100 Jahre Münchner Räterepublik

Jürgen Roth, Neue Internationale 236, April 2019

Am 7. November 1918 wurde der König
davongejagt. Spontan entstand ein ArbeiterInnen-, Soldaten- und
Bauern-/Bäuerinnenrat. Bayern wurde zum „Volksstaat“ erklärt. Die provisorische
Regierung bestand aus 3 unabhängig-, 4 mehrheits-sozialdemokratischen und einem
parteilosen Minister. Ministerpräsident war Kurt Eisner (USPD). Sie stützte
sich auf einen provisorischen Nationalrat, in dem die Räte neben den alten
Landtagsfraktionen und diversen Berufsorganisationen vertreten waren.

Die USPD verfolgte auch in München ihre
bekannte Linie, die Räte in die zukünftige Verfassung zu inkorporieren. Die
Anordnung „Organisation und Befugnisse der Arbeiterräte“ vom 17.12.1918 gestand
den Räten ausdrücklich keine Vollzugs- oder Kontrollgewalt zu. Im Gegenteil,
sie verfügte noch die Trennung der ArbeiterInnen- von den Soldatenräten,
unterstellte die Bauern-/Bäuerinnenräte dem Innenministerium und wies den
ArbeiterInnenräten untergeordnete Amtspflichten als Hilfsorgane der Bürokratie
zu. Justiz, Polizei und Beamtenapparat blieben intakt.

Die MehrheitssozialdemokratInnen hatten mit
Unterstützung aller GegenrevolutionärInnen die Landtagswahlen am 12. Januar
1919 durchgesetzt und die zentristische Verzögerungstaktik Eisners durchkreuzt.
Die USPD verlor dabei enorm. Die MSPD wurde zweitstärkste Partei. Die KPD
beteiligte sich nicht.

Der Zusammentritt des Landtags verzögerte
sich angesichts der ungeklärten Lage, solange die Machtfrage noch nicht
entschieden war. In Bayern war die nicht demobilisierte Reichswehr immer noch
die bewaffnete Macht. Versuche der Bildung von Bürgerwehren hatten die
A&S-Räte verhindert. Nur die Republikanische Soldatenwehr in München unter
Aschenbrenner hatte sich für die Zwecke der alten Ordnungsparteien als
zuverlässig genug erwiesen.

Die Ermordung Eisners

Der populärste Mann Bayerns wurde am
21.2.1919 erschossen, als der Landtag zusammentreten sollte. Der Attentäter
Graf Arco-Valley war Reaktionär und mit Innenminister Erhard Auer (MSPD)
befreundet. Der Zorn der Massen schlug die Abgeordneten in die Flucht. In
mehreren Städten traten die ArbeiterInnen in den Generalstreik. Der durch
VertreterInnen der SPD und Gewerkschaften neu konstituierte Zentralrat übernahm
die Regierungsgeschäfte. Levien (KPD) u. a. schieden daraufhin aus ihm aus. Der
ZR kam zu einer „Grundlage der Einigung“: die Räte sollten verfassungsmäßig
verankert werden, ein sozialistisches Ministerium entstehen, das bis zur neuen
Verfassung gemeinsam mit einem/r vom Bauern-/Bäuerinnenbund zu stellenden
LandwirtschaftsministerIn regieren sollte. Je 1 Mitglied der 3 Rätesparten
sollte beratendes Stimmrecht im Ministerrat genießen, das stehende Heer durch
eine republikanische Schutzwehr ersetzt werden. Die „Verfassungsmäßigkeit der
Räte“ – abhängig von der Zustimmung durch die große Mehrheit der
GegenrevolutionärInnen im Landtag – war der Köder für die Massen.

Der Rätekongress

Er tagte vom 25.2. bis zum 8.3.1919. Neben
endlosen Debatten versuchten sich SPD und USPD auf einen Weg aus dem Schwebezustand
heraus zu einigen, in dem der Rumpf der alten Regierung neben dem ZR regierte
(Nürnberger Kompromiss). Der Landtag wählte am 17. März eine neue Regierung
unter Hoffmann (MSPD). Ausgestattet mit weitreichenden Befugnissen und
Rückendeckung durch die ZR-Mehrheit hing sie weiter in der Luft. Die
bürgerlichen Parteien duldeten sie als Bollwerk gegen den Bolschewismus.

Die SPD wollte zunächst eine offene
Koalition mit den Bürgerlichen vermeiden, um die Massen nicht an Unabhängige
und KommunistInnen zu verlieren. Außer Versprechen über „Vorbereitungen zur
Sozialisierung“ hatte Hoffmanns Ministerium aber nichts anzubieten.

Die Riesenstreiks im Ruhrgebiet, in
Mannheim, Stuttgart, die drohenden Ausstände in anderen Gebieten, die Ausrufung
der ungarischen Räterepublik, militärische Erfolge der sowjetischen Roten Armee
wirkten sich auch in Bayern aus. Die Sympathie mit den KommunistInnen, an deren
Spitze der Anfang März nach München entsandte Leviné stand, nahm zu, wenn auch
die Partei nicht in gleichem Tempo ausgebaut werden konnte.

Die Scheinräterepublik

Am 3.4. forderte eine Versammlung der MSPD
(!) in Augsburg die Ausrufung der Räterepublik. Der „linke“ Sozialdemokrat und
ZR-Vorsitzende Niekisch fuhr mit dieser Forderung ins Münchner
Kriegsministerium. Einige Minister waren sich bereits mit den Führungen der
MSPD, USPD und den AnarchistInnen einig. SPD, USPD und KPD sollten paritätisch
die MinisterInnen stellen, die Regierung Hoffmann werde sich damit abfinden.
Die KommunistInnen schlossen prinzipiell die Zusammenarbeit mit der MSPD in
einer Regierung aus, aber auch eine am grünen Tisch künstlich geschaffene
Räterepublik ohne Massenaktion. Die Verhältnisse in Deutschland und
insbesondere Bayern seien dafür nicht reif. Sie wurden als VerräterInnen am
Proletariat denunziert. Um vorher noch Nordbayern zu gewinnen, sollte die
Proklamation der Räteherrschaft auf den 7.4. verschoben werden. Die Regierung
Hoffmann verzog sich nach Bamberg, nahm ihr wichtigstes Instrument – die
Notenpresse – mit. Ihr Kriegsminister Schneppenhorst, der in Nordbayern für die
Räterepublik trommeln wollte, fuhr nach Nürnberg und kam später mit den
Nosketruppen zurück.

Der Erklärung der KPD lag folgende
Einschätzung zugrunde: für AnarchistInnen, Unabhängige und
MehrheitssozialistInnen verkörperte die Räterepublik nicht etwas grundsätzlich
Neues, eine Revolution der Gesellschaft, sondern einen rein formellen
Regierungswechsel. Die Ministerriege würde in einer bürgerlichen Republik, die
mit etwas „Räteöl“ in Form der „Mitbestimmung“ durch einzelne RäteministerInnen
gesalbt war, weiter wie bisher verfahren können.

AnarchistInnen und USPD hofften auf ein
„sozialistisches Ministerium“, das unabhängig vom Landtag würde arbeiten
können. Schneppenhorsts Verhalten bewies, dass es sich für ihn bei der Unterstützung
für die Proklamation der Räterepublik um einen Trick handelte, eine
Provokation, um alle konterrevolutionären Kräfte aufzurütteln, weiße Garden zu
bilden.

Die „Münchner Rote Fahne“ nannte die
Scheinrepublik ein „Werk abhängiger und unabhängiger Kompromissler und
phantastischer Anarchisten“. Der alte Beamten-, Polizei- und Justizapparat
blieb unbehelligt, „sozialisiert“ wurden Universität und Presse (!), letztere
aber nicht mal zensiert. Die Bankkonten der Reichen wurden erst gesperrt, als
die Frage der Lohnauszahlung drängte. Auch bei der Bewaffnung der
Arbeiterschaft wurde gestümpert; 600 Gewehre waren die ganze „bewaffnete
Staatsmacht“. Das Bürgertum wurde nicht entmachtet. Die Räteregierung wurde nur
in Oberbayern anerkannt. Die KPD erklärte trotzdem ihren festen Willen, selbst
die Scheinräterepublik gegen die Reaktion zu verteidigen.

 Die 2. Räterepublik – eine echte ArbeiterInnenregierung

Am Sonntag, dem 13. April, verhaftete die
Republikanische Schutzwehr einige Minister, besetzte öffentliche Gebäude und
überfiel eine Sektionsversammlung der KPD. Diese rief zu den Waffen. Am Abend
war der gegenrevolutionäre Putschversuch gescheitert. Betriebs- und
Kasernenräte tagten. Ein 15-köpfiger Aktionsausschuss aus SozialdemokratInnen,
Unabhängigen und KommunistInnen löste den ZR der Scheinräteregierung ab.

Die KommunistInnen beherrschten den
Ausschuss allerdings durch ihre revolutionäre Erfahrung, ihr klares Programm
für die Machtübernahme. Nicht dass sie die Aussichten für die
Überlebensfähigkeit der Rätemacht jetzt günstiger einschätzten, entschied ihren
Eintritt in die 2. Räteregierung. Die revolutionären ArbeiterInnen – gerade
erst siegreich – würden aber gegen den anmarschierenden Feind so oder so
kämpfen müssen. Wenn die KPD sich an ihre Spitze stellte, dann minimierte das
die demoralisierenden Auswirkungen einer Niederlage.

Die bewaffnete Macht ging von der regulären
auf die Rote Armee unter Kommando des Matrosen Rudolf Eglhofer über. Die
Ordnungsgewalt übten Rote Garden aus, nachdem die bürgerliche Polizei
entwaffnet wurde. Die Stadtverwaltung wurde den Betriebsräten übertragen, die
Räteregierung durch Neuwahlen der A&S-Räte bestätigt. Die bürgerliche
Justiz wurde durch ein Revolutionstribunal ersetzt. Zur Sicherung der Ernährung
wurden Beschlagnahmeaktionen durchgeführt, jede Kontenabhebung wurde
kontrolliert. Während des Generalstreiks erschienen nur die „Mitteilungen des
Vollzugsrats“, nachher die Organe der ArbeiterInnenpresse. Die bürgerliche
Presse blieb verboten. Telefon und Telegraph wurden ständig überwacht. Die
Betriebe begannen mit der Sozialisierung von unten. Auch militärisch gab es
Erfolge zu verzeichnen.

Doch die inneren Streitigkeiten mit der
USPD wuchsen. Toller, Klingelhöfer und Maenner sprachen sich vor den
Betriebsräten am 26. April gegen die KommunistInnen und für eine Kapitulation
vor der Hoffmann-Regierung aus. KPD und Rote Armee trotzten der Absetzung der
KommunistInnen durch die eingeschüchterten Räte und kämpften bis zum 3. Mai.
Dann hatten die KonterrevolutionärInnen endgültig München erobert.

KPD-Politik

Wesentliche Elemente des Bolschewismus
schlugen sich in der Politik der jungen Organisation im Unterschied z. B. zur
wesentlich stärker verankerten Bremer KPD nieder. Kritik an reformistischen,
anarchistischen, populistischen und zentristischen Konzeptionen und deren
führenden VerfechterInnen paarte sich mit flexibler Einheitsfronttaktik
(Verteidigung der 1. „Räterepublik“). Es wurde betont, dass sich die KPD nur an
einer echten ArbeiterInnenregierung beteiligen würde wie an der der 2.
Räterepublik vom 14.-27. April 2019.

Ihr gelang lediglich unter dem Druck der
Ereignisse und der Zeit nicht mehr der entscheidende nächste Schritt zu ihrem
Ziel: Etablierung einer Münchner Kommune – die Auflösung der Reste der
Reichswehr im Stadtgebiet. Sie widersetzte sich auch ihrer Abwahl durch die
Räte am 27. April und stellte die Führung der militärischen Operationen gegen
die Weißen. Die bayrische KPD hat damit mehr Weitblick und Mut, mehr
Verantwortungsbewusstsein vor der Revolution bewiesen als die ZweiflerInnen an
der Richtigkeit des Eintritts in die 2. Räteregierung in der KPD-Zentrale.

Eugen Leviné stellte nach seiner Ankunft in
München deren Politik zunächst sicher, damit die örtliche KPD keine
Abenteuerpolitik wie beim sog. Spartakusaufstand oder der Ausrufung der Bremer
Räterepublik betrieb. Andererseits schloss die lokale Organisation ebenso
richtig die Beteiligung an einer unechten, bürgerlichen ArbeiterInnenregierung
aus, wie sie die Bremer Räterepublik verkörperte.

Schwächen

Ihre Schwächen blieben wie im übrigen
Reich: unklare bzw. unzureichende Wahlberechtigungskriterien für die Räte
(Benachteiligung von Frauen, keine Beschränkung des Wahlrecht in den
Soldatenräten auf die proletarischen Mannschaftsdienstgrade), Unverständnis von
revolutionärem Parlamentarismus (Ausnutzen der Parlamentstribüne, keine
Forderung nach einer Konstituante). In der verfassunggebenden Versammlung hätte
die KPD ein Programm für die Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates
einbringen und an einen der wenigen positiven Beschlüsse des 1.
Reichsrätekongresses anknüpfen müssen, die sog. Hamburger Punkte
(disziplinarische und Kommandogewalt in der Armee bei den Räten, Wahl der
Kommandeure etc.).

Diese Schritte zur Abschaffung des
stehenden Heeres, zu einer echten Volksbewaffnung hätten nur unter einem
Räteregime, nach Aufbau und Sieg roter Arbeiterinnenmilizen eingeleitet werden
können. Die Verknüpfung der Demokratiefrage mit den Hamburger Punkten hätte ein
einigendes Band zwischen AnhängerInnen einer Rätediktatur und SPD- wie
USPD-Mitgliedern, aber auch weitverbreitetem kleinbürgerlichen Antimilitarismus
schmieden und damit den möglichen Wendepunkt in Richtung Revolution in
Permanenz in ganz Deutschland darstellen können.