Bolsonaros Rentenreform: Resiste Brasil!

Markus Lehner, Neue Internationale 236, April 2019

Seit Anfang des
Jahres ist Jair Bolsonaro Präsident Brasiliens. Mit rechtsextremen Sprüchen
gegen Frauenrechte, Genderpolitik, andersfarbige Unterklassen, mit einer
gewaltbereiten Anhängerschaft und seiner Bewunderung für den
„antikommunistischen“ Terror der einstigen Militärdiktatur war Bolsonaro in der
brasilianischen Politik als rechter Außenseiter bekannt geworden. Kaum jemand
hätte noch vor einem Jahr gedacht, dass er Präsident werden würde. In Ermangelung
sonstiger bekannter, nicht der Korruption beschuldigter KandidatInnen
entschieden sich Eliten und Militärs schließlich jedoch, gerade auf diese Karte
zu setzen.

Durch eine
schwere Wirtschaftskrise gebeutelt und durch Blockaden im schwerfälligen politischen
System bei jeglichen größeren „Reformvorhaben“ gescheitert, entschied man sich
für einen Kandidaten, der für den Angriff auf die Linke und die organisierte
ArbeiterInnenbewegung steht. Letztlich gewann Bolsonaro mit dem Versprechen der
„Säuberung“ des korrupten Systems und der Wiederbelebung der daniederliegenden
Wirtschaft. Nichts kann jedoch Bolsonaros Haltung zur ArbeiterInnenbewegung
besser zusammenfassen als sein (auch nach der Wahl wiederholter) Spruch: „Die
brasilianischen Arbeiter müssen sich entscheiden: Arbeit haben oder Rechte
haben“. Ganz in diesem Sinn sieht er Gewerkschaften als die größte Bedrohung
für eine „gesunde Wirtschaft“.

Gruppierungen im
Regime

Kurz: Neben der
reaktionären Bildungs-, Kultur-, Frauen-, Umweltpolitik etc. trägt auch
Bolsonaros Sozial- und Arbeitsmarktpolitik deutliche Elemente faschistischer
Politik. Allerdings ist Bolsonaro nicht „allein zu Hause“ in Brasilia. Ein
Großteil seines Kabinetts besteht aus (Ex-)Generälen, die aufs Engste mit der
„Elite“ von Industrie und Agro-Business verbunden sind. Zusätzlich wird die
Wirtschaftspolitik von Paulo Guedes und seiner ultra-liberalen Bänker-Truppe
bestimmt. Diese beiden (nicht immer harmonisch zusammenarbeitenden) Kräfte
setzen Bolsonaro enge Handlungsspielräume. Es gibt viele Gerüchte, dass er bei
weiteren Eskapaden schnell durch seinen Vizepräsidenten (einem der Generäle in
der Regierung) ersetzt werden könnte. Außerdem hat Bolsonaro auch die
ultrafundamentalistischen EvangelikalInnen in die Regierung geholt, was vor allem
in der Familien- und Bildungspolitik für eine reaktionäre Wende sorgt, die auch
in der liberalen Öffentlichkeit Protest auslöst. Die Verschärfung des sowieso
schon sehr restriktiven Abtreibungsrechts hat in den letzten Monaten zu einer
starken Protestwelle nicht nur der Frauenbewegung geführt.

Schließlich
fehlt Bolsonaro eine definitive Mehrheit im Kongress, der aus einer Vielzahl
von Parteien besteht. Wie jede Regierung muss er sich dort in langwierigen
Verhandlungen Mehrheiten organisieren – und scheiterte dort bisher bei vielen
seiner Vorhaben kläglich. Am deutlichsten wird dies wieder einmal bei der
Rentenreform, die als das wichtigste Anliegen jeder neoliberalen Wende in
Brasilien angesehen wird. Die hohe Verschuldung des Landes führt zu hohen Zinsraten,
die zusammen mit den Einbrüchen beim Export die wirtschaftliche Wende, die der
„Messias Bolsonaro“ versprochen hatte, weiterhin nicht mal im Ansatz erkennen
lassen. Da das ineffektive Rentensystem etwa ein Drittel der öffentlichen
Ausgaben ausmacht, wird die Rentenreform als das A und O des Erfolgs jeder
Regierung angesehen. Wie es der Regierungssprecher diese Woche erklärte: „Wir
haben zwei Alternativen: entweder Zustimmung zur Rentenreform oder diese
Regierung fällt“.

Die von Guedes
ausgearbeitete Reform stellt die übliche neoliberale Lösung des Problems auf
Kosten der sozial Schwachen dar, die auch bisher nicht vom System profitiert
haben. Einerseits soll das System privatisiert, in eine kapitalgedeckte Rente
umgewandelt werden. Andererseits soll das Mindestrenteneintrittsalter soweit
angehoben werden, dass dabei zumindest eine Mindestrente herauskommt (was bei
den GeringverdienerInnen zum Arbeiten bis ins 70. Lebensjahr führen würde).
Schon in Chile war die Kapitalrente das „Prunkstück“ der neoliberalen
Junta-Politik – und wird dort gerade wegen der Probleme bei den unteren
Einkommen wieder abgeschafft.

Massiver Angriff

Es ist klar,
dass die geplante Reform einen massiven Angriff auf die Existenzgrundlagen von
Millionen ärmerer BrasilianerInnen verkörpert. Sie ist auch nicht das, wofür
Bolsonaro und seine Partei gewählt worden waren (die Rentenreform war bei ihm
kein Wahlkampfthema). Auch im Kongress will sich ein größerer Teil auch der
konservativen Abgeordneten nicht mit diesem unpopulären Thema „belasten“. Da
das Gesetz im Verfassungsrang eine Vierfünftel-Mehrheit im Kongress benötigt,
reichen wenige Stimmen über die „Linke“ im Parlament hinaus, um die Reform zu
blockieren. Dies erklärt die Besorgnis des Regierungssprechers und die große
„Geschäftigkeit“, die gerade mal wieder im Kongress herrscht, um irgendwie doch
noch eine Mehrheit zu organisieren.

Wichtiger als
diese parlamentarischen Blockaden ist jedoch der wachsende Widerstand auf der
Straße. Die Enttäuschung auch der irregeführten WählerInnenschaft wächst: von
wirtschaftlicher Erholung keine Spur; auch die neue Regierung ist wieder in
Korruptionsfälle verstrickt (inklusive der Familie Bolsonaros). Der
Bolsonaro-Clan ist auch offensichtlich in ein jüngst aufgedecktes kriminelles
Netzwerk innerhalb der Polizei von Rio verwickelt, das die Ermordung der linken
Stadträtin Marielle Franco organisiert hat. Per „Gesetz zur Finanzierung der
Gewerkschaften” (MP873) soll diesen der Geldhahn abgedreht werden – und nun
auch noch dieser massive soziale Angriff in Gestalt der Rentenreform! Viele der
verschiedenen Proteststränge gegen das neue Bolsonaro-Regime bündeln sich daher
heute im Protest gegen diese.

Bereits nach der
Verkündung des Reformgesetzes haben sich alle großen Gewerkschaftsdachverbände
(die oft miteinander konkurrieren) auf gemeinsamen Widerstand geeinigt. Am 22.
März fand der erste große Protesttag statt, an dem Hunderttausende im ganzen
Land gegen Bolsonaros Vorhaben auf die Straße gegangen sind. Selbst die
Gewerkschaftsverbände waren über die große Beteiligung überrascht. Vielfach
haben sich inzwischen lokale Widerstandskomitees (portugiesisch: Resistência)
gebildet, die eine Einheitsfront aus Gewerkschaften, MST (Landlosenbewegung),
MTST (Obdachlosenbewegung), linken Parteien und verschiedenen sozialen
Bewegungen darstellen. Die CUT (Einheitszentrale der ArbeiterInnen) als größter
Gewerkschaftsdachverband spricht inzwischen von der Vorbereitung des
Generalstreiks gegen die Rentenreform. Ob es zu weiteren Aktionstagen oder
gleich zu Streikaktionen kommen wird, wird stark von der Entwicklung der
Basisorgane des Widerstands abhängen.

Widerstandskongress!

Unsere
GenossInnen von der Liga Socialista treten dafür ein, in diesen
Widerstandskomitees mit allen linken Organisationen und den Gewerkschaften
zusammenzuarbeiten und dort für den unbefristeten Generalstreik einzutreten.
Sie kritisieren sowohl die Pläne, die Aktionen auf ein- bis zweitägige Streiks
zu beschränken, wie auch das sektiererische Verhalten bestimmter linker
Gruppen, aus den Komitees auszutreten, da CUT und PT (ArbeiterInnenpartei) dort
auch die Forderung zur Befreiung von Lula als zentrale Forderung mit
einbeziehen. Auch wenn wir die Politik der PT, speziell in ihrer
Regierungszeit, kritisieren, sehen wir die Gefangennahme des Ex-Präsidenten
Lula da Silva als einen klaren politischen Willkürakt, der die ganze politische
Linke treffen soll. Daher halten wir die Kampagne „Lula Livre“ für
unterstützenswert. Auch sozialdemokratische Ex-Präsidenten können politische
Gefangene werden – für deren Befreiung wir dann auch eintreten müssen.

Angesichts der
konzentrierten Angriffe auf soziale Rechte und die Existenz von Gewerkschaften
halten wir es für notwendig, dass die ArbeiterInnenbewegung sich im geeinten
Widerstand organisiert. Wie am Ende der Militärdiktatur ist es wieder
notwendig, einen umfassenden Widerstandskongress der Gesamtklasse zu
organisieren (1983 wurde die CUT auf dem „Congresso Nacional de Classe
Trabalhadora – CONCLAT“, dem „nationalen Kongress der ArbeiterInnenklasse“
gegründet). Es ist klar, dass es heute wieder einen COCLAT braucht, wie es auch
viele in der CUT diskutieren. Dabei muss ein politisches Programm der
ArbeiterInnenklasse als Antwort auf die menschenverachtende Politik der
brasilianischen Eliten diskutiert werden. Für uns ist klar, dass ein solches
Programm beim Kampf gegen die bestehenden Angriffe beginnen und dieser zur
sozialistischen Revolution auf Grundlage der in ihm entstehenden demokratisch
kontrollierten Kampforgane der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten
ausgeweitet werden muss.

International
müssen wir diesen Widerstandsprozess in Brasilien mit aller Kraft unterstützen.
Brasilien ist neben Venezuela heute ein Brennpunkt des internationalen
Klassenkampfes in Lateinamerika, der für dessen Richtung weltweit
mitentscheidend ist. Unterstützt daher auch in Deutschland die vielen lokalen
Initiativen zur Solidarität mit dem Widerstand in Brasilien! So hat sich in
Berlin ein großes Solidaritätskomitee mit vielen Arbeitsgruppen und Initiativen
gebildet unter dem Titel „Resiste Brasil – Berlin“. Kontaktaufnahme ist auch
über die GAM möglich. „Resiste Brasil – Berlin“ organisiert am 7.4. um 16 Uhr
auf dem Hermannplatz in Berlin eine Protestkundgebung zum ersten Jahrestag der
Verhaftung von Lula – eine Aktion, die weltweit in allen großen Städten und
natürlich besonders auch überall in Brasilien zum Protest gegen die rechte
Willkürherrschaft in Brasilien stattfinden wird.