EU-Wahlen 2019: Vor der nächsten Krise

Tobi Hansen, Neue Internationale 2019, Juni 2019

Wie beim parlamentarischen
Schauspiel üblich freuten sich zunächst alle SpitzenkandidatInnen und Parteien
über die gestiegene Wahlbeteiligung. Erstmals seit 1994 ging mit 50,97 %
europaweit mehr als die Hälfte der Stimmberechtigten an die Urne. Kein Wunder,
denn verschiedenste gesellschaftliche Kräfte stilisierten die Europawahlen zu
einer „Schicksalswahl“ – seien es die „europaskeptischen“ und
rechtspopulistischen AkteurInnen, welche schon 2014 einige Erfolge feiern
konnten, seien es die VertreterInnen des „Mainstreams“ um die Konservativen und
SozialdemokraInnen, seien es Liberale oder Grüne.

Allesamt betrachteten die Wahlen
als eine Art „Kampfabstimmung“ über die Zukunft Europas – selbst wenn sie
natürlich nur diese keineswegs entscheiden. Ihr Ausgang verdeutlicht jedoch
nicht nur, dass eine größere Zahl politischer Kräfte wie auch der Bevölkerung
den Urnengang als eine wichtige politische Auseinandersetzung betrachteten – er
brachte auch, wenn auch nur wenig überraschende, Verschiebungen des
Kräfteverhältnisses in der EU bzw. in den einzelnen Staaten zum Ausdruck.

Weitere Zersplitterung des
bürgerlichen Lagers

Die sogenannten „Volksparteien“,
die etablierten Regierungskräfte aus Europäischer Volkspartei (EVP) und S&D
(Fraktion der Progressiven Allianz der SozialdemokratInnen) haben wieder Wahlen
verloren. Dies ist weder national noch europäisch eine Überraschung derzeit.
Die EVP erhielt gerade noch 178 Sitze, verlor also gegenüber 2014 39, also gut 20
Prozent. Besonders dramatisch fielen die Verlust der Konservativen in
Deutschland aus. Die Niederlage der Tories reiht sich darin ein, auch wenn die
britischen Konservativen der EVP-Fraktion seit längerem nicht mehr angehören
und deren Niederlage durch das Brexit-Desaster extrem verschärft wurde.

Auf der Ebene des EU-Parlaments
haben Christ- und SozialdemokratInnen zusammen keine Mehrheit. Sie sind
angewiesen auf die Unterstützung von Liberalen und/oder Grünen für die nächste
Kommission. Die ehemalige „Große Koalition“ in der EU stellte die klare
Wahlverliererin.

Angesichts der gleichzeitigen
Stärkung der rechtspopulistischen Parteien setzt sich die Fragmentierung des
bürgerlichen Lagers weiter fort. Es ist „zersplittert“. Dies zeigt auch die
unterschiedliche Orientierung der bürgerlichen Kräfte in der EU auf und einen
eindeutigen Verlust der Hegemonie der konservativen Parteien im bürgerlichen
Lager.

Klare Verliererinnen sind auch die
bürgerlichen ArbeiterInnenparteien der Sozialdemokratie und der europäischen Linkspartei.
Zusammen stellen sie weniger als 200 von 751 Abgeordneten.

Die S&D-Fraktion errang nur
noch 153 Mandate und verlor 32 Sitze gegenüber den vorherigen Wahlen. Die
Vereinigte Europäische Linke/Nordische Grüne Linke stellt zukünftig 38
ParlamentarierInnen – 14 weniger als in der letzten Periode.

Gegensätze

Dieser Wahlausgang verdeutlicht
die Krise der EU, des bürgerlichen Lagers wie auch der ArbeiterInnenbewegung.
Was die bürgerlichen Klassen betrifft, so finden die herrschenden
Kapitalfraktionen der EU-Mitgliedsstaaten immer weniger zu einer gemeinsamen
Perspektive und Zielsetzung für die Union. Dies kommt auch beim Streit um
den/die nächste/n KommissionschefIn zum Ausdruck. Die EVP und damit die
Christliche Union schicken den CSUler Weber ins Rennen, den der französische
Präsident Macron offen ablehnt. Er fürchtet zu viel „deutschen Einfluss“, zumal
die Neubesetzung des EZB-Chefs durch Bundesbankchef Weidmann nur schwer
verhinderbar erscheint. Diese und andere Personalfragen werden vor dem Hintergrund
des Kampfes um die zukünftige Ausrichtung der EU erst verständlich – und
bewegen sich daher nicht zufällig zwischen heftiger Zuspitzung und
Postenschacher hinter den Kulissen. Während alle – von den Konservativen,
Liberalen, Grünen bis zu den SozialdemokratInnen – nicht müde werden, sich zu
„Europa zu bekennen“, so fürchtet doch jede/r, von den „PartnerInnen“ über den
Tisch gezogen zu werden. Darüber hinaus darf niemand vergessen, dass gerade die
größeren bürgerlichen Fraktionen eben keine „europäischen Parteien“, sondern
letztlich immer die herrschende Klasse oder eine Fraktion ebendieser aus einem
europäischen Nationalstaat repräsentieren. Dementsprechend werden auch die
Verhandlungen der nächsten Wochen geführt. Nur eines scheint sicher – Neoliberalismus,
Rassismus nach außen und nach innen, Aufrüstung und Verschärfung der
Repressionen werden auch durch die neue Kommission forciert.

Stärkung von Liberalen und Grünen

Während die Grünen speziell in
Deutschland stark zulegten, die SPD überrundeten und zweitstärkste Kraft
wurden, konnten die Liberalen von der neuen französischen Regierungspartei La
République en Marche, aber auch neue Parteien aus Osteuropa wie die
tschechische Regierungspartei ANO 2011 des Populisten und Oligarchen Babis
ebenso punkten. Die gestiegene Wahlbeteiligung, besonders unter Erst- und
JungwählerInnen, kam dem liberalen und grünen Spektrum zu Gute. Die Fraktion
der Allianz der Liberalen und DemokratInnen für Europa (ALDE) stellt nunmehr
105 Abgeordnete (gegenüber 69 in der letzten Periode), die europäischen Grünen
69 (plus 17).

Speziell ErstwählerInnen wurden
über die Klimafrage und die „Fridays-for-Future“-Bewegung mobilisiert. Dort
stellen grüne Parteien und Organisationen wie auch linksbürgerliche NGOs einen
entscheidenden Faktor für die Mobilisierung auf der Straße dar, was sich auch
bei den Wahlen widerspiegelt. Während manches vor den Wahlen über die
Einflussnahme Russlands via soziale Medien spekuliert wurde, lässt sich nun
feststellen, dass vor allem die grüne Mobilisierung viele WählerInnenstimmen
gebracht hat. Dadurch wurden auch Klima, Umwelt und Nachhaltigkeit Schlagworte
des Wahlkampfes, dort hatten sowohl Christ- als auch SozialdemokratInnen eher
wenig zu bieten.

Die Rechte konsolidiert sich

Derzeit ist noch nicht klar, wie
die neue gemeinsame Fraktion der RechtspopulistInnen und NationalistInnen
aussehen wird. Ziel soll es sein, die drittstärkste Fraktion zu stellen.
Symbolhaft für die Krise der EU lässt sich feststellen, dass bei den größten
Konkurrenten zum deutschen Imperialismus, in Frankreich und Italien, die
Rechten die stärkste Kraft geworden sind. Le Pen konnte auch mit dem
umbenannten RN (Rassemblement National – Nationale Sammlungsbewegung) das
Ergebnis von 2014 wiederholen und liegt einen Prozentpunkt vor der Macron
Partei La République en Marche (23 % zu 22 %), wie auch die italienische Lega
jetzt führende Kraft der europäischen Rechten ist. Mit Innenminister Salvini
als Spitzenkandidat holte sie 33 % und ließ den Koalitionspartner Fünf Sterne
mit 16 % klar hinter sich. Dies bestätigt auch den Trend der letzten
Regionalwahlen. In der bisherigen ENF-Fraktion (Europa der Nationen und der
Freiheit) sind die AfD und die FPÖ bislang sichere Partnerinnen. Wer dazu
kommen soll, gilt als unsicher.

Einheitliche Rechte?

Inwieweit sich die
SchwedendemokratInnen, die polnische Regierungspartei PiS, die „Brexit Party“
von Farage oder verschiedene flämische NationalistInnen (Nieuw-Vlaamse
Alliantie und Vlaams Belang), neue spanische FranquistInnen (Vox) einfangen
lassen, ist fraglich.

Mit Salvini versucht sich auch der
ehemalige US-Präsidentschaftsberater Bannon als Strippenzieher im EU-Parlament
zu beweisen. Der ehemalige „Breitbart-News“-Chef gründete eine Stiftung in
Brüssel und eine Akademie in Rom. Ziel ist es, möglichst viele Parteien aus den
Fraktionen der EKR (Europäische Konservative und ReformerInnen) und der EFDD
(Europa der Freiheit und der direkten Demokratie) zur ENF hinüberzuziehen.

Realistisch scheint eine „neue“
ENF-Fraktion, welche die Grünen und die Liberalen (ALDE) hinter sich lässt.
Damit hätte sich über die Wahlen 2014 und 2019 eine neue rechtspopulistische
Fraktion etabliert. Das soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die
RassistInnen und NationalistInnen durch innere Gegensätze zerrissen sind – sei
es bei der Finanzpolitik wie auch bei dem Verhältnis zu Russland, was speziell
für osteuropäische Parteien einen Knackpunkt darstellt.

Die bürgerlichen
ArbeiterInnenparteien

Auf der Iberischen Halbinsel
erschien die Farbe Rot auf der Wahlkarte. Gemeinsam mit den Niederlanden waren
Portugal und Spanien die einzigen Staaten, in denen die etablierte
Sozialdemokratie Siege einfahren konnte, zum Teil auch auf Kosten dortiger
Linksparteien wie Podemos. In Portugal vermochten auch der Linksblock und die KP
zuzulegen.

Auf der Pyrenäenhalbinsel konnte
sich die Sozialdemokratie als soziale Kraft für die EU und als soziale,
demokratische und fortschrittliche Alternative zu den Rechten präsentieren und
im Gegensatz zu fast allen anderen Staaten Hoffnungen der ArbeiterInnenklasse
auf sich ziehen. Jetzt kann sie noch als „Zünglein an der Waage“ auftreten, mit
den iberischen Regierungschefs ein gutes Ergebnis für die Kommission
aushandeln. Zu mehr wird es nicht reichen.

Verloren hat nicht nur die
Sozialdemokratie, sondern auch die europäische Linkspartei. Sie verlor  10 Sitze, speziell aufgrund der
Verluste der deutschen Linkspartei und von Podemos. Doch auch die geschwächte
Fraktion vermag keine gemeinsame europäische Strategie zu formulieren. Zwischen
einer nationalstaatlich orientierten Ablehnung der EU wie bei FI (La France
insoumise), welche auch von Podemos, der schwedischen Linkspartei und vom
portugiesischen Linksblock mitgetragen wird, und Reformhoffnungen wie sie z. B.
von Syriza und der Linkspartei in die EU transportiert werden, war und ist die
europäische Linkspartei nicht in der Lage, eine antikapitalistische Alternative
zur EU zu vertreten, geschweige denn dafür zu mobilisieren.

Zusammen mit den europäischen
Gewerkschaften waren diese reformistischen Kräfte nicht in der Lage, auch nur
zu einer ihrer Forderungen zu mobilisieren oder gar sichtbar zu werden. Die
Demonstrationen unter dem Motto „Ein Europa für Alle – Deine Stimme gegen
Nationalismus!“ wurden eben nicht durch Forderungen und Aktionen der ArbeiterInnenbewegung
begleitet bzw. aufgewertet, sondern hier wurde das Feld vielerorts NGOs wie den
Grünen überlassen.

Große Teil der ArbeiterInnenklasse
haben sich von „ihren“ Parteien abgewandt und werden von diesen Mobilisierungen
mitgerissen. Sei es durch die rechtspopulistische und nationalistische Rhetorik
gegen die EU oder durch die linksliberalen und grünen Versprechungen in die
Reformierbarkeit der EU wie auch die ökologische Frage. Das Versagen der
Gewerkschaften, der Sozialdemokratie und der Linksparteien führt dazu, dass
sich auch jener Teil der Lohnabhängigen und der Jugend, die Nationalismus und
Rechtsruck entgegentreten, den Grünen und anderen links-bürgerlichen Kräften
zuwenden.

Was tun?

Für eine radikale,
antikapitalistische und/oder sozialistische Linke ist dies eine immense
Herausforderung. Wir müssen eine klare klassenkämpferische Alternative zu
dieser EU präsentieren, dürfen weder den populistischen wie reformistischen
Illusionen hinterherlaufen, sondern brauchen eine Orientierung auf europäischen
Klassenkampf.

Wenn „wir“ real Rechtsruck,
Austerität, Neoliberalismus dieser EU die Stirn bieten wollen, dann brauchen
wir eine Perspektive für ein sozialistisches Europa und müssen mit den
reformistischen und populistischen AkteurInnen brechen. Dies ist die Aufgabe,
unabhängig von den Wahlergebnissen. Um eine solche revolutionäre Alternative
aufzubauen, braucht es freilich nicht nur Kampf und Bewegung – es bedarf vor
allem eines Aktionsprogramms, um die Lohnabhängigen europaweit zu mobilisieren.

Anhang: Krise der Großen Koalition setzt
sich fort

In Deutschland haben die Grünen
mit 20,5 % die SPD deutlich auf Platz 3 verwiesen (15,5 %) und damit
die nächste Krise der GroKo losgetreten. Während sich die Union noch über Platz
1 freuen darf und bei den Wahlen in Bremen die SPD als stärkste Partei ablösen
könnte, werden in der Sozialdemokratie wiederum Personaldebatten geführt.
Partei- und Fraktionsvorsitzende Nahles stellt die Vertrauensfrage in der
Fraktion. Dies kann die geschwächte SPD in ihre nächste existenzielle Krise
stürzen und somit auch die GroKo erneut gefährden.

Dass die CDU-Vorsitzende „AKK“
gleichzeitig eine Zensurdebatte aufgrund eines Youtube-Videos losstößt, zeigt
den krisenhaften Moment dieser Koalition auf.

Dass die Linkspartei viele ihrer
Stimmen an die Satire-Partei „Die Partei“ verloren hat, ist schon nicht mehr
lustig, sondern zeigt, dass diese „Partei“ teilweise sehr deutlich und
provokant sich für die Seenotrettung eingesetzt hat, während die Linkspartei
das Thema Antirassismus und Migration eher beiseitelegte.

Die AfD hat deutlich weniger
zugelegt als selbst erhofft (von 7 auf 10 %), dafür allerdings in
Brandenburg und Sachsen die Wahl vor der Union gewonnen. Dies sind die
Vorzeichen für die Landtagswahlen im Herbst in diesen beiden Ländern und
Thüringen.