Der Fall Maaßen und die Große Koalition

Robert Teller, Neue Internationale 232, Oktober 2018

Hans-Georg Maaßens Dienste am Vaterland waren wohl zu gewichtig, um ihn einfach in hohem Bogen rauswerfen zu können: seine Rolle in der Kurnaz-Affäre, die Veranlassung des Verfahrens wegen Landesverrats gegen netzpolitik.org, seine bekanntermaßen wenig kritische Haltung zur „Identitären Bewegung“, Falschaussagen im Amri-Untersuchungsausschuss. Nach rechts offen war er auch schon, als er 2012 das Amt des Verfassungsschutzpräsidenten im NSU-Skandal mit der Ankündigung übernommen hatte, „Vertrauen zurückzugewinnen“.

Strafversetzt nach ganz oben

Nach Chemnitz hatte er sich nicht nur zum populistischen Sprachrohr Seehofers gemacht, sondern auch offen gegen Angela Merkel geschossen. Die Strafe für ihn fiel dennoch gering aus, umso heftiger dagegen die Empörung über die so durchschaubare wie dilettantische Kungelei innerhalb der Koalition. Statt, wie zunächst vorgesehen, um ein paar Gehaltsstufen nach oben und zum Staatssekretär befördert zu werden, gibt es jetzt einen für ihn geschaffenen Sonderposten im Innenministerium, für den er, wie schon zur Zeit als Verfassungsschutz-Chef, satte 10.746,50 Euro pro Monat erhält.

Schließlich war seine Verfehlung nicht, wie von der SPD-Führung behauptet, „mangelnde Kompetenz“. Maaßen selbst drückt es so aus: Zu seinen Aufgaben gehöre nicht nur der Schutz der Verfassung, sondern auch die Aufklärung von „Desinformation“. Und zu diesem Zweck streute der Amtsleiter auch mal selbst welche.

Aufklärung ist nun offenbar in Form von eindeutigem Videomaterial aus Chemnitz über die Öffentlichkeit hereingebrochen, wo faschistische Hooligans, NS-Parolen und Gewalt gegen migrantisch aussehende Menschen zu sehen sind. Natürlich geht es nicht um die Frage, ob die Aufnahmen authentisch sind. Gruppierungen wie die „NS-Boys“ stellen in der Chemnitzer Fanszene seit langem einen offen faschistischen Flügel dar.

Das Problem liegt darin, dass die Verharmlosung des im Schulterschluss mit AfD und Pegida agierenden rechten Mobs Wahlkampfhilfe für Seehofer und politische Deckung für Sachsens Ministerpräsident Kretschmer darstellen sollte, aber auch einen offenen Angriff auf Merkels Politik der Abgrenzung gegenüber der AfD. In seiner neuen Position soll Maaßen sich treu bleiben können. Er wird für die Zusammenarbeit mit Drittstaaten bei der Durchführung von Abschiebungen und die Aushandlung von diesbezüglichen Abkommen zuständig sein.

Rolle der Geheimdienste

Die Verstrickung des Verfassungsschutzes in rechtsextreme Strukturen ist spätestens seit dem Auffliegen des NSU-Skandals bekannt. Geheimdienste haben keinen „demokratischen Auftrag“ – sie sind Institutionen, die sich per Definition einer demokratischen und rechtlichen Kontrolle entziehen und befugt sind, im staatlichen Auftrag die Grenzen des bürgerlich-demokratischen Rechtsstaatsprinzips zu überschreiten.

Diese Verstrickung ist daher keine zufällige „Abweichung“ – sie gehört zur Arbeitsweise eines Inlandsgeheimdienstes. Sie verdeutlicht nur, dass die bürgerlich-demokratischen Freiheiten in einer Klassengesellschaft nichts „Absolutes“ sind. Rechtsgleichheit – also das Recht, selbst seine Arbeitskraft „frei“ zu verkaufen – gehört zwar zu den Existenzbedingungen der bürgerlichen Gesellschaft, die demokratischen Rechte der ArbeiterInnenklasse oder der Unterdrückten sind jedoch immer den Erfordernissen der Herrschaft des Kapitals untergeordnet. Daher sollen sie auch in Phasen der Instabilität zunehmend eingeschränkt werden. Folglich gehören Verbindungen zur Rechten und Kampf gegen links zur Geschäftsgrundlage des Verfassungsschutzes. Maaßen hat das allerdings für den Geschmack der GroßkoalitionärInnen zu offen formuliert – und damit die SPD an die ungenehme Wahrheit erinnert, dass der Dienst im Ernstfall auch für autoritärere Herrschaftsformen bereitsteht, wenn SPD und die Gewerkschaften als Stützen der „Demokratie“ ausgedient haben sollten.

Die ArbeiterInnenbewegung kann die errungenen bürgerlich-demokratischen Freiheiten nur verteidigen, wenn sie für die Abschaffung aller polizeilichen und geheimdienstlichen Sonderbefugnisse und für die Zerschlagung derartiger Institutionen eintritt. Die SPD hingegen verteidigt nur die Räuberbande gegen ihren Räuberhäuptling, wenn sie für Maaßens Ablösung durch eine/n „geeignete/n“ KandidatIn eintritt.

Auseinandersetzungen in der SPD

Im Falle Maaßen erreichten nicht nur die Chuzpe Seehofers und der Machtverlust Merkels neue mediale Höhen. Besonders dramatisch offenbarte sich der Dilettantismus der SPD-Führung unter Nahles. Nachdem die SPD-Spitze ausnahmsweise eine für ihre Verhältnisse energische Kampagne zur Ablösung Maaßens eröffnet hatte, stimmte die Parteichefin, gestützt von der sozialdemokratischen Ministerregie, seiner Beförderung zu. Erst dann fiel ihnen – ähnlich wie der Kanzlerin – auf, dass die eigene Partei, die Bevölkerung, ja jeder nur einigermaßen denkende Mensch eine Beförderung für eine Beförderung halten könnten.

Innerhalb der SPD hat Maaßen daher erheblichen Widerstand nicht nur der Parteilinken, sondern auch wichtiger Landesverbände wie Nordrhein-Westfalen provoziert, wodurch er auch für ihre Führung zum Problem geworden ist.

Die „neue“ Lösung und eine Reihe von Entschuldigungen können dabei freilich nicht erklären, warum sich die SPD-Spitze ursprünglich auf den Deal mit Maaßen als Staatssekretär eingelassen hat.

Der Grund ist recht einfach. Ähnlich wie Merkel und die CDU-Spitze fürchtet sie den Bruch der Koalition über alles. Und ähnlich wie die Kanzlerin hofft sie, dass es mit der Zeit irgendwie besser würde, dass das „Vertrauen der Bevölkerung“ durch eine „Rückkehr zur Sacharbeit“ wiederhergestellt werden könne.

Die Diskussion drehte sich weniger um die Frage, ob ein nach rechts offener Verfassungsschutzpräsident im Zuständigkeitsbereich Seehofers als solcher akzeptabel ist, sondern um die „Stabilität“ und das „Gesamtinteresse“ der Regierung. Andrea Nahles drückte es wie folgt aus: „Die SPD sollte diese Bundesregierung nicht opfern, weil Horst Seehofer einen Beamten anstellt, den wir für ungeeignet halten.“

Der zum linken Flügel zählende Ralf Stegner meinte nicht ganz unzutreffend: „Mit Seehofer und seinen Eskapaden haben wir uns die Pest an Bord geholt“ – nur dass die Krankheit eigentlich nicht die Person Seehofers ist, sondern die Große Koalition selbst.

Krise geht weiter

Auch ohne den Fall Maaßen, ja selbst wenn die „Pest“ Seehofer nach einem Debakel bei den Landtagswahlen von Bord gehen sollte, wird die Große Koalition nicht zur Ruhe kommen. Sie wird weiter von der AfD und einer erstarkenden Rechten getrieben werden.

Vor allem aber wird sie selbst davon geprägt, dass sie nicht in der Lage ist, einer entschlossenen Gesamtstrategie des Großkapitals und des deutschen Imperialismus Ausdruck zu verschaffen. Angesichts der EU-Krise schwankt sie, statt zu führen. Damit kommt offen zum Vorschein, dass die herrschende Klasse selbst über keine klare und einheitliche Strategie verfügt, dass sich in den politischen Konflikten in der Bundesregierung vielmehr unterschiedliche Linien ausdrücken.

Die eine, zur Zeit noch schwächere, ist eigentlich dabei, das EU-Projekt zurückzustellen, die Formierung der EU als politische Einheit aufzugeben. Die derzeitige Mehrheitslinie, die sich auf einen guten Teil der CDU, eine Minderheit der CSU und v. a. auf die SPD (und auch die Gewerkschaften) stützt, will das EU-Projekt vorantreiben. Verkompliziert wird die Lage dadurch weiter, dass diese beiden Pole in sich selbst noch einmal in verschiedenen Fragen auseinandergehen. Vor diesem Hintergrund muss jede Regierung als schwach, krisenanfällig, zerrüttet erscheinen, weil sie immer nur Kompromisslinien verwaltet. Die SPD gibt in ihrer eigenen Unfähigkeit ein getreues Bild der Regierung.

Hinzu kommt, dass es gewissermaßen zur Existenzgrundlage der Großen Koalition gehört, so zu tun, als gebe es diese grundlegenden Konfliktlinien nicht, als ließen sie sich einfach umschiffen. Alle an der Regierung Beteiligten – aber auch die Spitzen der DGB-Gewerkschaften und des Großkapitals – wissen, dass ein Bruch der Koalition zum offenen Aufbrechen dieser Gegensätze führen könnte, jedoch ohne dass es eine erkennbare Alternative zur aktuellen Politik gibt. Und genau diese Furcht hemmt nicht nur, sie hält auch die Koalition zusammen.

Für die SPD bedeutet das, dass ihr Niedergang noch verschärft wird – mehr noch als bei einer „normalen“, stabileren Großen Koalition. Mit der Nahles-Führung ist ein Bruch der Koalition sicher nicht zu haben, ebenso wenig wie mit den Gewerkschaftsspitzen, die eine der zentralen sozialen Stützen für diese Regierung darstellen.

So wird die Große Koalition zum weiteren, durchaus wohlverdienten Niedergang der SPD führen. Mitleid ist hier unangebracht, Sorge aber wohl. Zur Zeit profitiert nämlich neben offen bürgerlichen Parteien wie den Grünen vor allem die AfD von der SPD-Regierungspolitik und der sozialpartnerschaftlichen Deckung durch die Gewerkschaften. All das verstärkt den Rechtsruck.

Eine SPD-Linke, die diesen Namen verdient, muss ebenso wie kritische Ortsvereine, alle kämpferischen GewerkschafterInnen für das Ende der Großen Koalition eintreten – und jetzt die Mobilisierung gegen Rassismus, Rechtsruck und die Politik der Regierung in Angriff nehmen. Ansonsten bliebe sie, was sie auch seit Bildung der Großen Koalition ist – eine linke Flankendeckung der Politik von Nahles und Scholz.