Europaparteitag der Linkspartei: Zwischen Reformismus, Populismus und Illusionen

Tobi Hansen, Neue Internationale 235, Februar 2019

Vom 22. bis 24.
Februar 2019 tagt der Europaparteitag in Bonn. Nach der Spaltung der
europäischen Linkspartei (ELP) im Sommer 2018 droht die Wahlliste „Für das Volk“
um Mélenchons „France insoumise“ (FI; Unbeugsames Frankreich) und Podemos aus
Spanien die ELP (Europäische Linkspartei) ziemlich massiv Stimmen zu kosten.
Die deutsche Linkspartei wird zur diesjährigen Europawahl „noch“ geeint
antreten. Das liegt sicherlich auch am bislang eher bescheidenen Erfolg und an
geringer Präsenz von „Aufstehen“ – einem linkspopulistischen Projekt, das von
Wagenknecht und Lafontaine ins Leben gerufen wurde und nun nicht weiterkommt,
weil es einerseits als Druckmittel ihrer Galionsfiguren in der Linkspartei
fungieren, andererseits als mögliches Parteiprojekt in Reserve gehalten werden
soll. Daran droht „Aufstehen“ zugrunde zu gehen. Als Mittel, auch der
Wagenknecht-Fraktion Plätze auf der EU-Wahlliste zu sichern, dürfte es aber funktioniert
haben. Schließlich konnten sich die konkurrierenden Strömungen in Parteiführung
und Parlamentsfraktion zumindest auf eine Verteilung der Posten im Proporz
einigen.

Das bisherige
EU-Parlamentsmitglied Martin Schirdewan vertritt die Mehrheitslinie des
Vorstandes, die Spitzenkandidatin Özlem Alev Demirel aus Nordrhein-Westfalen
und Mitglied von „Aufstehen“ repräsentiert das Lager Wagenknechts.

Während der
Proporz zwischen den Flügeln der Partei – zumindest wenn es nach deren Spitzen
geht – kein größeres Problem bis zur Wahl am 26. Mai darstellen sollte, bleibt
die Frage, welche Perspektive gegen Rechtsruck, Rassismus, Militarisierung und
kommende Wirtschaftskrise die Europäische Linke vertritt. Da die deutsche
Linkspartei die stärkste und tonangebende Kraft innerhalb der ELP darstellt,
steht sie auch programmatisch und taktisch für deren Kurs.

Welches
Programm, welches Europa?

Bei der Wahlen
zum Europaparlament werden in Deutschland „links“ nur vergleichsweise schwache
konkurrierende Listen kandidiert. DiEM 25 (Democracy in Europe Movement 2025;
Bewegung für Demokratie in Europa 2025) tritt mit dem ehemaligen griechischen
Finanzminister Yanis Varoufakis als Spitzenkandidaten an. Aufgrund der
fehlenden „Sperrklausel“ für EU-Wahlen ist davon auszugehen, dass sie zumindest
den Erfolg erzielt, den letztes Mal die Satire-Truppe „Die Partei“ eingefahren
hat und vor DKP und MLPD landen wird.

Der
Programmentwurf der Linkspartei wirkt über weite Strecken wie eine Neuauflage
dessen zu den letzten Europawahlen. Er stellt einen Neuaufguss des alten,
„bewährten“ Linksreformismus dar.

Die EU in ihrer
derzeitigen Verfassung wird abgelehnt. Stattdessen fordert der Programmentwurf
einmal mehr trotzig einen „Neuanfang“ und beschwört ein soziales, ökologisches,
demokratisches, weltoffenes, friedliches, feministisches usw. usf. Europa.
Richtigerweise lehnt es die Linkspartei zwar ab, „Europa“ den Rechten und
Neoliberalen zu überlassen. Ihre Alternative kommt freilich nicht über das
Versprechen einer anderen, „entschlossenen“ links-keynesianischen
Wirtschaftspolitik hinaus, der Überführung öffentlicher Dienstleistungen und
von „Kernsektoren“ der Ökonomie in Gemeineigentum. Offen bleibt aber schon
hier, durch wen und auf welche Weise eine solche Politik durchgesetzt werden soll.
So bleibt letztlich nur die Nutzung der bestehenden Institutionen der EU und
der bürgerlichen Nationalstaaten, um auf Basis „anderer gesellschaftlicher
Mehrheiten“ „linke“ Regierungsbündnisse herbeizuführen, die sodann „soziale
Gerechtigkeit“, Ausgleich zwischen den Klassen und verschiedenen Nationen
herstellen sollen.

Vom
Klassenkampf, von der entschädigungslosen Enteignung der „Kernsektoren“, von
ArbeiterInnenkontrolle und einer planwirtschaftlichen Umgestaltung der
Wirtschaft, also vom Brechen der Macht der herrschenden Klassen, ist im
„linken“ Programm selbstverständlich keine Rede.

An diesem Punkt
handelt es sich ausnahmsweise auch um keinen Formelkompromiss der sich
bekämpfenden Strömungen der Linkspartei, von linken ReformistInnen,
RegierungssozialistInnen und PopulistInnen, sondern um einen „echten“ Konsens.
Die Marktwirtschaft als solche stellt das Programm ebenso wenig in Frage wie
den bürgerlichen Staat. Die lange Liste von sozialen, gewerkschaftlichen und
politischen Forderungen, von denen die meisten durchaus unterstützenswert sind,
stellt keine Plattform zur Mobilisierung gegen Rechtsruck und Neoliberalismus,
gegen Rassismus und Aufrüstung dar, sondern einen Wunschzettel, für den
ohnedies niemand auch nur einigermaßen ernsthaft kämpfen will.

So können die
RegierungssozialistInnen und KoalitonärInnen aus Thüringen, Berlin und
Brandenburg dem Text zustimmen, obwohl er selbst der Politik dieser
Landesregierungen widerspricht. Auch Sahra Wagenknecht und Co. finden sich mit
einem unverbindlichen Bekenntnis zu offenen Grenzen ab, wenn es heißt: „Kein
Mensch ist illegal! Wir wollen gerechte Lebensverhältnisse und offene Grenzen
für alle Menschen. Das Recht auf Bewegungsfreiheit darf nicht vom Zufall der
Geburt oder der ökonomischen Verwertbarkeit abhängig sein.“

Papier ist in
der Linkspartei bekanntlich geduldig – und ihr innerer „Flügelkampf“ nimmt
angesichts des Wahlparteitages vor allem die Form von Absprachen bei den
Listenplätzen an. Differenzen sollen dabei unter den Tisch gekehrt werden.

Auf dem Parteitag
wird wohl ein Programm angenommen werden, das am ehesten noch die Handschrift
der Vorsitzenden Riexinger und Kipping trägt, die für das gewerkschaftliche und
bewegungsorientierte Gewissen der Partei zuständig sind. Die AnhängerInnen der
Regierungsbeteiligungen und des Links-Populismus werden sich damit leicht
abfinden können. Schließlich verpflichtet das Programm zu – nichts.

Und die Linken?

Das ist auch den
„Linken“ in der Partei nicht entgangen. Thies Gleiss, Mitglied des
Bundesvorstands und der „Antikapitalistischen Linken“, fasst zum
Europaparteitag Folgendes zusammen:

„Die LINKE hat
generell Probleme, ihre Wählerinnen und Wähler zu mobilisieren, bei den
Europawahlen kommt dies besonders zum Zug.

Der Grund dafür
ist, dass die Positionen der LINKEN zur EU sehr heterogen, strategielos und
ohne politisches Projekt sind. Mehr als früher wird der Gegensatz zwischen
EU-Modell und der Wirklichkeit vorgeführt.

Wie soll es angesichts dessen, was die Menschen jeden Tag erleben, auch anders sein? Aber dieser Gegensatz wird steril und eher als akademische Synopse aufgeschrieben, die immer wieder beteuert, dass die LINKE natürlich für die EU sei, aber eben für eine andere.“ (https://www.antikapitalistische-linke.de/?p=2934)

Richtigerweise
kritisiert die AKL die Strategielosigkeit und das Fehlen eines „politischen
Projekts“. Ebenfalls wird dargestellt, wie das aktuelle Programm „Altbewährtes“
wiederholt und die Widersprüche der Lager widerspiegelt. Aber die AKL selbst
stellt dem wenig Konkretes entgegen. Irgendwie wird ein Europa „von unten“
beschworen und festgestellt, dass die Austeritätspolitik bekämpft werden soll.
Europäische Aktionstage wie der Frauenstreik 2019 werden positiv hervorgehoben.
So weit, so gut. Doch neben der Forderung eines Austrittsrechtes aus der EU und
mancherlei Mutmaßungen über die Auswirkungen des Brexits gibt es wenig
Konkretes:

„Es wäre besser,
wenn die LINKE strategisch und in ihrem Wahlprogramm sehr eindeutig die Rolle
der Anti-EU-Partei übernehmen würde. Die LINKE ist die Alternative zu den
rechten, nationalistischen Parteien, aber ebenso auch zu den
pro-kapitalistischen und Pro-EU-Parteien des bürgerlichen Establishments….

Neustart der EU, das reicht heute nicht. Selbst die EU-Kommission und die bürgerlichen Parteien benutzen mittlerweile diesen Begriff. Die konkrete Politik der EU hat bereits verheerende Schäden angerichtet, sie kann nicht mehr jungfräulich unbefangen kritisiert, sondern muss konkret gestoppt und überwunden werden.“ (https://www.antikapitalistische-linke.de/?p=2934)

Natürlich
sollten sich Linke sowohl den offen rechten wie den „normalen“ bürgerlichen
Parteien entgegenstellen. Doch worin besteht die Alternative zum Europa des
Kapitals? Das lässt die AKL durchaus offen, ja sie spielt selbst mit linken
Varianten der Rückkehr zum Nationalstaat – einer letztlich reaktionären
Perspektive.

Die Forderung
nach einer „Anti-EU“-Partei hört sich zwar „radikal“ an – gerade angesichts des
Aufstiegs des linken Populismus, von BefürworterInnen „linker“
Austrittsprojekte wie des „Lexits“ – einer vermeintlich linken Variante des
rassistischen und national-chauvinistischen Brexits – muss die AKL jedoch Farbe
bekennen. Das ist umso wichtiger, als die britische Schwesterorganisation  der SAV, die „Socialist Party“, einen
„linken“ Brexit, also den „Lexit“ ebenso befürwortet wie prominente Mitglieder
von „Aufstehen“.

Wenn die von der
AKL aufgestellte Behauptung „Ein sozialistisches, anti-kapitalistisches Europa
wächst im Widerstand gegen die EU“ einen Wert haben soll, dann müsste diese mit
einem konkreten Programm für einen gemeinsamen europaweiten Kampf, mit der
Ablehnung aller nationalistischen Lösungen und der Forderung nach „Vereinigten
Sozialistischen Staaten von Europa“ verbunden werden.

Europaweiter
Widerstand

Die Entwicklung
der EU, die internationale Konkurrenz und der nächste weltweite wirtschaftliche
Einbruch werden die Frage eines koordinierten Abwehrkampfes gegen Rassismus,
gegen Austerität, gegen Entlassungen und Arbeitslosigkeit, gegen Militarismus
und Kriegstreiberei wieder auf die Tagesordnung setzen. Entweder gelingt es den
Organisationen der ArbeiterInnenbewegung, den linken Parteien, der
Frauenbewegung, Geflüchteten und MigrantInnen, der Jugend und
anti-militaristischen Organisationen, gemeinsame Aktionen mit Demonstrationen
und politischen Massenstreiks zu organisieren – oder sie werden national
vereinzelt geschlagen werden.

Diese Aufgabe
stellt sich die Linkspartei erst gar nicht. Selbst ihr linker Flügel bleibt in
der falschen Alternativstellung Reform der EU oder auf nationaler Ebene
gefangen, fungiert letztlich als Anhängsel der „großen“ Strömungen in der
Partei.

Gegen diese
falsche Alternative wäre ein Programm des europäischen Klassenkampfs nötig,
eines, das die enormen Potenziale der ArbeiterInnenbewegung dieses Kontinentes
aufgreift. Dies wird auch die entscheidende Aufgabe der kommenden Jahre.
Entweder gelingt es, ein Programm des gemeinsamen Kampfes für ein
sozialistisches Europa zu entwickeln, oder Rechtsruck, Krise und Austerität
sorgen durch eine Mischung aus imperialistischer Aufrüstung und
nationalistischem Siechtum für verheerende Auswirkungen auf die Klasse. Dabei
sind die Wahlergebnisse im Mai eher zweitrangig. Wichtig wird sein, ob sich ein
europäischer, antikapitalistischer, klassenkämpferischer und antirassistischer
Widerstand entwickelt. Damit die revolutionäre Linke dazu Entscheidendes
beitragen kann, bedarf es freilich des politischen Bruchs mit Linkspopulismus
und Reformismus        und des Kampfes für eine
internationalistische, revolutionäre Klassenpolitik und Organisation.