Nachlese zum Berliner Revolutionären Ersten Mai: Whose Streets?

Tadeuz Pommorski, Infomail 1002, 8. Mai 2018

Ein bekannter Demospruch lautet: „Whose Streets? Our Streets!“. Den scheinen sich in den Auswertungen zum Berliner Ersten Mai nicht nur die DemonstrantInnen und die radikale Linke zu eigen zu machen, sondern auch die bürgerliche Gegenseite. CDU-Politiker Burkard Dregger tönt, dass die BürgerInnen die Stadt zurückerobert hätten. Leider nicht ganz so falsch. Beim Mai-Fest in Kreuzberg fällt den BesucherInnen als Gegenpart zur „Revolutionären Erster-Mai-Demonstration“ kein bürgerlicher Aufmarsch auf, sondern die vielen Verkaufsstände, die erhöhten Preise, die Müllberge und nicht zuletzt die Massen an Betrunkenen.

Das Konzept der Bezirksregierung, den ersten Mai zu kommerzialisieren und zu entpolitisieren, scheint erfolgreich zu sein. Dafür sprechen auch die rückläufigen Mobilisierungszahlen bei der Demonstration. Waren es nach Angaben des Organisationsbündnisses 2016 noch 24.000 DemoteilnehmerInnen, hatte das Konzept der nicht angemeldeten Demonstration 2017 zu einer rückläufigen Zahl von 19.000 geführt. Dieser Trend setzte sich 2018 mit 12.000 TeilnehmerInnen fort. Der Blick auf das MyFest erklärt freilich nicht das Problem, er illustriert nur dessen Erscheinung.

Die Demonstration selbst

Sie bestand hauptsächlich aus 4 Blöcken: Der erste, der „Stadtpolitische Block“, entsprach dem klassischen Habitus eines autonomen Schwarzen Blocks: enge Formation, Vermummung, Pyrotechnik.

Der zweite, der „Fahnenmeer-Block“, trug die nach dem Vereinsgesetz verbotenen Fahnen der syrisch-kurdischen Milizen YPG und YPJ.

Der dritte war der relativ stille „queer-feministische Block“.

Als letzter organisierter Block lief der „Internationalistische Block“, an dem sich auch ArbeiterInnenmacht und REVOLUTION beteiligten. Es war der Abschnitt, der mit den meisten roten Fahnen und kontinuierlichen antikapitalistischen und internationalistischen Sprechchören auf sich aufmerksam machte.

Das Demonstrationskonzept

Das Demonstrationskonzept 2018 bestand wieder darin, eine nicht angemeldete Demonstration durch das MyFest durchzuführen. Auch wenn die zweite Hälfe des Zuges formell betrachtet außerhalb des Festgeländes Aufstellung nahm, so war er insgesamt de facto Teil der Partymeile geworden. Die kurze Strecke außerhalb des Platzes sollte der Staatsgewalt wenig Zeit geben, zu reagieren und die Demo anzugreifen. Die Polizei hatte sich, nachdem das Areal des Festes verlassen worden war, bereits zwischen Lausitzer Platz und Schlesischem Tor auf Distanz zum Zug begeben.

Repression gab es natürlich trotzdem mit Angriffen auf DemonstrantInnen und Blockaden von Demozügen. Etliche TeilnehmerInnen wurden festgenommen und GenossInnen des Internationalistischen Block zweimal beim Abzug von der Demo angehalten. Alle diese Maßnahmen zeigen, dass sie letztlich unter Kontrolle der Polizei ab lief. Insofern sind allzu positive Bilanzen zur Gesamtaktion fehl am Platz.

Bilanz

Dabei müssen wir die Frage stellen, ob und in welchem Ausmaß es gelang, politische Inhalte bei der Mobilisierung und durch die Demonstration nach außen zu tragen.

Schon eine erste Betrachtung macht das Problem des diesjährigen Ersten Mai deutlich: keine große Mobilisierung, keine polarisierenden Themen, keine Pressekonferenzen, keine mediale Auseinandersetzung um die Inhalte der Demo. Plakate, Flugblätter, Mobilisierungsveranstaltungen gab es wenige.

Bemerkenswert ist eigentlich, dass trotzdem über 10.000 Menschen kamen. Dieses nach wie vor bestehende Potential fiel jedoch im Vergleich zu den früheren Jahren geringer aus. Die Demonstration verliert an Anziehungskraft, auch wenn sie nach wie vor die größte Aktion am Ersten Mai in Berlin ist. Unserer Meinung nach nehmen Tausende daran teil, weil sie sich einer kämpferischen, politischen, anti-kapitalistischen Manifestation anschließen wollen. Der Großteil kam jedoch nicht wegen der Mobilisierung in diesem Jahr, sondern wegen der Arbeit, die zur Etablierung und zur politischen Ausstrahlungskraft in den vergangenen Jahren geleistet wurde.

Somit waren die politischen Inhalte in der Mobilisierung und auf der Aktion selbst Mangelware. Natürlich haben alle auch Videos, Aufrufe usw. produziert – aber das vorherrschende Konzept, das dieses Mal wesentlich vom „Stadtpolitischen Block“ bestimmt war, setzte nicht auf Inhalte oder gar auf deren Vermittlung zu Menschen außerhalb der „linken Szene“, sondern auf Abarbeitung am MyFest. Die Nichtanmeldung der Demonstration wurde zu einem politischen Akt, zu einer Form der „Grenzüberschreitung“ hochstilisiert.

In Wirklichkeit zeigten sich die Nachteile der Nichtanmeldung deutlich.

Aktuelle politische Themen wie deutsche Waffenexporte, Aufrüstung, imperialistische Interventionen und Besatzerregime, stagnierende Löhne, steigende Lebenserhaltungskosten und explodierende Mieten – all das wurde in den Hindergrund gedrängt. Pressekonferenzen, Pressearbeit, Mobilisierungsveranstaltungen, die offen zur Teilnahme aufrufen, laufen unter diesen Umständen Gefahr, zum Vorwand für Ermittlungsverfahren und politische Repression zu werden. Gruppierungen, die ohnedies von massiver Hetze und Repression betroffen sind wie z. B. den Solidaritätskomitees mit Katalonien, wird eine Unterstützung überaus erschwert, weil sie somit riskieren, noch mehr ins Fadenkreuz der Justiz und Geheimdienste zu geraten. Zugleich können sie nicht einmal ihre Ziele öffentlich machen. Lautsprecherwagen sind ebenfalls nicht möglich – nicht nur wegen Repression, sondern auch, weil diese praktisch nicht durch die Festmeile geführt werden können. Damit wird die politische Ausstrahlung auch während der Demo weiter gemindert.

Die Möglichkeit, politische Positionen nach außen zu tragen (die Hauptaufgabe jeder politischen Arbeit), wurde somit zu einem großen Teil auf eine sehr kurze Dauer (die Zeit der Demonstration) und auf sehr rudimentäre Mittel (Megaphone, Fahnen und Transparente) beschränkt. Die rückläufige Zahl der TeilnehmerInnen spiegelt eine sinkende politische Qualität der Demonstration wider.

Das drückt sich natürlich auch auf dem MyFest selbst aus. Viele der gut 100.000 BesucherInnen nehmen die Demonstration z. T. noch immer wohlwollend oder unterstützend auf. Das Fest bildet auch einen Sammelpunkt. Aber zugleich bleibt unübersehbar, dass ein beträchtlicher Teil der Gäste die Demonstration als eine Mischung aus folkloristischem Event oder als gegen ihre Partylaune gerichtete Aktion betrachtet. Kreuzberg ist – wie jeder andere Kiez – nicht der „unsere“ (und auch nie gewesen).

Für die kommenden Jahre müssen wir uns daher vielmehr fragen, ob eine breite Bündnisdemonstration der radikalen Linken unbedingt in Kreuzberg stattfinden muss. In jedem Fall sollte sie damit aufhören, das MyFest zum zentralen Referenzpunkt ihrer Routenwahl zu machen. Die überraschend erfolgreiche, satirische Demonstration, die am Nachmittag mit bis zu 5000 TeilnehmerInnen gegen Mietenwucher und für Enteignung von WohnungsspekulantInnen durch den Grunewald zog, war offenkundig in der Lage, Tausende anzusprechen.

Hinzu kommt, dass sich die Kritik am Berliner MyFest durch die meisten mobilisierenden Gruppen auf Nebenfragen konzentrierte. So wurde die private Kommerzveranstaltung des „MyGörli“ zwar scharf kritisiert und großspurig mit einem Zug durch den Görli gedroht – die Abriegelung der Brücken über die Spree wegen angeblicher „Terrorgefahr“, also eine politisch viel bedeutendere Ausweitung der Repression, wurde hingegen nicht thematisiert. Ebenso wurde und wird über die Zusammenarbeit des My-Festes mit Ordnern der türkischen Rechten und der AKP der Mantel des Schweigens gehüllt. Das Auftreten des AKP-nahen Rappers Senol Kayaci als Moderator auf einer „linken“ Bühne am O-Platz wurde zwar in dem Artikel „Der 1. Mai, die Hip-Hop-Bühne und die AKP“ kritisiert. Der größte Teil der „Linksradikalen“ übte sich hier aber in Pragmatismus und Opportunismus, der Kehrseite der pseudoradikalen Fetischisierung der Form der Nichtanmeldung.

Schlussfolgerung

Unsere Kritik an der diesjährigen Demonstration verfolgt einen Zweck: Uns geht es nicht um einen Bruch, sondern um eine politische Neuausrichtung. Bei allen Schwächen haben die mehr als 10.000 TeilnehmerInnen gezeigt, dass die „radikale Linke“ in Berlin gerade am Ersten Mai noch immer über ein großes Mobilisierungspotential verfügt. Daher braucht es eine kollektive Diskussion um die Zukunft der Demonstration. Die sozialpartnerschaftliche Ausrichtung der DGB-Demonstration, auf der eine Präsenz und Propaganda zweifellos notwendig sind, schreit geradezu auch nach einer kämpferischen Aktion am Abend des Ersten Mai. Wir wollen keinesfalls auf eine Zersplitterung in mehrere konkurrierende „revolutionäre“ Demonstrationen zurückfallen. Wer das will, kann mit der pseudo-politischen Gang „Jugendwiderstand“ Personenkult und Hooliganismus frönen.

Unser Ziel ist nach wie vor eine gemeinsame, lautstarke, kämpferische und dynamische Demonstration aller Spektren der radikalen Linken. Daher haben wir uns auch am Revolutionären Ersten Mai beteiligt. Keine Teilnahme, keine Sprechchöre und Aktivitäten bei der größten Mobilisierung am Ersten Mai zu entfalten, wäre ein sektiererischer Fehler.

Ob die Demo in Kreuzberg stattfindet, teilweise durch das Fest geht oder nicht, ist für uns zweitrangig. In jedem Fall sollte die Abarbeitung am MyFest keinen zentralen Referenzpunkt bilden. Wir halten aber eine Anmeldung der Demonstration für notwendig und sinnvoll, gerade um eine breitere politische Mobilisierung ins Zentrum zu rücken, um Möglichkeiten wie Pressekonferenzen zu nutzen und internationalistische Gruppierungen, die verfolgt werden, zu Wort kommen zu lassen.

Im Zentrum einer solchen Demonstration sollten sowohl Internationalismus und Anti-Imperialismus, Solidarität mit Befreiungskämpfen und Unterdrückten wie der Klassenkampf gegen Rassismus, Sexismus und Ausbeutung stehen. Wir sollten aktiv versuchen, größere Bündnisse – wie z. B. die TeilnehmerInnen der Demonstration gegen Mietenwahn am 14. April – anzusprechen und für die Vorbereitung und Durchführung der Aktion zu gewinnen.