung jener 1,2 Millionen in Österreich lebenden Menschen, die
aufgrund des schweren Zugangs zur StaatsbürgerInnenschaft kein Wahlrecht
besitzen und in ihrer Mehrheit einen sozial unterdrückten und politisch
entmündigten Teil der ArbeiterInnenklasse stellen. Doch der SPÖ-Führungsclique
fehlt schon längst mehr als die nötige Glaubwürdigkeit. Dort, wo sie links
blinkt (Beispiel Vermögenssteuern), bietet sie keine Perspektive, wie ihre
Forderungen erkämpft werden könnten, denn in der traditionellen Großen
Koalition hat eine Politik im Interesse der lohnabhängigen Bevölkerung keinen
Platz und eine Mobilisierung der ArbeiterInnenklasse zählt längst nicht mehr zu
den Strategien der Sozialdemokratie. Stattdessen setzten die
sozialdemokratischen FunktionärInnen auf eine Kampagne, die das „Gemeinsame“
und die „Menschlichkeit“ beschwört. Das reflektiert den Wunsch der
Parteibürokratie, sich mit den KapitalistInnen auszusöhnen und sich wieder im
Staatsapparat und der Verwaltung bereichern zu können. Weil sich die
Parteivorsitzende Rendi-Wagner auch keine andere Politik als den Appell zum
sozialen Miteinander vorstellen kann, verkündet sie auch noch nach der Wahl,
dass „die Richtung stimmt“. So setzt sich der Niedergang der SPÖ fort.

Die großen
GewinnerInnen bei diesen Wahlen sind neben Sebastian Kurz die Grünen.
Angesichts der großen internationalen Mobilisierungen von Fridays for Future
ist in der Bevölkerung die Nachricht angekommen, dass es längst an der Zeit ist
für ernsthafte Maßnahmen gegen den Klimawandel. Der Klimaschutz war eines der
wichtigsten Themen im Wahlkampf. Er hat selbst den Dauerbrenner Zuwanderung in
den Schatten gestellt, sodass sich so gut wie alle Parteien zu einer
ernsthafteren Umweltpolitik bekennen mussten. Auch gab es viele traditionelle
Grün-WählerInnen, die bei den letzten Wahlen sozialdemokratisch oder Pilz
gewählt hatten und nun den Rauswurf der Grünen aus dem Nationalrat umkehren
wollten. Bei den unter 30-Jährigen teilen sich die Grünen prozentual die Spitze
mit der ÖVP. Bei der Jugend, die besonders von den Auswirkungen des
Klimawandels betroffen sein wird, stehen sie wohl sogar an erster Stelle.
Nachdem die Grünen seit Jahrzehnten schon die Notwendigkeit des Umweltschutzes
betonen, genießen sie beim Klima natürlich das größte Vertrauen. Letztlich
handelt es sich bei den Grünen aber um eine (klein-)bürgerliche Partei, die
glaubt, sie könne die Rettung des Planeten mit den ausbeuterischen Gesetzen des
Kapitalismus versöhnen, und deshalb zwischen der Verteidigung der
Eigentumsverhältnisse und der Beschränkung der Verfügungsgewalt des Kapitals hin-
und hergerissen ist.

Krise von
Schwarz-Blau

Sebastian Kurz
sieht sich nun trotz der Zugewinne in einer schwierigen Situation. Er selbst
würde wohl am liebsten sein schwarz-blaues Projekt fortsetzen, doch die
freiheitliche Spitze positioniert sich vorerst eindeutig gegen eine
Regierungsbeteiligung. Letztlich ist es auch fraglich, ob eine stabile
Koalition mit der FPÖ zum gegenwärtigen Zeitpunkt überhaupt möglich wäre. Das
Szenario einer Parteispaltung ist zwar nicht wahrscheinlich (insbesondere nach
dem angekündigten Rückzug Straches aus der Politik), aber keineswegs
ausgeschlossen, besonders wenn bei einer erneuten Regierungsbeteiligung die
Umfragewerte nicht stimmen. Eine Koalition mit der Sozialdemokratie wäre für
Kurz wohl die unattraktivste Option. Immerhin hat er selbst die letzte
rot-schwarze Regierung gesprengt und der SPÖ mit seiner schwarz-blauen Politik
sozusagen den Krieg erklärt. Auch die Sozialdemokratie wird sich schwertun, nun
auch noch in der eigenen Parteikrise dem Erzfeind Kurz-ÖVP die Mehrheit zu
beschaffen. In ihrer „staatstragenden“ Rolle würde sie aber vermutlich ähnlich
wie die SPD als letzter Ausweg trotzdem für eine Koalition bereitstehen. Eine
Koalition mit den Grünen erscheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt am
wahrscheinlichsten zu sein, wenngleich diese schon angekündigt haben, sich am
teuersten zu verkaufen. Tatsächlich kann Kurz auch mit den Grünen nicht an
einer rechtskonservativen Politik festhalten und müsste zumindest eine gehörige
Kosmetik in der Umweltpolitik und eventuell auch anderen Bereichen bieten. Man
muss sich also darauf einstellen, dass sich die Gespräche zwischen den Parteien
und die Koalitionsverhandlungen selbst über einen längeren Zeitraum ziehen und
ob dann wirklich die Grünen oder doch noch die Blauen oder am Ende sogar die
Roten zum Handkuss kommen, das ist vom jetzigen Standpunkt kaum abzusehen.

Herausforderungen

Für linke und
fortschrittliche Menschen und für BefürworterInnen der ArbeiterInnenbewegung
gilt es nun, die Konsequenzen aus diesem Wahlkampf zu ziehen. Die Zugewinne für
ÖVP und Grüne (sowie auch für NEOS) sowie die Verluste für die SPÖ deuten eine
weitere Stärkung bürgerlicher Ideologien und Illusionen in der Bevölkerung an.
Die Sozialdemokratie selbst betreibt bürgerliche Politik auf Grundlage der reformistischen
Ideologie einer Versöhnung von Arbeit und Kapital. Sie ist damit Teil des
Problems und nicht der Lösung. Die ArbeiterInnenklasse braucht ihre eigene
Partei für eine unabhängige proletarische und internationalistische Politik –
die Sozialdemokratie ist diese Partei schon lange nicht mehr! Für die linken
und klassenbewussten Teile der Sozialdemokratie ist das aktuelle politische
Desaster die Vorwarnung, mit der Partei unterzugehen, sollten sie einen Bruch
mit der verbürgerlichten Politik der SPÖ weiterhin scheuen. Die kommenden
Wochen und Monate werden dazu Gelegenheit bieten, wenn sich die SPÖ für eine
Große Koalition öffnet. Dann muss es heißen „Nein zu jeder Koalition mit
kapitalistischen Parteien! Für eine eigenständige sozialistische Politik!“

Die Kandidaturen
von KPÖ und Wandel boten wieder einmal keinen Ausweg. Das liegt nicht nur an
der schwierigen Ausgangslage für Kleinparteien. Es ist auch ein Ausdruck
dessen, dass der etwas linkere Reformismus oder Populismus als alternative
Perspektive kaum überzeugt. Nur eine Politik des internationalistischen
Klassenkampfs kann einen tatsächlichen Ausweg aus der Krise der
kapitalistischen Gesellschaftsordnung aufzeigen. Dass eine solche Politik
derzeit am politischen Horizont nicht absehbar ist, sondern die ÖVP ihren
politischen Höhenflug feiert, sollte nicht entmutigen. Wer schnell aufsteigt,
kann auch schnell wieder fallen. Gerade diese Wahlen haben bewiesen, wie
schnell die politischen Verhältnisse kippen können, wenn das politische
Bewusstsein erschüttert wird. Erschütterungen wird der Kapitalismus noch
mehrere hervorrufen, besonders in Zeiten der sich anbahnenden Rezession und der
Zuspitzung zwischen den imperialistischen Großmächten.