Britannien: Gespenst Brexit

Svenja Spunck, Neue International 233, November 2018

Am 20. Oktober demonstrierten im Zentrum Londons über 700.000 Menschen aus ganz Britannien für eine Volksabstimmung über den Brexit-Deal. Auf vielen Plakaten und Transparenten wurden Mitglieder der Regierung als LügnerInnen und VerräterInnen bezeichnet.

2016 hatte eine knappe Mehrheit der BritInnen für den Austritt aus der EU gestimmt. Viele erhofften sich mehr Souveränität gegenüber der EU-Bürokratie, weniger ImmigrantInnen und ein stärkeres Auftreten Britanniens im weltweiten Imperialismus. Bis heute konnte die konservative Regierung unter Theresa May kein Verhandlungsergebnis mit der EU vorlegen. De facto bedeutet das, es ist fast unabsehbar, welche realen Konsequenzen der Brexit am 29. März 2019 mit sich bringen wird.

Stattdessen werden Vorkehrungen getroffen, die den Anschein erwecken, man erwarte eine Naturkatastrophe. Doch der Brexit ist keine Laune der Natur, er ist das Ergebnis realer politischer Entscheidungen, deren Konsequenzen den VerursacherInnen über den Kopf wachsen. Die Regierungspartei ist gespalten über die Frage des Brexits. Während Theresa May zur Not auch ohne Deal durchziehen will, und damit beispielsweise eine harte Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland in Kauf nimmt, erwartet Labour vom anderen Flügel der Konservativen Widerstand gegen May bei einer für November erwarteten Abstimmung über den Brexit-Deal.

Der Brexit ist ein Problem höchster Priorität in Britannien, dessen Entwicklung sogar die Regierung in Bedrängnis bringt. Dies wäre eine gute Chance für Labour, mit einer klaren Position gegen den Brexit und gegen die Tories ein erneutes Referendum und vorgezogene Neuwahlen zu erzwingen und für sich zu entscheiden. Doch die Labour-Führung wehrt sich stur dagegen, klar Stellung zu beziehen.

Brexit auf der Labour-Konferenz in Liverpool

Obwohl die Mehrheit der Mitglieder in Labour wie auch die Gewerkschaften gegen einen Brexit sind, hat sich die Partei als Ganzes nicht klar positioniert. Ein Argument für Linke innerhalb und auch außerhalb der Partei ist, dass eine Anti-Brexit-Position die Rechten und damit die Gegner Innen Corbyns stärken würde. Realität sind jedoch Umfragen, nach denen Labour vorgezogene Wahlen gewänne, wenn es sich klar für ein zweites Referendum ausspräche. Doch auf dem Peoples Vote-March war die Partei nur marginal vertreten und bot somit keinen Anlaufpunkt für diejenigen, die klar gegen den Brexit sind. Stattdessen war die Demonstration voller „I love EU“-Schilder, die Anlass für die Lexiters, die VerteidigerInnen eines „linken Brexit“, boten, die Massendemonstration als Ganze zu diskreditieren. Somit riskiert die Labour-Führung, dass sich Millionen, die die mit einem Brexit verbundenen sozialen und wirtschaftlichen Einbrüche vermeiden wollen, vor den Karren liberaler oder kleinbürgerlicher EU-BefürworterInnen spannen lassen.

Das bietet außerdem auch dem rechten Flügel der Labour-Party die Möglichkeit, Brexit-GegnerInnen zu organisieren, beziehungsweise schürt Illusionen in die EU an sich bei denjenigen, die für den Verbleib stimmen. Labours Aufgabe wäre es heute, für ein zweites Referendum, für Neuwahlen und für den Verbleib in der EU zu mobilisieren, während es klare Forderungen gegen den EU-Imperialismus, für den gemeinsamen politischen und gewerkschaftlichen Kampf in ganz Europa aufstellt. An erster Stelle müssten dabei die Forderungen nach offenen (EU-Außen-)Grenzen stehen sowie nach vollen StaatsbürgerInnenrechten für alle, die in der EU leben. Das Ziel einer Labour-Regierung sollte nicht sein, die EU im internationalen Gerangel zwischen den ImperialistInnen an erste Stelle zu bringen oder, wie momentan von einigen Konservativen imaginiert, das „British Empire“ wiederauferstehen zu lassen. Die Aufgabe von Labour an der Regierung läge darin, die Vereinigung der arbeitenden Bevölkerung in der EU, die Vernetzung der Gewerkschaften, die Koordinierung von Protesten der Unterdrückten, gegen das Kapital, das momentan die eigentliche Regierung der EU darstellt, voranzubringen.

Während die bürgerlichen Medien es als „Staatskunst“ bezeichnen, dass Labour keine klare Stellung bezieht und vergeblich versucht, die Pro- und Anti-Brexit-Flügel zu vereinen, trifft „Opportunismus“ die aktuelle Politik wohl eher. Ein zweites Referendum, wie es die linke Plattform „Another Europe is Possible”, AEIP, fordert, wäre zwar ein Anfang, jedoch entbehrt dies allein noch der politischen Entscheidung, wie sich Labour in diesem Referendum positionieren würde. Die Labour-Konferenz in Liverpool im September zeigte deutlich, dass die Parteiführung alles andere als interessiert ist an einer Demokratisierung der Partei. Anträge der Parteilinken, die sich für eine klare Anti-Brexit-Position aussprachen, wurden nicht behandelt.

Sechs Punkte

Stattdessen versuchte die Parteiführung, ihre Mitgliedschaft zu beschwichtigen, indem sie versprach, gegen jeden Brexit-Deal zu stimmen, der den Sechs-Punkt-Test nicht besteht. Diese sechs Punkte lauten:

„1. Gewährleistet er eine starke und kooperative zukünftige Beziehung zur EU?

2. Bietet er die ,genau gleichen Vorteile‘, wie wir sie derzeit als Mitglieder des Binnenmarkts und der Zollunion haben?

3. Gewährleistet er eine gerechte Steuerung der Migration im Interesse der Wirtschaft und der Gemeinschaften?

4. Verteidigt er Rechte und Schutz und verhindert einen Wettlauf nach unten?

5. Schützt er die nationale Sicherheit und unsere Fähigkeit, grenzüberschreitende Kriminalität zu bekämpfen?

6. Liefert er für alle Regionen und Nationen des Vereinigten Königreichs?“

Die sechs Bedingungen der Labour-Party sind einerseits davon geprägt, dass sie die Partei als Regierungsalternative präsentieren wollen. Dafür werden bewusst die Interessen der MigrantInnen jenen der Wirtschaft und „Gemeinschaften“, also der chauvinistischen Haltung eines Teils der britischen ArbeiterInnen, untergeordnet. Zweitens sind sie – nicht anders als die „Rosinenpickerei“ Mays – illusorisch. Warum sollte die EU einem Land, das ausgetreten ist, die „genau gleichen Vorteile“ wie Mitgliedern garantieren?

Was tun?

Da die Regierungspartei mit Sicherheit nicht einmal einen der Punkte durchsetzen können wird, ist eigentlich klar, dass die Labour-Abgeordneten einen „Deal“ ablehnen müssten. Doch auch wenn alle geschlossen im Unterhaus dagegen stimmten, hätte Labour keine Mehrheit und wäre auf die Opposition in den Reihen der Tories angewiesen. Ob diese nun mit Labour stimmen und damit Neuwahlen provozieren werden, bei denen ein Ende ihrer Regierung absehbar wäre, ist mehr als ungewiss.

Ein Argument, mit dem die Labour Führung immer wieder versucht, dem Interesse ihrer Basis auszuweichen, ist der „Respekt“ gegenüber dem Ergebnis von 2016. Nun, auch 1975 gab es in Großbritannien ein Referendum. Damals wurde für den Verbleib Britanniens in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft abgestimmt.

Die ergebnislosen Verhandlungen der Tories und die absehbaren Nachteile für die internationale ArbeiterInnenklasse sollten die Führung einer linken Partei dazu zwingen, sich klar gegen die Brexit-Katastrophe zu positionieren. Da die Parteiführung sich jedoch mit allen Mitteln dagegen wehrt und insgeheim hofft, den Brexit unter ihrer eigenen Regierung nach ihren Vorstellungen gestalten zu können, ist es mehr als drängend für die linke Opposition in der Partei, gegen die rechten BürokratInnen Stellung zu beziehen und das reale Interesse der ArbeiterInnenklasse zu verteidigen.