Tarifergebnis bei der BVG: Ein Happen mehr und eine verpasste Chance

Leo Drais, Infomail 1051, 21. April 2019

Nach dem 24-Stunden-Streik bei der Berliner
Verkehrsgesellschaft (BVG) am 1. April ging ver.di zügig zur Einigung mit dem
Arbeit„geber“Innenverband KAV (Kommunaler Arbeitgeberverband) über. Am 4. April
wurde das Ergebnis bekannt. Herausgekommen ist eine Lohnsteigerung von
mindestens 8 % – die war dringend nötig und doch nicht ausreichend und
relativiert sich bei einer Betrachtung des Gesamtabschlusses.

Während die Laufzeit des Manteltarifes bis zum Juni nächsten
Jahres reicht, gilt der Entgelttarifvertrag bis Dezember 2020, also fast zwei
Jahre, womit sich die 8 Prozent deutlich relativieren. Die
Entgeltgruppenordnung läuft bis Ende 2023. Das Weihnachtsgeld wurde auf 1600
Euro angehoben. Die Unterschiede zwischen den Entgeltgruppen wurden teilweise
verkleinert, wenn auch nicht aufgelöst. Die Zusatzauszahlung für
Gewerkschaftsmitglieder wurde nicht durchgesetzt.

Schon vor dem Ausstand am 1. April hatte ver.di bereits
bekanntgegeben, dass sie die Forderung der Arbeitszeitverkürzung um 2,5 Stunden
auf 36,5 Stunden pro Woche fallen lässt – obwohl dies für viele Beschäftigte
die Kernforderung bezüglich einer Verbesserung des Manteltarifs darstellte, um so
eine dringend nötige Entlastung durchzusetzen. Auch Pausen gelten weiterhin
nicht als Teil des Arbeitstages. So wurde den VerhandlungsführerInnen und der
BVG-Spitze bereits signalisiert, dass die ver.di-Verantwortlichen einen
Arbeitskampf  – wie gewohnt – nicht
auf die Spitze treiben und auch nicht zum unbefristeten Vollstreik übergehen
wollen. Dabei wäre genau der nötig gewesen! Den ganzen Tag im Stadtverkehr,
Abfertigung im Minutentakt und dann noch die allseits bekannten
Betriebsstörungen – kein Wunder, dass viele VerkehrsarbeiterInnen von sich aus
in Teilzeit wechseln.

Der Arbeitskampf

Insgesamt gab es drei Arbeitsniederlegungen, was an sich
schon mal ein Fortschritt war, denn der letzte Streik der BVGlerInnen lag
bereits 7 Jahre zurück. Zurück lag und liegt die BVG mit der Tochter Berlin
Transport (BT) auch bei der Vergütung. Im Vergleich mit anderen
InfrastrukturbetreiberInnen Berlins wird das deutlich: LokführerInnen bei der
S-Bahn Berlin (Tochter der DB AG) verdienen rund 930 Euro Grundgehalt mehr im
Monat – nicht ohne Grund wechseln einige FahrerInnen zur S-Bahn, die selbst an
Personalmangel leidet. MüllbeseitigerInnen bei der Berliner Stadtreinigung
(BSR) verdienen bis zu 3500 Euro brutto. Damit liegen die FahrerInnen der BVG
bei jetzt 2685 Euro brutto noch immer zurück.

Der Arbeitskampf selbst ging nie über das Stadium von
Warnstreiks hinaus. Der erste Streik am 15. Februar umfasste die Frühschicht in
allen drei Bereichen Bus, Tram, U-Bahn. Der zweite Streik (15. März) war
lediglich ein Teilstreik der BusfahrerInnen. Zum besagten letzten Streik am 1.
April wurde wieder in allen Bereich mobilisiert.

Den Beschäftigten fehlte es sicher nicht an Kampfkraft und
Entschlossenheit, um noch deutlich mehr rauszuholen. Über die Jahre des
Überstundensammelns, der Verschlechterung der Qualität im ÖPNV und steigender
Lebenshaltungskosten – in Berlin insbesondere die Miete – hat sich unter den
ArbeiterInnen viel Wut angestaut. Zudem war trotz der massiven Auswirkungen auf
die ganze Stadt eine gewisse Solidarität unter der Bevölkerung gegeben. Selbst
bürgerliche Blätter, normalerweise jederzeit bereit, gegen streikende
LokführerInnen zu hetzen, hielten sich im Zaum und rechneten sogar vor, wie
viel weniger eine BVGlerIn im Vergleich zu ihren KollegInnen andernorts
verdient (Berlin vor dem Arbeitskampf: 2270 Euro brutto, Bayern 2836 Euro
brutto).

Es stellt sich also die Frage, warum ver.di den Arbeitskampf
nicht eskalierte und zum Vollstreik überging. Warum führte ver.di den zweiten
Streik so inkonsequent und mobilisierte nur die BusfahrerInnen? So konnten
viele auf U-Bahn und Tram ausweichen, es wurde so die eigene Aktion deutlich
geschwächt.

Die Antwort ist, dass das BürokratInnenteam um
ver.di-Verhandlungsführer Jeremy Arndt nicht die Kontrolle über den Streik verlieren
wollte und die Warnstreiks nur als Mittel betrachtete, einen etwas besseren
Kompromiss zu erreichen, der den Senat nicht zu sehr schmerzt. Schon eine
Urabstimmung über einen Vollstreik war zu viel. So wurde etwas gekämpft, ein
bisschen Druck und Wut abgelassen und die Belegschaft mit einigen Häppchen
beruhigt.

Tatsächlich steckt ver.di beim BVG-Streik in einem
Widerspruch. Politisch ist die Gewerkschaftsführung eng mit Linkspartei und SPD
verbunden. Diese sind aber als Teil der Landesregierung und in diesem
Arbeitskampf auf Seiten des/r Arbeit“geber“In, dem/r die BVG gehört. SPD und
Linkspartei schauen auf den Landeshaushalt und haben die Schuldenbremse im
Nacken. Klar weiß das auch der ver.di-Apparat. So gibt sich Arndt dann auch
zufrieden: „Der Abschluss kann sich sehen lassen, da der neue Tarifvertrag
einen deutlichen Schritt im bundesweiten Vergleich nach vorne macht.“ Bloß
keine zu großen Schritte machen und den Gehaltsrückstand zu anderen FahrerInnen
auf einmal aufholen …

Gewerkschaften, Senat und die Verkehrswende

Der Streik hätte das Potential gehabt, auch politische
Fragen aufzuwerfen. Einige BVG-Beschäftigte machten deutlich, dass sich der
Streik nicht gegen die BerlinerInnen richtet, sondern vielmehr auch in ihrem
Interesse ist. Eine höhere Entlohnung der FahrerInnen macht diesen Beruf
attraktiver, eine Arbeitszeitverkürzung erhöht die Aufmerksamkeit und
Ausgeglichenheit des Betriebspersonals und damit die Qualität des Berliner
ÖPNV.

Die Arbeitsqualität im ÖPNV ist ein relevanter Punkt für die
Umsetzung eines anderen, momentan brennenden Themas: Zeitgleich mit dem
Tarifkampf nahm die Umwelt-SchülerInnenbewegung „Fridays for Future“ massiv an
Fahrt auf. Viele der Jugendlichen thematisieren korrekterweise die Wichtigkeit
der sogenannten Verkehrswende als Teil des Kampfes gegen den menschengemachten
Klimawandel. SPD, Grüne und Linkspartei haben nicht gezögert, „Fridays for
Future“ in Worten zu unterstützen. Gleichzeitig verschleppen sie eben jene
„Verkehrswende“. In Berlin beschlossen sie zwar den Ausbau von U-Bahn und Tram
für 28 Milliarden Euro, aber die Umsetzung soll sich bis 2035 hinziehen. In
Brandenburg wurde vor einigen Jahren von SPD und DIE LINKE dem Ausbau des
Braunkohletagebaus Welzow zugestimmt. Die Versuche von den beiden bürgerlichen
ArbeiterInnenparteien, Umweltschutz, Belange der ArbeiterInnen und die Zwänge
von Kapital und Staatshaushalt unter einen Hut zu bringen, führen bestenfalls
zu Halbherzigkeiten wie z. B. der, dass man zwar perspektivisch,
irgendwann aus der Braunkohleverstromung raus und irgendwie auch einen besseren
ÖPNV will. In der Regel führt diese Politik aber dazu, dass vor dem Willen des
Kapitals eingeknickt wird. So wird dann schon mal zugesichert, dass die Profite
der Kohleindustrie oder des Automobilsektors gerettet und, wenn nötig, durch
die SteuerzahlerInnen, sprich die ArbeiterInnen, bezahlt werden. Freilich dient
als Rechtfertigung für diese kapitalhörige Politik die Sicherung von
Arbeitsplätzen und die Standortsicherheit Deutschlands, die in der Realität jedoch
auch noch abgebaut werden, statt gleichwertige und gleich gut bezahlte
Ersatzarbeitsplätze zu schaffen.

Es ist wichtig, diese politische Dimension zu begreifen. Die
Gewerkschaften des DGB arbeiten dabei auch noch mitunter direkt gegeneinander.
Ver.di und EVG sollten ein Interesse daran haben, den öffentlichen Personennah-
und Schienengüterverkehr zu stärken. Die bürokratische Führung der IG Metall
hat demgegenüber aufgrund ihrer Nähe zu den Bossen von Daimler, VW und Co. ein
Interesse daran, die Profite der PKW- und LKW-Industrie zu sichern. Diese
Widersprüchlichkeit schlägt sich dann eben auch in den Parteien der
ArbeiterInnenbewegung nieder.

Aus dem Kampf lernen

Warum diese thematischen Bezüge zu Umweltschutz und
Senatspolitik? Weil es unserer Meinung nach höchste Eisenbahn (oder
Straßenbahn) ist, aus der scheinbar ewig währenden Lethargie von Tarifrunden
auszubrechen und den Kampf um höhere Löhne mit politischen Forderungen zu
verbinden. Es hätte sich geradezu angeboten, gemeinsame Proteste von BVGlerInnen
und „Fridays for Future“ durchzuführen: einfach die SchülerInnen mit den
bestreikten Fahrzeugen vor den Schulen abholen, vor den Bundestag fahren und
geschlossen demonstrieren.

Freilich hätte es nicht nur gemeinsame Aktionen, sondern
auch gemeinsame Forderungen gebraucht. Diese hätten nicht bei bloßen
Tarifforderungen stehen bleiben dürfen, sondern eine politische Ebene einnehmen
müssen. Eckpunkte wären:

  • Keine Gehalterhöhung auf Kosten anderer! Gegen jede Ticketpreiserhöhung, die durch höhere Gehälter von BVGlerInnen begründet wird – im Gegenteil! Für einen kostenlosen ÖPNV und Berufsverkehr für ArbeiterInnen, SchülerInnen und StudentInnen, bezahlt durch eine massive Besteuerung der Profite von Automobil-, Kohle-, und Flugzeugindustrie!

  • Planmäßige Umstellung der Stromversorgung für Tram und U-Bahn auf regenerative Energie! Für einen durch ArbeiterInnen geplanten und demokratisch kontrollierten, organisierten Ausstieg aus fossiler und atomarer Stromerzeugung!

  • Für die Verkehrswende in unseren Städten! Massiver Ausbau von S-Bahn und Straßenbahnen in Berlin – kontrolliert und demokratisch geplant durch die ArbeiterInnen von BVG und DB sowie Ausschüsse von Fahrgästen und PendlerInnen!

  • Gegen jede Privatisierungsversuche und Auslagerung von ÖPNV! Ausgelagerte Buslinien wieder in die Hand der BVG!

Es wäre aber nicht nur darum gegangen, die Verbindung zu den
SchülerInnen zu suchen. Eine weitere wichtige Lehre aus vergangenen Kämpfen
besteht darin, dass wir für eine klassenkämpferische Neuausrichtung der
Verkehrsgewerkschaften in ver.di, GdL und EVG in Form von oppositionellen
Strukturen gegen die Apparatschiks kämpfen müssen.

Die S-Bahn Berlin – ihrerseits
Tochter der Deutschen Bahn AG und daher nicht Teil der Tarifverhandlungen
zwischen ver.di und BVG – hatte im Rahmen der Streiks Betriebsreserven
mobilisiert, um deren Auswirkungen abzufedern. Hier wären die
EisenbahnerInnengewerkschaften EVG und GdL sowie die Betriebsräte gefragt,
diesen Streikbruch zu verhindern. So wirkt die Grußbotschaft an die BVG-ArbeiterInnen
in der aktuellen Ausgabe der EVG-Zeitung fast schon zynisch angesichts der
Tatsache, dass nicht einmal die Zustimmung zu den Extrafahrten der S-Bahn
verweigert wurde. Dieser Streikbruch durch die S-Bahn Berlin wird von der EVG
nicht einmal erwähnt. Immerhin konnten die Beschäftigten bei BVG und BT den
Streikbruch im eigenen Unternehmen teilweise bekämpfen, u. a. durch
Streikposten in den Busdepots – ein wichtiger Teilerfolg!

Die Lehre ist aber, dass die
Widersinnigkeit gegenseitigen Streikbruchs von Beschäftigten desselben Sektors
und die Untätigkeit, diesen zu verhindern, darauf verweist, wie notwendig der
Kampf für eine Transport- und Logistikgewerkschaft ist, die alle im Sektor
Beschäftigen umfasst und demokratisch von diesen kontrolliert wird statt durch
Vorgaben der BürokratInnen. So wäre es denn auch möglich, gemeinsam zu
streiken, statt getrennt zu kämpfen oder die Aktionen der anderen faktisch zu
unterlaufen – ansonsten fährt beim nächsten S-Bahn-Streik die BVG oder
umgekehrt. Die Beschäftigten sollten bei künftigen Streiks – womöglich schon
2020 – eigene demokratische Basisstrukturen aufbauen und die Kontrolle über den
Streik übernehmen. Sie wählen die Kampfmittel, die Länge des Streiks, bestimmen
über die Forderungen, wählen und kontrollieren ihre VerhandlungsführerInnen,
indem sie Rechenschaft von ihnen verlangen. Jede künftige Annahme neuer
Tarifverträge bedarf einer vorherigen Zusstimmung durch die Belegschaft.

Letztlich gilt es, eine
internationale demokratische Gewerkschaft aller Transport- und
LogistikarbeiterInnen zu erkämpfen, die die oben aufgeführten politischen
Forderungen erhebt und die Kämpfe über Ländergrenzen hinweg zusammenführt, denn
in letzter Konsequenz ist die Verkehrswende – so wie der Klimawandel und der
Kampf dagegen – eine internationale Angelegenheit!