Generalstreik legt Indien lahm

Martin Suchanek, Infomail 1037, 10. Januar 2019

Fast 200 Millionen Menschen legten Indien mit einem
Generalstreik am 8. und 9. Januar lahm. Zur landesweiten Arbeitsniederlegung
war von der indischen „National Convention of Workers“ aufgerufen worden, die 10
Gewerkschaftsverbände (INTUC, AITUC, HMS, CITU, AIUTUC, TUCC, AICCTU, SEWA,
LPF, UTUC) und mehrere unabhängige Vereinigungen von Lohnabhängigen umfasst.

Somit unterstützten alle größeren Gewerkschaftsverbände den
Aufruf, abgesehen von „Bhartiya Mazdoor Sangh“ (Indische Arbeiterinnenunion,
BMS), dem „Gewerkschaftsflügel“ der rechten, hindu-chauvinistischen „Rashtriya
Swayamsevak Sangh (Nationale Patriotische Freiwilligenunion)“. Diese
Vereinigung bildet ein Herzstück der regierenden rechts-populistischen,
chauvinistischen und neo-liberalen BJP (Indische Volkspartei) von Präsident
Narendra Modi. Die BMS denunzierte den Streik als „politische Aktion“, die
gegen die Regierung gerichtet sei. In der Tat war dies der Generalstreik genau
– und so sollte es auch sein!

Kein Wachstum für die ArbeiterInnenklasse

Nach 2015 und 2016 war dies der dritte Generalstreik, der
sich gegen die massiven neoliberalen Angriffe und Gesetze richtete, die die
ArbeiterInnenklasse, die Bauern-/Bäuerinnenschaft, die städtische und ländliche
Armut getroffen haben. Das Wachstum des indischen Kapitalismus unter der
Modi-Regierung hat den Massen keinen wirtschaftlichen Nutzen gebracht.

Am Ausstand beteiligten sich Beschäftigte aus allen Sektoren
der indischen Wirtschaft, ob organisiert oder unorganisiert. So
unterschiedliche Bereiche wie Eisenbahnen, Verteidigungsindustrie,
Gesundheitswesen, Bildung, Wasser, Banken, Versicherungen, Telekommunikation,
Öl, Kohle, öffentliche Verkehrsmittel und Bauwesen folgten dem Aufruf. Neben
gewerkschaftlich organisierten Lohnabhängigen aus dem öffentlichen und privaten
Sektor, aus „alten“ Industrien und der IT-Branche schlossen sich Millionen von
nicht organisierten an – Rikscha-, Auto-Rikscha- und TaxifahrerInnen,
LandarbeiterInnen, Beedi-ArbeiterInnen (Beedi ist eine zigarettenähnliche
Tabakware) und TextilarbeiterInnen, WanderarbeiterInnen, HeimarbeiterInnen und
Hausangestellte. Alle diese Sektoren schlossen sich am 8. und 9. Januar gegen
die Politik der neoliberalen, arbeiterInnenfeindlichen und repressiven
Modi-Regierung zusammen und gegen das indische und ausländische Großkapital,
dessen Interessen sie bedient.

Der Streik stellt zweifellos einen enormen Erfolg dar,
beteiligte sich doch rund ein Drittel aller Lohnabhängigen des Landes – und das
trotz massiver Repression gegen Streikende.

So versuchten am 8. Januar vielerorts staatliche Organe,
durch Verhaftungen bis hin zu körperlichen Angriffen den Streik zu brechen, an
anderen griffen Gangs oder Sicherheitsdienstete Lohnabhängige an. Dazu einige
Beispiele.

Im Industriegürtel in Neemrana in der Provinz Rajasthan
griff der Sicherheitsdienst der Fabrik Daikin Air Conditioning India Pvt. Ltd.
ArbeiterInnen physisch an, um den Streik zu brechen. Dabei wurden einige
verletzt, andere sollten zur Arbeit gezwungen werden. Aber der Streik hielt und
war erfolgreich.

Das Unternehmen buchte außerdem drei Nobelhotels, um
Sicherheitsleute und einige LeiharbeiterInnen unterzubringen. Aber mit diesen
Mitteln konnte es den Streik nicht verhindern. Dafür organisierten die
ArbeiterInnen zahlreicher Betriebe eine lebhafte Kundgebung in diesem
Industriegürtel, inmitten der japanisch-indischen Freihandelzone.

Ähnliche Szenen prägten den Streik in vielen Städten – aber
die enorme Masse und Entschlossenheit ermöglichte es, den Generalstreik
durchzusetzen.

Was steht auf dem Spiel?

Warum aber wurde und wird der Kampf geführt? Die „National
Convention of Workers“ tagte zum ersten Mal im September und beleuchtete dabei
einige der Themen, die eine lohnabhängige Erwerbsbevölkerung von etwa 500
Millionen Menschen betreffen.

Etwa 82 Prozent der männlichen und 92 Prozent der weiblichen
Arbeit„nehmer“ verdienen weniger als 10.000 indische Rupien (etwa 125 Euro) pro
Monat und liegen damit selbst noch weit unter dem von der indischen Central Pay
Commission empfohlenen Mindestlohn von 18.000 Euro. „Dies deutet darauf hin,
dass eine große Mehrheit der InderInnen nicht einmal bezahlt wird, was als
Existenz sichernder Lohn bezeichnet werden kann, und das erklärt auch den
starken Run auf Regierungsjobs“, erklärten GewerkschafterInnen.

Seit mehreren Jahren sind Unterbeschäftigung und niedrige
Löhne Schlüsselprobleme für die Masse der indischen ArbeiterInnenklasse, aber
in letzter Zeit ist sogar die Arbeitslosigkeit deutlich gestiegen. Sie liegt jetzt
offiziell über 5 Prozent, aber für die Jugend ist sie mit rund 16 Prozent
deutlich höher. Auch die besser ausgebildeten Menschen sind
überdurchschnittlich betroffen, ein klares Zeichen dafür, dass das indische
kapitalistische Wachstum eine noch schneller wachsende ArbeiterInnenklasse
nicht absorbieren kann.

Die Regierung hat alle Forderungen nach einem Mindestlohn
und anderen grundlegenden Forderungen der Beschäftigten und der Gewerkschaften
ignoriert wie z. B. nach allgemeinen sozialen Sicherungssystemen
(Krankenversicherung, Renten, …), nach Rechten der Beschäftigen,
einschließlich von Löhnen und Arbeitsbedingungen, sowie Forderungen gegen die
Privatisierung einschließlich jener des Finanzsektors. Die Regierung Modi hat
sich auch geweigert, internationale Abkommen wie die ILO-Konvention 177 über
Heimarbeit und 189 über Hausarbeit zu ratifizieren. Stattdessen hat sie 44
zentrale Arbeitsgesetze aufgehoben und neue, noch unternehmerfreundlichere
Regelungen sowie ein neues Rentensystem eingeführt.

Darüber hinaus haben sowohl die von der BJP geführte
Zentralregierung als auch die Regierungen verschiedener Bundesstaten den
repressiven Apparat und die reaktionären Kräfte eingesetzt, um
ArbeiterInnenproteste, StudentInnenaktionen, Frauenmärsche und Mobilisierungen
von Bauern und Bäuerinnen einzuschüchtern, zu unterdrücken und anzugreifen.

Natürlich muss eine solche Regierung durch eine umfassende
Mobilisierung der ArbeiterInnenklasse, der Bauern/Bäuerinnen und der Armen
bekämpft werden, da sie, wie der Aufruf zum Streik zeigt, nicht nur den
reaktionären Hindu-Chauvinismus vertritt, sondern auch die Interessen der
gesamten indischen kapitalistischen Klasse und der Monopole aus den
imperialistischen Ländern. So hieß es im Aufruf zum Streik:

„Um den Interessen der multinationalen Unternehmen mit
indischen Niederlassungen zu dienen, verfolgt die gegenwärtige Regierung eine
eklatante menschenfeindliche, arbeitnehmerfeindliche und antinationale Politik
auf Kosten der schweren Schädigung der Volkswirtschaft und der Zerstörung ihrer
einheimischen Produktionskapazitäten. Ein solches Regime muss entschieden
besiegt werden, um die Personen zu Veränderungen in der Politik an allen
Fronten zu zwingen.“

Auch wenn diese Passagen selbst eine reformistische (und
implizit auch links-nationalistische) Stoßrichtung vertreten, so prangern sie
zu Recht die Klassenpolitik der Regierung an.

Landbevölkerung

Natürlich sind nicht nur die LohnarbeiterInnen von dieser
Politik betroffen. Der Kisan-Mukti-Marsch, bei dem sich am 29. und 30. November
Bauern, Bäuerinnen und LandarbeiterInnen in der Hauptstadt versammelten,
vereint die immer häufiger und intensiver werdenden Proteste von Dorfgemeinden
im ganzen Land. Dies führte zur Gründung einer einzigen Dachorganisation, dem
All India Kisan Sangharsh Coordination Committee (AIKSCC), das sich auf über
200 lokale und landesweite Bauern-Bäuerinnenorganisationen stützt. Bhoomi
Adhikar Andolan (BAA), eine mächtige Plattform von Organisationen der Bauern
und Bäuerinnen, hat auch zum Generalstreik aufgerufen. Die der CPI (M)
(Communist Party of India/Marxist) nahestehende AIKS (All India Kisan Sabha) organisierte
schon 2018 einen zweitägigen landesweiten Massenprotest.

All das spiegelt die Verschlechterung der Lage auf dem Land
wider. In den letzten vier Jahren gab es einen jährlichen Rückgang der
Realinvestitionen in der Landwirtschaft um 2,3 Prozent und die Wachstumsrate
der Agrarkredite hat sich auf 12 Prozent verlangsamt, verglichen mit 21 Prozent
im letzten Jahrzehnt. Diese Zahlen spiegeln den langfristigen Trend zur Aufgabe
des Agrarsektors durch aufeinanderfolgende Regierungen wider.

Der indische Export von Agrarprodukten sank, während sich
die Importe in weniger als 10 Jahren verfünffacht haben. Zwei Drittel der
indischen Bevölkerung sind für ihren Lebensunterhalt von der Landwirtschaft
abhängig, aber die Landwirtschaft macht nur 14 Prozent der gesamten
Wirtschaftsleistung des Landes aus. Trotz der starken Abwanderung in die Städte
in den letzten zwei Jahrzehnten lebt immer noch mehr als die Hälfte der
Bevölkerung in ländlichen Gebieten – und das unter immer prekäreren
Bedingungen.

Schon vor dem Generalstreik kam es nicht nur zu
beeindruckenden Streikaktionen von Sektoren der ArbeiterInnenklasse wie seit
dem September 2018 in Rajasthan, sondern auch zu massiven Protesten der
Studierenden. In jüngster Zeit stand die Massenmobilisierung von Frauen gegen
den reaktionären hinduistischen Chauvinismus auf der Tagesordnung: die
„Frauenmauer“ im Bundesstaat Kerala für die Gleichstellung der Geschlechter. Am
1. Januar schlossen sich etwa 5 Millionen Frauen in einer Menschenkette
zusammen, um eine 620 Kilometer lange „Mauer“ von der nördlichen bis zur
südlichen Grenze Keralas zu bilden. Gegen den hinduistischen Chauvinismus und
ein reaktionäres Urteil des Obersten Gerichtshofes fordern sie ihr Recht, den
Lord-Ayyappa-Tempel zu betreten, von dem sie traditionell ausgeschlossen sind.

Das Potenzial des Generalstreiks

Daher zeigen nicht nur die massive Zahl der ArbeiterInnen,
die mobilisiert wurden, sondern auch der Anstieg dieser Massenbewegungen von
Bauern/Bäuerinnen, Frauen und StudentInnen, dass das Regime des
erz-reaktionären Modi in die Defensive gebracht und sogar gestürzt werden
könnte.

Die regierende BJP hat kürzlich in fünf Bundesstaaten die
Wahlen verloren. Die WählerInnen aus den ländlichen Gebieten zeigten ihre Wut
auf die Regierung, weil sie sie in ihrer Zeit der Not nicht unterstützt hat. So
wurde die BJP in Rajasthan, Madhya Pradesh, Chhattisgarh, Telangana und Mizoram
an den Urnen abgestraft. Die von der Modi-Regierung vertretene neoliberale und
wirtschaftsfreundliche Politik ist die Hauptursache für die Niederlage der BJP.

Um die Regierung Modi zu besiegen, müssen aber auch die
politischen Lehren aus den Generalstreiks der letzten Jahre und Tage gezogen
werden. Die Gewerkschaften und die Bauern-/Bäuerinnenverbände haben sich als
fähig erwiesen, Massen in wirklich historischem Maßstab in den Kampf zu führen
– 150 bis 200 Millionen! Aber es wurde ebenso deutlich, dass ein- oder
zweitägige Generalstreiks nicht ausreichen, um die Regierung oder die
KapitalistInnen zu stoppen. Sie haben sich als unzureichend erwiesen, um die
Forderungen nach einem Mindestlohn, einer sozialen Absicherung, einer
ausreichenden Altersversorgung usw. durchzusetzen.

Wenn der Generalstreik ein voller Erfolg werden, also seine
Ziele durchsetzen soll, muss er unbefristet durchgeführt werden, bis die
Forderungen erfüllt sind.

Ein solcher Streik wäre natürlich mit noch schwerwiegenderen
Repressionen, Schikanen, der Mobilisierung sowohl des Repressionsapparats als
auch der reaktionären hindu-chauvinistischen Kräfte, der rechten oder gar
faschistischen Banden und Milizen aus dem Umfeld der BJP konfrontiert.

Nichtsdestotrotz haben die „National Convention of
Workers“ sowie die Unterstützung von
Massenbauern-/Bäuerinnenorganisationen und durch die Kommunistischen Parteien
begonnen, eine Einheitsfront der ArbeiterInnen, Bauern und BäuerInnen sowie
aller Unterdrückten für ihre sozialen und politischen Forderungen zu schaffen.
Nun sollten alle Gewerkschaften, alle ArbeitInnenorganisationen dem Konvent
beitreten, sich mit den Bauern-/Bäuerinnenbewegungen, den StudentInnen- und
Frauenorganisationen verbünden, um den Kampf gegen die Ausbeutung mit dem für
demokratische Rechte und Gleichberechtigung der Frauen, die Rechte der
unterdrückten Nationalitäten und gegen das religiösen Sektierertum sowie für
die wirkliche Abschaffung des Kastensystems zu verbinden.

Eine solche einheitliche Front darf nicht nur eine
Vereinbarung zwischen den FührerInnen der Massenorganisationen sein. Um einen
unbefristeten Generalstreik zu organisieren, zu verteidigen und auszuweiten,
sollten an allen Arbeitsplätzen, in allen Wohnvierteln der ArbeiterInnenklasse,
in den Megacities, in den Städten und auf dem Land Aktionskomitees geschaffen
werden. Die StreikführerInnen sollten gewählt, rechenschaftspflichtig und
diesen Organen gegenüber rückrufbar sein. Die Komitees sollten zentralisiert
operieren, um eine nationale Koordination und schlagkräftige Führung des
Kampfes zu gewährleisten, damit sie noch größere Massen erreichen und auch ihre
eigene Selbstverteidigung organisieren können.

Eine solche Bewegung könnte Modi und die
hinduistisch-chauvinistische Bewegung stoppen. Die Geschichte zeigt aber, dass
sich RevolutionärInnen innerhalb einer solchen Bewegung auch mit der Frage der
politischen Strategie und des Programms befassen müssen. Im Jahr 2019 finden in
Indien allgemeine Wahlen statt. Man muss kein politisches Genie sein, um zu
erkennen, dass die meisten GewerkschaftsführerInnen und vor allem die
FührerInnen der so genannten „Kommunistischen Parteien“ – der CPI und CPI (M) –
versuchen werden, die Bewegung in eine elektoralistische Richtung zu lenken.
Sie werden sich darauf konzentrieren, wie man Modi und die BJP verdrängt und
die „linke“ bürgerliche Alternative, die Kongresspartei, mit einiger
Unterstützung der reformistischen KPen auf regionaler oder sogar nationaler
Ebene ans Ruder bringt. Das wäre keine Lösung. Es würde nur bedeuten, die
Regierungsgewalt von einer Fraktion der Bourgeoisie auf eine andere zu
übertragen, und unweigerlich zu einer massenhaften Desillusionierungswut
führen.

Die Linke muss vielmehr die Forderung nach einem unbefristeten
und demokratischen Generalstreik mit der Notwendigkeit verbinden, sich von der
Politik der politischen Bündnisse mit dem Kongress zu lösen. Solche Allianzen führen
nur zur Unterordnung der ArbeiterInnenbewegung unter die indische
„fortschrittliche“ Bourgeoisie, wie die Regierungsbeteiligungen von CPI und CPI
(M) seit Jahrzehnten immer wieder verdeutlichen. Daher müssen RevolutionärInnen
auch die gegenwärtige politische Krise und Gärung nutzen, um die Aufmerksamkeit
auf die Notwendigkeit einer revolutionären ArbeiterInnenpartei in Indien zu lenken,
einer Partei, die die Arbeiterklasse dazu bringen könnte, nicht nur das
Modi-Regime zu stürzen, sondern auch das kapitalistische System herauszufordern
und durch eine ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung zu ersetzen, die
auf Räten und dem bewaffneten Volk basiert, die die Großkonzerne enteignen und
einen demokratischen Plan einführen würde, um den Bedürfnissen der Hunderte von
Millionen ArbeiterInnen, Bauern/Bäuerinnen und Armen gerecht zu werden.