Das erste Jahr
Buchbesprechung: Alexander Rabinowitch, Die Sowjetmacht, Bd. 2
Michael Eff, Revolutionärer Marxismus 49, März 2017
Im 2. Band von Rabinowitchs Werk (Das erste Jahr) werden die Dramatik und Tragik des Niedergangs der Sowjetdemokratie – vor allem in Petersburg (Petrograd) – thematisiert. Rabinowitch konnte dazu Anfang der neunziger Jahre in staatlichen Archiven, in Archiven der Kommunistischen Partei sowie in Archiven des KGB (!) forschen. 2007 erschien das Werk auf Englisch und 2010 auf Deutsch. Der Band gliedert sich in vier Teile: Teil 1 behandelt den Zeitabschnitt von der Oktoberrevolution bis zur Auflösung der Konstituierenden Versammlung im Januar 1918, Teil 2 hauptsächlich die Auseinandersetzung um den Brester Friedensvertrag bis zum März 1918. Im dritten Teil geht es um die innenpolitischen und militärischen Krisen in Petrograd bis zum Frühsommer 1918 und im Teil 4 geht es um die bolschewistische Partei in Petrograd bis zur Ausrufung des „Roten Terrors“ im Herbst 1918.
In einem „Prolog“ fasst Rabinowitch noch einmal wichtige Ereignisse und Ergebnisse bis zur Oktoberrevolution aus seinem 1. Band zusammen.
Die zentrale Fragestellung von Rabinowitch lautet: Wie war der Niedergang der Partei (und Sowjetdemokratie) in Petrograd möglich? Einer bolschewistischen Partei, die ausgesprochen demokratisch organisiert und tief in den Massen verankert war.
Rabinowitch lässt dabei immer wieder seine Sympathie für den „gemäßigten Flügel“ der Bolschewiki und seine Abneigung gegen den „ultralinken Kurs“ Lenins und Trotzkis (wie schon im 1. Band) durchblicken.
Worauf Rabinowitch überhaupt nicht eingeht, sind programmatische Leerstellen. Z. B. wurde das Verhältnis zwischen Partei und Sowjet nie theoretisch-programmatisch verarbeitet. Lenin kommt sicherlich das unschätzbare Verdienst zu, mit seiner Schrift „Staat und Revolution“ die Bedeutung und Prinzipien der Arbeiterdemokratie wieder entdeckt zu haben (durch Rückgriff auf Marx‘ Arbeit zur Pariser Commune), aber selbst in Lenins Schrift fehlen fast völlig Ausführungen zum Verhältnis Partei-Sowjets.
Sicherlich spielten beim Niedergang von Partei- und Sowjetdemokratie in Petrograd auch subjektive Fehler bzw. Fehlverhalten eine Rolle. Ebenfalls bedeutsam waren die schweren innerparteilichen Auseinandersetzungen, von denen insbesondere die um den Vertrag von Brest-Litowsk so gravierend waren, dass sie die Gefahr einer Parteispaltung hervorriefen. Das alles wird von Rabinowitch beeindruckend detailliert dargelegt. Entscheidend bei allem aber waren nicht die subjektiven Faktoren, sondern die kaum zu begreifenden objektiven Schwierigkeiten. Da sind vor allem zu nennen: 1. Der ökonomische Zusammenbruch; 2. die Aktionen der Konterrevolution; 3. der ungeheure Aderlass an erfahrenen Kadern. Und so lautet auch Rabinowitchs Fazit schließlich: „Es waren die tatsächlichen Gegebenheiten, mit denen die Bolschewiki in ihrem oft aussichtslosen Kampf ums Überleben konfrontiert waren, die maßgeblich die früheste Entwicklung der Partei und der Sowjetorganene, ihr Verhältnis zueinander und das sowjetische politische System insgesamt prägten.“ (S. 527)
Am Beispiel Petrograds werden von Rabinowitch diese „tatsächlichen Gegebenheiten“ mit ihren politisch-gesellschaftlichen Folgen anschaulich und erschütternd dargelegt.
Der ökonomische Zusammenbruch kam einer Katastrophe gleich. Es mangelte an allem, selbst das Lebensnotwendigste fehlte. Der Brennstoffmangel im Winter 17/18 zermürbte die Massen und führte auch zu umfangreichen Betriebsschließungen. Die Lebensmittelversorgung brach ab dem späten Frühjahr 1918 weitgehend zusammen. Von März bis Juni 1918 sank in Petrograd die zugestandene Tagesration eines Arbeiters von 1082 auf 714 Kalorien. Die Bevölkerungszahl Petrograds sank von 2,3 Millionen Einwohnern Anfang 1917 auf 1,5 Millionen Anfang 1918. Allein zwischen Mitte Mai und Mitte Juni 1918 flohen 150 000 Menschen vor dem Hunger, Mitte 1918 setzte eine Massenflucht aus Petrograd ein. Die größte Choleraepidemie in der Geschichte der Stadt, die vor allem die ArbeiterInnen traf, brach im Sommer 1918 aus. Weitere Betriebsschließungen waren die Folge. Die Rote Armee und bewaffnete Arbeitereinheiten mussten gewaltsam Getreide bei den Bauern eintreiben, was die Beziehungen zu diesen nicht einfacher machte. Die Zustände in den Kasernen spotteten jeder Beschreibung. Dies und vieles andere mehr legten den Grundstein für die beginnende Unzufriedenheit und Demoralisierung bei Teilen der ArbeiterInnenklasse und Soldaten Petrograds.
Auch die Aktionen der Konterrevolution zeigten durchaus Wirkung. In Petrograd (aber natürlich nicht nur dort) stieß die neue proletarische Macht auf den sofortigen und umfassenden Boykott seitens des alten Verwaltungsapparates. Schon unmittelbar nach der Oktoberrevolution wird die Hauptstadt Petrograd von außen durch konterrevolutionäre Einheiten bedroht und von innen durch Aufstandsversuche. Am 29. Oktober wird ein konterrevolutionärer Aufstandsversuch niedergeschlagen (200 Tote). Anfang 1918 gibt es eine Verschwörung von mehreren Tausend bewaffneten Offizieren (von den Briten unterstützt). Die andauernde Bedrohung Petrograds durch einen erneuten Vormarsch deutscher Truppen oder weißer Truppen aus Finnland halten die Stadt gewissermaßen ständig in Alarmbereitschaft. Hinzu kamen Mordanschläge auf bolschewistische Führer (z. B. Urizki), schließlich die Ausdehnung des Bürgerkrieges bis zum Pazifik. Rabinowitch schreibt: „Die Tendenz zum Roten Terror in Petrograd und anderen russischen Städten im Spätsommer 1918 entsprang der enormen Verunsicherung, die diese unheilkündenden Entwicklungen hervorriefen.“ (S. 420)
All dies konnte eine Zeitlang überdeckt werden dadurch, dass der Sowjetkongress das Programm der Bolschewiki übernahm, d. h., zunächst „hatten die ersten revolutionären Dekrete der Bolschewiki und ihre offenkundige Härte gegenüber der inneren und äußeren Konterrevolution den revolutionären Geist der unteren Klassen Pedrograds neu belebt“ (S. 56), aber schließlich führte die dauernde Überforderung der Petrograder ArbeiterInnenklasse und Petrograder Parteiorganisation zu einem Ausbluten der Arbeiterdemokratie.
Ständig verließen revolutionäre ArbeiterInnen Petrograd. Meist aus Hunger, aber auch, weil sie überall im Land gebraucht wurden: an der Front, bei der gewaltsamen Beschlagnahme von Getreide usw. Vor allem die Petrograder Parteiorganisation musste Kader für die Verwaltung und Armee stellen. Rabinowitch führt in diesem Zusammenhang hier einige Zahlen über die Mitgliederentwicklung Petrograds an, um die Belastungen der Petrograder Parteiorganisation zu verdeutlichen: Oktober 1917 – 50 000 Mitglieder; Februar 1918 – 36 000; Juni 1918 – 13 000; September 1918 – 6000. Aber es ist nicht allein die zahlenmäßige Entwicklung, sondern auch die Zusammensetzung, die besorgniserregend war. 40 % der Mitglieder im Herbst 1918 waren der Partei erst nach der Oktoberrevolution beigetreten. und waren im besten (!) Fall unerfahren. Rabinowitch weist auch darauf hin, „dass viele der Neumitglieder ausgesprochene Kriminelle waren oder einfach egoistische Individuen, die keine Verantwortung gegenüber der Partei empfanden.“ (S. 531) Unter diesen Voraussetzungen kam die Parteiarbeit unter den verbliebenen, teilweise demoralisierten, Teilen der ArbeiterInnenklasse Petrograds faktisch fast zum Erliegen. Hinzu kam der Verlust des einzigen Bündnispartners, der Partei der Linken Sozialrevolutionäre (LS). Die Auseinandersetzungen um den Vertrag von Brest-Litowsk und andere Differenzen führten zur Zerstörung des Bündnisses mit den LS auf nationaler Ebene, aber schließlich auch in Petrograd. Das ist deshalb besonders tragisch, weil, wie Rabinowitch zeigt, die Zusammenarbeit der Bolschewiki mit den LS in Petersburg zunächst durchaus freundschaftlich war. Die Bolschewiki strebten die eigene parteipolitische Isolierung nicht an, im Gegenteil. Nichts verdeutlicht dies vielleicht besser als eine kleine Episode am Rande des Sowjetkongresses. Als auf dem Kongress im Oktober nicht nur die rechten Sozialrevolutionäre und rechten Menschewiki den Saal verließen, sondern auch die Menschewiki-Internationalisten mit ihrem Parteiführer Martow, schildert Rabinowitch: „Ein junger bolschewistischer Arbeiter in einem schwarzen, umgürteten Hemd wandte sich ihm zu und rief mit unverhüllter Trauer in der Stimme: ‚Wir rechneten untereinander schon damit, dass einige uns im Stich lassen würden, aber doch nicht Martow‘.“ (S. 15)
Nicht nur für die bolschewistische Führung, auch für die Petrograder Partei „lag die Antwort auf den anhaltenden wirtschaftlichen und politischen Verfall und auf die Bedrohung durch äußere und innere Feinde in Diktatur, Zentralisierung, Heranziehung bürgerlicher Spezialisten sowie ehemaliger Offiziere und in der Verlängerung der ‚Atempause‘ des Brester Vertrags um nahezu jeden Preis“. (S. 357 f.) Die große Hoffnung lag für Partei und ArbeiterInnenklasse im Ausbruch der Revolution im übrigen Europa, dafür hieß es „durchhalten“.
Taktische Fehler, Bürokratisierung, teilweise unsensibler Umgang mit den Stimmungen der Massen, Manipulationen am sowjetischen Wahlrecht, die Eigendynamik und unnötigen Härten des „Roten Terrors“ gegen die Konterrevolution werden von Rabinowitch für Petrograd lebendig beschrieben. All dies findet nicht unbedingt seine Rechtfertigung, aber doch seine Erklärung vor dem Hintergrund der „tatsächlichen Gegebenheiten“.
Auch wenn Rabinowitchs Sympathien eher dem „gemäßigten Flügel“ der Bolschewiki gehören, ist er von einseitigen und vereinfachenden Schuldzuweisungen doch weit entfernt, und er betont: „Im Gegensatz zu weit verbreiteten Vorstellungen traten die Bolschewiki 1917 nicht für die Diktatur einer einzelnen Partei ein.“ (S. 5)
Bibliografische Angaben
Alexander Rabinowitch, Die Sowjetmacht, Bd. 2, Das erste Jahr, Mehring Verlag, Essen 2010, ISBN 978-3-88634-090-3