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Die Ukraine und die Verwirrung des trotzkistischen Zentrismus

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 46, Oktober 2014

Umbruch- und Krisenperioden des Kapitalismus als Weltsystem werfen immer auch neue Schlüsselfragen auf, die als politische Richtschnur für eine ganze Generation gelten können.

Die Entwicklungen in der Ukraine gehören zweifellos dazu. Sie stellen politische Kräfte auf die Probe, unterziehen ihre Politik einem grundlegenden Test. Betrachten wir die Ereignisse seit Ende 2013, so müssen wir feststellen, dass der größte Teil der Linken – zumal der in den deutschsprachigen Ländern – hier kläglich versagt hat.

Ein besonders beschämendes Bild haben dabei viele Organisationen abgeben, die aus dem Trotzkismus hervorgegangen sind, wie z.B. die „Vierte Internationale“ oder Marx 21. Angesichts des aggressiven Kurses des US-amerikanischen wie auch des deutschen Imperialismus und der EU haben sich diese Linken als unfähig erwiesen, dieser Offensive – insbesondere auch der eigenen herrschenden Klasse – etwas entgegenzusetzen. Im Gegenteil, sie haben sich, wie wir sehen werden, über weite Strecken der Offensive angepasst.

Der Maidan

Heute können wir recht deutlich erkennen, dass die sog. „demokratische“ Bewegung des Maidan mit dem Sturz von Janukowytsch zur Errichtung einer erz-reaktionären Koalition aus Monopolkapital (Oligarchen), Neo-Liberalen und Faschisten führte. Diese Regierung beließ es bekanntlich nicht bei Worten, sondern überließ Faschisten Teile des Staatsapparates, ermutigte und deckte Massaker an Oppositionellen – am bekanntesten das von Odessa – und hat jede ernsthafte politische Opposition und Linke de facto in die Illegalität getrieben.

Eine so große Kunst war es natürlich auch Ende 2013 und Anfang 2014 nicht, das zu erkennen.

Ursprünglich hatten sich die Proteste am Maidan gegen die Entscheidung der Regierung Janukowytsch formiert, das Assoziierungsabkommen mit der EU doch noch nicht im November 2013 zu unterzeichnen, sondern weitere Verhandlungen einzufordern. Das Abkommen sah nicht nur eine engere politische und wirtschaftliche Bindung an die EU, freien Zugang für west-europäisches Kapital, massive Kürzungen sozialer Leistungen und Streichung von Subventionen – also allesamt riesige Einschnitte für die Lohnabhängigen und Bauern des Landes – vor. Es beinhaltete auch eine engere militärische Kooperation mit der NATO.

Zweifellos bildeten die prekäre soziale Lage der Gesellschaft, der enorme Gegensatz zu einer kleinen, superreichen Schicht von Monopolkapitalisten (Oligarchen), der Niedergang der Arbeiterklasse, extrem geringe Einkommen (selbst verglichen mit Russland und Polen) wie die drohende oder schon faktische Deklassierung des Kleinbürgertums und der Mittelschichten den sozialen Hintergrund der Bewegung gegen Janukowtisch und des „Maidan“. Dazu kamen noch der faktische Staatsbankrott, der drohende Verfall der Währung, was zur zweifelhaften Alternative führte, sich entweder zu den Bedingungen des IWF, der EU, der USA oder zu denen Russlands weiter zu verschulden.

Hinzu kommt, dass von Beginn an klar war, dass das EU-Assoziierungsabkommen klar zu einer stärkeren Westbindung führen sollte. Das bedeutete nicht nur eine Fortsetzung der US-amerikanischen und EU-betriebenen Politik eines immer weiteren Vordringens von EU und NATO an die Grenzen Russlands, sondern hatte auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene auch eine extreme Auswirkung für die Industrie, den Bergbau, ja generell die Wirtschaft des Südens und Ostens des Landes. Es war von Beginn an klar, dass das EU-Assoziierungsabkommen nicht nur die wirtschaftlichen Bindungen zu Russland schwächen würde, sondern auch die Betriebe in den östlichen Bezirken wie Lugansk, Donezk, Charkow der überlegenen Konkurrenz der deutschen, US-amerikanischen und anderer westlicher Unternehmen aussetzen würde – und damit nicht nur den Ruin dieser Unternehmen, sondern auch eine weitgehende Zerstörung der Arbeiterklasse im Osten des Landes mit sich bringen würde.

Es war daher kein Zufall, dass der Maidan von Beginn an keine landesweite, sondern v.a. eine Bewegung in den ukrainisch-sprachigen Teilen war. Zweitens war der ukrainische Nationalismus von Beginn an das ideologische Bindglied, das die Bewegung gegen die Regierung Jankowitsch zusammenhielt.

Der zweifellos vorhandene soziale Unmut machte sich keineswegs in konkreten sozialen oder gar klassenspezifischen Forderungen – geschweige denn in einer Infragestellung des Privateigentums Luft. Vielmehr waren sie allenfalls diffus populistisch – gegen die Korruption gerichtet. Selbst das System der Oligarchen wurde nur in einer höchst einseitigen Weise – nämlich als jenes der wirklich oder vermeintlich  pro-russischen Fraktion – angegriffen. Das hatte zur Folge, dass von Beginn an die Bewegung von Teilen des Kapitals gelenkt und finanziert wurde. Nicht zuletzt war der zum damaligen Zeitpunkt politisch „unabhängige“ (also keiner bürgerlichen Partei angehörige) Poroschenko einer der Hauptfinanziers des Maidan.

Ein weiteres Kennzeichen der Bewegung war, dass von Beginn an eine Allianz aus Vaterlandspartei, UDAR und der faschistischen Swoboda die „Sprecher“ der Bewegung (Jazenjuk, Klitschko, Tjahnybok) stellte. Wenn das in Frage gestellt wurde, dann nur von rechts, nämlich als die drei einen von der EU vermittelten Deal zur schrittweisen und kontrollierten Machtübergabe dem Maidan und seinen faschistischen und rechtsradikalen Kommandeuren nicht vermitteln konnten oder wollten.

Neben diesem Triumvirat traten außerdem von Beginn an imperialistische Scharfmacher wie der Neokonservative McCain oder Elmar Brock (CDU) auf.

Ende 2013 schien die Bewegung nach einigen größeren Demonstrationen dennoch abzuflauen.

“Es schien so, als würden die Demonstrationen an Zahl und Kraft verlieren. Die ‚demokratische‘ Opposition um die ‚pro-europäischen‘ Kräfte UDAR und die ‚Vaterlandspartei‘ sowie die faschistische Swoboda waren tatsächlich nicht in der Lage, die Dynamik der ersten Tage aufrecht zu erhalten. Angekündigte „Generalstreiks“ stießen nicht auf die erhoffte Resonanz, etliche angekündigte Großdemonstrationen mussten sogar verschoben werden.

Die Regierung Janukowytsch überspannte dann jedoch den Bogen. Sie verschärfte das ohnehin schon extrem eingeschränkte Demonstrationsrecht Mitte Januar 2014 und begann, gegen die DemonstrantInnen in Kiew vorzugehen, die weiter den zentralen Maidan-Platz besetzt hielten. Die brutalen Räumungsversuche scheiterten und verfehlten ihren Zweck gänzlich. Die gefürchtete Sondereinheit „Berkut“ hinterließ massenhaft Verletzte, misshandelte Festgenommene auf unmenschliche Art und tötete mindestens 3,  womöglich sogar 6 DemonstratInnen.

Sie vermochte nicht, mit repressiven Mitteln die Protestbewegung zu brechen. Eine Staatsmacht freilich, die auf eine Verschärfung der Unterdrückung setzt, verliert im Falle ihres Scheiterns nicht nur weiter an Legitimität in den Augen der Bevölkerung – sie wird auch nicht mehr gefürchtet.

Seither befindet sich Janukowytsch in der politischen Defensive. Den Oppositionsführern Klitschko, Jazenjuk und Tjahnybok bot er die Rücknahme der Gesetzesverschärfungen vom Januar, die Freilassung hunderter Gefangener sowie die Übernahme des Premierministerpostens an. In der Parlamentssitzung am 28. Januar trat Regierungschef Asarow zurück. Die Einschränkungen des Demonstrationsrechts wurden nach zwei Wochen wieder zurückgenommen.” (1)

Die darauf folgenden Wochen waren die des Endes der Janukowytsch-Regierung. Er hatte die Initiative und auch das „Vertrauen“ der herrschenden Klasse, der Partei der Regionen und wohl auch des russischen Imperialismus verloren. Das erneute Erstarken der Bewegung hatte aber auch eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses zur Folge.

Auch wenn die Faschisten um Swoboda und den Rechten Sektor nicht die Mehrheit der Maidan-Leute stellen mochten, so wurden sie mehr und mehr zur führenden Kampfkraft, die den Takt vorgab.

In Kiew begann die Opposition praktisch schon vor dem Sturz von Janukowytsch die Kontrolle der öffentlichen Plätze zu übernehmen, ebenso in einigen Bezirken und Städten der West- und Zentralukraine. Am leichtesten war das, wo Swoboda ohnedies schon die Bürgermeister oder Gouverneure stellte. Die dortigen Polizeieinheiten liefen entweder zu den Rechten über (sofern sie nicht ohnedies schon von ihnen kontrolliert waren), wurden gesäubert und durch Faschisten und Nationalisten ersetzt.

Aus dieser ländlichen Reserve wurden auch reihenweise AktivistInnen des Maidan rekrutiert und deren Transport nach Kiew organisiert.

Die Faschisten drängten auf den gewaltsamen Sturz der Regierung, auf einen rechten Putsch, der eine anti-russische, nationalistische Regierung an die Macht bringen sollte, die sie weitertreiben konnten.

Ihr Pfund war dabei, dass sie die bewaffneten Einheiten und Kampftruppen des Maidan dominierten und auch mehr und mehr den ideologischen Takt (mit)bestimmten.

“Janukowytsch wollte in der vergangenen Woche die verfahrene Situation durch die gewaltsame Zerschlagung der Platzbesetzung beenden. Doch dieser verzweifelte Akt blieb wirkungslos, weil er nicht auf eine unbewaffnete Menge, sondern auf wohl organisierte und bewaffnete faschistische Banden traf, die schnell die Polizei aus ihren Stellungen vertreiben konnten. Das provozierte ein regelrechtes Feuergefecht mit Dutzenden Toten auf beiden Seiten. Danach konnten die Faschisten, die ihren ‚Blutzoll‘ entrichtet hatten, von den formalen Führern der Opposition nicht mehr gezügelt werden.

Von daher kam der Versuch der EU, einen Kompromiss für eine einheitliche nationale Regierung zu schließen, zu spät. Als Oppositionsführer von der Bühne des Maidan-Platzes aus einen solchen Kompromiss verkünden wollten, wurden sie ausgepfiffen. Die Milizen weigerten sich nicht nur, ihre Waffen abzugeben, sondern stellten sogar ein Ultimatum, dass Janukowytsch bis Sonnabend Mittag zurücktreten müsse oder sie würden ihn gewaltsam aus dem Amt jagen. Ihre Drohung brauchten sie jedoch gar nicht erst wahr zu machen, denn Janukowytsch floh bereits am nächsten Morgen und die Sicherheitskräfte waren aus den Straßen der Hauptstadt abgezogen.” (2)

Und weiter: “Am Freitag, dem 21. Februar, hatten die Euro-Maidan-Kräfte das Regierungsgebäude in Kiew eingenommen, während in Lwow im westlichen Landesteil die regionalen Behörden und die Polizei zu den Rebellen übergegangen waren und rechtsradikale Aktivisten und Polizeieinheiten in die Hauptstadt entsandt worden waren, um den Präsidenten zu stürzen. Nachdem er daran gehindert worden war, nach Russland zu fliehen, zog sich Janukowytsch am 22.2. angeblich in die zweitgrößte Stadt Charkow im Osten des Landes zurück. Am folgenden Tag stimmte das von faschistischen Banden und rebellierenden Polizeioffizieren ‚bewachte‘ Parlament, in dem ein Drittel der Abgeordneten fehlte, einstimmig für die Amtsenthebung von Janukowytsch.” (3)

All das zeigt, dass es mehr als gerechtfertigt war, in der Ukraine von einem Putsch zu sprechen. Auch wenn die Faschisten am Maidan eine treibende Kraft waren, war die neue Regierung sicher keine faschistische, sondern die Ultrarechten waren „nur“ eine Hilfskraft für die bürgerliche Regierung der Monopolkapitalisten.

Der Maidan-Putsch brachte dazu noch eine weitere wichtige Kräfteverschiebung. Nicht nur die „Straße“ war gegen den von der EU ausgehandelten Kompromiss mit Janukowytsch gewesen – auch die USA zogen einen gewaltsamen Sturz der Regierung letztlich vor. Die EU unter Steinmeier war zwar auch für die Inthronisation einer pro-westlichen Regierung, hätte aber vorgezogen, das mit dem zähneknirschenden „Einvernehmen“ Russlands zu inszenieren, um erstens ihre wirtschaftlichen Interessen weiter uneingeschränkt verfolgen zu können und zweitens um sich Russland auch als „Partner“ im innerimperialistischen Ringen offen zu halten.

Für die USA war die Konfrontation auch willkommene Gelegenheit, nicht nur Russland weiter zurückzudrängen, sondern auch die „Partnerschaft“ von Deutschland und Russland dauerhaft zu unterminieren, wenn nicht zu zerstören. Weder die neue Regierung unter dem US-Verbündeten Jazenjuk noch die Faschisten ließen es an Deutlichkeit missen, worum es ihnen nach dem erfolgreichen Putsch gehen sollte.

Jazenjuk kündigte an, möglichst rasch der EU beitreten, in jedem Fall jedoch das Assoziationsabkommen unterzeichnen zu wollen. Die Hilfsgelder der Freunde au dem Westen und Kredite vom IWF sollten durch drakonische Angriffe auf die Arbeiterklasse bezahlt werden. Der ukrainische Nationalismus zeigte seine ganze reaktionäre Fratze, also in einem „Akt des Überschwangs“, wie es später hieß, Russisch (und andere Sprachen nationaler Minderheiten) als Amtssprachen abgeschafft wurden.

Die Regierung bestätigte damit nur alle Befürchtungen, dass ihr ukrainischer Nationalismus keine leeren Worte, sondern v.a. Mittel zur Spaltung der Arbeiterklasse und der Bevölkerung und einer forcierten Unterdrückung der russisch-sprachigen Teile des Landes waren und sind. Im Osten der Ukraine wurden von der Regierung die alten Gouverneure und Bürgermeister wichtiger Städte ausgetauscht oder zur Unterstützung des Umsturzes und zum Vorgehen gegen die GegnerInnen des Maidan gezwungen.

Dass die Faschisten mit den „Feinden“ abrechnen wollten, war für jeden, der nur etwas sehen kann, auch schon vor dem Massaker von Odessa klar. Für Linke, für die KP, für die Gewerkschaften (außer den von Oligarchen kontrollierten sog. „Unabhängigen“) war es Schluss mit jeglicher politischen Freiheit (sofern diese nicht schon zuvor von den Schutztruppen des Maidan praktisch vernichtet worden war).

Alle Ereignisse seither bestätigen die Einschätzung Charakters der Regierung wie der Massenbewegung des Maidan, die sie an die Macht gespült hatte, als reaktionär.

Der angebliche „Doppelcharakter des Maidan“

Anders freilich für einige zentristische „Analytiker“. Fast einen Monat nach (!) der Inthronisierung der Koalition von Oligarchen, Neoliberalen und Faschisten veröffentlicht Marx 21 unter dem Titel „Weder Brüssel noch Moskau“ Thesen von Stefan Bornost und Yaak Pabst: „Die jetzt gebildete Übergangsregierung in der Ukraine wird die Krise nicht entschärfen. Ihr Programm von sozialen Angriffen wird sie in Widerspruch zur Bevölkerung bringen.

Nach dem Sturz Janukowytschs liegt die Macht jetzt in den Händen der „Vaterlandspartei” von Julia Timoschenko. Sie hat momentan die Unterstützung substanzieller Teile der Eliten, die sich eine Stabilisierung der Situation ohne Eingriffe in ihre Pfründe wünschen. Offensichtlich sind die Spitzen der „Vaterlandspartei” bereit, ihre Macht mit Hilfe der extremen Rechten abzusichern. Der neue Innenminister Arsen Avakow hat angekündigt, Repräsentanten des sogenannten „Rechten Sektors”, eines Verbundes von Nazi-Organisationen, in das Innenministerium zu holen. Das ist eine gefährliche Situation für die ukrainische Linke.

Dennoch ist es verfrüht, in der Regierungsbildung den Endpunkt der Bewegung zu sehen. Denn die Maidan-Bewegung ist bei aller Widersprüchlichkeit keine Bewegung für den Austausch einer Fraktion der herrschenden Klasse durch eine andere gewesen. Im Gegenteil: Die Maidan-Proteste teilten ein Element der Platzbesetzungen, wie wir sie in den letzten Jahren in Spanien, Griechenland und anderswo gesehen haben: Ein starkes Misstrauen gegen die Eliten und die institutionalisierte Politik. Dieses Misstrauen gilt, völlig zu Recht, auch der Opposition. Nelia Vakhovska, die Projektkoordinatorin der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Kiew, beschreibt treffend: ‚Die Besonderheit der ukrainischen Proteste besteht darin, dass sie sich grundsätzlich von der Parteipolitik abgegrenzt haben. Parteipolitik liegt für viele Protestteilnehmer jenseits der Grenze zum Schmutzigen und Unzuverlässigen. Und sobald ein Sympathieträger von einer Seite auf die andere wechselt, verliert er an Sympathien. Zum Beispiel Klitschko: Er hat erheblich an Sympathien verloren, seitdem er in die große Politik eingestiegen ist. Und über Timoschenko macht man sich sogar lustig: Da kommt sie aus der Krankenhaushaft und versucht, das alte Spiel fortzusetzen, hält eine sehr emotionale Rede und erhebt klare Ansprüche auf die Präsidentschaft oder eine andere Führungsposition. Das ist sehr schlecht angekommen.’” (4)

Diese Passagen verdeutlichen die Oberflächlichkeit und Kurzsichtigkeit, mit der die Lage in der Ukraine zum damaligen wie heutigen Zeitpunkt verharmlost wurde und wird.

So wird darauf verwiesen, dass sich die Menschen auch über bürgerliche Politiker lustig machen. Wenn das als Beleg für die Existenz eine „Bewegung“ herhalten soll, die auch noch fortschrittlich sein soll, dann ist es fast unmöglich, dass eine solche Bewegung nicht existiert.

Der Vergleich mit den „Platzbesetzungen“ in Spanien usw. offenbart gleich mehrere Probleme der Einschätzung.

Erstens wurden die Bewegungen in Spanien, Griechenland oder Blockupy in den USA offenkundig nicht von Elmar Brock und McCain besucht. Diese „Platzbesetzungen“ selbst waren natürlich auch widersprüchliche, ihrem Klassencharakter nach kleinbürgerliche Massenbewegungen, die verschiedene Schichten der von der Krise Betroffenen gegen die bürgerlichen Regierungen und Sparprogramme unter dem Banner sozialer Forderungen, aber auch klassenübergreifender Formeln wie „echter Demokratie“ oder utopischer Konzepte formierten. Sie waren trotz aller Schwächen jedoch progressive Massenbewegungen, weil sie sich gegen zentrale Angriffe der herrschenden Klasse und die Abwälzung der Krise auf die Ausgebeuteten und Unterdrückten richteten.

Der kleinbürgerliche Charakter zeigte sich aber auch in politisch höchst problematischen, ja reaktionären Momenten, die Bornost und Pabst aber anscheinend für eine Errungenschaft halten: die grundsätzliche Ablehnung von Parteipolitik – und damit verbunden ein „Apolitizismus“.

In Wirklichkeit war und ist diese „Ablehnung“ – so nachvollziehbar sie angesichts der Politik etablierter Parteien einschließlich vieler sozialdemokratischer oder vorgeblich „linker“ auch sein mag – ein Einfallstor für Populismus und Demagogie.

Es ist kein Zufall, dass dieser „Antipolitizismus“ in Griechenland am wenigsten ausgeprägt und am kurzlebigsten war, weil die dortige Arbeiterbewegung – vertreten durch das zentristische Bündnis Antarzya und die reformistische Syriza – in den Kämpfen gegen die Regierung Samaras und in Verteidigung des Syntagma eine politische Vorherrschaft erringen konnte. Sie konnten gegen die Bullen beweisen, dass sie in der Lage waren, die Massen besser zu verteidigen als die organisations- und parteifeindlichen Ideologen und WortführerInnen des „Antipolitischen“.

Griechenland zeigt, dass es durchaus möglich ist, dass sich organisierte Linke gegen diese kleinbürgerlichen Ideologien durchsetzen können. Es ist aber in jedem Fall notwendig, dass RevolutionärInnen klar erkennen und aussprechen, dass hinter dem prinzipiellen Ablehnen von Parteipolitik immer auch die prinzipielle Ablehnung von Klassenpolitik steht. Diese Ideologie ist immer gefährlich. Beim Maidan verdeutlicht sie aber – anders als bei den Platzbesetzungen in Madrid, Athen oder New York – nicht die Unreife und politische Rückständigkeit einer fortschrittlichen Bewegung, die es nach vorwärts zu treiben und für eine Klassenpolitik zu gewinnen gilt.

Beim Maidan ist das Gerede von der Ablehnung der „Parteipolitik“ nur der beschönigende Ausdruck für das Vorherrschen reaktionärer Ideen einer kleinbürgerlichen Bewegung. Der deutlichste Ausdruck dafür ist der ukrainische Nationalismus, das inszenierte gemeinsame Absingen der Hymne, der Ehrung der Ukraine samt ihrer nazistischen Helden wie Bandera.

Das Beispiel des Maidan zeigt außerdem auch, dass es keine Bewegung gibt und auch nicht geben kann, die nicht die Interessen bestimmter Klassen bündelt oder zum Ausdruck bringt. Der Maidan war politisch von einem Block dominiert, der drei unterschiedliche Klassen beinhaltet:e

a) den westlichen Imperialismus (die Bourgeoisie der USA, der BRD und anderer), die seit Jahren an der „Demokratiebewegung“ gearbeitet hatten. Die USA soll lt. Nuland rund 5 Milliarden Dollar investiert haben. Die BRD hat über die Adenauerstiftung gleich eine eigen Partei, Klitschkos UDAR, geschaffen.

b) Teile der ukrainischen Oligarchie. Diese waren von Beginn an dominierend bei der Organisation der Bewegung vertreten, vor allem über die „Vaterlandspartei“, aber auch „unabhängige“ Oligarchen wie Poroschenko, die wirkliche, präsidiale Inkarnation der Ablehnung der „Parteipolitik“.

c) Die kleinbürgerlich-reaktionären faschistischen Parteien/Bewegungen Sowoda und „Rechter Sektor“. Sie repräsentierten die unter Druck geratenen, „zu kurz gekommenen“ Teile von kleineren Kapitalisten, Selbstständigen, Kleinbürgern aller Art, der Landbevölkerung sowie deklassierte Schichten, die ins Lumpenproletariat abgesunken sind oder abzusinken drohen.

Letztere Kraft war unter den Massen zunehmend stärker als die Oligarchie. Die Imperialisten hatten natürlich nur „indirekt“ Zugriff. Aber die Betrachtung dieser sozialen Kräfte zeigt viel deutlicher, wer den Maidan hinter allem Brimborium von „Hass auf Parteien“ wirklich dominierte. Wenn sich an der Dominanz etwas verschob, so nur das Gewicht innerhalb dieser Kräfte.

Bornhorst und Yaak umgehen diese Frage vollkommen, indem sie einfach nur behaupten, dass der Maidan eine „Bewegung von unten“ gewesen wäre – eine billige, nichtssagende Floskel, mit der sich manche sog. MarxistInnen offenkundig die Untersuchung des Klassencharakters einer Bewegung zu ersparen meinen.

Die sog. „Ablehnung der Parteipolitik“, die Ablehnung von Korruption und Machtmissbrauch und ähnliche allgemeine Forderungen haben obige Allianz offenkundig nicht gehindert, sehr offen ihre Hegemonie über den Maidan auszuüben.

Sie waren auch ein Mittel dafür. Die „Ablehnung der Parteipolitik“ war nichts anderes als ein Codewort für die Ablehnung der Politik zweier bestimmter Parteien – der Partei der Regionen und auch noch der KP. Die Forderungen gegen Korruption waren v.a. Forderungen gegen die Korruption und Bereicherung einer bestimmten Fraktion der Oligarchen, die nur als allgemeine Forderung erschien.

Das erklärt auch, warum trotz angeblicher Ablehnung jeder Parteipolitik, monatelang Parteipolitiker ganz offen den Maidan gelenkt haben, jeden Abend sprechen konnten. All das ist nicht so schwer zu erkennen. Umso schlimmer wiegt, dass Bornost/Yaak dieser Oberflächenerscheinung aufsitzen.

Das geht bis zur grotesken Verdrehung der Realität, wenn noch am 17. März behauptet wird, es wäre „verfrüht, in der Regierungsbildung den Endpunkt der Bewegung zu sehen. Denn die Maidan-Bewegung ist bei aller Widersprüchlichkeit keine Bewegung für den Austausch einer Fraktion der herrschenden Klasse durch eine andere gewesen.“

Dass die „Bewegung“ des Maidan nach erfolgreicher Regierungsübernahme aufhörte eine Massenbewegung zu sein, kann eigentlich jeder Blinde sehen. Wozu hätte sie auch weiter bestehen sollen, wo doch das Ziel der wesentlichen Kräfte erreicht war. Am besetzten Platz blieben nur die Faschisten und Ultra-Nationalisten zurück, die solcherart über die „Revolution“ wachen wollten.

Die Bewegung hat offenkundig nicht nur zum Austausch einer Fraktion der herrschenden Klasse durch eine andere geführt, sie hat auch zu einer massiven Rechtsentwicklung im Land geführt, da eine Fraktion der herrschenden Klasse nun alles für sich beanspruchte und der Westen wiederum die ganze Ukraine als sein Einflussgebiet reklamierte.

Die Maidan-Bewegung mag Ende 2013 noch keine Bewegung zum Sturz der Regierung gewesen sein, da es wahrscheinlich die meisten auch als unrealistisch betrachtet hätten. Seit Ende Januar/Anfang Februar 2014 war es das praktische Ziel des Maidan und aller seiner Aktionen, des Aufbaus der faschistisch geführten Kampftruppen, den Sturz der Regierung Janukowytsch herbeizuführen und selbst die Macht zu ergreifen.

Sicherlich mögen davon heute schon viele AnhängerInnen des Maidan – inklusive vieler Faschisten, die sich als „kleine Leute“ wieder einmal betrogen fühlen – etwas anderes, eine „Regierung“ des „kleinen Mannes“, des ehrlichen Nationalisten erwartet haben. Allein mag sich der Kleinbürger auch gern ein „klassenübergreifendes“, kleinbürgerliches Regime wünschen, das über der ganzen Nation herrscht – das gibt es eben nicht im Kapitalismus. Dass sich so mancher Parteigänger des Maidan ein anderes, womöglich sogar noch reaktionäreres Regime erhofft hatte – beweist freilich nichts gegen die Tatsache, dass die Übergabe der Macht von einer Fraktion der Oligarchen auf eine andere Ziel der Führung und der Bewegung war. Es beweist nur, dass sich alle möglichen Beteiligten des Maidan – von den rechtesten und reaktionärsten bis zu  sog. „Linken“ – für diese Tat mit illusorischen Phrasen betören mussten.

Ein enteigneter Sieg des Volkes?

Noch weiter als Marx21 geht die „Vierte Internationale“ (ehemals Vereinigtes Sekretariat) in der Resolution „Ukraine: Volksbewegung und Imperialismen“.

„Der Sturz von Janukowytsch bedeutete den Sieg einer quasi-aufständischen Bewegung und kam nicht durch einen ‚vom Westen unterstützten antirussischen, faschistischen Putsch‘ zustande. Auch wenn Janukowytsch 2010 durch Wahlen, die als legitim anerkannt wurden, ins Amt kam, ist er selbst für seinen Untergang verantwortlich.” (5)

So kann man die Frage auch „lösen“. Dass Janukowytsch einen Untergang verdiente, ist sicher unbestritten – damit erledigt sich aber mitnichten die Frage, wie und durch wen er ersetzt werden sollte. Während Marx 21 so tut, als wären der Sturz der Regierung und ihre Ersetzung durch eine Koalition aus Faschisten und Oligarchen ein ungewolltes Nebenprodukt gewesen – so geht die Vierte Internationale noch weiter und feiert die reaktionäre Machtübernahme als „Sieg einer quasi-aufständischen Bewegung“ und stellt die Realität auf den Kopf.

Um das zu begründen, äußert die Vierte ähnliche Argumente wie Marx21. Die Bewegung hätte „revolutionäre“ (!) und reaktionäre Züge aufgewiesen:

“Wir haben im Februar (in der Resolution des Internationalen Komitees) die charakteristischen Merkmale dieser Bewegung unterstrichen: Sie wies ‚eine Kombination von revolutionären (demokratischen, antihierarchischen, selbstorganisierten) und reaktionären Zügen‘ auf. Welche die Oberhand gewinnen, ist nach wie vor eine Frage von politischen und sozialen Kämpfen. Diese Züge waren eng verbunden mit dem Charakter der gegenwärtigen postsowjetischen ukrainischen Gesellschaft (atomisiert, ohne klare Klassenidentität, Verfall des Bildungswesens und Hegemonie der reaktionären nationalistischen Ideen, kombiniert mit einem legitimen Engagement für nationale Unabhängigkeit und dem dramatischen Erbe des Stalinismus).“ (6)

Über die reaktionären Züge des Maidan müssen wir hier nicht lange sprechen. Selbst in der Resolution der Vierten sind freilich die „revolutionären“ Züge der Bewegung dünn gesät.

So gesteht der Text, dass die „Formen der Selbstorganisation begrenzt geblieben sind“: “Im Wesentlichen handelte es sich um den Bau, die Erhaltung und Verteidigung dieser Rebellencamps und der Barrikaden mitten im Winter, die Organisierung der Verpflegung und der Gesundheitsversorgung. Teams haben Verwaltungsgebäude besetzt, eine Versammlung von Studierenden hat vor allem die Transparenz des Haushalts für das Bildungswesen durchgesetzt. Es wurden  ‚Sotnia‘ (Hundertschaften) zur Selbstverteidigung gebildet, eine Minderheit von ihnen wurde von politischen Organisationen kontrolliert, die auf dem Maidan waren.” (7)

Diese Mischung aus Lappalien und gleichzeitiger Ignoranz gegenüber der Frage, wer eigentlich was für welchen Zweck selbst organisiert, ist schon bemerkenswert. Die Buden rechter Banden werden zum „Rebellencamp“, die Barrikaden, die Neonazis aufbauen helfen, müssen dann noch als Beleg der „Selbstorganisation“ herhalten. Bei den übrigen Punkten wird es eher noch trister: So war der Maidan vom Fehlen jeder wie immer gearteten „Repräsentativität“ geprägt, was seine „Instrumentalisierung“ erleichtert hätte. Rechte und Faschisten haben sich auch dort getummelt, auch wenn nach Ansicht der Resolution ihre Anzahl übertrieben wurde. Die Bewegung hätte zwar „ein Gespür für soziale Fragen“ gehabt, aber keine „sozialen Forderungen“ aufgestellt. Die Linke war über der Frage des Maidan tief gespalten und sehr schwach und hatte auf dem Maidan wenig zu melden.

All das spricht offenkundig gegen die ganze These der Vierten, die aber trotzdem tapfer versichert, dass der Maidan „Ausdruck von sozialen und demokratischen Bestrebungen“ gewesen wäre.

Möglich ist das nur dadurch, dass die Vierte den Begriff „revolutionär“ in einem extrem nichtssagenden Sinn verwendet. Irgendwie war es anscheinend „demokratisch, antihierarchisch, selbstorganisiert“. Selbst nach den Einschätzungen der Vierten war die Verbreitung dieser „revolutionären“ Eigenheiten äußerst gering.

Mit einer revolutionären Bewegung – erst recht nicht mit einer Klassenbewegung – hat das selbstredend nichts zu tun.

Die Resolution führt aber noch ein Moment für den „revolutionären Charakter“ der Bewegung an, dem wir uns weiter unten stärker zuwenden werden – dem „legitimen Engagement für nationale Unabhängigkeit und dem dramatischen Erbe des Stalinismus“, das dem Maidan anscheinend den „revolutionären“ Zug rettete.

Die Faschisten und ihre Bedeutung

Bevor wir uns dieser Frage zuwenden, müssen wir jedoch auf die Rolle der Faschisten in der Bewegung und der neuen Regierung eingehen. In „Weder Brüssel noch Moskau“ werden Bornost/Yaak nicht müde, darauf hinzuweisen, dass die Bewegung keine faschistische Bewegung war.

„Trotz der starken Präsenz der extremen Rechten ist die Protestbewegung ‚Euromaidan‘ keine faschistische Bewegung. Es ist wichtig, einen Unterschied zwischen der Bewegung und den an ihr beteiligten Organisationen und Parteien zu machen.“ (8)

Während Marx21 die „starke Präsenz“ der Faschisten immerhin in Rechnung stellt, spielt  die Vierte selbst diese herunter: “Die kleinen Gruppen der nationalistischen extremen Rechten (Pravyj Sektor usw.), die mit Swoboda rivalisierten, haben in der Selbstverteidigung der Bewegung eine Rolle gespielt. Ihre gewollte ‚Sichtbarkeit‘ und ihre Angriffe auf linke AktivistInnen wurden vor allem von den Regierungs- und den russischen Medien und später von den Bestandteilen des  ‚Anti-Maidan‘, die sich zur Linken zählen, herausgestellt, um den gesamten Maidan zu diskreditieren.” (9)

Selbst „Sozialisten“ wie Ilya Budraitskis, die höchst fragewürdige Einschätzungen des Maidan zum Besten geben, bestätigten die Stärke des Nationalismus und den Einfluss der Oligarchen, aber auch die brutalen Angriffe von Rechten auf Linke:

„Denn jede Protestbewegung spiegelt die Widersprüche der Gesellschaft wieder, in der sie kämpft. Starker Nationalismus und extrem mächtige Oligarchen auf der einen Seite, keine Tradition von Selbstorganisation und Klassenbewusstsein, keine großen Gewerkschaften auf der anderen Seite. (…)

Ich rede nichts schön. Wenn du auf dem Maidan sagst, dass du Marxist bist, kann es sein, dass du angegriffen wirst.“ (10)

Was die Vierte betreibt, ist reine Weißwäscherei. Russische Medien und Regierungseinrichtungen mögen die Angriffe auf Linke für ihre Zwecke verwenden. Das ändert aber nichts an den Fakten.

Die Faschisten waren am Maiden alles andere als eine „kleine Gruppe“. Je mehr die Konfrontation mit der Regierung auf einen bewaffneten Zusammenstoß zusteuerte, wurden sie zum Stoßtrupp der Bewegung, zu einer dominierenden Kraft. Das macht nicht den Maidan als ganzes „faschistisch“. Es ist aber Ausdruck davon, dass der Maidan eine reaktionäre Massenbewegung war. Das Prestige des „Rechten Sektor“ und anderer kam nicht nur daher, dass sie die „mutigsten KämpferInnen“ waren, sondern auch dass sie Ziele des Maidan, den Kampf für den Sturz von Janukowytsch am entschiedensten zum Ausdruck brachten.

Daher geht auch der ganze Vorwurf von Marx 21 und der Vierten daneben, dass die militanten Faschisten die Bewegung „spalten“ und gefährden“ würden. Im Gegenteil, ihre Methoden waren unerlässlich, um den Sturz von Janukowytsch und den Putsch in Kiew durchführen zu können.

Es waren ihre Schocktruppen, die unter anderem das Parlament stürmten, bei der Wahl der neuen Regierung und des Präsidenten sicherstellten, dass das Parlament unter Ausschluss etlicher Abgeordneter „richtig“ abstimmte.

Die Verharmlosung der Faschisten hat vor und nach dem Sturz von Janukowytsch in Texten der Zentristen viele Facetten angenommen. Eine davon hat Ilya Budraitskis in einem Interview mit Marx21 zum Besten gegeben. Auch wenn er zugesteht, welchen Gefahren GenossInnen ausgesetzt waren, die am Maidan offen für linke Ideen, mit roten Fahnen oder Ähnlichem auftreten wollen, so bestreitet er letztlich die faschistische Gefahr mit folgendem Argument:

“Ich finde, wenigstens deutsche Linke, die mit dem Begriff ‚faschistisch’ um sich werfen, sollten die Geschichte des Faschismus ein bisschen kennen.

Wie meinst du das …??

Der Faschismus entstand nach dem Ersten Weltkrieg als Gegenbewegung zu starken kommunistisch-revolutionären Arbeiterbewegungen in großen Teilen Europas. Faschisten hatten das ausdrückliche Ziel, diese Arbeiterbewegungen zu zerschlagen und die Herrschaft des Kapitals zu sichern, weil der liberale Staat das nicht garantieren konnte. In Italien und Deutschland konnten sie die Macht ergreifen, in anderen Ländern nicht.

Und heute …

… gibt es in der Ukraine 2014 weder eine große Arbeiterbewegung, noch eine faschistische Bewegung für ihre Zerschlagung, noch einen Staat, dem das Kapital misstraut. Es geht also weder darum, die Arbeiterklasse an die Macht zu bringen, noch darum, die Arbeiterbewegung physisch zu vernichten.

Was für eine Bewegung ist es dann?

Auf dem Maidan kämpfen Menschen aus verschiedenen unterdrückten Klassen: Arbeiter, Arbeitslose, arme Selbstständige, Studierende, die keine Arbeit finden werden und andere. Ihr Gegner ist der Staat und die politischen Eliten. Der Begriff ‚faschistisch‘ ist verfehlt, weil die Klassenzusammensetzung der Konfliktparteien eine ganz andere ist.

Aber es sind Faschisten auf dem Maidan

Klar. Die Ideologie des „Rechten Sektor“ ist eindeutig faschistisch. Und sie versuchen auch, die Hegemonie über die Massenbewegung herzustellen. Aber das gelingt bislang glücklicherweise nicht, weil die Bewegung im Kern nichts mit Faschismus zu tun hat.“ (11)

Diese vollkommen mechanische Lesart des Faschismus könnte die ukrainische Arbeiterklasse noch teuer zu stehen kommen. Da es in der Ukraine keine große Arbeiterbewegung gibt und das Kapital dem Staat nicht misstraut – kann es gar keine faschistische Gefahr geben. Welch mechanistischer Unfug.

Das Kapital hat offenkundig schon dem Staatsapparat von Janukowytsch nicht ganz so sehr vertraut. Angesichts der drohenden sozialen Katastrophe und Kriegshetze der ukranischen Regierung, dem bevorstehenden Staatsbankrott, ist es keineswegs so unwahrscheinlich, dass die ukrainische Bourgeoisie gezwungen ist, zu noch drastischeren Mitteln zu greifen, um drakonische Maßnahmen auf die Arbeiterklasse abzuwälzen – bis hin zu einer faschistischen Option, während sie heute eine von Oligarchen und Neoliberalen im Bündnis mit den Faschisten vorzieht.

Das zeigt aber auch, was schon damals von der Behauptung zu halten war, dass die Bewegung des Maidan mit Faschismus nichts zu tun hätte, konnte dieser sich doch darin rasant ausbreiten und zu einer wichtigen Kraft werden.

Erst recht problematisch ist Budraitskis Deduktion, dass das Fehlen einer Arbeiterbewegung automatisch bedeutet, dass es keine faschistische Massenbewegung geben könne. Solcherart könnte es auch in Ungarn keine geben, wo die Arbeiterbewegung auch nicht sonderlich entwickelt ist. Erst recht wären Phänomene wie der klerikale Faschismus des „Islamischen Staates“ unmöglich, wenn obige These stimmen würde.

Budraitskis macht hier den Fehler, die allgemeinen geschichtlichen Entstehungsbedingungen des Faschismus in ein Schema zu pressen, wo dieser in jedem Land nur entstehen könne, wenn es zuvor eine starke, klassenbewusste Arbeiterbewegung und Vertrauensverlust der Bourgeoisie in ihren Staat gebe.

Schließlich übersieht die ganze Betrachtung auch, dass die herrschende Klasse und das Kiewer Regime sehr wohl eine Aufgabe für die Faschisten haben und hatten – die Niederschlagung des Volksaufstandes im Osten gegen die Kiewer Regierung, die Terrorisierung der Linken und Gewerkschaften, aller GegnerInnen aus der Arbeiterbewegung, die sich dem Maidan-Regime widersetzen wollen.

Das Massaker von Odessa

Am 2. Mai 2014 wurden in Odessa mehr als 40 AntifaschistInnen bestialisch ermordet. Die sozialistische Organisation Borotba hat eine genaue Darstellung dieses Massakers veröffentlicht, die wir auch auf unserer Website veröffentlicht haben und zu einer klaren politischen Schlussfolgerung kommen, die die politisch verantwortlichen nennt.

„Das Massaker in Odessa wurde von der Kiewer Junta organisiert mit dem Ziel, die Bevölkerung, die mit dem neuen Regime unzufrieden ist, einzuschüchtern und die aktiven Kämpfer gegen das neue Regime zu beseitigen. Der Beweis dafür ist die Tatsache, dass die rechtsextremen Militanten zusammen gekarrt und gut ausgestattet wurden. Darüber hinaus ist die Untätigkeit der Polizei sowie die Tatsache, dass Angriff der Ultrarechten in Odessa mit der „Anti-Terror-Operation“ in Slawjansk synchron lief, ein Beweis dafür.

Die Kiewer Junta hat offen einen Kurs auf Gewalt und Gemetzel gegen ihre politischen Gegner eingeschlagen. Die Werkzeuge dieser brutalen Gewalt sind die Neonazis, die eng abgestimmt mit der Geheimpolizei handeln, die gut bewaffnet und von der Oligarchie finanziert werden.“ (12)

Das hindert freilich die „Vierte Internationale“ nicht, dieses zu verharmlosen und im Gleichklang mit ihren GesinnungsgenossInnen in der Ukraine um die sog. „Linke Opposition“ die Sache so hinzustellen, als wäre das Massaker ein unglücklicher Zusammenstoß zweier, gleichermaßen reaktionärer Seiten gewesen.

„Das Drama, das am 2. Mai in Odessa stattfand – als nach einer Aggression gegen eine Demonstration für die  „Einheit“ der Ukraine, bei der es vier Tote gab, das Gewerkschaftshaus angesteckt wurde, was etwa 40 so genannten  „pro-russischen“ Aktivisten, darunter ein Mitglied von Borotba, das Leben gekostet hat – hat zu einer Radikalisierung der  ‚Anti-Maidan‘-Propaganda geführt. Es wird behauptet, es handele sich um ein  ‚neues Oradour‘ unter dem Schutz eines „Nazi-Staats“ in Kiew. Begleitet wird diese Behauptung noch von der Beschuldigung, man lege eine ‚inhumane Gleichgültigkeit‘ an den Tag, wenn man diese Interpretationen bestreitet.” (13)

Hier sind wirklich Weißwäscher der Kiewer Regierung unterwegs, die auch davor nicht zurückschrecken, das Massaker von Odessa als Mittel zur „Radikalisierung“ von Propaganda gegen Kiew hinzustellen. Auch die Präsidentschaftswahlen vom 25. Mai, bei der sich die Junta von Kiew eine demokratische Legitimation zu verschaffen versuchte, werden ganz im Sinn der Verharmlosung der Faschisten beschrieben:

“Die extreme Rechte der Westukraine, die Kandidaten der Swoboda-Partei und des Rechten Sektors, landeten weit abgeschlagen bei 1,2% bzw. 0,7%. Soviel zur Behauptung, in der Westukraine herrschten die Faschisten. Auch aus ihren Regierungsämtern (drei Minister und ein Generalstaatsanwalt) konnten sie offensichtlich keinen Honig saugen.” (14)

Schon die Zählung ist fragwürdig, „vergisst“ Angela Klein doch Oleh Ljaschko, der 8,32 Prozent der Stimmen erhielt, der durchaus als halb-faschistisch bezeichnet werden kann und der schon im Wahlkampf mit aggressivem Nationalismus aufgefallen war, sich vor dem Wahlkampf mit illegalen Verhören und Folterungen an „prorussischen Aktivisten“ öffentlich gebrüstet hatte. Er ist außerdem auch ein Mitbegründer des „Bataillon Asow“, eines rechtsradikalen Freiwilligenverbandes, das – wie etliche andere der faschistischen Milizen – offen mit nationalsozialistischen Symbolen auftritt.

Angela Klein sind solche Kandidaten offensichtlich keine Erwähnung Wert. Sie gesteht nur zu, dass Swoboda und der Rechte Sektor bei Wahlumfragen für das Parlament stärker wären (5 resp. 2-3 Prozent), um sich dann zu folgender Aussage zu versteigen: „Zweitens aber verschieben sie den Diskurs der bürgerlich-liberalen Mehrheit nach rechts, noch stärker in Richtung Nationalismus, Russenfeindlichkeit und Rassismus. Die ‚faschistische Gefahr‘ in der Ukraine liegt mit diesen Ergebnissen nicht höher als in Deutschland.“ (15)

Hier wird der parlamentarische Kretinismus bis  zur Absurdität getrieben. Der Unterschied besteht eben nicht vorrangig darin, wie viele Prozente Nazis bei Wahlen erhalten oder mit wie vielen Abgeordneten sie vertreten sind. In der Ukraine geht der Einfluss der Faschisten weit über die Wahlerfolge hinaus (wie faschistische Parteien oft auf der Straße, in der Aktion stärker sind als auf der parlamentarischen Bühne, gerade weil sie Kampforganisationen der Konterrevolution verkörpern).

In der Ukraine hat die herrschende Klasse mittlerweile die Faschisten in Teile des Repressionsapparates inkorporiert. Das erfolgt zum einen derart, dass sie polizeiliche Funktionen offiziell oder geduldet übernehmen – nicht zuletzt dort, wo die Faschisten ohnedies Stadt- und Kreisverwaltungen stellen. Zweitens finanzieren Oligarchen faschistische und ultra-nationalistische Kampfverbünde im Bürgerkrieg gegen den Osten des Landes oder stellen solche in ihren eigenen Verbänden ein. Und drittens rekrutiert sich die von der Kiewer Regierung neu geschaffene „Nationalgarde“ zu einem großen Teil aus Faschisten und Rechtsextremen.

Hinzu kommt, dass die sich verschärfende gesellschaftliche Krise ein zusätzlicher Nährboden für das Wachstum des Faschismus darstellt – bis hin zur Möglichkeit, dass diese in gar nicht allzu ferner Zukunft sehr wohl eine „Machtoption“ werden können.

Die viel größere gesellschaftliche Bedeutung und Gefahr des Faschismus in der Ukraine ergibt sich eben nicht aus einem bloßen Blick auf Wahlergebnisse (die selbst schon fragwürdig interpretiert werden), sondern nur aus einem Blick auf die Gesamtheit der politischen und ökonomischen Entwicklung.

Geradezu grotesk wird es, wenn Angela Klein zustimmend einen „Rechtsextremismusforscher“ zitiert, der offenkundig blind ist gegenüber dem ukrainischen Rassismus und Faschismus: „Ein Neonationalsozialismus ist nach Ansicht von Anton Schechowzow, Rechtsextremismus-Forscher am University College London, innerhalb der extremen Rechten der Ukraine noch peripher. Er erklärt damit auch das relativ geringe Maß an rassistischer Gewalt in der Ukraine, vor allem während der letzten Jahre.“ (16)

Hier wurde offenkundig nicht nur die Bilanz der letzten Jahre gründlich frisiert, sondern auch jede Gewalt gegen RussInnen oder russisch-sprachige Teile der Bevölkerung vorsorglich aus der Bilanz rausgerechnet.

Die Präsidentschaftswahl – legitim oder nicht?

Die Bilanz der Wahlen vom 25. Mai umfasst freilich noch einen anderen politischen Aspekt. Marx21 oder die Vierte Internationale erkennen die Legitimität der Wahlen an.

„Durch die Wahl vom 25. Mai ist der Oligarch Petro Poroschenko Präsident der Republik geworden. Er erhielt die Stimmen von 54,7 % der WählerInnen, während die Beteiligung bei 60,3 % der Wahlberechtigten lag (diese Zahl ist mit Sicherheit zu hoch). Diese Wahl, die vor dem Hintergrund der Spannungen stattfand, die von sozialen Fragen ablenkten, drückt jedoch ein Bestreben der Bevölkerung aus, der Ukraine eine souveräne Repräsentation zu geben.“ (17)

Hier wird die falsche Einschätzung des Maidan als „enteigneter Sieg des Volkes“ einfach verlängert. Die Wahlen brachten keineswegs das „Bestreben der Bevölkerung“ zum Ausdruck, der „Ukraine eine souveräne Repräsentation“ zu geben.

Es ging vielmehr darum, der Machtübernahme durch eine Regierung aus Monopolkapitalisten und Faschisten eine „demokratische“ Legitimation zu verleihen, eine Regierung, die durch einen reaktionären Putsch an die Macht gekommen war, von US-amerikanischen und europäischen Imperialisten gestützt wird und in deren Interesse regiert.

Die Bevölkerung im Osten der Ukraine lehnte diese Wahlen, wie selbst Angela Klein zugestehen muss, ab. “Das Kiewer Institut für Soziologie führte am Tag der Wahl eine Telefonumfrage in den Regionen Donezk und Lugansk durch und fragte u.a. danach, ob die Befragten zur Wahl gehen würden und wenn nicht, warum nicht. Das Umfrageergebnis ist ganz aufschlussreich: 17% gaben an, sie wollten zur Wahl gehen, würden jedoch daran gehindert. 67% sagten, sie würden nicht wählen gehen. Von diesen gaben 46% politische Gründe an: keinen wählbaren Kandidaten, keine fairen Wahlen, Donbass gehöre nicht mehr zur Ukraine; 32% organisatorische Gründe: in ihrem Wahlkreis fänden keine Wahlen statt; 17% gaben persönliche und andere Gründe an; und 7% sagten, sie fühlten sich bedroht, es sei zu gefährlich, wählen zu gehen.” (18)

Doch nicht nur im Osten, in der ganzen Ukraine kann von demokratischen Wahlen keine Rede sein. Die Kommunistische Partei der Ukraine wurde an einem effektiven Wahlkampf offen gehindert. Organisationen wie Borotba hatten korrekterweise eine Wahlbeteiligung im Voraus ausgeschlossen und zum Boykotte der illegitimen Wahlen aufgerufen.

Anders die sog. “Linke Opposition”, eine opportunistische Gruppierung in der Ukraine, die sowohl der Vierten Internationale als auch Marx21 nahesteht.

Sie trat zu den Kommunalwahlen am 25. Mai im Rahmen der “Assembly for Social Revolution” (19) an.

Das Programm ist an lokaler Borniertheit und politischer Harmlosigkeit kaum zu überbieten. Die AutorInnen und KandidatInnen bringen es darin fertig, kein Wort (!) über die Lage im Land zu verlieren (Präsidentschaftswahl, Zweck der Wahl in Kiew, die Klitschko als Bürgermeister inthronisiert, imperialistischen Einfluss, Faschismus, Massaker von Odessa, Krieg gegen „Volksrepubliken“ …). Statt dessen wird in den wenigen Zeilen zur sozialen Frage, die sich im wesentlichen auf die Forderung nach Steuererhöhungen konzentrieren, die Erhöhung der Parkgebühren im Zentrum Kiews gefordert. Kein Wunder, dass eine solche „revolutionäre Versammlung“ auch von der Kiewer Regierung locker geduldet werden kann. Vor einer solchen „Linken Opposition“ brauchen sich die Rechten, die Kapitalisten und Neo-Liberalen sicher nicht zu fürchten.

Die politische Kasperei der extrem opportunistischen und korrupten Version des “Trotzkismus” in der Ukraine, die zusammen mit Libertären, Anarchisten und ein paar anderen offenkundig in der “Demokratie” des Maidan den letzten Rest von Verstand verloren zu haben scheint, sind die Kräfte, auf die sich die “Vierte” oder Marx21 in Kiew stützen. Es ist der “extreme” Flügel der legalen Opposition, all jener, die das Kiewer Regime zu Recht als keine ernst zu nehmenden GegnerInnen betrachtet.

In ihrer Resolution vom 8. Juni 2014 kommt die Vierte Internationale dennoch nicht darum herum, eine Bilanz der Präsidentschaftswahlen zu ziehen, die der Maidan-Euphorie ins Gesicht schlägt: „In der modernen Geschichte der Ukraine ist das ‚Big Business‘ nie so stark direkt in die Leitung des Landes eingebunden gewesen; fast alle, die in der Forbes-Liste der Reichsten in der Ukraine oben stehen, bekleiden derzeit hohe Posten in der Exekutive.“ (20)

Die imaginäre „demokratische Revolution“ ist also bei einer weiteren Machtverschiebung nach Rechts angekommen.

Die Bewegung im Osten

Wir kommen hier auf einen weiteren Aspekt der Einschätzung durch die Vierte Internationale zurück, den sie zu einem Zeichen der „revolutionären Züge“ des Maidan macht: das „legitime Engagement für die nationale Unabhängigkeit“.

Zweifellos kämpfen RevolutionärInnen für die Unabhängigkeit der Ukraine vom westlichen wie russischen Imperialismus. Wir lehnen z.B. die Eingliederung der Krim in das russische Territorium ab – wiewohl wir gleichzeitig das Recht der Bevölkerung der Krim wie anderer Bezirke verteidigen, darüber zu entscheiden, ob sie im ukrainischen Staatsverband bleiben, ob sie unabhängig werden oder sich einem anderen Staat anschließen wollen. Wir haben die Eingliederung in das russische Gebiet abgelehnt, weil es die Kräfte im Kampf gegen die Kiewer Regierung schwächte und vom dem ukrainischen Nationalismus als Mittel missbraucht wurde und wird, den Widerstand im Osten wie alle AntifaschistInnen als „russische AgentInnen“ zu diffamieren.

Es ist aber auch für jeden nüchternen Beobachter einigermaßen klar, dass eine klare Mehrheit der Bevölkerung der Krim nicht mehr im ukrainischen Staat bleiben wollte, gerade weil sie den reaktionären Charakter der Putschistenregierung, die Vernichtung der Industrie und Lebensgrundlagen im Osten, die Eingliederung in EU und NATO, die Gefahr durch die Faschisten und insbesondere auch den unterdrückerischen und reaktionären Charakter des ukrainischen Nationalismus erkannte – jedenfalls tausend Mal klarer als die „Vierte Internationale“.

Die Bevölkerung im Osten erhob sich. In einem Artikel vom Mai 2014 weist Frank Ickstadt, der selbst Charkow besucht hatte, auf die Ursachen der Bewegung hin:

“In der zweiten Aprilhälfte begann die Kiewer Regierung, Truppen gegen die ‚Terroristen‘ im Osten zu schicken. Nur: diese ‚Terroristen‘ sind keine Agenten Putins oder gewaltbereite Schläger, auch wenn das die Propaganda der westlichen Medien so vermitteln möchte. Als die ersten 20 Panzer nach Slowjansk rollten, wurden sie von weitgehend unbewaffneten BürgerInnen ‚empfangen‘, ließen sich entwaffnen und fuhren wieder nach Hause.

Einige Panzer wurden allerdings auch von Gruppen übernommen, die mit Besetzungen von lokalen Regierungsgebäuden die Macht übernommen haben. Dass sie nicht alle Panzer beschlagnahmt haben, war wohl ein Fehler, denn die Regierung in Kiew begann nach dieser Niederlage, ausgewählte Spezialkräfte zusammenzustellen, die – anders als die Soldaten aus dem Volk – bereit sind, auch auf die Bevölkerung zu schießen. Wenige Tage später stellten sie das auch unter Beweis. Es gab die ersten Toten, die nicht auf das Konto von Faschisten gehen, sondern eindeutig auf das der Regierung.

Die Regierung Jazenjuk steht heute ähnlich da wie ihre Vorgängerin unter Janukowytsch. Sie kontrolliert nur Teile des Landes, sie schwankt zwischen Brutalität und ‚Angeboten‘, die keiner ernst nimmt, um die Bewegung zu stoppen. So hatte Jazenjuk angeboten, den Regionen mehr Autonomie zu gewähren. Gleichzeitig werden die dortigen BesetzerInnen aber als ‚Separatisten‘ diffamiert, die angeblich ganze Regionen Russland angliedern wollten – obwohl die meisten nachweislich gar keine Lostrennung wollen, sondern mehr regionale Autonomie.

Aber die Massenbewegung, die Janukowytsch stürzte, hatte einen anderen Charakter als die jetzige Bewegung, die sich v.a. im Osten des Landes formiert. Die Maidan-Bewegung stand von Anfang an für reaktionäre Ziele wie die Assoziierung an die EU; sie stand von Beginn an unter Kontrolle bürgerlicher Parteien, von der Vaterlandspartei, über Klitschkos UDAR bis hin zu den Faschisten der SWOBODA und den Schläger-Trupps des ‚Rechten Sektors‘. Die Bewegung im Osten hat demgegenüber den Charakter einer Volksrebellion.

Die Massen, die im Osten auf die Straße gehen, empören sich über die antidemokratischen und national-chauvinistischen Maßnahmen der Kiewer Putsch-Regierung, über die Beteiligung von Faschisten an dieser Regierung und die entsprechende Freiheit, die deren Schlägerbanden heute genießen. Sie empören sich über die unhaltbaren sozialen Zustände, die die neue Regierung noch verschärfen will, ja unter dem Diktat von EU und IWF verschärfen muss.” (21)

Die AutorInnen der Vierten – und viele andere rechte Zentristen – bestreiten jedoch, dass die Bewegung im Osten je Massencharakter und eine Massenbasis hatte. Sie wären nicht viel mehr als militärische Apparate gewesen, die dann in der Regel auch noch mehr oder weniger sofort von russischen Agenten durchsetzt gewesen wären.

Quelle dieser Bewegung war sicherlich nicht das besondere politische Geschick der im Donbas wirkenden Kräfte – es war vielmehr eine Reaktion auf die aggressive anti-soziale und nationalistische Politik der Kiewer Regierung.

Selbst der Spiegel – sicherlich keiner pro-russischen Agitation verdächtig – wies im April 2014 darauf hin:

„In Umfragen vor der Krise fand sich nie eine Mehrheit für eine Abspaltung der Donbass-Region von der Ukraine. Doch es zeigen sich die fatalen Fehler der Maidan-Revolutionäre. Um den ehemaligen Präsidenten Wiktor Janukowytsch zu stürzen, ließen sie sich auf ein Bündnis mit nationalistischen Kräften ein, die Lenin-Denkmäler stürzen und den zutiefst russisch geprägten Osten der Ukraine ‚entrussifizieren‘ wollen. Der Übergangsregierung gehören zwar Nationalisten aus dem Westen der Ukraine an, aber kein einziger Politiker, der das Vertrauen der Ostukrainer besitzt. Das rächt sich jetzt. Anders als auf der Krim stellen Ukrainer im Osten des Landes vielerorts die Bevölkerungsmehrheit. Die neue Regierung in Kiew aber mögen nur wenige verteidigen….“ (22)

Borotba und der russische Marxist Kagarlitzki wiesen in ausführlichen Analysen auf die sozialen Wurzeln der Bewegung im Osten hin, warum die wirtschaftliche Orientierung auf die EU praktisch zum industriellen Kahlschlag im Osten des Landes führten muss, wo der größte Teil der ukrainischen Arbeiterklasse konzentriert ist.

“Selbst vor dem Beginn der globalen ökonomischen Krise zeigte die Eisenverhüttung – die „Lokomotive“ der dezentralen ukrainischen Wirtschaft, die 40-50 Prozent des Exports darstellte – offensichtliche strukturelle Schwäche: altmodische Technologien, Ineffizienz (Die Produktion einer Tonne Stahl benötigt in der Ukraine 52,8 Arbeitsstunden, 38,1 in Russland und 16,8 in Deutschland), hoher Energieverbrauch und Abhängigkeit von ausländischen (hauptsächlich russischen) Energiequellen. So lange die Preise hoch waren, waren diese Schwächen nicht von entscheidender Wichtigkeit, aber jede Verschlechterung der Konjunktur machte sie zu einer ernsthaften Bedrohung.

Die anderen Sektoren der ukrainischen Wirtschaft – die landwirtschaftliche Produktion (teilweise Pflanzen für industrielle Zwecke), die chemische Industrie (hauptsächlich die Produktion von Mineraldünger) und die Rohstoffindustrie (Erz und Kohle) sind ebenfalls hauptsächlich auf die Rohmaterialproduktion angewiesen und am Export orientiert. Wegen der Begrenztheit des Binnenmarktes entwickelten sich die übrigen Produktionssektoren (mit Ausnahme der Lebensmittelproduktion) nur in dem Ausmaß, in welchem sie dem exportorientierten Sektor dienten. In der Regel waren diese Bereiche der Wirtschaft von niedrigen Löhnen und Gewinnraten geprägt.

Mit dem Rückgang der nationalen Produktion in Gebieten außerhalb des exportorientierten Sektors steigerte sich die Abhängigkeit von Importen. Der Anteil der ukrainischen Güter innerhalb der gewerblichen Umsätze sank kontinuierlich, während der Anteil an Importen wuchs. Ab Mitte der 2000er überstiegen die Importe immer wieder die Exporte. Aus diesem Gegensatz wurde ein Anstieg der Schulden im Ausland gefördert, wovon sowohl die staatlichen als auch die privaten Schulden betroffen waren.

Mit der globalen Krise 2008 sank die Nachfrage an ukrainischen Exporten, während die Preise für Importe anstiegen und die Abhängigkeit von Importen wuchs. Das Modell des ukrainischen Kapitalismus war eindeutig zum Scheitern verurteilt.” (23)

Sogar in den Publikationen der Vierten Internationale muss die andere soziale Basis der UnterstützerInnen der Regierungsgegner im Osten zugestanden werden. So schreibt Wolodymyr Ischtschenko unter dem Titel “Maidan oder Anti-Maidan” in der SOZ vom Mai 2014:

“Denen, die die Selbstorganisation von unten auf dem Maidan gefeiert haben, wird es komisch vorkommen, dass die Anti-Maidan-Proteste in der Ostukraine sogar noch stärker von der Basis aus und dezentral, netzwerkartig organisiert und zur Zeit ohne Leitfigur sind. Weder die Partei der Regionen noch die KP der Ukraine spielen die Rolle einer politischen Vertretung für den Anti-Maidan, wie es die drei früheren Oppositionsparteien für den Maidan taten. Der sog. ‚Vertreter der Südostukraine‘ und frühere Gouverneur der Region Charkiw, Miychajlo Dobkin, den Russland auf gleichem Fuße mit der Regierung in Kiew zu den Verhandlungen mit der EU und den USA hinzuziehen wollte, wurde von den Protestierenden in Lugansk heftig ausgebuht. Ebenso wenig trauen sie den oligarchischen Eliten ostukrainischer Herkunft; oder dem reichsten Menschen in der Ukraine, Rinat Achmetow, der jetzt den Friedensstifter gibt; oder dem neuen Gouverneur der Region Donezk, Serhij Taruta. Und sie wollen auch nicht den diskreditierten und korrupten Janukowytsch zurück.

Die soziale Basis des Protests scheint hier plebejischer, ärmer und weniger gebildet zu sein als auf dem Maidan; man sieht mehr Arbeiter und Rentner und weniger Intellektuelle und hochqualifizierte Freiberufler, die helfen können, klare Forderungen zu formulieren und sie in den Medien zu verteidigen.” (24)

Auch wenn der Autor am Ende üblen Snobismus gegen Arbeiter und Rentner durchblicken lässt – so bestätigt er doch, dass es sich im Osten um eine stark proletarisch geprägte Bewegung handelte. Sie war – bei allen Schwächen, einschließlich der Illusionen in Russland und des Einflusses russischer Nationalisten – eine legitime Bewegung, die – oft erst auch als Reaktion auf die Kiewer Repression und faschistische Angriffe in Odessa und Mariopul – Massencharakter erhielt.

Ihr progressiver Charakter drückte sich auch darin aus, dass sie die Anerkennung der Kiewer Regierung praktisch verweigerte und gegen die Faschisten und die ukrainische Armee nicht nur protestierte, sondern auch bewaffnete Selbstverteidigungskräfte aufbaute. Anders als die Vierte erkannte sie, was die Wahl Poroschenkos bedeutete – das “demokratische Mandat“ für den Krieg gegen den Osten. Die selbsternannten „Volksrepubliken“ antworteten ihrerseits mit der Organisierung eines Referendums über den weiteren Status des Ostens, das ohne Zweifel eine Manifestation der Massenunterstützung war. Für RevolutionärInnen war es unbedingt erforderlich, in dieser Situation dem Widerstand im Osten Unterstützung zu geben und für seinen Sieg einzutreten.

Ökonomismus

Anders ein großer Teil der „trotzkistischen“ Organisationen (RSB, ISL, SAV, Marx21, RIO). Diese begnügten sich bestenfalls damit, die Kiewer Regierung, die Oligarchen, den Imperialismus und die Führungen der Volksrepubliken in Donezk und Lugansk zu kritisieren. Von diesen müsse unbedingt politische Unabhängigkeit gewahrt werden, deren Programm dürfe nicht politisch unterstützt werden.

Das war und ist natürlich vollkommen richtig. Mit dieser korrekten Haltung wird jedoch gleichzeitig der konkreten, letztlich politisch zentralen Frage ausgewichen: Wie sollten RevolutionärInnen zum Widerstand der Bevölkerung des Ostens und Südens stehen? Gilt es diesen zu unterstützen – trotz der nicht-proletarischen Führung? Traten und treten sie für den Sieg über die Faschisten, die Nationalgarde und ihre Verbündeten ein?

Die Gruppe Arbeitermacht und die Liga für die Fünfte Internationale bejahten all diese Fragen klar. Diese Haltung teilen wir mit Kräften der antifaschistischen, sozialistischen Opposition in der Ukraine wie z.B. Borotba. Im Kampf zwischen Kiew und den Aufständischen sind wir für den Sieg letzterer.

Genau diesen konsequenten Schritt wollen viele Linke aber nicht gehen. Antifaschismus, gut und schön – aber warum für den Sieg jener eintreten, die aktuell kämpfen? Haben diese nicht auch falsche, ja teils reaktionäre Gedanken? Können die nicht auch zum Spielball fremder Mächte, z.B. des russischen Imperialismus werden?

Natürlich. Aber die Unterstützung für den heutigen Kampf ablehnen, weil wir nicht garantieren können, dass sich dessen Charakter morgen wandelt, ist kein Mittel revolutionärer Politik, sondern ein Zeichen passiven Abwartens. Real läuft es darauf hinaus, sich im aktuellen Kampf „neutral“ zu verhalten – und damit letztlich der Seite der Kiewer Regierung und des Imperialismus zuzuarbeiten.

Daran ändert sich auch nichts, wenn man politisch unverfängliche Initiativen unterstützt, vorzugsweise rein wirtschaftliche Streiks unterstützt, die außerhalb des Bürgerkriegsgebietes stattfinden. So kann der eigenen Indifferenz angesichts der zentralen politischen und militärischen Konfrontation auch noch die Weihe einer „unabhängigen Arbeiterpolitik“ angedichtet werden.

Nichts gegen die Unterstützung von Streiks und wirtschaftlichen Kämpfen. Diese jedoch in einem Bürgerkrieg, der von einer halb-faschistischen Regierung, vom westlichen Imperialismus und auch der „eigenen“ Regierung angeheizt wird, zur Hauptachse von „Solidaritätsarbeit“ und Eingreifen zu machen, hat nichts mit proletarischer Klassenpolitik oder Internationalismus zu tun!

Im Gegenteil: Es bedeutet, die Klasseninteressen der ArbeiterInnen nur mit dem Lohnkampf, mit dem gewerkschaftlichen Kampf zu identifizieren oder diesen für das „Wesentliche“ des Klassenkampfes auszugeben. Das ist Ökonomismus, „Nur-Gewerkschafterei“, wie es Lenin genannt hätte – also letztlich bürgerliche Arbeiterpolitik.

Exkurs: Verwirrung bei RIO

Die „Revolutionäre Internationalistische Organisation“ (RIO) hat relativ wenig zur Ukraine publiziert, obwohl sie richtig analysiert, dass wir es dabei mit dem „schärfsten geopolitischen Konflikt seit Ende des ‚Kalten Kriegs‘ zu tun haben“. Im Artikel „Die Reaktion herrscht in der Ukraine“ (25) stellt RIO ihre aktuelle Einschätzung und Perspektive dar.

Die Charakterisierung des Maidan als „konterrevolutionär“ wie auch die Ziele der westlichen Imperialisten und Putschisten sind weitgehend richtig beschrieben. Auch das geo-strategische Interesse Russlands wird anerkannt, sein imperialistischer Charakter jedoch bestritten. Vielmehr wird es als „Regionalmacht“ charakterisiert, die „aufgrund ihrer wirtschaftlichen Schwäche weit davon entfernt“ wäre, „als imperialistische Macht zu agieren.“

Wir haben auf die Schwächen dieser hölzernen Form von Imperialismusanalyse, die die Frage, ob eine Macht als imperialistische Macht gelten kann, nicht von der Stellung des Landes im internationalen kapitalistischen Gesamtsystem ableitet, sondern vom Abklopfen einzelner Charakteristika, im Artikel zum russischen Imperialismus hingewiesen. (26) Wichtiger ist jedoch, dass RIO zu einer wirren Einschätzung der Lage im Osten kommt. So wird anerkannt, dass diese eine Reaktion auf die reaktionären Angriffe aus Kiew waren: „Wir stellen die Volksrepubliken nicht auf die qualitativ selbe Stufe wie die Kiewer Putsch-Regierung. Einerseits, weil die PutschistInnen mit den Imperialismen kollaborieren, andererseits weil sie den BürgerInnenkrieg mit ihrem nationalistischen Paradigma de facto hervorgerufen haben.” (27)

Daraus würde nun jeder logisch denkende Mensch schließen, dass die Volksrepubliken trotz ihrer bürgerlichen Führung und eines politischen Regimes der Volksfront (also von bürgerlichen Kräften wie auch Gewerkschaften oder linken Parteien), gegen die Reaktion verteidigt werden müssen.

Statt dessen erfahren wir im selben Text: „In diesem StellvertreterInnenkrieg dürfen sich RevolutionärInnen nicht auf einer Seite des reaktionären Konflikts positionieren. Die Klassenkollaboration sowohl im Westen als auch im Osten hat nichts als die Spaltung der ArbeiterInnenklasse hervorgerufen und die Position der faschistischen Banden und der OligarchInnen gestärkt. Die Aufgabe revolutionärer MarxistInnen besteht im östlichen Raum darin, die reaktionären Regierungen sowohl im Westen als auch Osten der Ukraine zu bekämpfen, um das Proletariat vom Einfluss der zahlreichen bürgerlichen Führungen zu befreien. Sie kann nicht auf morgen verschoben werden.” (28)

Waren die beiden Seiten zuerst noch „qualitativ“ ungleich, sind wenige Zeilen später „beide Seiten gleichermaßen reaktionär.“

Um die Verwirrung perfekt zu machen, heißt es gegen Ende des Artikels: „Vor dem Hintergrund der notwendigen Verteidigung gegen militärische Angriffe muss ein sozialistisches Programm entwickelt werden.“ (29) Das heißt aber für jeden klar denkenden Menschen nichts anderes, als dass sich die Arbeiterklasse auf einer Seite im Konflikt positionieren soll/muss – ansonsten ist ja die Verteidigung einer Seite gegen Angriffe vollkommen sinnfrei.

Die ganze Verwirrung kommt daher, dass RIO die Bewegung im Osten einmal als reaktionär definiert, weil die Führung eine Volksfront ist. An anderer Stelle sieht sich die Gruppe aber wieder genötigt anzuerkennen, dass ein Teil der Bewegung im Osten und auch die „Volksrepubliken“ qualitativ verschieden von der Kiewer Seite wären.

Das Problem ist an sich leicht zu lösen. Als RevolutionärInnen unterscheiden wir auch in Donezk und Lugansk zwischen der sozialen Basis, den Zielen und Potenzen einer Bewegung und einer reaktionären Führung. Trotz des reaktionären Charakters der Spitzen der „Volksrepubliken“ müssen RevolutionärInnen diese gegen die Angriffe der Reaktion verteidigen. Wir bekämpfen diese Führungen dabei immer auch politisch und treten für den Aufbau einer revolutionären Arbeiterpartei ein – aber wir tun dies auf eine Art und Weise, die den Sieg gegen die Kiewer Reaktion herbeiführen soll. Und das heißt im Bürgerkrieg um die Führung in der militärischen Verteidigung zu kämpfen.

Ob die ArbeiterInnen eine unabhängige Klassenposition entwickeln und einnehmen und für den Bruch mit den Führungen der Volksrepubliken gewonnen werden können, hängt entscheidend auch davon ab, ob proletarische Revolutionäre ihr sozialistisches Programm mit den militärischen Erfordernissen verbinden können. Hier bietet RIO ein tragikomisches Bild der Verwirrung, das sich auch in ihrer Kritik an der Kriegsführung der Volksrepubliken zeigt:

„Doch wir schüren keine Illusionen in die Volksrepubliken, da sie die BergarbeiterInnen in der Ostukraine einer reaktionären Führung unterordnen. Ein Beispiel zur Illustration: Anstatt die ArbeiterInnen in der wichtigsten Industrieregion des Landes für einen Generalstreik zu organisieren, der zum einen den Vormarsch der ukrainischen Truppen aufhalten könnte und zum anderen ein erster Anhaltspunkt für eine Verbrüderung mit der ArbeiterInnenklasse in der Westukraine sein könnte, beschränken sich die Führungen der Volksrepubliken auf eine militärische Konfrontation auf dem Rücken der Zivilbevölkerung.“ (30)

Diese Passage beweist nur, dass die Strategen von RIO als alternative Führung nichts taugen. Beim Anrücken der reaktionären Armee, der faschistischen Nationalgarde und „Freiwilligenbataillone“ soll die Arbeiterklasse im Gebiet des Aufstandes einen Streik, ja, darunter gibt’s RIO nicht her, einen Generalstreik organisieren. Ein solcher Generalstreik führt nur zur Desorganisation des Gebietes, das verteidigt werden soll. Er dient nicht der „notwendigen Verteidigung“, für die RIO angeblich ist, sondern schwächt sie, weil der Generalstreik zur Lahmlegung des öffentlichen Lebens in diesem Bereich führt (sofern er ernst gemeint ist). Er hilft der Kiewer Junta.

Im Fall jeder Form des Angriffs – sei es durch Bombardements oder Artilleriebeschuss wie auch eine Bodeninvasion – bedeutet der Ruf, die Arbeiter zum Streik aus ihren Betrieben zu holen oder als Betriebsbesetzung zu führen (z.B. Schachtanlagen), oft nur, sich an einem bevorzugten Angriffsziel zu platzieren. Es ist ein Selbstmordkommando, keine zielführende Kampfmethode.

Erst recht gilt das, wenn gegnerische Kräfte in das eigene Gebiet eindringen. Dagegen ist ein Streik keine wirksame Waffe, vielmehr geht es darum, die Wohngebiete und Fabriken militärisch gegen die Angreifer zu schützen und die Versorgung der eigenen KämpferInnen zu sichern. Wer zu diesem Zeitpunkt streikt, schwächt die Front.

Was RIO als Alternative zur Politik der Nationalisten anbietet, ist keine Alternative, sondern ein Himmelfahrtskommando.

Trotzki polemisierte in einer vergleichbaren Situation – dem spanischen Bürgerkrieg 1937 – gegen die Resolution der ultralinken Gruppierung innerhalb des linken Flügels der US-amerikanischen Socialist Party um Joerger und Salemme, der 1937 als trotzkistisch ausgeschlossen wurde und die Socialist Workers Party (SWP) bildete. Die Position der Ultralinken war: „Keine politische oder materielle Unterstützung für die bürgerliche Republikanische Regierung!“ (31)

„Ein Generalstreik, insbesondere im Kriege, kann nur das Ziel haben, die Regierung zu stürzen, kann nur eine Einleitung zum Aufstand sein…wenn wir den Soldaten auffordern, nicht zu kämpfen, dann müssen wir den Arbeiter (der durch seine Arbeit in den Munitionsfabriken der Valenciaregierung „materielle Hilfe“ leistet, auffordern, nicht zu arbeiten. Wenn wir aber, wie es der Fall ist, nicht stark genug sind, die Macht zu ergreifen, dann müssen wir in den vom Kräfteverhältnis bestimmten materiellen Bedingungen militärisch gegen Franco kämpfen, während wir gleichzeitig uns politisch auf den Aufstand gegen Negrin vorbereiten.“ (32)

Ersetze Franco durch Kiewer Regierung und ihre Hilfstruppen, Negrin durch Gegenregierung des ostukrainischen Volksfrontbündnisses und ihre Milizen, und wir können Trotzkis Analogie beinahe 1:1 für den ukrainischen Bürgerkrieg übernehmen. Die verwirrten MöchtegerntrotzkistInnen von RIO treten nicht in Trotzkis Fußstapfen, sondern die seiner ultralinken Kontrahenten um Joerger/Salemme!

Nationalistische Tendenz

Die Linie, sich im Bürgerkrieg neutral zu verhalten, bildet das Kredo etlicher zentristischer Gruppen. Die Vierte Internationale schwankte hingegen zwischen einer solchen ökonomistischen Linie und einer der „Verteidigung der Ukraine“

Statt die drohende nationale Unterdrückung des russisch-sprachigen Teils der Bevölkerung anzuprangern, erklärte sie das „Engagement“ für „nationale Unabhängigkeit“ einer Regierung und Bewegung für legitim, die (a) gerade dabei war, die Reste der „nationalen Unabhängigkeit“ an USA, EU, Deutschland, NATO abzutreten und (b) damit einen Feldzug gegen die russische Bevölkerung legitimieren wollte.

So erklärt sie in der Resolution „Volksbewegung und Imperialismen“ im Juni:

“Die Gewalt der bewaffneten Milizen ‚gegen Kiew‘, die jeden Dialog blockieren, erfordert sicher eine adäquate Antwort.“ (33)

Von wem eigentlich? Von der Kiewer Regierung, die monatelang ihre „Dialogbereitschaft“ durch die Nationalgarde und die Weigerung, mit den VertreterInnen von Donezk und Lugansk zu sprechen, unter Beweis gestellt hat? Dafür hat die Vierte aber gute Ratschläge an die Oligarchentruppe von Kiew. Statt Krieg solle sie es doch mit „Demokratie und Frieden“ als „adäquater Antwort“ probieren

„Sie könnte sich jedoch auf die Bestrebungen der Bevölkerung nach Demokratie und Frieden stützen. Die Verteidigung der Einheit des Landes impliziert andere Antworten als militärische. Selbst wenn es schwierig ist einzuschätzen, was Lügenpropaganda ist und was nicht, so trifft es sicher zu, dass die von Kiew gestarteten ‚Antiterror-Operationen‘ nicht dazu geführt haben, dass das Chaos beendet wurde und das Vertrauen der Bevölkerung gewonnen werden konnte.“ (34)

Welche Wunder! Dass das ganze Spiel mit der Unterstützung des ukrainischen Nationalismus keine leere Floskel ist, belegt der Schluss der Resolution der Vierten Internationale:

„Die nationale Frage steht im Zentrum der politischen Aktivität der Ukraine. Die Linke Opposition hat erklärt: ‚Das nationale und kulturelle Wiederaufleben der ukrainischen Nation und der anderen Nationen unseres Landes ist nicht möglich, ohne dass die sozialen Probleme gelöst werden.‘ Eine Linke in der Ukraine, die die nationale Dimension den Nationalisten überließe, würde sich von vornherein zum Scheitern verurteilen, denn im nationalistischen Lager gibt es bereits im Aufstieg befindliche Kräfte, die sich die Randständigkeit der sozialistischen Linken zunutze machen und in den Augen der Arbeitenden als Alternative auftreten.“ (35)

Hier wird – anders als bei zahlreichen sonstigen Artikeln – deutlich, dass es der Vierten oder jedenfalls wichtigen Teilen dieser Organisation sowie ihren ukrainischen AnhängerInnen – keineswegs um eine Ablehnung aller Nationalismen geht.

Ihre Politik hat auch nichts mit dem Eintreten für das nationale Selbstbestimmungsrecht zu tun. Das müsste erstens in der Ukraine ganz klar auch auf die russischen und russisch-sprachigen Teile der Bevölkerung angewandt werden. Diese sind von nationaler Unterdrückung bedroht, nicht die Mehrheit der UkrainerInnen. Die Kiewer Regierung führt unter dem Namen der „Verteidigung“ der ukrainischen Kultur eine chauvinistische Kampagne und einen Krieg gegen alles „Russische“. Alles Gerede davon, in dieser Lage den Nationalisten „das Nationale“ nicht überlassen zu wollen, ist selbst eine Kapitulation vor dem Nationalismus und der eigenen herrschenden Klasse.

Mit einer leninistischen Nationalitätenpolitik hat das alles natürlich nichts zu tun. Diese müsste erstens vom Kampf gegen jede Form der nationalen Unterdrückung – und das ist in der Ukraine eben die Unterdrückung der Nicht-UkrainerInnen – und nicht umgekehrt ausgehen.

Zweitens hat der Kampf für das Selbstbestimmungsrecht nichts mit dem Kampf für das „kulturelle Wiederaufleben“ der ukrainischen Nation zu tun. MarxistInnen verteidigen nie umstandslos das „Wiederaufleben“ der nationalen Kultur einer bürgerlichen Nation.

Natürlich gibt es in der Geschichte der ukrainischen Nation wichtige, bewahrenswerte progressive Elemente (wie in der jeder anderen Nation). Die „nationale Kultur“ der UkrainerInnen selbst ist aber wie die jeder anderen Nation eine bürgerliche Kultur – und kann daher nie als solche verteidigt oder gar zum Gegenstand ihre „Wiederbelebung“ gemacht werden.

Die Formel, die „nationale Dimension“ nicht den Nationalisten zu überlassen, ist daher in Wirklichkeit eine Kapitulation vor dem bürgerlichen Nationalismus und wird die Chauvinisten in der Ukraine nur bestärken, nicht besänftigen.

Die marxistische Nationalitätenpolitik verteidigt das Selbstbestimmungsrecht nicht, weil für sie „die Nation“ einen Wert an sich darstellen würde, sondern weil die Abschaffung aller Formen, die das Selbstbestimmungsrecht einschränken, darauf zielt, nationale Gegensätze, die aus der Unterdrückung erwachsen, zu überwinden und so nationale Spaltungen der Unterdrückten zu überwinden (insbesondere die Spaltung innerhalb der Arbeiterklasse).

Die Vierte Internationale und v.a. die sog. „Linke Opposition“ in der Ukraine haben diesen Pfad längst verlassen.

Dies wird auch nur notdürftig dadurch verhüllt, dass sie für die Bewegung im Osten wie auch gegen jene ukrainischen Linken, die gegen die Regierung kämpfen und von Repression bedroht sind, keinerlei Solidarität entwickeln. Das trifft nicht nur die obszönen Relativierungen des faschistischen Massakers von Odessa. Es betrifft auch das Schweigen bezüglich der Repression gegen GenossInnen von Borotba und die Kriminalisierung der Kommunistischen Partei der Ukraine. Unabhängig von allen politischen Differenzen ist es eine elementare Pflicht jedes Linken, jedes Demokraten (von KommunistInnen ganz zu schweigen), diese GenossInnen gegen die Repression zu verteidigen. Wer das mit dem Verweis auf die politischen Verbrechen der KP unter Janukowytsch – so real und groß sie auch waren – ablehnt, beweist nur, dass für ihn internationale Solidarität ein leeres Wort, eine bloße Phrase ist.

Im Gegenteil. So stimmen sie in die reaktionäre Hetze gegen die „Konferenz von Jalta“ vom Juli 2014 ein, auf der Linke aus Westeuropa, den USA, aber auch VertreterInnen aus Donezk und Lugansk, von Borotba und GenossInnen um Boris Kagarlitzki zusammentraten, um die Lage zu diskutieren und die Frage einer anti-faschistischen Bewegung gegen die Kiewer Regierung zu besprechen.

Angela Klein und andere Parteigänger des Maidan – von den in Osteuropa im Wesentlichen zum anti-kommunistischen Liberalismus gehörenden Anarchisten ganz abgesehen – haben diese Versammlung übelst denunziert (36). Wir verweisen hier auf eine Antwort eines britischen Genossen, der bei der Veranstaltung war (37), der diese Anschuldigungen klar widerlegt.

Dasselbe trifft auf die Verleumdungen von Borotba zu. Auf diese hat unter anderem Andre Hunko ausführlich geantwortet (38). Es ist aber wohl besonders bemerkenswert, dass alle VerleumderInnen, auch wenn sie seitenweise über angebliche Zusammenarbeit mit Faschisten berichten, praktisch nichts zu Papier bringen, das eine inhaltliche Kritik darstellen würde. So hat z.B. die Konferenz von Jalta eine ausführliche Erklärung verabschiedet, die eine Mischung zwischen reformistischen und links-populistischen Vorstellungen darstellt.

Diese wurden in deutscher und englischer Sprache veröffentlicht (39). In englischer Sprache haben wir auch eine Auseinandersetzung mit dieser Erklärung publiziert (40).

Es ist aber bemerkenswert, dass all die KritikerInnen nichts schrieben über die politischen Positionen von Borotba oder die politische Erklärung von Jalta. Der Grund ist einfach. Einer politischen Debatte über das Programm, über Strategie und Taktik im Osten der Ukraine und im Kampf gegen die Kiewer Regierung wollen diese Leute einfach ausweichen. Dabei ist das heute die dringlichste Aufgabe von revolutionären KommunistInnen in der Ukraine und international. Wir wollen daher zum Abschluss noch kurz unsere Position zur aktuellen Entwicklung darstellen.

Das Abkommen von Minsk

Nach Monaten des Bürgerkriegs in der Ukraine wurde am 7. September mit dem Abkommen von Minsk ein Waffenstillstand zwischen der Kiewer Regierung und den Aufständischen in Donezk und Lugansk vereinbart. Damit ist die offene militärische Konfrontation vorerst beendet – die großen Probleme des Landes sind damit natürlich nicht gelöst.

Der Waffenstillstand sieht zuerst eine Feuerpause und den Austausch von hunderten Gefangenen auf beiden Seiten vor. Illegale Militäreinheiten, Kämpfer und Söldner hätten das Land zu verlassen, ein Amnestiegesetz soll Aufständische vor Strafverfolgung schützen. Darüber hinaus hält das Abkommen fest, dass Donezk und Lugansk Teil der Ukraine bleiben sollen, jedoch mit weitgehender Autonomie in finanzieller, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht. Ferner sollen möglichst rasch Kommunalwahlen im Osten des Landes abgehalten werden.

Man muss kein großes politisches Genie sein, um zu erkennen, dass diese Vereinbarung fast ebenso viele „Abmachungen“, wie strittige Punkte enthält, die in Zukunft im Kampf entschieden werden und keineswegs als sichere Vereinbarung gelten können. Wer legt z.B. fest, was eine „illegale Militäreinheit“ ist? Wer sichert wem Straffreiheit auf welchem Gebiet zu?

Vollkommen unklar ist, wer die bewaffneten Kräfte in einer zukünftigen Ostukraine organisieren kann oder darf. Erst gar nicht behandelt ist die Frage, wem die großen Unternehmen im Osten der Ukraine in Zukunft gehören sollen. Die dortigen Oligarchen wurden enteignet. Natürlich wollen sie „ihr“ Eigentum zurückhaben – so wie die Bevölkerung in Lugansk und Donezk diese den Räubern, Plünderern, den ostukrainischen Monopolkapitalisten sicher nicht wieder übergeben will.

Dass das Abkommen zustande kam, lässt sich leicht erklären. Die ukrainische Armee und ihre faschistischen und nationalistischen Hilfstruppen (Nationalgarde, Freiwilligenbataillone) standen kurz vor der militärischen Niederlage. Da war es für Poroschenko und Co. das geringere Übel, sich mit „illegalen“ Separatisten an einen Tisch zu setzen. Monatelang hatte die Kiewer Putschistenregierung, die ohne Unterstützung der westlichen Imperialisten kaum überlebensfähig ist, jede offizielle Beziehung zu den Volksrepubliken im Osten abgelehnt – und damit natürlich jede Verhandlungslösung praktisch unmöglich gemacht. Erst das Steckenbleiben ihrer Offensive und die drohende Einkesselung ihrer Verbände haben zu einem „Gesinnungswandel“ geführt.

Nun saßen die Vertreter der ukrainischen Präsidentschaft und die „Gouverneure“ von Donezk und Lugansk am Minsker Verhandlungstisch. Ausgehandelt wurde das Abkommen von der OSZE unter Einbindung Russlands und natürlich auch der EU.

Zweifellos stellt das Abkommen eine diplomatische Niederlage der ukrainischen Regierung dar. Ein wirklicher Sieg der Aufständischen ist es aber auch nicht.

Kräfte an Kiews Seite

Auf Seiten der Kiewer Regierung waren es v.a. die Präsidentschaft um Poroschenko und sein „politischer Block“, die für das Abkommen eintraten. In der Ukraine repräsentieren sie heute v.a. das Bündnis mit der EU und den führenden europäischen imperialistischen Mächten.

Es ist daher kein Wunder, dass Poroschenko nicht nur von den Faschisten (Swoboda, Rechter Sektor, Ljaschko) massiv wegen „Verrats“ angegriffen wird. Auch die „Vaterlandspartei“ um Julia Timoschenko und der ehemalige Ministerpräsident Jazenjuk, der mit dem Wahlbündnis „Volksfront“ (bestehend aus Teilen der Vaterlandspartei, aber auch Faschisten wie der „Sozial-Nationalen Partei“ um ehemalige „Maidan-Kommandeure“) Ende Oktober zur Parlamentswahl antreten wird, greifen Poroschenko von rechts an. Darin sehen sie auch den einzigen Weg, eine Wahlniederlage zu verhindern. Ob das gelingt, ist zweifelhaft, weil sie erstens gespalten, zweitens aber selbst in dem Widerspruch gefangen sind, Poroschenko einerseits „Kapitulation“ vorzuwerfen, zum anderen jedoch selbst eingestehen zu müssen, dass die ukrainische Armee nicht in der Lage war, zu siegen.

Das ändert natürlich nichts daran, dass diese Kräfte jede Chance nutzen werden, einen neuen Feldzug gegen den Osten zu fordern, sobald sie die Zeit dafür gekommen sehen. Außenpolitisch setzen sie auf die USA und ihre engeren Verbündeten in der EU. Für sie ist vollkommen klar, dass der Osten des Landes wieder unter die ungebrochene Herrschaft Kiews und des westlichen Imperialismus kommen soll, was nicht zuletzt durch Jazenjuks Lieblingsprojekt illustriert wird, eine Mauer an der Grenze zu Russland zu errichten.

Wie das Beispiel von Jazenjuks „Volksfront“ zeigt, ist auch der Übergang von „demokratischen“ nationalistischen Hetzern, imperialistischen Gefolgsleuten, Oligarchen-Marionetten zu den faschistischen Gruppierungen oft fließend. Im Bürgerkrieg konnten letztere sich weiter bewaffnen und bilden heute einen beachtlichen Teil des Repressionsapparates (v.a. die „Nationalgarde“).

Es ist also klar, dass der Waffenstillstand für diese Fraktionen, die allesamt eine Ukraine als Anhängsel des westlichen Imperialismus wollen, die allesamt mehr oder weniger aggressiv nationalistisch sind und die „natürlich“ die Betriebe im Osten ihren „rechtmäßigen Besitzern“, also Oligarchen vom Schlage Achmetows, zurückgeben wollen, nur eine Feuerpause darstellt, ihre Kräfte für den nächsten Schlag gegen die Arbeiterklasse (nicht nur im Osten des Landes) zu sammeln. Dieser muss natürlich nicht zwangsläufig oder in erster Linie militärisch sein – er wird aber unvermeidlich kommen.

Allerdings ist das Kiewer Lager von eigenen inneren Widersprüchen gekennzeichnet, die es in der nächsten Periode zu nutzen gilt.

Erstens gibt es einen realen Gegensatz zwischen Poroschenko und der EU/Deutschland einerseits und zwischen Jazenjuk und den USA andererseits. Das betrifft die Haltung zu einem möglichen Arrangement mit Russland. Deutschland u.a. EU-Staaten haben ein Interesse, einen für sie möglichst profitablen Kompromiss mit Russland zu schließen.

Die USA andererseits wollen, dass es an der Grenze zwischen zwei imperialistischen Rivalen bei einem Dauerkonflikt bleibt, der politische, militärische, diplomatische Ressourcen von beiden bindet. Auf der NATO-Tagung in Wales wurde Russland praktisch wieder zu einem Hauptfeind erklärt. V.a. die USA und ihren engeren Verbündeten wollen die NATO-Integration der Ukraine (gemeinsame Manöver) und die Aufrüstung der ukrainischen Armee wie der Frontstaaten zu Russland vorantreiben.

Aktuell findet das aber seine Grenze in den mangelnden Ressourcen Kiews, dem wirtschaftlichen Niedergang des Landes inklusive drohenden Staatsbankrotts, der eigentlich nur durch imperialistische Hilfe verhindert werden kann, sowie in der Kriegsmüdigkeit von Teilen der ukrainischen Bevölkerung.

Poroschenko versucht vor diesem Hintergrund, die Parlamentswahlen zu nutzen, um seiner Herrschaft ein demokratisches Mäntelchen zu geben und das Kräfteverhältnis weiter zu seinen Gunsten zu verschieben.

Von wirklich demokratischen Wahlen kann natürlich nicht gesprochen werden. Nicht nur ist der Osten ausgeschlossen, auch wenn die Kiewer Regierung Pseudowahlen durchziehen will, indem in Lugansk und Donezk gemeldete BürgerInnen Abgeordnete für ihre Bezirke in anderen Landesteilen wählen dürfen. Hinzu kommt, dass ein Wahlkampf aller Parteien, die sich offen gegen die Kiewer Regierung stellen, praktisch nicht möglich ist. Die Kommunistische Partei ist zwar noch nicht verboten, befindet sich aber in einem Zustand der Halb-Legalität. Öffentliche Versammlungen werden von Faschisten gesprengt, TeilnehmerInnen zusammengeschlagen, in einzelnen Fällen auch ermordet. GenossInnen der KP, aber auch von linken, sozialistischen Organisation wie Borotba, werden verfolgt, festgenommen und des „Terrorismus“ angeklagt.

Der Osten

All das zeigt einmal mehr den erzreaktionären Charakter der Kiewer „Demokratie“, einer Allianz aus Oligarchen, Nationalisten und Faschisten. Mag diese auch ihre inneren Gegensätze haben – gegen die Arbeiterklasse und gegen alle Unterdrückten bildet sie einen Block.

Wir dürfen nicht vergessen, dass es diese Regierung war, die den Krieg gegen den Osten der Ukraine, gegen Donezk und Lugansk angezettelt hat. Das „Verbrechen“ der dortigen Aufständischen bestand einfach nur darin, dass sie sich gegen die Putschistenregierung gewehrt haben, um faschistische Massaker wie in Odessa, die nationale Unterdrückung der russisch-sprachigen Bevölkerung und die Zerschlagung der Arbeiterklasse im Osten im Zuge der Zerstörung der Industrie infolge der EU-Konkurrenz zu verhindern.

Die Kiewer Regierung, der westliche Imperialismus, aber auch etliche „Linke“ stellen es gern so hin, dass sie gezwungen war, ihren Feldzug vorerst aufzugeben und den Waffenstillstand zu unterzeichnen – wegen einer wirklichen oder drohenden „russischen Invasion“!

Ohne Zweifel gab es v.a. seit dem Sommer 2014 mehr Unterstützung aus Russland. Aber erstens umfassten die Selbstverteidigungseinheiten von Donezk und Lugansk insgesamt rund 35-40.000 – und selbst die höchsten Zahlen der westlichen Presse bezüglich der russischen Kämpfer und Söldner gehen nicht über 5.000 hinaus.

Von einer „russischen Invasion“ kann also keine Rede sein. Anders als das Kiewer Regime jedoch hatten die Volksrepubliken zweitens die Bevölkerung auf ihrer Seite. Sie drückten einen realen Willen aus, dass sich die Massen nicht unter das Kiewer Diktat begeben wollten – so widersprüchlich und unklar ihre sonstigen Perspektiven auch sein mochten.

Das zeigt sich selbst in den Interviews, die ARD und ZDF nun aus dem Osten der Ukraine bringen, wo selbst deren ReporterInnen kaum UnterstüzerInnen der Kiewer Regierung zu finden vermögen.

Kein Wunder, waren es doch diese vorgeblichen „Befreier“, die ganze Wohnviertel und die Produktionsanlagen, Bergwerke usw. bombardierten, die faschistische Mörderbanden bewaffneten und die Ostukrainer als „Untermenschen“ betrachteten.

Kein Wunder, dass rund eine Million EinwohnerInnen von Donezk und Lugansk (also rund ein Sechstel der Bevölkerung) nicht auf das Gebiet ihrer vorgeblichen „Befreier“, sondern ins „Reich des Bösen“, nach Russland geflohen sind.

Kein Wunder, wenn die ukrainische Regierung erst auf die Idee kam, einen „Hilfskonvoi“ für die Not leidende Bevölkerung zusammenzustellen, nachdem Russland hunderte LKW – sicher auch zu Propagandazwecken – Richtung Lugansk geschickt hatte.

Natürlich verfolgt Russland bei all dem seine eigenen wirtschaftlichen, politischen, geostrategischen imperialistischen Interessen. Zweifellos versucht die Regierung Putin, die Volksrepubliken in diesem Sinn zu nutzen und zu ihrem Instrument zu machen.

Doch das ändert erstens noch nichts am gerechtfertigten Kampf gegen die Kiewer Regierung. Zweitens zeigt auch die reale politische Entwicklung, dass die Interessen Russlands und der Volksrepubliken – ganz zu schweigen von deren Bevölkerung – keineswegs deckungsgleich sind.

Entgegen allen westlichen und ukrainischen Horrorszenarien will die russische Regierung keine Einverleibung von Donezk und Lugansk. Das läuft nicht nur ihren Wirtschaftsinteressen mit der EU zuwider. Russland müsste auch enorme Summen für den Erhalt und Wiederaufbau der Regionen zahlen – oder massive Unruhen einer stark proletarischen Region mit einer kampferprobten und bewaffneten Bevölkerung in Kauf nehmen. Und schließlich will auch Russland nicht, dass Donezk und Lugansk zu einem Beispiel für die entschädigungslose Enteignung von Oligarchen werden.

In Donezk und Lugansk entwickelt sich zugleich auch unter den „Separatisten“ ein politischer Konflikt grundlegender Art. Erstens ist wie auf Kiewer Seite auch dort der Waffenstillstand umstritten, wird teilweise als „Kapitulation“ bezeichnet. Die entscheidende Konfliktlinie ist jedoch die strategische Zielsetzung der „Volksrepubliken“.

Auf der einen Seite finden sich im Bürgerkrieg gestärkte russisch-nationalistische Kräfte, die die endgültige Lostrennung von der Ukraine wollen. Für sie ist die Schaffung von Novarussia (Neurussland) das eigentliche Ziel. Ein Anschluss an Russland ist für sie eine Option, wenn auch nicht zwingend. In jedem Fall geht es um enge Partnerschaft. Ihnen schwebt natürlich ein kapitalistisches Neurussland vor, ein korporatistischer Staat. Anders als Putin (und natürlich erst recht die ukrainischen Oligarchen) wollen sie die enteigneten Fabriken den ukrainischen Oligarchen nicht zurückgeben. Das sicher nichts mit Prinipien oder linken Positionen zu tun, sondern entspricht heute einfach der Massenstimmung im Osten. Zweitens schließt das keinesfalls eine zukünftige Privatisierung an „verantwortungsbewusste“ Unternehmer (womöglich aus Russland) durchaus ein.

Ihnen gegenüber stehen die „KommunistInnen“. Dieser Sammelbegriff umfasst die KP von Donezk und Lugansk, die sich praktisch von der Ukrainischen KP unabhängig gemacht hat, AktivistInnen radikalerer sozialistischer und kommunistischer Gruppen  sowie KämpferInnen, die im Bürgerkrieg politisiert wurden. Sie planen die Gründung einer gemeinsamen Partei, der „Kommunistischen Partei des Donbass“.

Sie vertreten die Auffassung, dass der Kampf in Lugansk und Donezk „nur“ der Ausgangspunkt für den Kampf zum Sturz der Kiewer Regierung im ganzen Land wäre. Sie wollen eine „gerechte Gesellschaft“ in der gesamten Ukraine, den Erhalt des ukrainischen Staates ohne Oligarchen und korrupte Bürokratie.

Ihr Programm ist eine Mischung aus linkem Reformismus und Populismus. Es ist aber sicherlich ein Ausdruck, den Aufstand im Osten zum Sprungbrett grundlegender sozialer Veränderungen zu machen. Die radikalsten Teile sprechen ähnlich wie Borotba von einer sozialistischen Umwälzung.

In all dem drückt sich aus, dass es im Osten der Ukraine nicht nur „Marionetten“ gab und gibt, sondern eine reale Massenbasis des Kampfes und einen politischen Differenzierungsprozess, der durch den Bürgerkrieg vorangetrieben wurde.

Ähnlich wie auf Kiewer Seite kommt es auch in diesen Regionen zu einer Neuformierung der Kräfte in Vorbereitung auf die unvermeidlichen nächsten Kämpfe. Die Wahlen in Donezk und Lugansk, die wahrscheinlich im November stattfinden, werden auch ein erster Test des Kräfteverhältnisses sein.

Als revolutionäre KommunistInnen haben wir von Beginn an die anti-faschistische, sozialistische Linke (insbesondere Borotba) im Kampf gegen die Kiewer Regierung aus Oligarchen, Neo-Liberalen und Faschisten unterstützt – trotz politischer und programmatischer Differenzen. Unsere Solidarität gilt auch heute diesen GenossInnen. Der Kampf gegen das Kiewer Regime, der Kampf für eine unabhängige, sozialistische Ukraine ist mit dem Waffenstillstand nicht beendet – er erreicht vielmehr eine neue Phase, wo die Eigentumsfrage und die Machtfrage klarer für das ganze Land hervortreten werden.

Endnoten und Anmerkungen

(1) Suchanek, Machtkampf in der Ukraine – Seine Ursachen und die Perspektiven der Arbeiterklasse, 1. Februar 2014, http://www.arbeitermacht.de/infomail/726/ukraine.htm

(2) Peter Main, Gegen den reaktionären Putsch und die faschistischen Milizen, Neue Internationale 187, März 2014

(3) Ebenda

(4) Bornost/Pabst, Weder Brüssel noch Moskau, Marx 21, Ausgabe Nr. 35/2014, Seite 18-21, www.marx21.de

(5) Büro der Vierten Internationale, Ukraine: Volksbewegung und Imperialismen, 8. Juni 2014, www.islinke.de

(6) Ebenda

(7) Ebenda

(8) Marx 21, Ausgabe Nr. 35/2014, Seite 18-21, www.marx21.de

(9) Marx 21, Ausgabe Nr. 35/2014, Seite 18-21, www.marx21.de

Interview mit Marx21

(10) Die Ukrainer kämpfen für eine bessere Gesellschaft, Interview mit Ilya Budraitskis, 20. Februar 2014, Marx 21, www.marx21.de

(11) Ebenda

(12) Borotba, Erklärung zum Massaker von Odessa am 3. Mai, Arbeitermacht-Infomail 747, http://www.arbeitermacht.de/infomail/747/borotba.htm

(13) Büro der Vierten Internationale, Ukraine: Volksbewegung und Imperialismen, 8. Juni 2014, www.islinke.de

(14) Angela Klein, Die Wahlen in der Ukraine, SOZ 6/2014

(15) Ebenda

(16) Ebenda

(17) Büro der Vierten Internationale, Ukraine: Volksbewegung und Imperialismen, 8. Juni 2014, www.islinke.de

(18) Angela Klein, Die Wahlen in der Ukraine, SOZ 6/2104

(19) www.observerukraine.net/2014/05/17/socialist-campaign-for-kyiv-city-council

(20) Büro der Vierten Internationale, Volksbewegung und Imperialismen, www.islinke.de

(21) Frank Ickstadt, Ukraine am Beginn eines Bürgerkriegs?, Neue Internationale, Mai 2014

(22) Spiegel online, 23.4.

(23) Borotba, Hintergrund des Ukraine-Konflikts – eine Klassenanalyse, http://www.onesolutionrevolution.de/allgemein/hintergrund-des-ukraine-konfliktes-eine-klassenanalyse/

(24) Wolodymyr Ischtschenko, “Maidan oder Anti-Maidan”, SOZ 5/ 2014

(25) Baran Serhad, Die Reaktion herrscht in der Ukraine, 20. August 2014, www.klasse-gegen-klasse.org

(26) Frederik Haber, Die Auferstehung des russischen Imperialismus, in dieser Ausgabe des „Revolutionären Marxismus“, Seite 114 – 145

(27) Baran Serhad, Die Reaktion herrscht in der Ukraine, 20. August 2014, www.klasse-gegen-klasse.org

(28) Ebenda

(29) Ebenda

(30) Ebenda

(31) Leo Trotzki, Antworten auf einige Fragen, die spanische Lage betreffend (Gedrängte Zusammenfassung), 14. September 1937, in: Revolution und Bürgerkrieg in Spanien 1931-39, Band 2 1936-39, Frankfurt/M., 1976, Text 69, S. 275, FN 19

(32) Ebenda, S. 275f.

(33) Büro der Vierten Internationale, Ukraine: Volksbewegung und Imperialismen, 8. Juni 2014, www.islinke.de

(34) Ebenda

(35) Ebenda

(36) Angela Klein, Querfront auf russisch, in: SOZ 9/2104, S. 15

(37) Richard Brenner, The Yalta conference on Solidarity with the Resistance in the South East Ukraine

http://www.fifthinternational.org/content/yalta-conference-solidarity-resistance-south-east-ukraine

(38) www.andrej-hunko.de/component/content/article/7-beitrag/2119-zur-ukrainischen-linken-und-die-kampagne-gegen-borotba

(39) Die Erklärung von Jalta, http://kai-ehlers.de/texte/thesen/2014-07-16-erklaerung-von-jalta

(40) Dave Stockton, A populist, not a communist manifesto,

www.workerspower.co.uk/2014/09/ukrain-yalta-conference-manifest