Die Regierung Conte – weiter wie bisher?

Tobi Hansen, Infomail 1069, 23. September 2019

Am Ende der Regierungskrise blieb der
Ministerpräsident. Auch die
stärkste Partei im italienischen Parlament, die Fünf-Sterne-Bewegung (Movimento
5 Stelle) um Vize-Premier Di Maio, bleibt
erhalten, nur die „Juniorpartnerin“
wurde ausgetauscht. Statt Salvinis Lega bildet nun die Demokratische
Partei (Partito Democratico, kurz PD) gemeinsam mit der populistischen
Bewegung die Regierung.

Italiens
Innenminister Salvini hat sich – zumindest vorerst – verspekuliert.
Vorzeitig beendete er die Koalition mit der Fünf-Sterne-Bewegung. Damit
wollte er Neuwahlen
erzwingen und nach nur 14
Monaten gemeinsamer Regierung
die Lega nicht nur zur stärksten Partei im Parlament machen, sondern auch ohne
lästige Rücksichtnahmen auf die Fünf Sterne die Politik im Land bestimmen. Zu
gut waren die Umfragewerte, die der Lega um die 40 %
der Stimmen prognostizierten, zu klar der Sieg bei den EU-Wahlen mit 35 %, so dass
Neuwahlen eine sichere
Mehrheit der bürgerlichen,
rassistischen Rechten
bringen würden. In
den letzten Jahren stieg die einstige Regionalpartei (Lega Nord) zur führenden rechten bürgerlichen Kraft
im Land auf. Schon bei den Parlamentswahlen 2018
konnten die Partnerinnen im
rechten Bündnis Forza Italia und Fratelli
d’Italia (Nachfolgerin der
Alleanza Nazionale) überflügelt werden. Diese unterstützten Salvini in der Hoffung, wieder einige Posten in der Regierung
zu übernehmen.

Fünf Sterne und die PD

Doch Salvinis Plan scheiterte. Ganz praktisch ging es darum, dass die meisten anderen Parteien allein schon aufgrund ihrer
Umfragewerte kein Interesse an raschen
Neuwahlen hatten. So zogen
die Fünf Sterne und die Demokratische Partei eine „Übergangsregierung“ einer sicheren Wahlniederlage vor. Zwar konnte sich die PD nach dem
desaströsen Wahlergebnis von 2018 (18,7 %) in den Umfragen wieder auf über
20 Prozent verbessern – sie liegt aber noch immer weit abgeschlagen hinter der
Lega (um die 35 %). Die Fünf-Sterne-Bewegung, 2018 mit 32,7 % noch
eindeutige Wahlsiegerin, hat sich seither in den Umfragen fast halbiert und
dümpelt bei ca. 18 % herum.

Von der Niederlage 2018 hat sich die PD mit dem damaligen „Hoffnungsträger“
Renzi bis heute nicht
erholt, nachdem sie damals an der Reform
des recht verschachtelten legislativen Systems per Referendum gescheitert war. Nun ist sie an die Tröge der Macht zurückgekehrt.

Für die Neuaufstellung unter dem parteilosen Conte hatte die
PD zunächst Bedingungen gestellt. Ursprünglich
lehnte sie diesen gar als Ministerpräsidenten ab. Doch letztlich unterstützte sie den
inzwischen recht populären Conte.

Die Fünf-Sterne-Bewegung hat in den letzten 14 Monaten ihr
einst oppositionelles, Anti-Establishment-Gepräge selbst
ruiniert. Mit dem Wechsel zur Koalition mit der einst verhassten PD wird sie
wohl den letzten Rest ihrer Glaubwürdigkeit zerstören. Schon
zuletzt hatte sie als
Partnerin der ultra-rassistischen, rechts-populistischen Lega kaum eigenes „Profil“ entwickelt. Nun bildet
sie ausgerechnet mit der PD eine gemeinsame Regierung, deren damalige kapital- und
EU-freundliche Politik den Aufstieg
der populistischen
Fünf-Sterne-Bewegung massiv begünstigte,
wenn nicht überhaupt erst möglich machte.

An der Regierung hatte sich freilich Salvini als der
konsequentere, weil rechtere und extremere Populist erwiesen. Die
Fünf-Sterne-Bewegung fiel gewissermaßen einer extremeren Version ihrer eigenen
Politik zum Opfer. Obwohl sie nach den Wahlen 2018 klar stärkste Partei gewesen
war, gab in der Koalition bald Salvini den Takt vor. Mit dem Regierungswechsel
zog die Bewegung machttaktisch die Notbremse, was freilich nur zeigt, wie sehr
sie sich den
Machtgepflogenheiten der
bürgerlichen Politik und der
vormals bekämpften etablierten Parteien
unterworfen hat.

Womit auch bewiesen wäre, dass diese
populistische Formation völlig vorbehaltlos sowohl mit der Lega als auch der PD Regierungen bildet. Die
demagogische Behauptung,
„weder links noch rechts“ zu
sein, entpuppt sich als Freibrief, beliebig Koalitionspartnerinnen zu wechseln.
Für Formationen, die aus einer
kleinbürgerlich-populistischen (Wahl-)Mobilisierung entstanden, erweist sich
das als wenig überraschend – ebenso wie ihre Unfähigkeit, selbst als
zahlenmäßig stärkste Kraft den Gang der Ereignisse zu bestimmen.

Hatten sich die Fünf Sterne im Verbund mit der Lega noch als
entschlossene GegnerInnen der EU-Haushaltsvorgaben präsentiert, so wird sie nun
den Etat EU-konform mit der PD verabschieden.
Nachdem in ihrer ersten Regierung der
rassistische Amoklauf von
Salvini zugelassen, ja eifrig mitbetrieben wurde, sollen jetzt dessen „Exzesse“
rückgängig gemacht werden. Im Klartext, die Grenzen sollen zwar weiter dicht
bleiben, zugleich jedoch soll so getan werden, als würde sich die neue
italienische Regierung jetzt um die Geflüchteten sorgen. In Wirklichkeit geht
es nur darum, sich ein neues pseudo-humanitäres Image aufzubauen.

Haushalt 2020 und die EU

Hinter dem parlamentarischen Schauspiel lauern strategische Fragen. Im Herbst
steht die Budgeterstellung
auf der Tagesordnung und vor
allem die Einhaltung der EU-Kriterien.
Schon 2018 gab es langwierige Verhandlungen, neuerliche Berechnungen und letztlich ein Ende der Krise. Die
aktuellen Verhandlungen fallen
mit der Brexit-Krise
zusammen. Die Krise der EU
erreicht einen weiteren Scheitelpunkt.

Die möglichen „Lösungen“ der Regierungskrise sind Produkt
der Krise des italienischen Imperialismus. Sicher war, dass die rechts-populistische Regierung von
Fünf-Sterne-Bewegung und Lega nicht die volle Rückendeckung der herrschenden Klasse hatte.

Via Lega und Salvini ist ein Teil des italienischen Kapitals durchaus gewillt,
eine aggressive Politik
gegen die EU-Kommission
einzuschlagen, etwas „abgefedert“ durch Forza Italia und Berlusconi, der
neuerdings wieder im EU-Parlament sein Unwesen treibt. Auch wenn dieser Flügel
angesichts der Verschuldung des Landes die Unwägbarkeiten eines IXIT vermeiden
will, so befindet er sich doch auf einem Konfrontationskurs
mit der EU-Kommission und
auch der EZB. Außerdem wäre ein Ministerpräsident Salvini durchaus geeignet, eine russlandfreundlichere Außenpolitik wie auch weitere Handelsabkommen mit China zu forcieren. Er würde kapitalträchtige
Projekte wie Zugstrecken mit Frankreich bauen
und nichts unversucht
lassen, den alten bürgerlichen Clans Italiens neue Aufträge zuzuschachern.

Auch wenn sich die Lega in den letzten Jahren auf das ganze
Land ausgeweitet hat, so stützt sie sich vor allem auf eine solide Basis unter
der KapitalistInnenklasse wie auch dem KleinbürgerInnentum im Norden des
Landes, d. h. sie repräsentiert einen wichtigen Flügel der italienischen
herrschenden Klasse. Hinzu kommt, dass ihre Verbündeten wie z. B.
Berlusconis Forza Italia durchaus auch über Einfluss auf Sektoren der
herrschenden Klasse verfügen.

Doch
deren anderer
Flügel konnte sich zunächst parlamentarisch durchsetzen. PD und Fünf Sterne bilden eine neue Koalition unter Conte. Diese wird mindestens die EU-
Verhandlungen durchführen. Hier stehen auch die Interessen der EU, des
deutschen und französischen
Imperialismus Spalier. Angesicht jedes erdenklichen Brexit-Szenarios
brauchen die beiden
wichtigsten Führungsmächte
ein „verlässliches“ Italien, soll heißen eine italienische Regierung,
die den Vorgaben folgt und
den Euro-Block stabil hält.

Innerhalb der neuen Regierung kann sich die PD über die
historischen Verbindungen der ehemaligen Christdemokratie zu einem wichtigen
Teil der herrschenden Klasse stützen. Zudem bringt sie über die einstigen
ArbeiterInnenparteien wie die PCI auch Verbindungen zu den Gewerkschaften in
die Koalition, also Mittel, den „sozialen Frieden“ zu bewahren, ein.

Ähnlich der Entwicklung hin zum „Brexit“ oder auch der
Neuaufstellung im französischen
parlamentarischen System treten bei der italienischen
herrschende Klasse ihre verschiedenen Orientierungen in der Krise offen zu Tage
– selbst ein Produkt der inneren Gegensätze der EU wie auch der
zunehmenden globalen Konkurrenz.

Aufgaben

In der aktuellen Situation preist die neue Koalition den „Professoren-Anwalt“
Conte als besten
aller Ministerpräsidenten an,
wohl wissend, dass er bis
vor wenigen Monaten noch als Marionette  Salvinis galt. Unter seinem Vorsitz soll der Verbleib
Italiens in EU und Euro-Raum um
jeden Preis gesichert, aber zugleich auch mit einer „großzügigeren“ Finanzpolitik seitens der Kommission versüßt werden. Dort dürfte speziell Frankreich starkes
Interesse an den neuen
Regierung Conte haben. Ohne die Provokationen Salvinis erhofft es sich einen
Verbündeten für eine enger
verzahnte, gemeinsame EU-Schulden-
und Finanzpolitik (auch gegen Deutschland).

Ein Hauptproblem
für das italienische Kapital
besteht darin, welche Regierung am effektivsten einen weiteren Angriff auf die
Errungenschaften der italienischen ArbeiterInnenklasse umsetzen bzw. die Kosten der nächsten Krisenrunde
ebendieser aufhalsen kann. Die
PopulistInnen-Regierung versprach nur viel, senkte zwar
die Steuern für Unternehmen, machte aber
auch Hoffnung auf soziale
Wohltaten. Bürgerliche Gazetten mahnen tiefgreifende „Reformen“ des Arbeitsmarktes an. Weitere Aufweichung des Kündigungsschutzes
und Privatisierungen werden als Voraussetzung für Wachstum und
Profite präsentiert.
Umgesetzt werden kann das nur
auf dem Rücken der ArbeiterInnenklasse, de facto mit einem
umfassenden sozialen Angriff wie Agenda 2010 in Deutschland oder „El-Khomri“-Gesetze in Frankreich.

Welchen Kompromiss die EU eingeht, ob Conte einen guten
„Deal“ bekommen wird, ist
ungewiss. Gewiss ist nur,
dass ab 2020 in Italien Einschnitte zu
erwarten sind. Selbst ob die
Regierung so lange hält, ist fraglich. Es könnte durchaus sein, dass sie nur für die Haushaltsverhandlungen mit der EU durchhält,
danach zerbricht und Neuwahlen
ausruft, die
eine von Salvini geführte Lega-Regierung an die Macht bringen könnten.

Natürlich würde auch diese die inneren Gegensätzes des
italienischen Kapitals nicht ohne weiteres beseitigen. Wir müssen daher damit
rechnen, dass sich – unabhängig davon, wie lange die gegenwärtige Regierung hält
– eine Tendenz fortsetzt und verstärkt, die wir unter der Regierung Conte I
(wie auch schon unter früheren Kabinetten) beobachten konnten: die zu stärkeren
bonapartistischen Momenten der Ausübung der Regierungsgeschäfte. Mit Conte
stand ein scheinbar über den „Lagern“ schwebender Politiker der Koalition von
Lega und Fünf Sternen ebenso vor, wie er jetzt die aktuelle Koalition führt.

Conte selbst hat eigentlich kein besonderes Programm. Wenn
überhaupt, besteht es darin, die widerstreitenden Interessen der verschiedenen
gesellschaftlichen Kräfte und Klassenfraktionen scheinbar neutral zu
vermitteln, ein scheinbar über dem „Parteienstreit“ liegendes Gesamtinteresse
herauszudestillieren und zu verkörpern. Ironischerweise kommt ihm sein
politische und persönliche Farblosigkeit dabei zugute. Anders als Salvini,
Renzi oder die glownesken Führer der Fünf Sterne scheint er keine persönlichen
Ambitionen zu kennen. Gerade weil er als „neutral“ gilt, als Mensch, dem die
Macht eine Bürde und kein Ziel zu sein scheint, kann er als ehrlicher Ministerpräsident
verkauft werden, dem eine viel größere Machtfülle anvertraut wird als allen
andern.

Diese Stärken und Möglichkeiten können darüber hinaus weiter
populistisch durch Rassismus, Nationalismus und viel andere Demagogie
abgesichert werden. In diesen bonapartistischen Momenten, die sich in Contes
Regierungen verkörpern, liegt eine enorme Gefahr für die ArbeiterInnenklasse –
sei es angesichts der in ihrem Kern fortgesetzten rassistischen
Migrationspolitik der Regierung Conte I, sei es angesichts der drohenden
Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse im Zuge von Austeritätspolitik und Krise.

Solche bonapartistischen Tendenzen in einer tiefen
politischen und ökonomischen
Krise sind nichts Ungewöhnliches
für den Kapitalismus, sie sind Ausdruck der tiefen gesellschaftlichen Krise.

Trotz zahlreicher Niederlagen und Rückschläge verfügt die italienische ArbeiterInnenbewegung
noch über einen hohen
gewerkschaftlichen
Organisationsgrad und auch
eine kampfstarke „Tradition“ der Klasse,
die wiederbelebt werden kann und muss.

Dementsprechend
wird der neue PD-Vorsitzende
Zingaretti versuchen, die Gewerkschaften hinter die Regierung zu scharen. Der Bruch mit der bürgerlichen PD
stellt für die italienische
ArbeiterInnenbewegung jetzt die entscheidende Aufgabe dar. Nur dann wird sie in der Lage
sein, gegen die Neuauflage
der Regierung Conte zu kämpfen und jeglicher Austeritätspolitik eine Abfuhr zu
erteilen; nur dann wir sie
in der Lage sein, der fortgesetzten rassistischen Politik den Kampf für offene
Grenzen und einen gemeinsamen europaweiten Klassekampf gegenüberzustellen.

Wie auch
beim „Brexit“-Szenario erweist sich, dass eine europäische Koordination des Widerstandes und gemeinsame Aktionen
überfällig sind. Gegen den Rechtsruck und die Folgen
dieser rassistischen Regierung brauchen wir europäische
Aktionskonferenzen, gemeinsame
Kampfstrukturen und Mobilisierungen – und vor allem ein Aktionsprogramm gegen
Krise und Kapital.