Unruhen in Stockholm: Eine Reaktion auf Verelendung, Rassismus und Polizeigewalt
Jens-Hugo Nyberg, Arbetarmakt, Schwedische Sektion der Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 686, 4. Juni 2013
Boulevardzeitungen, TV-Shows und politische Kommentatoren in Schweden konzentrierten sich voll auf die Unruhen in den Vororten Ende Mai. Sorgfältig wurde über jedes ausgebrannte Auto oder Kämpfe mit der Polizei berichtet. Die einwöchigen nächtlichen Ausschreitungen verbreiteten sich schließlich in mehreren Vororten Stockholms, v.a. in jenen mit hohem Migrantenanteil und in geringerem Ausmaß in einigen anderen schwedischen Städten.
Hinrichtung eines Rentners
Am Montag, dem 13. Mai, hatten bewaffnete Polizisten einen 68jährigen Mann, der ein Messer hatte, im Stockholmer Vorort Husby erschossen. Sie gaben an, in Notwehr gehandelt zu haben, und reichten einen Bericht ein, nach welchem das Opfer in einem Krankenwagen starb. Dass dies eine Lüge war, sickerte jedoch schnell durch. Es kam kein Krankenwagen, sondern die Leiche wurde tatsächlich erst mehrere Stunden später mitgenommen.
Mitglieder von „Megafonen“, einer radikalen Stockholmer Organisation der Jugend aus den Vorstädten, waren bei dieser Situation vor Ort und berichteten schnell von den Ungereimtheiten in dieser Polizei-Version der Ereignisse. Schließlich war die Polizei gezwungen zuzugeben, dass ihr Bericht falsch war. Die Berichte von Megafonen hatten Recht. Die Polizei entschuldigte sich mit Nachlässigkeit und menschlichem Versagen, aber ihre bereits geringe Glaubwürdigkeit erhielt einen weiteren Schlag.
Megafonen nannte die tödlichen Schüsse eine Hinrichtung und fordert eine unabhängige Untersuchung. Sie organisierten einen Protest vor der Polizeiwache in Tensta ein paar Tage nach den tödlichen Schüssen, aber die Polizei hat lediglich angekündigt, die übliche interne Untersuchung durchzuführen. Es gibt wenig Grund, nicht zu glauben, dass das Ergebnis bereits feststeht.
In der Nacht von Sonntag, dem 19. Mai, wurde die Polizei noch einmal nach Husby gerufen. Diesmal, sagten sie, wurden sie von Steine werfenden Jugendlichen empfangen und sie wären gezwungen gewesen, Verstärkung anzufordern, um die Ordnung wiederherzustellen.
Und wieder schildern die Bewohner von Husby ein komplett anderes Bild. Nach ihren Berichten startete die Polizei ihren Einsatz, nachdem anfangs ein paar Steine von örtlichen Jugendlichen geworfen worden waren, durch Angriffe auf umstehende Personen mit abfälligen Worten, darunter auch rassistischen Beleidigungen, mit Schlagstöcken und Hunden. Eine Mutter, die ihren Sohn überreden wollte, nach Hause zu kommen, wurde von einem Polizeihund gebissen.
Sprecher von Megafonen, die zu Beginn versucht hatten zu vermitteln und die Kämpfe auf friedliche Weise zu lösen, berichten, dass auch sie von der Polizei angegriffen wurden.
Erst eine Weile später, nachdem die Polizei völlig die Kontrolle über die Ereignisse verloren hatte, ließ sie die Gewalt eine Weile ruhen und begann einen Dialog mit den BewohnerInnen.
Natürlich waren die jüngsten tödlichen Schüsse nur der Funke im Pulverfass. Die von MigrantInnen dominierten Vororte haben eine lange Erfahrung mit Polizeipräsenz, die, wie in Husby an diesem Sonntagabend, alles andere als vernünftig und sensibel ist.
Es ist üblich, dass schon bei geringfügigen Verstößen mit Gewalt reagiert wird. Selbst bevor etwas passiert ist, verhält sich die Polizei oft abfällig und rassistisch. Dazu kommt natürlich, dass die Ungleichheit in der Gesellschaft steigt und z.B. Jugendtreffs dichtgemacht werden, dass Arbeitslosigkeit, Kürzungen von Leistungen und sozialer Verfall zunehmen. 38% der 20 bis 25jährigen in Husby haben weder Arbeit noch eine Bildungsmöglichkeit. „Illegale“ ImmigrantInnen werden deportiert.
All das liefert das Szenario für eine Situation, in der die Wut sich wahllos auf jede Vertretung des repressiven Staatsapparats richten kann und das auch tut.
Eine weitere Bedrohung kommt in Form der „Buy-to-let“-Gentrifizierung, der Art von „Stadtsanierung“, die nicht die Lebensbedingungen für die dort lebenden Menschen, sondern – aus Sicht der neuen Hausbesitzer – die Mieter „verbessern“ will. Es sollen wohlhabendere Bewohner gefunden werden, die die Mietsteigerungen verkraften können und denen bestenfalls egal ist, dass die „Kräfte des Marktes“ die ursprünglichen Bewohner vertreiben.
Eine zweite Variante mit ebenso negativen Folgen ist, dass private Vermieter, die absolut nichts zum Unterhalt oder zur Verbesserung der Wohnqualität tun, versuchen, so lange wie möglich Geld aus der Gegend zu ziehen, indem sie die Kosten auf ein Minimum drücken.
Die Unruhen in Husby sollten daher insgesamt als eine Reaktion gegen rassistische Polizei, Lügen, Gewalt, Armut und Perspektivlosigkeit gesehen werden. Die Frage ist nicht, warum die Wut ausgebrochen ist, sondern warum diese Ereignisse nicht häufiger auftreten.
Der Gegenschlag der Rechten
Die Antwort von der rechten Seite war, wie vorherzusehen, böse. Während SozialdemokratInnen und alle links davon sich zumindest verpflichtet gefühlt haben, auch wenn sie Gewalt und Zerstörung verurteilten, auf die soziale Basis der Unruhen hinzuweisen, so geht es den Liberalen und allen rechts davon nur um gewalttätige und kriminelle Individuen.
„Hört auf, die Schuld der Gesellschaft zu geben!“, ist bei ihnen ein gängiges Muster. Einige haben die Vertreibung der Familien derer gefordert, die beschuldigt werden, an Ausschreitungen beteiligt gewesen zu sein – obwohl diese Position immer noch zu unpopulär für die „respektablen“ bürgerlichen Politiker ist. Rassisten und Reaktionäre haben sich in den sozialen Medien ausgetobt, mit Aufrufen, die Polizei solle jeden Ungehorsamen als Zielscheibe benutzen, und offen rassistischen „Erklärungen“ für Gewalt. Von den etablierten Parteien, gingen die Schwedischen Demokraten, wie vorherzusehen war, am weitesten mit der Forderung nach mehr Befugnissen für die Polizei, einschließlich der Ausrufung des Ausnahmezustand – und „natürlich“ sind die Einwanderer schuld.
Inzwischen haben die faschistischen Gruppen ihre Chance für die Anstiftung zum „Krieg der Rassen“ erkannt. In den vergangenen Nächten haben sie einen „Bürgerwehr“ genannten Mob organisiert, um in einigen Vororten auf Jagd nach „Randalierern“ zu gehen. In der Tat haben sie natürlich versucht, einfach alle Einwanderer, die sie finden konnten, anzugreifen. Glücklicherweise ist die schwedische Nazi-Bewegung nicht mehr das, was sie vor 5-10 Jahren einmal war, so dass es scheint, dass sie jeweils nur maximal 60 Leute auf einmal zusammenbekamen – aber das ist natürlich schlimm genug. Sie haben mehrere Leute verprügelt, einige ziemlich schwer. In Reaktion darauf haben die Jugendlichen in einigen Vororten sich klug vorbereitet, um ihre Gebiete zu verteidigen und Antifaschisten haben sich organisiert, um die Nazis zu vertreiben.
Unsere Antwort
Wir wollen auf ein paar Dinge hinweisen. Erstens: Die Unruhen sind im Grunde eine Reaktion gegen polizeiliche Belästigung, Rassismus und Mangel an Perspektiven. Kommentatoren haben behauptet, dass viele der Randalierer gerade auf der Suche nach einem Abenteuer waren. Das mag sein – wenn eine solche Einstellung auch mit der Entfremdung von der Gesellschaft steigt. Unruhen ziehen immer Menschen aus verschiedenen Gründen an, die nicht alle bewusst politisch sind. Das widerspricht in keiner Weise dem Fakt, dass es in der Tat rechte Politik war, die sich verschlechternden sozialen Bedingungen und der Rassismus, die die Unruhen herbeigeführt haben.
Wenn die schwedische Arbeiterbewegung, die Sozialdemokraten, die Linke Partei und die Gewerkschaften tatsächlich für wirkliche Verbesserungen der Lebensqualität, für Arbeitsplätze und den „Sozialstaat“ kämpfen würden, die Jugend aus den Vorstädten ihre Kampfbereitschaft anders demonstrieren könnte.
Auch wenn die Wut der Jugendlichen auf den Staat berechtigt war, haben die Ausbrüche natürlich negative Folgen. Viele Menschen in den betroffenen Vorstädten haben entweder gegen die Gewalt und die Zerstörung von Eigentum protestiert oder zumindest versucht, diese zu begrenzen. Viele Bewohner, vermutlich genauso Arme und Unterdrückte sehen die Zerstörung des kommunalen und privaten Eigentums in ihren Gebieten als sinnlos an, die ihre Situation nur noch verschlimmert. Es ist daher auch notwendig, nicht alles zu romantisieren nach dem Motto: Je mehr, desto besser. Auch Steinwürfe auf Feuerwehr und Ambulanz stoßen nicht unbedingt auf Verständnis und Zustimmung in der eigenen Klasse.
Wir weisen aber jede „moralische“ Kritik zurück. Der Widerstand gegen Polizeirepression wird nicht ohne Schäden und Gewalt abgehen. Natürlich wollen wir, dass Rebellion so organisiert wie möglich stattfindet, dass Schäden am Eigentum von Arbeiterinnen gering gehalten werden, aber wir stehen eindeutig auf der Seite der Opfer von rechten Regierungen, der Polizei und den Medien und für das Recht auf Rebellion.
In der Tat brauchen wir mehr und nicht weniger Widerstand! Am besten sind Selbstverteidigungsteams der ArbeiterInnen und Jugendlichen aus den Vororten, die sich der Polizeibrutalität widersetzen und die Knüppelbullen zum Abzug zwingen können. Damit könnten die ständigen Übergriffe auf die Bevölkerung eingeschränkt werden.
Mit der Einhaltung von Gesetzen und Regeln ist nichts zu erreichen. Friedliche Proteste und gelegentliche Stimmabgabe bei Wahlen – was haben sie uns gebracht? Einen zertrümmerten Wohlfahrtsstaat, unsichere und schlechtere Arbeitsverhältnisse, Vertreibungen und eine Nazi-Partei (die Schweden-Demokraten) im Parlament.
Die Leute aus den Vororten haben – wie alle Arbeitslosen und Prekären, die Arbeiterklasse insgesamt und alle unterdrückten Schichten – das Recht, ihre Wut auszudrücken. Entscheidend ist, dass die berechtigte Rebellion solche Formen wählt, die es ihr erlauben, nicht nur die deklassierten Vororte zu vereinen, sondern sich mit allen Ausgebeuteten und Unterdrückten zu verbinden. Hier ist es auch die Aufgabe der Linken und der Arbeiterbewegung, sich an die Seite der MigrantInnen-Jugend zu stellen, die überausgebeutet und mehrfach unterdrückt ist. So kann die Wut der Jugend zu einer wirklichen Änderung führen.
Die Reichen und diejenigen, die von den Missständen profitieren, müssen zahlen. Die Schuld liegt bei den bürgerlichen Politikern, den Kapitalisten und den rassistischen Polizeieinheiten. Die Arbeiterbewegung und die Linke sollten Solidaritäts-Demonstrationen mit folgenden Forderungen organisieren:
- Bereitschaftspolizei raus aus Husby und den anderen Vororten! Für organisierte Selbstverteidigung gegen Polizei, faschistische und rassistische Banden!
- Für eine unabhängige öffentliche Untersuchung und Anklage gegen die Mörder des 68jährigen Mannes!
- Für eine Kampagne für Arbeit, Wohnungen, Bildung und Sozialeinrichtungen!
- Enteignung aller Hausbesitzer, die Mieten erhöhen, Sanierung der Häuser mit öffentlichen Mitteln unter Kontrolle der BewohnerInnen und örtlichen Arbeiterschaft!