Taktik und Orientierung: “Radikale Linke” und die Wahlen

Jürgen Roth, Neue Internationale 222, September 2017

Im Grunde zerfallen die Positionen der „radikalen“ Linken zur Bundestagswahl in vier Kategorien. Ein Teil enthält sich jeder eigenen Stellungnahme. „Begründet“ wird diese Haltung damit, dass Wahlen schließlich nicht so wichtig wären, der Kampf auf der Straße oder im Betrieb ausgefochten werden müsse. Politisch ist diese pseudoradikale Antwort eigentlich ein Armutszeugnis, bei dem sich angebliche „RevolutionärInnen“ zur wichtigsten politischen Auseinandersetzung im Herbst 2017 erst gar nicht äußern!

Ein weiterer Teil, besonders das anarchistische und autonome Spektrum, ruft zur Wahlenthaltung oder zum ungültig Wählen auf, wobei letzteres oft auch noch mit einem Boykott verwechselt wird.

Dieser ist aber genau genommen eine aktive Klassenkampfmethode zur Verhinderung einer Wahl, wenn bereits Organe existieren, die über das bürgerliche System hinausweisen (Generalstreikausschüsse, Räte…). Ansonsten bleibt er allenfalls eine leere Geste, wo eine Vielzahl von Motiven für eine Wahlenthaltung, ein Fernbleiben oder eine ungültige Stimme zu einer gemeinsamen politischen Haltung umgedichtet werden.

Ungültig, Boykott, …?

Ein Teil der Gruppierungen, die zur ungültigen Stimmabgabe aufrufen, lehnt die Beteiligung an Wahlen nicht grundsätzlich ab – für sie gibt es nur nichts „Vernünftiges“ im Angebot. Die linken Kleinstparteien würden nichts repräsentieren und hätten außerdem kein revolutionäres Programm. Beide Vorwürfe stimmen.

Die Linkspartei könne auch nicht unterstützt werden, weil sie nur bürgerlich wäre und außerdem nicht kämpfen würde. Würde sie letzteres tun, wäre ein Wahlaufruf unter Umständen gerechtfertigt. Das Problem mit dieser Position ist eigentlich, dass sie den Aufruf für eine reformistische (also bürgerliche) Partei, die sich auf die ArbeiterInnenklasse stützt, von deren Programm und dem Handeln ihrer Führung abhängig macht.

Wir rufen zur Wahl einer solchen Partei jedoch nicht wegen ihres Programms auf. Auch der linke Reformismus ist letztlich eine bürgerliche Ideologie. Aber Parteien wie die Linkspartei sind nicht nur bürgerlich, sie haben auch die Besonderheit, dass sie sich auf die organisierte ArbeiterInnenklasse stützen – also jene Kraft, die wir gewinnen müssen, wenn der Klassenkampf erfolgreich geführt und vor allem der Kapitalismus gestürzt werden soll.

Jene ArbeiterInnen und Jugendliche, die mithilfe der Linkspartei die offen bürgerlichen Parteien schlagen wollen, führen daher – wenn auch auf dem Boden des Parlamentarismus – eine Form der Klassenauseinandersetzung mit den bürgerlichen Kräften. Hier neutral zu bleiben, sich zu enthalten, ist nicht revolutionär, sondern passiv. Anders wäre es, wenn wir selbst stark genug für eine revolutionäre Eigenkandidatur wären.

Eigenkandidaturen

Die vorgeblich trotzkistische „Sozialistische Gleichheitspartei“ SGP tritt mit 2 Landeslisten (Berlin, NRW) sowie mehreren DirektkandidatInnen an. Im Mittelpunkt ihres Wahlkampfs steht die Opposition gegen Krieg und Militarismus sowie das Eintreten für eine revolutionäre, sozialistische Perspektive – so ihre Selbstaussage. Diese hehren Ziele werden jedoch zur Makulatur angesichts der anti-revolutionären Positionen, die diese Pseudo-Partei vertritt. So lehnt sie das nationale Selbstbestimmungsrecht ab, die Gewerkschaften gelten ihr als reaktionär, Bündnisse mit anderen Linken schließt diese Sekte erst gar nicht.

Die MLPD kandidiert als Internationalistische Liste/MLPD zu den Bundestagswahlen. Ihre gemeinsamen Forderungen im Wahlmanifest sind allesamt verwaschen („Der Jugend eine Zukunft!“), wenn auch richtig – mit Ausnahme der Bezeichnung des türkischen Staats als faschistisch und des sofortigen Verbots aller faschistischen Organisationen. Gekrönt wird das Programm mit der schwammigen Losung „Für eine befreite Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung…“. Nur für die Mehrheit der Liste ist das aber nach eigenem Bekunden mit Sozialismus identisch!

Die DKP, wohl eher als beide vorgenannten Organisationen noch als Partei zu bezeichnen, legt ein Sofortprogramm für Frieden, Arbeit, Solidarität, Bildung und bezahlbares Wohnen vor, verzichtet aber auf jeden Bezug zum Maximalziel.

Von der Methode eines revolutionären Übergangsprogramms, das in konkreten Schritten taktisch wie strategisch den Weg von heute bis zur Machtergreifung darlegt, sind alle drei meilenweit entfernt. Revolutionäre KommunistInnen unterstützen solche Kandidaturen nicht. Ihre Programme sind nicht revolutionär, an manchen Punkten nicht einmal linker als jenes der Linkspartei. Allenfalls versprechen sie mehr. Im Gegensatz zu dieser verfügen sie über keine bedeutende Verankerung . Während die Linkspartei über eine wirkliche, wenn auch zumeist eher passive Massenbasis verfügt, die aktiviert und vom Reformismus gebrochen werden kann, gibt es diese bei den Mini-Kandidaturen praktisch nicht – damit entfällt aber eine zentrale Voraussetzung für eine etwaige kritische Unterstützung.

Die „Linken“ in der Linkspartei

Die sich auf den Trotzkismus berufenden Gruppen marx21 und SAV – letztere ist Mitglied in der Antikapitalistischen Linken (AKL) der Linkspartei – krebsen seit über 10 Jahren dort herum. Für Trotzki war ein möglicher Entrismus (Eintritt) in größere zentristische oder reformistische Gebilde nur als kurzfristiges Manöver von wenigen Jahren, eventuell auch nur wenigen Monaten gedacht. Er hatte zur Bedingung eine Linksentwicklung und eine dort sich abspielende Auseinandersetzung mit der Parteiführung.

Die DauerentristInnen kaschieren das Fehlen dieser Bedingungen mit dem Verweis darauf, dass der Aufbau einer unabhängigen Organisation hintangestellt gehört, weil die Entwicklung zum revolutionären Klassenbewusstsein zwangsläufig über den Mitgliederzustrom in solche Parteien erfolge und/oder diese irgendwie einen unbestimmten Klassencharakter trügen, ihre Politik also keine bürgerlich-konterrevolutionäre der ArbeiterInnenbürokratie sei. Ähnlich wie bei der SPD vor 1914 und der KPD vor 1933 halten sie diese Formationen für reformierbar, wozu man nur abwarten müsse, bis besagte ArbeiterInnenmassen einträten.

Das heißt nicht, dass AKL, SAV oder auch marx21 die Politik der Führung der Linkspartei oder wenigstens des rechten Flügels in Berlin, Brandenburg, Thüringen nicht auch kritisieren würden. Aber diese Kritik verbleibt immer zwiespältig – und zwar nicht nur oder in erster Linie wegen opportunistischer Anpassungen, sondern vor allem, weil so getan wird, als wären die Regierungsbeteiligungen nicht logische Konsequenz eines reformistischen Programms, sondern nur ein „Ausrutscher“. Damit wird letztlich unterstellt, dass es eine bürgerliche ArbeiterInnenpolitik, eine Politik, die auf den revolutionären Sturz des Kapitalismus verzichten will, ja diesen bekämpft, geben könne, die ihre Ziele ohne Anstreben von Regierungsverantwortung überhaupt umsetzen könne.

Regierungsfrage

Die AKL als größte linke Kraft in der Linkspartei beantwortet dieses Problem auf ihrer Bundesmitgliederversammlung vom 16. März 2017 in Hannover folgendermaßen: „…eine rot-grüne Minderheitsregierung ins Amt zu bringen und allen möglichen Verbesserungen der sozialen Lage der Beschäftigten und Erwerbslosen, Jugendlichen und Rentner*innen einer Regierung unter Schulz im Einzelfall zuzustimmen und alle Verschlechterungen abzulehnen.“ Gäbe es gegen eine Regierungsbeteiligung der Linkspartei keine Mehrheit, sollten die sogenannten Roten Haltelinien geschärft werden (z. B. keine Auslandseinsätze statt keine Kampfeinsätze).

Auch wir würden natürlich progressive Maßnahmen von Rot-Grün unterstützen, aber im Gegensatz zur AKL keine Koalition mit offen bürgerlichen Parteien ins Amt wählen – und sei es noch so kritisch. Für den Fall einer Beteiligung der eigenen Partei an einer solchen Regierung zieht sich die AKL dann auf „Rote Haltelinien“ zurück – eine Linie, die auch von marx21 vertreten wird.

Koalitionen mit den Grünen sind grundsätzlich abzulehnen, auch wenn sie sich auf den ersten Blick politisch von SPD und selbst der Linkspartei wenig zu unterscheiden scheinen. Aber die Grünen hatten nie organische Bindeglieder zur ArbeiterInnenklasse. Während Alleinregierungen von bürgerlichen ArbeiterInnenparteien ein Mittel sein können, den Gegensatz zwischen der proletarischen Basis und ihrer Führung zuzuspitzen und somit die Polarisierung in der Partei deutlichere Züge annehmen kann, so entfällt bei den Grünen diese Möglichkeit. Sie würden sich vielmehr als zusätzliches Gewicht der herrschenden Klasse erweisen.

Aber eigentlich möchten AKL und marx21 vorläufig gar keine Regierungsbeteiligung der Linkspartei, weil die „unbefleckte“ Parteiweste damit nur besudelt werden würde. Hinter diesem Radikalismus offenbart sich deren Opportunismus. Im Falle einer Regierungsbeteiligung fürchten sie nämlich, dass sich der bürgerliche Charakter der Linkspartei für die Massen „zu früh“ offenbart und damit die eigene illusorische Hoffung entlarvt, dass die Partei sich unter dem Druck der Ereignisse zu einer „echten“ sozialistischen weiterentwickeln könne.

Die opportunistische und in sich inkonsequente Politik der Linken in der Linkspartei spielt letztlich nicht nur Bartsch, Gysi, Wagenknecht, Riexinger und Kipping in die Hände – sie nährt auch den Pseudoradikalismus jener, die auf jede Haltung zur Wahl verzichten, sich in Enthaltungs- und Boykottaufrufen ergehen oder ihr Heil in zentristischen oder stalinistischen Kleinparteien suchen.