NATO-Sicherheitskonferenz 2015 – Militärische Neuaufteilung der Welt

Jürgen Roth, Neue Internationale 196, Februar 2015

Nach Beendigung des Kampfeinsatzes in Afghanistan – ein vollständiger Truppenabzug steht natürlich nicht ins Haus – will sich die NATO wieder stärker auf Europa konzentrieren. Zur Abschreckung Russlands ist die Aufstellung einer Sondereinsatzgruppe mit sehr hoher Einsatzbereitschaft aus mehreren tausend Soldaten, va. aus Deutschland, Norwegen und den Niederlanden, geplant. Die Zahl der Manöver an der Ostflanke des Militärbündnisses soll gesteigert, die Rotation von Einheiten aller Teilstreitkräfte der USA und anderer Verbündeter in die Russland am nächsten liegenden NATO-Staaten fortgesetzt werden. Unklar ist noch die Finanzierung und inwieweit dort Vorratslager für militärische Güter angelegt werden. Diesen Strategiewechsel Richtung Kalter Krieg 2.0 hat der NATO-Gipfel in Wales im September 2014 beschlossen.

Neue Bipolarität

Es liegt auf der Hand, dass diese Beschlüsse etwas mit der Ukraine-Krise zu tun haben. Doch um ein komplettes Bild von der Politik gegenüber Russland und ihrer Geschichte zu zeichnen, Gemeinsamkeiten und Differenzen der NATO-Staaten untereinander auszumachen, müssen wir zunächst einen Blick auf die globalen Geostrategien der Großmächte werfen.

Bereits jetzt treibt die Welt auf einen Konflikt zwischen China und den USA zu. Die ökonomische Vorherrschaft des Noch-Welthegemons USA schwindet. Bis in die 1990er Jahre hinein stellte sich das als Aufholen der westeuropäischen Länder und Japans dar. Seitdem verlieren die USA viel stärker an ökonomischer Potenz gegenüber den BRICS-Staaten, hier v.a. China. Dieser Prozess hat sich seit Ausbruch der großen Weltwirtschaftskrise noch einmal beschleunigt.

Erklärtermaßen ist Ostasien die Region, die seitens des US-Imperialismus höchste Priorität genießt. Die militärischen Beziehungen zu Südkorea, Taiwan, den Philippinen, Indonesien, Malaysia werden mehr denn je gepflegt. Der japanische Imperialismus wird zur Aufrüstung und zu aggressiverem Auftreten animiert. Die Regierung Shinzo Abes beseitigt gerade zu diesem Zweck entsprechende Verfassungshindernisse. Zur Förderung der Exporte der seit den frühen 1990er Jahren strukturell stagnierenden Wirtschaft darf er den Yen abwerten, was früher von Washington schärfstens missbilligt oder sogar verhindert worden wäre.

Am 29. November 2014 hielt Chinas Präsident und Chef der zentralen Militärkommission (!) Xi Jingping auf der Zentralkonferenz über Arbeit in ausländischen Angelegenheiten eine wichtige Rede, in der ein strategischer Kurswechsel Pekings angekündigt wurde. China betrachtet die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und auch zur EU nicht mehr als oberste Priorität. Die genießen vielmehr nun die BRICS-Staaten, v.a. Russland, die asiatischen Nachbarn sowie Afrika und andere Entwicklungsländer. Wir können erwarten, dass sich China zukünftig deutlicher gegen eine amerikanische Einmischung aussprechen wird, wie während Hongkongs „Regenschirm-Revolution“ geschehen: „Warum betreibt Washington Farbenrevolutionen?“ fragte das offizielle Blatt China Daily und spielte auf die Rolle des Vizedirektors der staatlich finanzierten amerikanischen NGO „National Endowment for Democracy“ an.

Bedeutsamer ist jedoch der chinesische Plan, alternative Institutionen zum IWF und zur Weltbank aufzubauen, zwei strategischen Säulen für die Wirtschaftshegemonie der Vereinigten Staaten nach 1945. Diese offene Absicht wird von chinesischer Seite flankiert mit dem Vorhaben, eine eigene Freihandelszone im asiatisch-pazifischen Raum (FTAAP) zu gründen, eine deutliche Gegenmaßnahme zum amerikanischen Versuch, China durch das TTIP-Abkommen mit der EU zu isolieren.

Neue Allianzen

Einen Zwischenschritt zur endgültigen Konfrontation zwischen den beiden „Supermächten“ stellt die Bekräftigung alter wie das Eingehen neuer Allianzen dar. Zu einer Zeit, wo Putins Russland von Wirtschaftssanktionen der NATO bedrängt wird, schließt die VR China gleich mehrere gigantische Verträge mit den russischen Staatsunternehmen Gazprom und Rosneft über Energielieferungen ab, die zu Zeit bedrohte Exporte nach Europa kompensieren können. Beide Länder einigten sich auf den Bau zweier Gaspipelines. Die Ausweitung eines Währungsswaps (also der Austausch von Zins- Kapitalzahlungen in Yuan und Rubel) und der verstärkte Einsatz des Yuan im bilateralen Handel sollen den unter Druck geratenen Rubel stabilisieren.

Die gemeinsamen Übungen „Marine-Zusammenarbeit“ finden im nördlichen Teil des Ostchinesischen Meeres statt, gerade weil die USA dort regelmäßige Manöver mit ihren Verbündeten abhalten, um China und Nordkorea unter Druck zu setzen, so Viktor Sokolow, Vizepräsident der russischen Akademie für geopolitische Probleme.

Nun lässt sich, wie die Periode zwischen den beiden Weltkriegen zeigt, aus der Hauptkonfliktlinie zwischen China und den USA nicht ableiten, dass der nächste Weltkrieg, den es zu verhindern gilt, zwischen beiden Großmächten und ihren Partnerländern ausbrechen wird. Zwischen 1918  und 1939 befanden sich Europa und Amerika in der schärfsten Konkurrenz zueinander, doch der 2. Weltkrieg begann, als Europas führende Industriemacht die Nachkriegsverhältnisse am wenigsten friedlich weiter tolerieren konnte: Deutschland. Die derzeit sich bildenden Bündnisse werden sich verändern, die eine oder andere imperialistische Macht wird die Seite wechseln und die ebenfalls zunehmenden Antagonismen zwischen den Hauptmächten und anderen Imperialismen können den derzeitigen Hauptwiderspruch an Explosivität übertreffen.

Das gegenseitige Zusammenwirken in der Ukraine-Krise, bei den TTIP-Verhandlungen scheint die NATO-Mitglieder fester aneinander zu binden, die Konkurrenz zwischen EU und USA zeitweilig zu mindern. Dies liegt nicht nur am wachsenden Gegensatz beider zu Russland, sondern auch an oben aufgezeigter geostrategischen Weltlage.

US-Militärstrategien

Zum einen vermag die größte Weltmacht auch ihren Verbündeten in den Paktsystemen NATO und SEATO immer noch ihren Willen aufzuzwingen. Das ermöglicht ihr eine weltweite Eingreiffähigkeit wie keine andere Armee. Zum anderen versucht sie dabei geschickt, ihre Verbündeten in Konflikte mit hineinzuziehen. Wenn sich die EU gegenüber Russland und Japan gegenüber China aufstellen, dann hat diese Konstellation für sie auch den Vorteil, dass nicht nur ihre Hauptgegner einer verstärkten Streitmacht ins Auge blicken, sondern auch ihre derzeitigen Verbündeten durch diese Konflikte beschäftigt werden.

Damit werden Japan und die EU vorsorglich geschwächt, denn die USA müssen auf alle Fälle damit rechnen, dass diese sich eines Tages auch gegen sie stellen können. Der 2. Weltkrieg wurde so geführt, dass am Ende nicht nur die Hauptfeinde Deutschland, Italien und Japan bezwungen wurden, sondern auch die Alliierten Großbritannien und Frankreich ihre Kolonialreiche zugunsten der US-amerikanischen Freihandelspolitik (open-door-policy) aufgeben mussten.

Nach dem Wegfall des Warschauer Paktes sah es so aus, dass sich die USA mit dem geschwächten Russland arrangierten. 1999 verfügte Präsident Clinton eine neue NATO-Ausrichtung. Die „Verteidigungsgemeinschaft“ des Westens gegen den Osten mutierte zu einem weltweit operierenden Militärbündnis der Krisenregulierung in der Vollzugsgewalt der Vereinigten Staaten, nicht der UNO. Polen, Ungarn und Tschechien traten der NATO bei. Bush jun. kündigte den ABM-Abrüstungsvertrag. Nach dem 11. September 2001 schlug Putin den Aufbau einer gemeinsamen Raketenabwehr vor. Doch heraus kam nur das Konsensorgan „NATO-Russland-Rat“, ein inzwischen funktionsloses Relikt. Die US-Verbündeten stellten sich hinter ihren Hegemon. Deutschland forcierte in seinem Windschatten den Umbau der Bundeswehr zu einer Berufsarmee für weltweite „out of area“-Einsätze. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 folgte Merkel den US-Vorgaben. Sie erklärte, die Weltordnung müsse durch USA, EU und NATO stabilisiert werden, und wies das russische Kooperations- und Integrationsangebot von 2001 zurück.

Die Haltung der USA zu Russland ist trotzdem eine andere als die der EU. Nachdem letzteres unter Putin zu einer neuen imperialistischen Macht aufgestiegen war, entstand ein Hindernis allererster Güte für die amerikanische Kontrolle über Nah- und Mittelost sowie Zentralasien, eine rohstoffreiche Region von immenser strategischer Bedeutung. Russlands Militär und besonders sein atomares Potenzial machen es zum stärksten militärischen Gegner des nordamerikanischen Kolosses. Das russische Gas, der russische Investitionsstandort und Warenmarkt sind dagegen für sie wenig bedeutend. Das ist der Grund, warum Washington den Umsturz in Kiew forscher betrieben hat als die EU. Die Kosten der Auseinandersetzung fallen in Russland und im übrigen Europa an.

Die deutsche Monopolbourgeoisie folgt dem „Primat der Politik“ noch zähneknirschend. Damit ist angedeutet, dass ihre entgegengesetzten Wirtschaftsinteressen einstweilen zurückstehen müssen. Als Nebeneffekt dürften die USA Schadenfreude genug darüber empfinden.

Langfristig aber ist Russland für die EU und insbesondere Deutschland auch verlockende Beute –  möglicherweise auch in der Form eines wirtschaftlich und politisch untergeordneten Verbündeten. Die „freie Hand im Osten“, das Ziel eines eurasischen Großreichs bleibt aus geostrategischen Gründen nach wie vor Ziel. Die EU/Deutschland können keine Überseeambitionen hegen, sondern müssen sich auf die Landmasse im (Süd-)Osten konzentrieren. Dazu ist die EU militärisch einstweilen viel zu schwach, kein einheitlicher Staat und befindet sich in einer tiefen Krise, die sie zu zerreißen droht. Ein Umbruch muss her.

EU: die Karten werden neu gemischt

Grund zum Unmut mit seiner militärischen Schwäche hat das Staatenbündnis nicht nur aus o.a. Gründen, sondern weil es im Afrika südlich der Sahara ins Hintertreffen gerät. Die klassischen Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich verlieren immer mehr an Einfluss an China und die USA. Nur schwer ist ihr Abstieg zu drittrangigen Mächten für einen Wirtschaftsraum zu verkraften, der bezüglich seiner Währung und ökonomischen Leistungsfähigkeit dem Weltmarktführer wenig nachsteht.

Doch die Strukturkrise hat die Rangfolge in den eigenen Reihen verändert: die BRD ist die Gewinnerin der Krise, hat sogar Frankreich deutlich ins zweite Glied verstoßen. Deutschlands Exportstärke verweist die anderen EU-Mitglieder zusehends auf den Status von Schuldnerländern mit erheblichen, weiter wachsenden Zahlungsdefiziten. Konnte Frankreich zuvor mit seiner außenpolitisch-militärischen Überlegenheit seinen ökonomischen Rückstand noch ausgleichen, muss Premier Hollande jetzt die EU anbetteln, ihm bei seinen Auslandseinsätzen beizustehen. Die Bürde seiner Militäroperationen im Afrika südlich der Sahara (Mali, Zentralafrikanische Republik etc.) erdrückt die schwächelnde „Grande Nation“.

Neuausrichtung der Bundeswehr

Konsequenzen aus dieser Analyse zieht die energische Verteidigungsministerin von der Leyen:

1.) Die Bundeswehr soll ein „attraktiver Arbeitgeber“ werden (Erziehungsurlaub für SoldatInnen).

2.) Die Armee muss aufgerüstet und technisch verbessert werden (Kampfdrohnen, Hubschrauber, Schnellboote usw.).

3.) Ihr Einsatzgebiet wird erweitert: Somalia, Mali und Zentralafrikanische Republik stehen ganz oben auf ihrem Zettel. Geplant sind auch Einsätze in der Ostukraine und im Irak, möglicherweise auch ein Kommandostab in Jordanien.

4.) Mandate werden verlängert: Patriot-Flugabwehrraketen in der Türkei nahe der syrischen Grenze („Active Fence“), der Mittelmeereinsatz unter Führung der NATO vor der libanesischen Küste, ursprünglich als Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 beschlossen („Active Endeavour“).

5.) Das Parlamentsbeteiligungsgesetz von 2005 soll angepasst werden. Eine 16-köpfige Kriegskommission unter dem ehemaligen Verteidigungsminister Rühe soll für weitere Ausschaltung der Öffentlichkeit sorgen. „Überprüfung und Sicherung der Parlamentsrechte bei der Mandatierung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr“ nennt sich das im Insiderjargon.

Das große Krisengespenst wirft seine Schatten voraus: die Großmächte wetzen die Messer. Die diesjährige Münchner Sicherheitskonferenz wird genau zu beobachten sein.