Zwei Jahre arabischer Frühling – eine unvollendete Revolution

Markus Halaby, Neue Internationale 177, März 2013

artikel_arabischerfrühling_unvollendetRevolutionen – mögen ihre Triebkräfte auch genau analysiert sein – sind immer auch unerwartete Ereignisse, was ihren zeitlichen Ablauf, ihre Form und unmittelbaren Ursachen betrifft. RevolutionärInnen verbringen oft Jahrzehnte, sich selbst und die Massen auf sie vorzubereiten. Aber selbst die weitsichtigsten und engagiertesten RevolutionärInnen werden oft vom plötzlichen Ausbruch von Wut, Aktivität und Initiative der Massen, die Kennzeichen aller echten Revolutionen sind, überrascht.

Dennoch, sobald begonnen, folgen sie bestimmten allgemeinen Gesetzmäßigkeiten, deren konkrete Ausformung durch die spezifische Geschichte und materiellen Umstände eines Landes und einer Region geprägt ist.

Wie es in Lenins berühmter Formulierung heißt, geschehen Revolutionen erst dann, wenn die unteren Schichten „nicht mehr wie früher leben wollen“ und die Herrschenden nicht mehr „wie früher wirtschaften und regieren können“. (1)

In „Der Zusammenbruch der II. Internationale“ führt Lenin drei Hauptmerkmale revolutionärer Situationen an:

„1. Für die herrschende Klasse ist es unmöglich, ihre Herrschaft unverändert aufrecht zu erhalten; die eine oder andere Krise der ‚oberen Schicht‘, eine Krise der Politik der herrschenden Klasse, die einen Riss entstehen lässt, durch den sich die Unzufriedenheit der unterdrückten Klassen Bahn bricht. (…) 2. Die Not und das Elend der unterdrückten Klassen verschärfen sich über das gewöhnliche Maß hinaus. 3. Infolge der erwähnten Ursachen steigert sich erheblich die Aktivität der Massen, die sich in der ‚friedlichen‘ Epoche ruhig ausplündern lassen, in stürmischen Zeiten dagegen sowohl durch die ganze Krisensituation als auch durch die ‚oberen Schichten‘ selbst zu selbstständigem historischem Handeln gedrängt werden.“ (2)

Die großen – und bisher unvollendeten – arabischen Revolutionen von 2011 weisen alle grundlegenden Merkmale einer revolutionären Situationen auf. Die Kämpfe, die in der arabischen Welt während der 1950er und 1960er stattfanden, waren mit einem zerbrechlichen System von unabhängigen Staaten konfrontiert, die gerade erst geschaffen worden waren – einem Flickenteppich von rückständigen monarchistischen Regimen, die von ausländischen Imperialisten an die Macht gebracht worden waren. Ihre Staatsgrenzen waren von den Großmächten gezogen worden, um die Region besser beherrschen zu können und ihre eigenen Einflusssphären abzustecken.

Die arabischen Revolutionen des 21. Jahrhunderts sahen sich in mancher Hinsicht mit einer anderen politischen Ordnung konfrontiert. Die meisten Länder wurden von fest verwurzelten und anscheinend „stabilen“ Diktaturen regiert, von denen viele seit Jahrzehnten bestanden und deren herrschende Schichten und Apparate darauf setzten, sich noch jahrzehntelang zu reproduzieren. Vor zehn Jahren noch pflegten westliche KommentatorInnen die arabische Revolution als einen erloschenen Vulkan zu betrachten. Aber auch solche haben – wie die antiken BewohnerInnen von Pompeji und Herculaneum erfahren mussten – die schlechte  Gewohnheit, jene unter ihrer Asche zu begraben, die leichtgläubig auf ihren Hängen gebaut hatten.

Wo einst die Forderung nach „arabischer Einheit“ als Kampfruf gegen die alten britischen und französischen Kolonialmächte diente, sorgen heute der US-Imperialismus und der rassistische israelische Staat für die eine oder andere Variation des beliebten revolutionären Wahlspruchs “ash-sha’b yurid isqat annizam” – „Das Volk will den Sturz des Regimes“.

Kapitalismus in der Krise

Im Nahen Osten und Nordafrika ist die unmittelbare Ursache für das gesteigerte „Elend der unterdrückten Klassen“ die globale Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/09. Obwohl eine Krise, die fast jedes Land in der Welt betraf, bündelten sich in der arabischen Welt die Probleme des kapitalistischen Systems besonders drastisch. Es wurde immer schwerer, eine immer gebildetere und sich artikulierende Jugend zu integrieren und zu befrieden, weil deren soziale Erwartungen immer weniger erfüllbar waren und weil es unter den brutalen Herrschaftssystemen nur wenige oder keine legalen Ventile für ihre Unzufriedenheit gab.

Wenn die arabischen Revolutionen des letzten Jahrhunderts vor dem Hintergrund des Kalten Krieges stattfanden und wiederum durch die feindliche oder freundliche Reaktion der Supermächte UdSSR und USA beeinflusst wurden, dann hat nun diese Welle von Revolutionen vor den Hintergrund des Scheiterns der neoliberalen Globalisierung stattgefunden, die den Lebensunterhalt der Massen zunehmend untergrub, und vor dem Hintergrund des Niedergangs der hegemonialen amerikanischen Supermacht und dem Aufstieg alter und neuer imperialistischen Rivalen wie die EU, Russland und China.

Und dies nach einem Jahrzehnt, in welchem die USA, berauscht von der Hybris, die einzige globale Supermacht zu sein, zuerst in Afghanistan und dann im Irak einmarschiert waren und die dortigen Regierungen stürzten und im September 2000 Israels blutige Niederschlagung der palästinensischen Intifada unterstützten. Diese Ereignisse wie auch die Unterstützung der USA für einen betrügerischen „Friedensprozess“, der Israel seinen Raub von palästinensischem Land zu beschleunigen erlaubte, unterhöhlten zugleich das Prestige ihrer arabischen Verbündeten.

Bald konnte sich kein arabisches Regime mehr sicher fühlen. Sowohl die beiden pro-westlichen Regime in Ägypten und Tunesien wie die „nationalistischen“ Diktaturen in Libyen und Syrien, die reichen Ölstaaten wie Bahrain und Libyen oder das arme und rückständige Jemen wurden mit den Forderungen der erwachten Massen konfrontiert und in ihrer Existenz bedroht. Sogar „traditionelle“ arabische Monarchien wie Jordanien und Saudi-Arabien – jede weniger als ein Jahrhundert alt – befürchteten Unruhen.

Natürlich gibt es auch Ausnahmen. Die wichtigsten sind Palästina und der Irak, beide politisch geteilt und unter fremder Besatzung. Der entlang konfessioneller Linien gespaltene Libanon beobachtet nervös den revolutionären Bürgerkrieg in Syrien und ist gespalten entlang der Frage, welche Seite zu unterstützen sei. Algerien wird immer noch dominiert durch die Armee, die den islamistischen Aufruhr in den 1990ern blutig unterdrückt hatte. Das ölreiche Katar scheint relativ ruhig zu sein. Seine vorgeblich „wohlwollende“ herrschende Autokratie hat sogar seinen Lieblings-Fernsehsender Al Jazeera als Stimme einiger, als „gemäßigt“ geltender Anwärter auf die Macht in einer nach-revolutionäre Ordnung etabliert.

Wie alle Revolutionen entwickelten die ägyptische und die tunesische Revolution schnell ihre eigenen Mythen: dass Revolutionen „friedlich“ sein können; dass diese Revolutionen vom „ganzen Volk“ gegen Regimes gemacht wurden, denen jede wirkliche Unterstützung fehlte;  dass der anscheinend spontane und „führungslose“ Charakter dieser Revolutionen die Irrelevanz von politischen Parteien und Programmen demonstriert hätte.

Mythos der „friedlichen“ Revolution

Auf der Welle der Erfolge des Anfangs der revolutionären Entwicklung in Tunesien und Ägypten und in der Erwartung, dass sich dieses Muster auch woanders in der arabischen Welt wiederholen wird, finden sich diese drei verbundenen Mythen in diversen Schriften und Kommentaren westlicher Beobachter. Die Ideen von „Gewaltlosigkeit“, recycelt von Tolstoi, Thoreau und Gandhi, wurden von liberal-radikalen AkademikerInnen in aller Welt zur „neuen“ Strategie erhoben, die die „alte linke“ Vorstellung vom gewaltsamen Charakter jeder wirklichen Revolution auf den Müllhaufen der Geschichte verdammt hätte.

Es sollte jedoch nicht lange dauern, bis diese drei Mythen zertrümmert wurden. Die Revolutionen in Libyen, Syrien und dem Jemen entwickelten sich alle zu Bürgerkriegen, die den Weg für eine imperialistische Militärintervention wie Fall Libyens öffneten, zu einem imperialistischen diplomatischen Macht-Spiele wie im Fall Jemens wurden oder zu 60.000 Toten und einer Million Vertriebenen wie in Syrien führten.

Im winzigen Bahrain wurde die Frage mit Gewalt – der Staatsgewalt – entschieden, indem eine saudisch geführte Invasion die Ordnung erzwang. Im Gegenzug dafür bombardierte die NATO Libyen, um so ihren Einfluss auf die Nachkriegsordnung des Landes zu sichern.

Der Mythos der Gewaltlosigkeit war selbst in Ägypten und Tunesien nur ein Mythos, eine Verklärung und Verschleierung der wirklichen Entwicklung. In beiden Ländern bekämpften DemonstrantInnen die Polizei und brannten Regierungsgebäude nieder, unter ihnen das Kairoer Hauptquartier der herrschenden „Nationalen Demokratischen Partei“ des ägyptischen Diktators Hosni Mubarak. In Tunesien umfassten die Proteste auch den Aufruf zu einem Generalstreik, der einen entscheidenden Moment in allen Revolutionen, die Spaltung des repressiven Apparats des Staates provozierte, so dass die Armee Ben Alis Heckenschützen bekämpfte, so dass er aus dem Land flüchtete.

In Ägypten wurden etwa 800 Menschen in den 14 Tagen des Aufstands getötet, als das Regime seine inoffiziellen Schläger, die Baltagiya, losließ, um auf die frühe Niederlage seiner Polizeikräfte und die Lahmlegung einer Armee zu antworten, die von der Stimmung im Volk infiziert war. Danach haben Übergangsregime des Militärs andere Angriffe, u.a. gegen koptische christliche Demonstranten, geführt und der ägyptischen Bevölkerung ein Blutopfer zugefügt, dass sicher ausgleichende Gerechtigkeit fordert, wenn seine Übeltäter daran gehindert werden sollen, es wieder zu tun.

Tatsächlich bedeutet der Enthusiasmus für die „Gewaltlosigkeit“ nur, den Massen dafür zu applaudieren, dass sie nicht die Waffen ergriffen haben. Aber es ist genau diese Tatsache, die den ägyptischen und tunesischen herrschenden Klassen erlaubt hat, zu versuchen, den Übergang zu „verwalten“, die kapitalistischen Verhältnisse wieder zu stabilisieren und viele der alten diktatorischen Machtstrukturen intakt zu lassen, nachdem die Diktatoren gefallen waren.

Jene Schwarzseher in der internationalen Linken, die die syrischen und libyschen Revolutionen abgeschrieben haben, weil sie sich zu Bürgerkriegen entwickelt haben, demonstrieren bestenfalls naiven Pazifismus oder, noch schlechter, eine zynische Realpolitik, welche eine Revolution nur dann als „rechtmäßig“ ansieht, wenn sie schnell siegt.

Die demokratische Phase der Revolution

Zweifellos waren alle arabischen Revolutionen davon geprägt, dass das ganze „Volk“ auf die Straße ging. Die unterschiedlichen Klassen und Schichten der Jugend und Studierenden, der ArbeiterInnen, der städtischen Armut, HändlerInnen, Intellektuelle und Mittelschichten teilen trotz ihrer verschiedenen materiellen Interessen die gemeinsame Erfahrung der Korruption, der Brutalität und Unfähigkeit des staatlichen Regimes und Apparates und deren Verachtung der Bevölkerung. Es ist nicht zufällig, dass der Ruf nach „Würde“ eine der wichtigsten Parolen aller arabischen Revolutionen war.

Dies wiederum ist ein gemeinsames Merkmal der Anfangsphase aller Revolutionen, die mit „demokratischen“ Forderungen beginnen. So schrieb Friedrich Engels über den Wiener Aufstand während der europäischen Revolutionen von 1848:

„Aber es ist das Schicksal aller Revolutionen, dass dies Bündnis verschiedener Klassen, das bis zu einem gewissen Grade immer die notwendige Voraussetzung jeder Revolution ist, nicht von langer Dauer sein kann. Kaum ist der Sieg über den gemeinsamen Feind errungen, da beginnen die Sieger sich in verschiedene Lager zu scheiden und die Waffen gegeneinander zu kehren.“ (3)

Außerdem hielt er diese Tendenz in Richtung Klassenkampf nicht für eine bedauernswerte Angelegenheit, sondern vielmehr für einen Motor der Geschichte und fügte hinzu:

„Gerade die rasche, heftige Entwicklung des Klassenantagonismus macht in alten, komplizierten gesellschaftlichen Organismen die Revolution zu einer so mächtigen Triebkraft des sozialen und politischen Fortschritts; gerade das unaufhörliche, schnelle Emporschießen neuer Parteien, die nacheinander an der Macht sind, lässt eine Nation in Zeiten so heftiger Erschütterungen in fünf Jahren weiter vorankommen als unter normalen Verhältnissen in einem Jahrhundert.“ (ebenda)

Entgegen dem beliebten Mythos, dass „das Volk“ auf den Straßen war, waren es auch die spezifischen Klassenaktionen der ArbeiterInnen, die den Staatsapparat in Ägypten und Tunesien mit Massenstreiks und der Drohung des Massenstreiks zwangen, ihre Gallionsfiguren zu opfern.

In Syrien war die Teilung zwischen den ärmeren und reicheren Schichten des Volkes – was in Ägypten nur nach Mubaraks Abdankung offensichtlich wurde – von Beginn an sichtbar, da Bashar Assads Regime auf seiner Seite nur jene Minderheit der Bevölkerung sammelte, die von einem Jahrzehnt der Vetternwirtschaft und des Neoliberalismus profitiert hatte. Es mobilisierte auch jene Elemente der alawitischen, christlichen und drusischen Minderheiten, unter denen Panik wegen der Aussicht auf sunnitische konfessionelle Vergeltung im Falle der Niederlage des säkularen Ba’athisten-Regimes.

In Libyen und Bahrain, beide abhängig von der Arbeitskraft von vollkommen entrechten MigrantInnen, schwächte die Gleichgültigkeit eines großen Teils der Arbeiterklasse gegenüber den demokratischen Forderungen der „einheimischen“ ArbeiterInnen und des Kleinbürgertums die Revolution. Im Falle Libyens bereitete dies den Weg für die NATO-geführten Bestrebungen, die revolutionäre Woge zu kontrollieren, und ermöglichte die mörderischen Pogrome an afrikanischen ArbeiterInnen und schwarzen LibyerInnen.

Revolution ohne Führung?

Es ist wohl der Mythos von der „Führungslosigkeit“, der am hartnäckigsten ist. Karl Marx bemerkte einmal: „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf den Gehirnen der Lebenden.” (4) Das Erbe des Stalinismus in der arabischen Welt – sowohl seine Anpassung an spießigen Nationalismus als auch die Tendenz einiger arabischer Regimes, die schlechtesten Eigenschaften des Stalinismus an der Macht zu imitieren – lastet sicherlich wie ein Alptraum auf dem Verstand der arabischen Linken.

Es sollte nicht überraschen, dass die Bewegungen der Arbeiterklassen in Ländern, die unter Jahrzehnten politischer Unterdrückung gelitten haben, nicht in der Lage waren, ihre eigenen Institutionen zu entwickeln, insbesondere politische Parteien, die fähig gewesen wären,  konsequent die Interessen der Arbeiterklasse zu vertreten und ihr Bedürfnis nach politischer Unabhängigkeit vom „Volk als Ganzes“ zu behaupten.

Wir könnten aber noch hinzufügen, dass der mögliche Kern einer solchen Bewegung wenigstens in Ägypten und Tunesien in Form kleiner sozialistischer Propagandagruppen und den Anfängen einer unabhängigen Gewerkschaftsbewegung existierte. Es ist kein Zufall, dass es diese unter „autoritären“ Regimen wie unter Mubarak und Ben Ali, aber nicht unter „totalitären“ Regimen wie dem von Gaddafis Libyen oder Assads Syrien gab.

Ebenso sollte es nicht überraschen, dass Massen, die unter der Herrschaft von Diktaturen aufgewachsen sind, die sich legitimierten durch eine Regierungspartei mit einem Machtmonopol und gelegentlich „sozialistische “ oder „antiimperialistische“ Rhetorik verwandten, skeptisch oder sogar feindlich der Idee gegenüber sind, dass eine Partei notwendig ist, um den revolutionären Massen eine politische Führung zu geben, um sicherzustellen, das sich die Arbeiterklasse und ihre Verbündeten nicht ihren Kampf von Elementen stehlen lassen, die aus der alten Machtordnung oder aus neuen Eliten kommen. Die Massen kannten Parteien über Jahrzehnte nur als bürokratische Institutionen für die Ausübung der Diktatur anstatt für deren Sturz.

Dennoch hat das Fehlen einer solchen Führung – einer revolutionären Arbeiterpartei – die Entwicklung und das Resultat der revolutionären Kämpfe in allen arabischen Ländern bis heute entscheidend beeinflusst.

In Ägypten bedeutet es, dass die Moslem-Bruderschaft – am Beginn zögerlich darin, den Aufstand zu unterstützen, aber umso schneller mit der Antwort auf Mubaraks Aufrufe zum „Dialog“ und bei der Unterstützung der Militärjunta, welche die Macht aus Mubaraks Händen nahm – der Hauptnutznießer des inszenierten Wechsels zu einer Form „verfassungsmäßiger“ Ordnung wird, die es der alten Garde erlaubt, ihre Privilegien zu bewahren und zugleich neue Formen der reaktionären islamistischen Unterdrückung der Massen, v.a. der Frauen, der Jugend und ArbeiterInnen zu etablieren.

In Libyen würde es bedeuten, dass sich jene Elemente des Gaddafi-Regimes, die früh genug die Seiten wechselten, um sich zu Führern der Revolution zu ernennen, an die imperialistischen Kräfte appellieren, die Waage zu ihren Gunsten zu kippen.

In Syrien bedeutet es, dass zerstrittene bürgerliche Oppositionspolitiker im Exil die politische Initiative ergreifen, in Hinblick auf die zukünftige Form eines Nach-Assad Regimes. In ihrem Fall bedeutete dies überhaupt keine praktische Initiative im Kampf. Vielfach sind es  „Führer“ ohne Basis. Umso willfähriger setzen sie darauf, zu einer „ausländischen“ Kraft zu werden, um die syrische Bevölkerung bei der Einrichtung der zukünftigen Ordnung zu umgehen. So formierten sie sich zunächst in der Gestalt des türkisch-gesponserten Syrischen Nationalrats, um dann als von Katar gesponserte Syrian National Coalition zu firmieren.

Jedoch zeigt die Entwicklung der lokalen Koordinierungsausschüsse und das Aufkommen einer Massenbewegung von bewaffneten ZivilistInnen und militärischen ÜberläuferInnen, die in Verteidigung der syrischen Revolution handeln, dass es möglich ist, dass die Massen spontan eigene Führungen hervorbringen – unter Umgehung der bürgerlichen Exilanten – welche eine Autorität haben, die auf der Repräsentation der realen Kräfte im aktiven Kampf mit dem Regime beruht. Aber auch dann ist ein unnachgiebiger Kampf um die politische Führung notwendig, wie es sich in Syrien angesichts des größer werdenden Einflusses erz-reaktionärer islamistischer Kräfte zeigt.

Partei und Programm

Aber auch und gerade in einer „spontanen“ Entwicklung der Revolution ist eine politische Partei erforderlich, um Einfluss unter den Massen zu erringen – gegen alle anderen Strömungen, Ideologien und sozialen Schichten, die vorübergehend die politische Führung oder Macht erringen: konservative und liberale, säkulare und islamistische, zivile und militärische, intellektuelle oder plebejische, traditionelle und modernistische.

Woraus sollte das Programm einer solchen Partei bestehen? In erster Linie sollte es konsequent den demokratischen Inhalt des revolutionären Kampfes, der jetzt stattfindet, ausdrücken: für volle politische Freiheit und ein Ende der Ein-Parteien-Herrschaft; für Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit, gegen Zensur; für die Sicherung der Rechte der Frauen, für die Trennung von Staat und Religion; für das Recht zu protestieren und – ganz entscheidend – für das Streikrecht.

Das Programm sollte eine gründliche Säuberung des Staatsapparats fordern, um die Strohmänner des alten Regimes zu entfernen, die Folterer und die der Korruption Schuldigen bestrafen. Es sollte die Entfernung all jener Elemente der Sicherheitskräfte fordern, die Verbrechen gegen das Volk begingen und die Ersetzung der Polizei und der stehenden Arme samt ihrem Offizierskorps durch Soldatenräte und eine Massenmiliz der Arbeiterklasse und Unterdrückten zur Verteidigung der Revolution.

Seine krönende demokratische Forderung sollte ein Aufruf für eine souveräne verfassunggebende Versammlung sein, basierend auf freien und fairen Wahlen, das allgemeine Wahlrecht und eine geheime Abstimmung. Revolutionären Komitees und die Organisationen der Arbeiter, der Bauern und der Jugend sollten sicherstellen, dass in dieser Versammlung frei diskutiert werden kann und sie sollten den Klassencharakter des neuen Staats bestimmen.

Das Programm sollte auch anerkennen, dass diese demokratischen Forderungen nur  durchgesetzt werden können, wenn die Arbeiterklasse die Führung der Revolution übernimmt  als zentrales Subjekt fungiert, wenn die Gesellschaft neu aufgebaut wird.

Um dieses zu tun, wird es notwendig sein, die sozialen Forderungen der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten in der Bauernschaft, im städtischen Kleinbürgertum und in der Intelligenz zur Geltung zu bringen: für die Umkehr der neoliberalen Politik des letzten Jahrzehnts, für die Beschlagnahmung von privatisierten Staatsunternehmen, für Maßnahmen zum Schutz der Arbeitslosen und gegen die weitere Verelendung der Armen, für Renten für die Familien von Märtyrern und für Entschädigung und eine angemessene medizinische Versorgung für die vielen Verletztem der Revolution, für ein massives Hausbau-Programm einschließlich der Entschädigungen und den Wiederaufbau neuer Häuser für jene Vertriebenen, deren Häuser und Bezirke zerstört worden sind, für eine Reduzierung der Arbeitszeit und ein wirksames Verbot von Kinderarbeit, um vollständig die Arbeitslosen und wirtschaftlich Ausgegliederten wieder aufzunehmen und für ein Programm öffentlicher Arbeiten zur Bewältigung der kriminellen Vernachlässigung der ländlichen Regionen durch das Regime.

Dazu ist es unerlässlich, den Ruf nach „Einheit des ganzen Volkes“, also aller Klassen, zu ignorieren. Denn diese Losung kann nur Verzicht auf die Interessen der ArbeiterInnen und der Armen bedeuten.

Eine Partei, bewaffnet mit einem solchen Programm muss erkennen, dass die Erfüllung der Forderungen die Überwindung der Grenzen des Privateineigentums an den Produktionsmitteln und an Grund und Boden erfordert. Sie muss erkennen, dass die Vollendung der Revolution nicht nur den Sturz des Regimes, sondern den Sturz der kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse erfordert.

Im Gegensatz zum diplomatischen Politisieren der Exilanten, um die Karten neu zu mischen, um zu sehen, welche ausländischen Protegés und welche aktuellen oder übergelaufenen Elemente des alten Regimes in der Lage sind, in einer zukünftige Regierung zu sitzen, wird die neue Partei offen ihr Ziel aussprechen: für eine revolutionäre Regierung der ArbeiterInnen und Bauern.

Dies ist das ursprünglich von Leo Trotzki in Russland im Jahr 1905 skizzierte und dann im Jahr 1917 umgesetzte Programm der permanenten Revolution. Auch die arabischen Revolutionen von heute müssen diesen Weg nehmen, oder sie stehen vor dem Risiko einer Niederlage, die Ursache sein wird für ein Verschwinden der politischen als auch sozialen Freiheit in der arabischen Welt für eine weitere Generation.

Quellen:

1) Die Maikundgebungen des revolutionären Proletariats, 15. [ 28. ] Juni 1913, Lenin Werke, Bd. 19, Seite 212. Eine ähnliche Formulierung verwendet Lenin später in der „Linke Radikalismus“ Kap. IX.

2) W.I. Lenin, Der Zusammenbruch der II. Internationale, Kapitel II, in Lenin Werke Bd. 21, Seite 206 f.

3) Engels, Friedrich, Revolution und Konterrevolution in Deutschland, MEW, Band 8, S. 36, Dietz Verlag, Berlin/DDR, 1960

4) Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, 1852, MEW 8, S. 115

Bild: http://www.flickr.com/photos/mohamedazazy/ (CC BY-NC-ND 2.0)