Bundesregierung: Neue Koalition, neuer Kampf

Tobi Hansen, Neue Internationale 227, April 2018

Am 14. März wurde Kanzlerin Merkel das vierte Mal vereidigt. Damit hat sie nun Adenauer und Kohl eingeholt. Ihr Abstimmungsergebnis fiel hingegen, gemessen an einer Großen Koalition (GroKo) aus Unionsparteien und SPD, erstaunlich schwach aus. 35 eigene Abgeordnete verweigerten Merkel die Ja-Stimme, so dass diese nur mit einer Mehrheit von 9 Stimmen gewählt wurde. 5 Monate nach der letzten Bundestagswahl kommt also die Neuauflage der vorherigen, abgewählten Regierung zustande. So lange hat keine Regierungsbildung in der BRD-Geschichte gebraucht. Auch saßen noch nie so viele (7) Parteien/Unionen im Parlament.

Bei vielen bürgerlichen Medien, aber auch der Linken wird die GroKo mit einem „Weiter so!“ charakterisiert. „Weiter so!“ geht höchstens ihr Abnutzungseffekt durch den Aufstieg der AfD.

Krise der Union – neuer Posten für „Heimat“

Dass bei der Regierungserklärung eine Unionskanzlerin den Innen-/Heimatminister zurechtweist und später der CSU-Landesgruppenvorsitzende Dobrindt ihr dabei widerspricht, ist für den deutschen Parlamentarismus und die GroKos der letzten Jahre schon bemerkenswert. Es zeigt, dass die Zerrissenheit der Union, welche seit 2015 unregelmäßig offen zutage tritt, sich von Anfang an auch in der neuen Regierung fortsetzen wird.

Der Streit ging darum, ob die Union die islamische Religion von ca. 4,5 Millionen EinwohnerInnen als „zugehörig“ zur deutschen Gesellschaft, Kultur, Geschichte usw. definieren soll. Heimatminister Seehofer hatte dies zum Auftakt seiner Amtsgeschäfte via „Bild“ verneint und damit den staatlichen, institutionellen Rassismus populistisch erneuern wollen. Die Zusatzbezeichnung „Heimat“ für sein Innenministerium scheiterte fast am Zuschnitt der Ministerien. Die Abteilung „Planung und Förderung ländlicher Raum“ blieb bei Landwirtschaftsministerin Klöckner, so bleibt Seehofer allein die Deutschtümelei als wahrnehmbare „Leistung“ für den Heimatbegriff.

Die real existierenden Probleme des ländlichen Raums – fehlende bzw. privatisierte Infrastruktur, unzureichende soziale Perspektiven – werden natürlich von keinem der beiden Ressorts angegangen. Also bleibt nur Raum für Rassismus und deutschtümelnde Folklore, wobei der bayerische Minister sicherlich auch noch regionale Akzente setzen möchte.

Für MarxistInnen besteht die Antwort auf die Frage, ob eine Religion zu einem Staat gehört, in der demokratischen Forderung nach Trennung von Staat und Kirche, wie wir auch jedem/r Einzelnen Glaubensfreiheit zugestehen. In genügend bürgerlichen Nationalstaaten existieren „Staatsreligionen“, herrscht also keine individuelle Glaubensfreiheit und auch in Deutschland ist die Trennung von Kirche und Staat alles andere als konsequent erfolgt (Religionsunterricht an staatlichen Schulen, Kirchensteuer usw.). Da wir gegen alle Privilegien sind, treten wir auch gegen die der christlichen Kirchen, im Vergleich zu anderen Religionen als Quasistaatsreligion zu fungieren, ein.

Spahn gegen alle

Innerhalb der Union war Seehofer gewissermaßen nicht nur in seiner „Heimat“ durch Söder unter Zugzwang geraten, hat doch in der Bundesregierung der „jung“konservative Gesundheitsminister Spahn bislang vor allem als offen rechter, neoliberaler Teil des Kabinetts von sich reden gemacht.

Hatte nach der Bundestagswahl der CSU-Landesgruppenchef Dobrindt noch halb vollmundig die „konservative Revolution“ verkündet, zeigt Minister Spahn, wie das geht. Beim Abtreibungsparagraphen 219a (Verbot der „Werbung“ für Abtreibung) greift er offen die BefürworterInnen der Streichung an. Manche von ihnen würden sich mehr für Tierrechte als für das ungeborene Leben einsetzen. Diese Art von Vergleichen, wie sie auch von Storch (AfD) draufhat, gehört zu den internationalen Erkennungszeichen dieser reaktionären Rechten.

Als Gesundheitsminister zeigt der bekennende Pharmalobbyist auch „klassisch neoliberale“ erste Duftmarken. Wir, die wir zum Arzt gehen, wenn wir krank sind, sollten doch einfach mal vorher überlegen, ob wir das wirklich müssen. Gilt diese Sorge auch für PrivatpatientInnen?

Bei häuslicher Pflege durch Angehörige ist dem Minister schon klar, dass das Pflegegeld nicht ausreicht für Pflegekräfte, weshalb alle in der Familie (auch Männer wie er?) anpacken sollen, um sich das unbezahlbare Pflegeheim zu „ersparen“. Wenn wir uns nur kurz an den Wahlkampf erinnern, schaffte es damals nur ein Thema neben AfD und Rassismus wirklich an die öffentliche Oberfläche: nämlich der miserable Zustand unseres Pflegesystems, die schlechten Löhne dort und das miserable Schicksal der Pflegebedürftigen. Als „Quittung“ dafür personifiziert nun Spahn den „Wettbewerb“ unter Branchenanbietern und -beschäftigten. Die anhaltende Bevorteilung der privaten Krankenversicherung trägt die SPD-Phantastereien einer „Bürgerversicherung“ zumindest für diese Legislatur zu Grabe.

Was sonst als „Sozialpolitik“ von diesem Flügel der Union zu erwarten ist, hatte Spahn zum Thema Hartz IV bereits am Anfang „seiner“ Pressekampagne als Neuminister kundgetan. Dadurch müsse keine/r in Armut leben, was selbst Finanzminister Scholz vom rechten SPD-Flügel zum Widerspruch nötigte.

Perspektive für den BRD-Imperialismus

Spahn wie auch Seehofer artikulieren die Interessen des bürgerlichen Flügels, der sich durch die neue GroKo ins Abseits gestellt sieht. Immerhin hatten die FAZ, aber auch konservative KommentatorInnen im „Spiegel“ den Koalitionsvertrag als weiteren Beweis für die „Sozialdemokratisierung“ Merkels und der Union dargestellt. Das Vorpreschen Spahns und der CSU zeigt offen den Widerspruch im eigenen Regierungslager. Dieser Flügel will die Union als Speerspitze neoliberaler Angriffe auch für die kommenden Legislaturen fit machen wie auch die Öffnung Richtung AfD beschleunigen, um stabile bürgerliche Mehrheiten rechts von der GroKo anzubahnen.

Gewissermaßen kommt Merkel in die gleiche Bredouille wie Kohl am Ende seiner Amtszeit. Der „große Wurf“ für das Großkapital bleibt derzeit aus. Es fehlt eine ideologisch-politische Vision für den deutschen Imperialismus. Das gilt am meisten für die EU, aber auch für die Innenpolitik. Merkel will den inneren gesellschaftlichen „Zusammenhalt“, es fehlt ihr aber die politische Offensive, um den aktuellen Status des deutschen Imperialismus zu erhalten, geschweige denn auszubauen. In Fragen der EU und der globalen Ambitionen verkommt die Kanzlerschaft Merkels immer mehr zu einem „Aussitzen“ und Stillhalten. Der rechte Koalitionsflügel setzt innenpolitisch in der Einwanderungsfrage verstärkt auf die Umsetzung der AfD-Forderungen. Außenpolitisch wird die Option, der EU mehr den Stempel der BRD-Dominanz aufzudrücken, deutlicher (gegen ein EU-Finanzministerium, „Transferunion“ und konzertierte öffentliche EU-Investitionsprogramme). Die Staatengemeinschaft muss Deutschland stärker folgen oder sie wird auseinanderbrechen (Kerneuropa).

Die SPD als Duckmäuserin

Zur Abschaffung des Paragraphen 219a, womit zuletzt auch wieder vor allem FrauenärztInnen konfrontiert waren, gab es vor der Kanzlerinwahl von SPD, FDP, Linkspartei und Grünen den Vorstoß, dessen Abschaffung doch einfach mal parlamentarisch per Mehrheit zu bewerkstelligen. Dagegen bremste SPD-Fraktionschefin Nahles ihre Fraktion aus und zog den Antrag zurück zugunsten einer weiteren Regierungskommission zum Thema.

Damit dürfte auch deutlich werden, wie sie als künftige Parteivorsitzende die „Erneuerung“ der SPD durchzuziehen gedenken wird. In der Fraktion werden alle auf die Linie eingenordet, welche den Koalitionspartnerinnen am wenigsten Schwierigkeiten bereitet. So wäre es durchaus auch für Nahles sinnvoll gewesen, den Antrag gegen 219a durchzusetzen. Damit hätte die SPD sich zumindest als Verteidigerin der FrauenärztInnen und Frauenrechte etwas in Szene setzen können und die Union hätte zusammen mit der AfD abgestimmt. Dass dann Finanzminister und Vizekanzler Scholz noch den ehemaligen Deutschlandchef von Goldman Sachs (und ehemaligen Jusovorsitzenden von Rheinland-Pfalz) zum „ersten“ Staatssekretär macht, rundet das desaströse Bild der SPD in der GroKo ab. Wenn „Erneuerung“ so beginnt, will niemand wissen, wie sie endet.

Innerhalb und außerhalb der SPD gründet sich derzeit die „Progressive Soziale Plattform“, welche z. B. vom Dortmunder MdB Bülow, der Berliner MdB Kiziltepe sowie Ex-Ministerin Däubler-Gmelin unterstützt wird. Ihnen geht es inhaltlich um eine stärkere und sichtbare Neuausrichtung der Sozial- und Arbeitspolitik der SPD. Wahrscheinlich versucht auch deswegen Bundesvize Stegner (früher oft als „Linker“ bezeichnet), derzeit sich mit der Forderung nach Abschaffung von Hartz IV wieder zu profilieren.

Aufgaben der GroKo und erste Kampffelder

Als Neuerungen zum Koalitionsvertrag kommen jetzt die Ideen von Hubertus Heil, dem neuen Arbeits- und Sozialminister. Wurde zuvor gemunkelt, die „Linken“ in der SPD könnten dieses Amt besetzen, so führt „Agendafan“ Heil dieselbe Politik fort. Hartz IV und dessen Schikanen konnten Langzeitarbeitslose nie wirklich in Arbeit bringen. Das heißt, dass die meisten Langzeitarbeitslosen nach Jahren des sozialen Abstiegs, der erlittenen Armut kaum noch in der Lage sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, weil sie als nicht mehr „produktiv“ genug gelten. Hatte Ex-Kanzlerkandidat und -Vorsitzender Schulz noch mit einer möglichen „zusätzlichen“ Qualifizierung für diese Personengruppe geworben, sollen diese jetzt zu „gemeinnütziger“ Arbeit herangezogen werden. Neben den Ein-Euro-Jobs wird also noch eine weitere Zwangsmaßnahme eingeführt, ziemlich sicher auf Kosten regulärer, tariflich entlohnter Jobs.

Kanzlerin Merkel sprach in ihrer Regierungserklärung davon, die entstandenen Spaltungen der Gesellschaft aufheben zu wollen und einen neuen Zusammenhalt an Stelle derer zu setzen. Mit ihren Vorschlägen für Langzeitarbeitslose, der Beibehaltung der Leiharbeit wie auch der Zweiklassenmedizin (privat und gesetzlich Versicherte) setzt diese GroKo, entgegen allen warmen Worten, jedoch die soziale Spaltung fort. Sie sorgt dafür, dass Menschen überhaupt zu einer Tafel gehen müssen. Es ist das Hartz-IV-System, das Vollbeschäftigte gegen LeiharbeiterInnen und Ein-Euro-JobberInnen ausspielt und an der Tafel dann die Passkontrolle zur rassistischen Selektion von Armut einführen will – diese Spaltlinien verfestigen sich mit jeder Bundesregierung, keine hat daran was geändert.

Als Hauptauftrag dieser GroKo erscheint immer mehr, lediglich den „Status quo“ in der EU aufrechtzuerhalten. Der französische Imperialismus nutzte die letzten Monate der Regierungsbildung, um selbst mit Vorschlägen die eigene Führungsrolle zumindest zu untermauern bzw. einen erneuten Anlauf zu nehmen, dem deutschen Imperialismus Konzessionen abzuringen. Ein EU-Finanzminister, eine mögliche gemeinsame Verschuldungspolitik der Eurozone sind Vorschläge, um den deutschen Imperialismus letztlich etwas einzudämmen, ihm einige Vorteile seit der Krise 2007/08 zu nehmen. Auch aus dieser Perspektive heraus kann man nicht von einem „Weiter so!“ sprechen. Diese GroKo ist geschwächt und wird alle politische Kraft brauchen, um die bestehende fragile Ordnung der EU aufrechtzuerhalten, zum Vorteil des deutschen Imperialismus.

Gegen diese Politik brauchen wir Widerstand, brauchen wir Engagement für diejenigen und derjengen, die weiterhin der Spaltung, der Ausgrenzung und Ausbeutung ausgeliefert sind. Wir müssen uns für das Recht auf Abtreibung und den Schutz der behandelnden ÄrztInnen einsetzen, gegen jeden neuen Sektor der Zwangsbeschäftigung und für die Abschaffung des Hartz-IV-Systems kämpfen. Dazu müssen wir in der EU für die Perspektive eines europäischen Klassenkampfes eintreten, den Kampf gegen die kapitalistische Unterjochung unter den deutschen Imperialismus, gegen Rechtsruck und Rassismus führen. Diese Kämpfe können wir nicht verschieben oder auf bessere Bedingungen warten. Die GroKo ist ein bestimmender Teil des Kampfes von oben, dagegen brauchen wir im „Herzen der Bestie“ Widerstand! Der erste Schritt dahin sollte eine Aktionskonferenz aller Linken und Organisationen der ArbeiterInnenbewegung sein, darunter auch von Kräften in der SPD wie den Jusos und der „Progressiven Sozialen Plattform“.