SPD und Hartz IV: Krise als Dauerzustand

Tobi Hansen, Infomail 1030, 16. November 2018

Am Ende des „Debatten-Camps“ der SPD vom 10/11. November hüpfte Vorsitzende Andrea Nahles mit anderen um die Wette. So viel „positive“ Energie hatten wir zuletzt selten von der Partei- und Fraktionschefin gesehen. Zuletzt schien mit den Umfragewerten auch der Selbsterhaltungstrieb in den Keller gegangen zu sein. Das Festhalten an der Großen Koalition ruinierte die letzten Wahlchancen, die ritualhafte Beschwörung der „Sacharbeit“ bildete die makabere Begleitmusik zum Siechtum der Partei.

Nach den Landtagswahlen von Bayern und Hessen wurden die Rücktrittsforderungen gegenüber Nahles wie auch dem gesamten Vorstand zahlreicher und lauter. Die „Linke“ mahnte einen Sonderparteitag Anfang 2019 an, um sich sowohl personell wie inhaltlich neu aufzustellen. Wiederholt wurde die Forderung nach dem Ausstieg aus der Großen Koalition (GroKo) erhoben, z. B. durch den Landesverband Schleswig-Holstein. Die „Progressive Soziale Plattform“ um den Abgeordneten Marco Bülow und das „Forum Demokratische Linke 21“ (DL 21) um die Abgeordnete Hilde Mattheis wollen eine Urwahl eines neuen Parteivorstandes, inklusive der/des Vorsitzende/n. Dafür würde sich auch Juso- Vorsitzender Kühnert begeistern, während er weiter Nahles politisch stützt. Kühnert bleibt medial das „Gesicht“ der innerparteilichen Opposition. Dass ihn der bayrische Fraktionschef Horst Arnold als neuen Vorsitzenden vorschlug, erhöhte den Druck auf den angeschlagenen Parteivorstand und die Regierungsmitglieder.

Linksschwenk als Rettung?

Als großen Durchbruch feierten Nahles und Klingbeil beim Debatten-Camp die Diskussionen um Hartz IV und Grundeinkommen. In der bürgerlichen Presse machte Nahles mit dem Satz „Wir werden Hartz IV hinter uns lassen“ Schlagzeilen.

Dies ist gerade für die SPD-Linke ein wichtiges Thema der programmatischen „Erneuerung“, die seit den Auseinandersetzungen um die GroKo versprochen wurde. Zentrale Themen des „Camps“ bildeten die Neuausrichtung des Sozialstaates, die „Vereinbarkeit“ von Umwelt und Wirtschaft wie auch die Perspektive der EU.

Bei der Zukunft der EU wurde deutlich, wie wenig „Linksschwenk“ von der SPD zu erwarten ist. Schon bei der Eröffnung der Veranstaltung machte Nahles „Europa“ zum Schwerpunkt. Sie verlor aber kein Wort zur Austeritätspolitik, zur Massenarbeitslosigkeit in Südeuropa oder zu irgendeiner sozialen Perspektive für die Beschäftigten des Euro-Raumes. Stattdessen wurde im Gleichklang mit Merkel, von der Leyen und Macron der Aufbau einer EU-Armee angepriesen. Diese letzte „große“ Idee der Vertiefung des Bündnisses von deutschem und französischem Imperialismus wird dann auch von der SPD mit den gesteigerten „Unsicherheiten“ der globalen Politik begründet. Inwieweit dabei ein weiterer Militärblock „hilft“, bleibt im Ungefähren, aber diesen „Bruch“ mit NATO und US- Imperialismus kann man zumindest noch als „europäisches Projekt“ verkaufen.

Mit der verordneten Aufbruchstimmung, netten Bildern und bis zu 3000 freiwilligen BesucherInnen des Debatten-Camps versucht sich der SPD-Vorstand ins nächste Jahr zu retten. Der nächste Parteitag soll erst Ende 2019 stattfinden. Um vor allem die internen KritikerInnen ruhigzustellen, sollen die Fragen des Sozialstaates vermehrt, wenn auch ohne Folgen für die Regierungspolitik diskutiert werden. Seit der Einführung von Hartz IV, den „Agendareformen“ hat die SPD nicht nur die Hälfte ihrer Mitglieder verloren, sondern auch ihre Wahlergebnisse halbiert – ein halbherziger, rhetorischer Linksschwenk des Vorstandes soll dieser Entwicklung wohl entgegenwirken.

Sanktionen und Grundsicherung

Die Formulierung von Nahles ist nicht neu. Selbst Arbeitsminister Heil kam schon auf die Idee, dass man „Hartz IV überwinden“ müsse, mindestens einen neuen Namen dafür bräuchte, da dies sonst auf ewig der SPD anhängen würde. Damit reagieren Teile der Führung auch ganz pragmatisch auf Urteile von Sozialgerichten. Diese stellten 14 Jahre nach der Einführung fest, dass die umfangreichen Sanktionen des Hartz-IV-Regimes verfassungswidrig seien und die BRD eine „sanktionsfreie“ Mindestsicherung anbieten müsse. Schließlich führten die Sanktionen bzw. die damit einhergehende soziale Repression dazu, dass sämtliche Geldmittel gestrichen werden können – bis hin zur einer möglichen Obdachlosigkeit der „KlientInnen“. Genau in dieser Frage ergingen die ersten Urteile zugunsten von Menschen, die von Sanktionen betroffen sind. Der Entzug der Wohnung durch den „Sozialstaat“ stünde diesem nämlich nicht zu; dementsprechend seien auch die Sanktionen, die dazu führten, insgesamt „unzulässig“.

So könnten die „Agenda-Reformen“ bzw. deren Weiterführung/Umbenennung eines der entscheidenden Themen der nächsten Zeit werden wie auch für mögliche nächste Bundestagswahlen. Manche SPD-Mitglieder hofften sicher seit dem Debatten-Camp, dass z. B. die Hartz-IV-Sanktionen und das System irgendwie verschwinden und die Partei möglicherweise durch den zuständigen Minister Heil wie auch durch Nahles den „Sozialstaat“ zu Gunsten derjenigen reformieren würde, die ihn brauchen. Ganz praktisch haben Kühnert und der „Parteilinke“ Stegner ihre Ideen zu einer Grundsicherung von sich gegeben, damit können manche Hoffnungen auch gleich begraben werden. Während Kühnert noch spaßige Anreize aus der Freizeitbranche/Industrie der Grundsicherung als Bonbon zusetzen möchte (vielleicht ein Fitness- Programm, Kinogutscheine oder eine Flatrate zur „digitalen Anbindung“), äußerte sich Stegner in der Manier eines Franz Müntefering. In der aktuellen Diskussion hatte Grünen-Chef Habeck ein sanktionsfreies Grundeinkommen in Aussicht gestellt. Stegner konterte dies mit: „Wer arbeiten kann, soll auch arbeiten“ (Spiegel online 14.11.18).

Dies erklärt zum einen, warum die SPD derzeit in den Meinungsumfragen um die Plätze 3 und 4 kämpft und diejenigen, die Hoffnungen in einen Linksschwenk hegen, dies ganz sicher nicht diesem Personal überlassen dürfen.

Wen Hartz IV hinter sich gelassen hat

Stegner schließt mit solchen Formulierungen an Müntefering, Clement, Schröder an, welche eine Massenverarmung organisiert und Millionen in Existenznot, Verzweiflung, Isolation und Dauerarmut getrieben haben. Diejenigen, die „etwas“ hatten, wurden jahrelang geschröpft, mussten ihre Ersparnisse auflösen, bevor sie eine sanktionsreiche Mindestsicherung überhaupt in Anspruch nehmen konnten. Auch dies gehörte immer zu den Milliardenüberschüssen der ARGE: eine Enteignung des Einkommens der Massen. Millionen Alleinerziehende wurden systematisch existenziell schikaniert. Kindergeld wurde mit dem Hartz-IV-Satz „verrechnet“ – von einem Staat, dem die Ernährung eines Kindes am Tag weniger wert ist als die eines Polizeihundes! Nachgewiesen ist auch, dass MigrantInnen besonders oft zu Unrecht drangsaliert wurden.

Wir können nur ahnen, wie viele Menschen dieses System in den Selbstmord bzw. in mögliche „Vorstufen“ sozio-psychischen Elends getrieben hat, inklusive Suchtkrankheiten.

Gearbeitet wurde unter dem Hartz-System für einen Euro pro Stunde, als Ersatz für viele Stunden Arbeit im öffentlichen Dienst – der 1-Euro-Job war Sinnbild des neoliberalen Umbaus unter Schröder/Fischer. Er diente später bei der Austeritätspolitik in Europa als Blaupause für Kürzungen im Sozialbereich.

Stegners Forderung „Wer arbeiten kann, soll auch arbeiten“ wäre auch ein interessanter Ansatz für die Kaste der bürgerlichen PolitikerInnen inklusive ihrer Techno- und BürokratInnen, AdjutantInnen, ClaqueurInnen und MitesserInnen, welche allesamt von den Steuereinnahmen durchgefüttert werden. Fast könnte man meinen, das wäre doch mal ein Thema für die „Linke“ – sei es als Partei oder als „radikales“ Spektrum.

Die Zeiten, in denen Erwerbslose gut organisiert waren, gab es ohnedies selten. Die letzte Massenbewegung gegen Hartz IV haben freilich die Führungen der DGB-Gewerkschaften verraten. Eine aktive Politik für Erwerbslose machten sie weder damals noch heute. Ebenso wenig stellen sie sich Hartz IV entgegen. So bleiben vielerorts nur Initiativen übrig, die entweder im rechtlichen oder sozialen Bereich Beratung/Unterstützung organisieren, quasi Selbsthilfegruppen der Deklassierten, da die Gewerkschaften selbst diese Aufgabe nicht übernehmen. Die andere Seite der Organisierung umfasst dann die AktivistInnen für den utopischen Traum eines bedingungslosen Grundeinkommens. Dort finden sich die Linkspartei in Person von Katja Kipping oder in der Neuauflage dann bei den Grünen und Teilen der SPD-Linken wieder, aber ein Kampf der ArbeiterInnenbewegung gegen Hartz IV findet nicht statt.

Wie weiter?

Der Kampf für die sofortige Abschaffung von Hartz IV (wie auch der anderen Hartz- und Agenda-Gesetze müsste mit dem um einen Mindestlohn von 12,50 netto/Stunde für alle, für ein Mindesteinkommen von 1600,- Euro/Monat für alle Erwerbslosen und RentnerInnen und eine Verkürzung der Arbeitszeit auf 30 Stunden/Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich verbunden werden. Dies wären reale Schritte zur Bekämpfung der Armut.

Für diese Forderungen müsste eine SPD-Linke innerhalb wie außerhalb der Partei eintreten. Dafür sollten sich die Gewerkschaften, die Linkspartei und die „radikale Linke“ stark machen.

Ein Aktionsbündnis um diese Forderungen würde einen realen Bruch mit der Agendapolitik darstellen – und könnte zugleich die Regierung wie die SPD-Rechten und BefürworterInnen der GroKo in die Defensive bringen. Die Frage, wie sehr die „soziale“ Neuausrichtung der SPD nur Gelaber zum Hinhalten der Parteilinken und der Basis bleibt oder einen realen Gehalt erhält, ist vor allem eine praktische. Der Kampf gegen das Hartz-IV-System, für ein Mindesteinkommen und einen Mindestlohn, die zum Leben reichen, muss jetzt aufgenommen werden – und zwar in den Betrieben, in Bündnissen, auf der Straße und gegen die Große Koalition!