Die Zauberlehrlinge

Die Krise der Europäischen Union, , Liga für die Fünfte Internationale, Kapitel 3, Broschüre der Gruppe ArbeiterInnenmacht, April 2019

Während die europäischen Staats- und
Regierungschefs in den 1990er und frühen 2000er Jahren die EU als ein schnell
voranschreitendes Projekt präsentierten, das die Bevölkerung mit „großen
Visionen“ bombardierte, sind diese Visionen in letzter Zeit verblasst und durch
Albträume von nationalen Gegensätzen, neu errichteten Grenzzäunen und der
Gefahr, dass andere Austritte dem Brexit folgen könnten, ersetzt worden.

Nur der französische Präsident Emmanuel
Macron präsentiert noch regelmäßig große „Pläne für Europa“, die aber bewusst
vage sind, wenn es um die Frage geht, wer diese Reformen finanziert und wie.
Deutschland weigert sich eindeutig, dies zu unterschreiben und für sie zu
bezahlen. Der Präsident der Kommission, Jean-Claude Juncker, Präsident Macron
und die immer noch zentrale Figur der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel
sind wie Zauberlehrlinge, die die Geister, die sie riefen, nicht mehr
loswerden. Indem sie die GriechInnen „mit gutem Beispiel vorangetrieben“ haben,
indem sie eine Reihe von Ländern, die so genannten PIIGS (Portugal, Irland,
Italien, Griechenland, Spanien), zu Sparpolitik zwangen und den in Wahlen und
Referenden zum Ausdruck gebrachten Volkswillen ignorierten, haben sie die
schlafenden Hunde des nationalen Chauvinismus und Rassismus geweckt.

Die RassistInnen und RechtspopulistInnen
wie der italienische Innenminister Matteo Salvini oder die führende
französische Oppositionspolitikerin Marine Le Pen sehen die Zeit gekommen, der
EU ihre rechtsgerichtete Agenda aufzuzwingen, eine Agenda, bei der sie außer
Rassismus und Fremdenfeindlichkeit wenig verbindet. Die nächste
Wirtschaftskrise, die Frage, wer die italienischen Schulden bezahlt, wird die
Einheit der verschiedenen NationalistInnen in Frage stellen. Jeden Tag zeigen
die EU-Institutionen, wessen „Kind“ sie sind, wessen Interessen sie bedienen
und vertreten, sicherlich nicht die der 512 Millionen EU-BürgerInnen, sondern
die Interessen des Kapitals.

Für die ArbeiterInnen dieses Kontinents,
die RentnerInnen, die Studierenden, die LandwirtInnen und die Arbeitslosen
haben der Binnenmarkt und die EU-Institutionen den Wettbewerb intensiviert, die
Löhne gedrückt, die Preise erhöht, die Sozialsysteme ruiniert und sie sind
somit voll verantwortlich für den Rechtsruck.

Für die großen Konzerne, die Banken und die
Reichen hat sich die EU ausgezahlt. Die Gewinne sind gestiegen, die Märkte und
alle wirtschaftlich Tätigen wurden wie nie zuvor ausgebeutet. Aber auch für das
Kapital brachte dies die Unterordnung der schwächeren Formationen unter die
wettbewerbsfähigeren oder deren Zusammenbruch.

Während sich das Großkapital wirtschaftlich
durch die EU deutlich stärken konnte, mussten die Ambitionen, eine Weltmacht zu
werden, fallen gelassen werden. Selbst gegen den krisengeschüttelten und
schwächer werdenden Welthegemon, den US-Imperialismus, kann sich die EU trotz
Trumps Beleidigungen und Drohungen nicht behaupten. Schwankende Schritte in
Richtung einer gemeinsamen Außenpolitik werden täglich durch die nationale
kapitalistische Realität der EU gestoppt, so dass sich die „Außenpolitik“ der
EU heute auf die Diplomatie unter ihren fraktionierten Mitgliedern beschränkt,
während diese unterschiedlichen kapitalistischen Interessen nach außen hin
einfach nicht vereint auftreten können.

Im Jahr 2019 hegen die meisten führenden
bürgerlichen PolitikerInnen keine „Visionen“ mehr für die EU. Nur die
Verteidigung eines bedrohten Status quo scheint als gemeinsames Ziel denkbar.
Als Ergebnis eines Jahrzehnts von Spar- und Krisenpolitik haben sich trotz der
Errungenschaften des gemeinsamen Binnenmarkts seit 2001 kapitalistische
Widersprüche angesammelt und eine Krise auf Leben und Tod für die Europäische
Union eröffnet.

Die Europawahlen 2019 werden diese
Widersprüche noch einmal deutlich machen und die verschiedenen bürgerlichen und
kleinbürgerlichen Kräfte werden aufzeigen, dass sie entweder keine Antwort auf
die Krise der EU geben können oder dass ihre „Antworten“ die EU in eine
reaktionäre Richtung zerreißen würden.

Die konservativen, liberalen und grünen
Parteien unterscheiden sich durch gegensätzliche Bindungen an die „europäische“
Einheit und an nationale Interessen, aber sie eint das Ziel, eine
kapitalistische Agenda mit leeren Reformversprechen zu verbinden. Sie
versuchen, sich als „demokratisches“ Bollwerk gegen die Rechte zu präsentieren
und bauen ihre eigene Politik auf den undemokratischen Institutionen der EU
auf.

Die Rechte, die bereits bei den EU-Wahlen
2014 massive Gewinne erzielte, ist das deutlichste Zeichen für bürgerlichen
Verfall und Zerfall. Verschiedene kleinbürgerliche Kräfte und auch Sektoren des
Großkapitals präsentieren Nationalismus, Chauvinismus und Rassismus als die
wichtigsten Antworten auf die wachsende imperialistische Krise. Der Rückzug auf
den nationalen Markt, den Staat und eine „ethnisch homogene“ oder „identitäre“
Vorstellung vom „Volk“ befeuern eine offene und aggressive Form des
Nationalismus. Aber jede herrschende Klasse, unabhängig von ihren
internationalen (imperialistischen) Interessen, muss auf den Nationalismus zurückgreifen,
um die Nation für ihr eigenes Interesse zu „vereinen“. Selbst die
faschistischen Gruppen kommen gestärkt aus ihren Löchern, bereit zu jeder noch
so schmutzigen Gewalt gegen die ArbeiterInnen, MigrantInnen und unterdrückten
Schichten, wenn sich die Krise verschärft.

In einer solchen Zeit können nur die
ArbeiterInnenklasse und die Unterdrückten die Einheit der arbeitenden Menschen
auf dem ganzen Kontinent gegen die RassistInnen und diejenigen, die bewusst
Spaltung und zukünftige Konflikte säen, bewahren und erweitern.

Dazu bedarf es einer international
koordinierten Politik und eines Aktionsprogramms gegen die anhaltenden Angriffe
und einer Antwort der ArbeiterInnenklasse auf die europäische Krise. Die
offiziellen FührerInnen der ArbeiterInnenbewegung scheuen davor zurück und
kokettieren sogar mit Nationalismus und Populismus. In der Vergangenheit haben
sie es versäumt, die Verteidigung gegen die Sparpakete zu organisieren und zu
generalisieren. Stattdessen haben sie den Konkurrenzbedürfnissen des nationalen
Kapitals und der „Sozialpartnerschaft“ nachgegeben. Vor den EU-Wahlen 2019
können wir beobachten, dass die sozialdemokratischen und Labour-Parteien
zwischen einer vorgetäuschten Form des europaweiten Sozialreformismus und einem
Schwenk zur nationalistischen Anpassung oszillieren. Die „Linksparteien“ sind
zwischen linkem Reformismus und Linkspopulismus gespalten. Dieses Versagen wird
von der „radikalen“, sozialistischen, kommunistischen Linken nicht
aufgegriffen. Im Gegenteil, einige versuchen, die Auflösung der EU von links
(Lexit) zu unterstützen, wie beim „Brexit“. Das Problem wird auch nicht durch
den kosmopolitischen paneuropäischen Populismus von Yanis Varoufakis
beantwortet. Was völlig fehlt, ist eine Perspektive des europäischen
Klassenkampfes, wie die EU mit Hilfe des Klassenkampfes bekämpft werden kann
und wie ein Europa ohne EU, Kapitalismus und den Rechtsruck aussehen könnte.