Ukraine nach der Parlamentswahl: Neues Personal für alte Probleme

Paul Neumann, Infomail 1064, 6. August 2019

Nach der Präsidentenwahl im April 2019 hat Wolodymyr
Selenskyj auch die vorgezogenen Parlamentswahlen am 21. Juli 2019 mit der
absoluten Mehrheit der Sitze in der Rada (Parlament) für sich und seine neue
Partei Sluha Narodu (Russisch: Sluga Naroda; Deutsch: Dienerin des Volkes)
entscheiden können. Da Selenskyj in der alten Rada keine Basis zum Regieren
hatte, war die vorzeitige Neuwahl nur folgerichtig. Auf diesem Stimmenergebnis will
er den angekündigten tiefgehenden Wandel der ukrainischen Gesellschaft durchziehen,
ohne auf parlamentarische Hindernisse zu stoßen oder auf quertreibende
KoalitionspartnerInnen Rücksicht nehmen zu müssen.

Das jedenfalls erwartet nun nicht nur die Mehrheit der
ukrainischen BürgerInnen. Auch die FreundInnen und FörderInnen der
„unabhängigen“ Ukraine im Westen hoffen, wenn auch mit einiger Skepsis, auf
einen „Neustart“. Neben allen Vorbehalten gegenüber Selenskyj und seiner
Fähigkeit zum Wandel steht nach übereinstimmendem Dafürhalten westlicher
KommentatorInnen zumindest eine Siegerin schon fest: die Demokratie. Dass der
Amtswechsel „friedlich“, ohne Massenschlägerei in der Rada über die Bühne
gegangen ist, gilt schon als Erfolg.

Die Wahl

Auf jeden Fall ist dem öffentlichen Vernehmen nach der erste
wichtige Schritt in die richtige Richtung getan. Selenskyj konnte mit seiner
neuen Partei 43,16 % der Stimmen und somit 124 Mandate erringen. Zudem
gewann Sluha Narodu 130 Direktwahlkreise und erhielt so insgesamt 254 von 424
Sitzen in der neuen Rada. Da fast 20 % der abgegebenen Stimmen auf
Kleinparteien fielen, die an der Fünfprozent-Hürde scheiterten, reichten die 43 %
für eine satte absolute Mehrheit aus.

Mit weitem Abstand zweitstärkste Partei wurde die von
Russland unterstützte „Oppositionsplattform“ um den ehemaligen
Stellvertretenden Ministerpräsiden Jurij Bojko und den ehemaligen Leiter der
Präsidialadministration unter Leonid Kutschma, Wiktor Medwedtschuk. Sie errang
13,1 % der Stimmen und 43 Sitze in der neuen Obersten Rada. In den
offiziellen Wahlergebnissen sind auch die Regionen Donezk und Luhansk (Lugansk)
aufgeführt. Hier wird jeweils die „Oppositionsplattform“ als Wahlsiegerin
aufgeführt, mit 43,4 % in Donezk und 49,8 % in Luhansk. Allerdings wurden
diese Ergebnisse nicht in das offizielle Ergebnis übernommen und Abgeordnete
aus diesen Regionen sind nicht in der Rada vertreten.

Den dritten Platz mit 8,2 % (plus 2,5 % = 300.000
Stimmen) und 26 Sitzen belegte die frühere Ministerpräsidentin und jetzige
„Gasprinzessin“ Julija Tymoschenko (Julia Timoschenko) mit ihrer
Vaterlandspartei, dicht gefolgt mit 8,1 % (minus 13,7 % = 2,3 Mil.
Stimmen) und 25 Sitzen von der Partei Europäischer Solidarität von Ex-Präsident
Poroschenko. Überraschend schaffte es auch die neue Holos-Partei (Deutsch:
Stimme) des Rocksängers Swjatoslaw Wakartschuk mit 5,8 % und 20
Abgeordneten in die neue Rada.

Bemerkenswert ist, dass die „Vereinigung aller
nationalistischer und neofaschistischer Parteien“ wie Swoboda (Deutsch: Freiheit)
nur 4,3 % der Stimmen errang und an der Fünfprozent-Hürde scheiterte. Die
Stimmenzahl dieser Kräfte sank von 1,1 Mil. auf 315.560.

Die Wahlbeteiligung lag bei nur 49,1 % und damit noch 3 %
unter jener der letzten Wahl im Oktober 2014, was auf eine tiefe
Demoralisierung großer Wählerschichten deutet.

Selenskyjs Programm

Neben der Bekämpfung der vielzitierten Korruption musste
Selenskyj an erster Stelle eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation
versprechen. Sein Programm dazu ist allerdings eher stichwortartig und nebulös.
Von einer „Neuen Wirtschaftsstrategie“, von der „Demonopolisierung der
Schlüsselindustrien“, Entbürokratisierung, weiteren Privatisierungen,
Vereinfachung des Steuersystems, Förderung von Forschung und Wissenschaft ist
die Rede. (Siehe: https://sluga-narodu.com/program)

Kann man sich eine „Demonopolisierung von
Schlüsselindustrien“ ohne Enteignung der Oligarchie vorstellen? Wer soll das
beschließen und durchsetzen? Weitere „Privatisierungen“, die der Westen
einfordert, werden neben den OligarchInnen, die man ja gerade nicht weiter
stärken will, nur finanzstarke ausländische KapitalgeberInnen finanzieren
können. Fördert das die nationale Wirtschaftsbasis? Die Kosten für Forschung
und Wissenschaft als Grundlage einer konkurrenzfähigen Industrie werden heute auf
100 Milliarden Euro geschätzt – für moderne Universitäten und Institute,
IngenieurInnen, Ausstattung und akademisches Personal. Doch woher will die
Ukraine die Ressourcen nehmen, wenn gleichzeitig die bestehenden
Eigentumsverhältnisse und die Wirtschaftsordnung unangetastet bleiben?

Permanente Krise seit 2014 – als Ergebnis des westlichen
Zugriffs

Seit dem Zugriff des Westens auf die Ukraine im Zusammenhang
mit der rechten Majdan-Bewegung 2013/2014 und der putschartigen Regierungsübernahme
durch den „Schokoladenoligarchen“ Poroschenko und dem damit vollzogenen
politischen und ökonomischen Bruch mit Russland ging es wirtschaftlich steil
bergab. Das Land wurde faktisch gespalten. Der seit 2014 andauernde Bürgerkrieg
im Donbas (Russsisch: Donbass; Deutsch: Donezbecken)  hat nicht nur tausenden UkrainerInnen auf beiden Seiten das
Leben gekostet, sondern die Wirtschaft noch weiter zerstört. Lag 2013 das Bruttoinlandsprodukt
(BIP) pro Kopf bei ca. 4.000 US-Dollar, so ist es bis 2018 auf 2.960 US-Dollar
gesunken. Damit befindet sich das Land auf dem Niveau von Laos, den Philippinen
und Ägypten. In Europa weist nur die Republik Moldau (Moldawien) ein geringeres
BIP pro Kopf auf.

Die Hinwendung zu EU und USA hat bisher kaum Früchte
getragen. Im Gegenteil, die Folgen sind fatal: Über 3 Millionen Menschen haben
die Ukraine dauerhaft verlassen und ca. 9 Millionen arbeiten zumindest zeitweise
im Ausland, davon 1,5 Millionen im benachbarten Polen. Die
Auslandsinvestitionen lagen 2018 bei bescheidenen 800 Millionen US-Dollar. Das
bisherige Einbindungsprogramm in die EU ist vollkommen gescheitert. Das muss
auch die EU-Kommission eingestehen. Deshalb pflegt sie inzwischen diplomatische
Redewendungen in der Art, dass die „Reformen nachhaltiger und glaubwürdiger“
gestaltet werden müssten.

Die Auslandschulden betragen ca. 130 Milliarden US-Dollar,
nicht eingerechnet die unzähligen Milliarden an Sonderkrediten für die
Modernisierung der ukrainischen Armee, um die Aufrechterhaltung der Front im
Osten gegen die russlandfreundlichen Milizen der Regionen Donezk und Luhansk
(Donbas) zu gewährleisten. Die Militärförderung bildet zugleich die Grundlage
für eine strategische Etappe im Aufbau einer weiteren NATO-Basis gegen Russland
und China.

De facto ist die Ukraine bankrott und zahlungsunfähig. Ihre
Zahlungsfähigkeit wird nur mit weiteren Krediten der westlichen Regierungen aus
politischen Gründen aufrechterhalten. Damit steckt sie zugleich fest in der
Schuldenfalle, dem Würgegriff westlicher Staaten und des internationalen
Finanzkapitals.

Dieser Würgegriff bestimmt im Wesentlichen den Handlungsrahmen
von Präsident Selenskyj für sein Modernisierungsprogramm von Wirtschaft und
Gesellschaft, verbunden mit den bekannten „Sparprogrammen“ bei Renten, Löhnen,
Gesundheitswesen und anderem „Sozial-Klimbim“ auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung.
Auch wenn Selenskyj in seinem Wahlprogramm höhere Renten und den Ausbau des
Gesundheitswesens versprochen hat, wird er kaum die Mittel gegen den Widerstand
der westlichen GläubigerInnen aufbringen können.

Außerdem befinden sich die faschistischen und
halb-faschistischen Kräfte trotz Wahlschlappe weiter in Lauerstellung.
Rassistische Angriffe, Morde und Übergriffe sind weit verbreitet. Als 2018
Nazi-Banden ein Roma-Lager überfielen und mehrere Männer, Frauen und Kinder
totschlugen, war das den hiesigen Medien nur eine Randnotiz auf den hinteren
Seiten wert. Westliche JournalistInnen gaben sich auffallend große Mühe, diese Folgen
westlicher Politik zu ignorieren.

Am 18. Juni absolvierte Selenskyj seinen Antrittsbesuch als
neuer ukrainischer Präsident in Berlin. Brav gab er gegenüber Kanzlerin Merkel
sein Treuebekenntnis zu Marktwirtschaft, EU und NATO ab und forderte schärfere
Sanktionen gegenüber Russland. Anschließend teilte ihm der Vorsitzende des Ost-Ausschusses
der deutschen Wirtschaft, Wolfgang Büchele, mit, was in der Ukraine zu
geschehen habe: „Wichtig ist aus Sicht von Investoren besonders ein
durchsetzungsfähiges unabhängiges Justizsystem.“ Und „ein verlässlicher
Rechtsrahmen und eine Gleichbehandlung von in- und ausländischen Investoren ist
die Grundlage für eine vertiefte Zusammenarbeit.“

Damit sind die Eckpunkte des Programms von Selenskyj
weitgehend abgesteckt. Es hat die Infrastruktur für westliche Investitionen
deutlich zu verbessern. Wenn Selenskyj seinen Auftrag erledigen und
Investitionen erfolgen sollten, steht der Platz der Ukraine in der
internationalen Arbeitsteilung schon fest: als weiteres halbkoloniales Billiglohnland
in der Kette der verlängerten Werkbänke der deutschen/EU-Industrien in der
Einflussregion in (Süd-)Osteuropa. Das alleine ist die kapitalistische
Perspektive für die Ukraine.

Bedenken hegt die deutsche bürgerliche Öffentlichkeit auch,
ob die Mehrheiten in der Rada für die notwendigen Gesetzes- und
Verfassungsänderungen zur Durchsetzung der Reformen überhaupt zustande kommen,
zumal für eine Verfassungsänderung eine Zweidrittel-Mehrheit notwendig ist.
Auch an der Haltung zu seinem Haus-Oligarchen Kolomojskyj (Kolomoiski) aus Dnipro
(Dnepropetrowsk) will SPIEGEL online „Selenskyi mit seinen Reformversprechen“
testen.

Ebenfalls sickern schon Gerüchte durch, dass sich die nun
überflüssigen Abgeordneten der abgewählten Parteien längst in der neuen Partei
Sluha Narodu eingenistet haben und ihre Saläre weiterhin von diversen
OligarchInnen beziehen (DLR, 22.7.2019). Das alte System ist zäh und widerborstig
und ist nicht gewillt sich einfach abwählen zu lassen, solange die Interessen,
die es tragen, noch lebendig sind.

In Russland hat die Wahl in der Ukraine eine große
Aufmerksamkeit erfahren. Am Wahltag berichtete das russische Staatsfernsehen
den ganzen Tag live. Die staatstragenden KommentatorInnen gaben das Interesse
des russischen Staates vor: Russland ist zu Gesprächen mit Selenskyj bereit.
Außer über die Krim, deren Eingliederung von zentraler strategischer Bedeutung
für Russland ist, könne über alle Themen gesprochen werden. Vorstellbar ist,
dass der Krieg im Donbas beendet werden kann, wenn der Westen die Sanktionen
gegen Russland aufhebt.

Perspektive – Kampf für die Interessen der ArbeiterInnenklasse

Auch die ukrainische ArbeiterInnenklasse wird bald ihre
Illusionen in den Westen ganz praktisch verlieren. Besonders die führenden
Länder des westlichen Imperialismus können ihre eigenen Profitraten nur noch
aufrechterhalten, wenn sie weiter und weiter halb-koloniale Länder und Regionen
in ihre Produktionsketten einbinden. Der einzige Maßstab dabei ist: billiger
produzieren.

Selbst wenn die Investitionen in die Ukraine doch noch
kommen sollten, so zeigt ein Blick nach Bulgarien und Rumänien, welche Zukunft
damit verbunden wäre. All die versprochenen Reformen und der Kampf gegen die
Korruption, die als westliche Rezepturen gepriesen und eingefordert und den Menschen
als Heilmittel für ihre jämmerliche Existenz gepredigt werden, drücken nur die
Interessen des internationalen Kapitals und der ukrainischen Eliten aus. Es
geht alleine um die Optimierung der Ausbeutung dieser Länder für die
imperialistischen Mächte und eine korrupte nationale politische und ökonomische
Elite sowie um deren geostrategische Einbindung im Kampf um die Neuaufteilung
der Welt.

Dagegen muss sich heute die ArbeiterInnenklasse vorbereiten
und rüsten durch den gemeinsamen Kampf gegen die Kürzung der Löhne und Renten,
gegen Einsparungen im Gesundheitswesen, gegen Erhöhung der Energiekosten und
Mieten, für die Verstaatlichung von Monopolen, Banken, die Energiewirtschaft
unter ArbeiterInnenkontrolle, gegen jegliche Privatisierungen, gegen Aufrüstung,
mittels Selbstverteidigung gegen faschistische Angriffe.

Einen entscheidenden Punkt stellt dabei der Kampf gegen die
weitere Kriegsmobilisierung gegen den Osten der Ukraine dar – wie umgekehrt
gegen die Dominanz des russischen Imperialismus im Donbas. Dieser erfordert
freilich den Bruch mit allen bürgerlichen Kräften – nicht nur mit Selenskyj und
den pro-westlichen Parteien, sondern auch mit der pro-russischen „Opposition“.
Nur auf dieser Basis es möglich, eine revolutionäre ArbeiterInnenpartei in der Ukraine
aufzubauen und die politische Krise der Klasse zu überwinden.