Queers in Palästina: Ein freies Palästina bedeutet Befreiung von jeglicher Unterdrückung

Leonie Schmidt, Gruppe Arbeiter:innenmacht und Revolution, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

Achtung: In diesem Artikel werden teilweise rassistische und queerfeindliche Argumente wiedergegeben, um sie widerlegen zu können. Auch wird sexualisierte und koloniale Gewalt erwähnt. (Die Red.)

Queere Menschen gibt es überall auf der Welt – auch in Palästina. Und wie überall werden sie auch gesellschaftlich unterdrückt, denn die Unterdrückung von queeren Personen spielt im Kapitalismus mitsamt seiner patriarchalen Strukturen eine wichtige Rolle. Doch im Rahmen von Diskussionen über Israels Krieg gegen Gaza fällt von israelsolidarischer Seite immer wieder das Argument, dass man als queere Person oder Mensch, der sich für queere Rechte engagiert, nicht pro Palästina sein dürfe. Schließlich stünde das im absoluten Widerspruch zur Situation von queeren Palästinenser:innen, deren Leben „von barbarischer Queerfeindlichkeit seitens der eigenen, angeblich grundsätzlich reaktionären Community geprägt sei“. Klar ist jedoch, dass das eine völlig falsche Behauptung ist, bei der  Pinkwashing und Homonationalismus dazu dienen, rassistische Ressentiments zu schüren sowie Besatzung und Krieg zu legitimieren. Denn ein Blick in die Nachrichten genügt, um herauszufinden, dass Hassverbrechen, Rücknahme von Rechten sowie neue reaktionäre Gesetzgebung auch in den vermeintlich fortschrittlichen westlichen Staaten auf der Tagesordnung stehen.Was stattdessen der Situation von queeren Personen in Palästina zu Grunde liegt und wie die Unterdrückung überwunden werden kann, soll in diesem Artikel aufgezeigt werden. Dabei konzentrieren wir uns auf die Situation vor dem Krieg, auch um die Limitiertheit prozionistischer Argumentation aufzuzeigen. Dafür hat unsere Autorin Leonie Schmidt mit dem Anthropologen Victor Harry Bonnesen Christoffersen und mit Azina Ababneh, einer queeren Person aus dem Westjordanland, gesprochen. Beide wurden als Expert:innen befragt und teilen nicht zwangsläufig unsere marxistischen Schlussfolgerungen.

Wie sieht die Rechtslage aus?

Die Gesetzgebung innerhalb Palästinas selbst ist widersprüchlich, da sie sich in der Westbank und im Gazastreifen unterscheidet. Während in der Westbank  homosexuelle Aktivitäten zwischen Männern 1951 während der jordanischen Verwaltung entkriminalisiert wurden, sind sie hingegen  im Gazastreifen seit 1936 unter dem britischen Mandat verboten und können mit einer Freiheitsstrafe geahndet werden. Hier sehen wir schon die ersten Spuren der Besatzung, die die Lage queerer Personen in Palästina beeinflussen. Allerdings ist umstritten, inwiefern das Strafrecht des britischen Mandats noch derartig umgesetzt wird. Andererseits gibt es auch keine Gesetze, die gegen Queerfeindlichkeit vorgehen sollen, Queers schützen, und Behörden werden diesbezüglich auch nicht tätig. Doch bevor wir klären, woher  ausbleibender offener Umgang mit Sexualität und Geschlecht kommt, wollen wir einen Blick auf den Alltag queerer Menschen werfen.

Eindrücke von queerem Leben in Palästina

Azina erklärt uns, wie they sich gefühlt hat, nachdem they sich their queeren Identität bewusst wurde: „Ich erinnere mich, dass ich Angst hatte, als ich zum ersten Mal entdeckte, dass ich bisexuell bin. Meine Bisexualität würde die gesellschaftlichen Herausforderungen und Schwierigkeiten für mich verdoppeln.“ Als their Mutter ein T-Shirt mit einem Regenbogen in Azinas Kleiderschrank gefunden hatte und daraufhin  wegwerfen wollte, musste Azina behaupten es würde jemand anders gehören. Aber engstirnige Eltern dieser Art existieren nicht nur lokal beschränkt in Palästina und queere Palästinenser:innen müssen nicht überall komplett versteckt leben. Denn Azina hat im Westjordanland auch schon gute Erfahrungen machen können. Auch wenn man sehr vorsichtig sein muss, wem man etwas anvertraut, und Azina sich manchen Familienmitgliedern diesbezüglich nicht öffnet, hatte they gegenüber their Schwester und Freund:innen their Coming-out, ohne negative Folgen. Außerdem berichtet they von einem Ex-Freund, welcher aus einer besonders religiösen Familie stammte. Auch für ihn stellte their Sexualität kein Problem dar und er habe sogar selbst homosexuelle Erfahrungen gemacht. Azina sagt auch, was die Lage von queeren Personen in anderen Ländern unterscheidet, ist die Besatzung der palästinensischen Gebiete durch Israel, nicht die palästinensische Kultur selbst.

Queere Identitäten werden durch die israelischen Besatzungsmacht instrumentalisiert. So müssen Queers in Palästina mit dieser Angst leben, da die Möglichkeit besteht, dass die israelischen Sicherheitsbehörden sich diese Informationen zunutze machen, um sie zu erpressen, dazu zu bringen, mit ihnen zu kooperieren und schlimmstenfalls zu Spitzeln zu werden. Victor Harry Bonnesen Christoffersen erklärt, dass er während seiner Forschung zu Queerness in Palästina Berichte über israelische Militärangehörige gehört hat, welche queere Palästinenser:innen unter Drogen setzen, diese dann ohne Einwilligung beim Sex filmen und diese Materialen dann zur Erpressung nutzen. Auch würden sie sich in einigen Bars in Ramallah als internationale Tourist:innen ausgeben. Das führt dazu, dass diese Partymeilen nicht mehr als „Safe(r) Spaces“ von den Betroffenen wahrgenommen werden können.  Ebenso kommt es, so schildert uns Azina diesbezüglich, dass queere Personen, wenn sie auf Dating Apps auch ihre palästinensische Identität angeben, dafür von israelischen Soldat:innen rassistisch beleidigt und bedroht werden. Gerade die Verbindung mit der palästinensischen Identität ist das Problem, was sich queeren Palästinenser:innen besonders stellt. Denn im Prinzip ist es den israelischen Sicherheitsbehörden völlig egal, ob die, die sie gerade schikanieren, queer sind. Sie nutzen es als Mittel zum Zweck, um etwas gegen sie „in der Hand zu haben“ und entlarven sich dabei trotzdem selber als homophob, auch wenn das Pinkwashing Israels uns etwas ganz anderes weismachen will.

Safe(r) Spaces oder Circles?

Victor Harry Bonnesen Christoffersen hat seine wissenschaftlichen Studien zum Thema Safe Spaces für queere Personen in Palästina durchgeführt. Seine Erkenntnis: Das Konzept von Safe(r) Spaces wird hier eher nicht praktiziert, da wenig Möglichkeit besteht, diese Orte öffentlich kundgeben können, dass sie queerfreundliche Verbündete sind. Das liegt daran, dass sie sonst sich und die queere Community in Gefahr bringen würden. Jedoch gibt es einige queerfreundliche Bars zum Beispiel in Ramallah.

Grundsätzlich müssen wir natürlich davon ausgehen, dass es im Kapitalismus keine Räume gibt, die wirklich komplett frei von Unterdrückung sind, denn das sind gesellschaftliche Strukturen, die dahinter stecken und nicht einfach nur Einzelpersonen. Auch vermeintliche Safe(r) Spaces in Europa oder den USA sind alles andere als sicher, wie Angriffe auf CSDs und Queer Bars in den letzten Jahren deutlich aufzeigen. Dennoch ist es wichtig, dass queere Personen untereinander frei kommunizieren können. Laut Bonnesen Christoffersen existieren daher auch Safe(r) Circles, wobei sich das Konzept aber nicht auf das Räumliche, sondern auf die Verbindung zwischen den betroffenen Personen bezieht. Teil werden kann nur, wem vertraut wird. Neue Leute können also nur über bestehende Personen Teil dieses Circles werden, welcher dann dafür sorgt, dass die Betroffenen sich sicherer damit fühlen, ihre Identität preiszugeben und innerhalb des Circles offen auszuleben.

Ebenso gibt es auch innerhalb der palästinensischen Community Organisationen, die sich für die Rechte queerer Palästinenser:innen einsetzen, wie uns Bonnesen Christoffersen erläutert. So gibt es Al Qaws, eine NGO für sexuelle und geschlechtliche Diversität in der palästinensischen Gesellschaft, die die aktivste Organisation in dieser Hinsicht darstellt. Außerdem gibt es noch Aswat, die ihren Schwerpunkt auf queere Frauen legt. Beide Organisationen haben ihren Sitz in Haifa in den Territorien von 1948. Azina erwähnt diesbezüglich auch die Tal’at-Bewegung, eine revolutionäre feministische Bewegung, die sich gegen sexistische und koloniale Unterdrückung von palästinensischen Frauen einsetzt.

Kapitalismus, Kolonialisierung und Zionismus – unterdrückerische Gründe für Queerfeindlichkeit

Wenn wir über queeres Leben in Palästina sprechen, ist es wichtig, sich das Verhältnis von Kapitalismus sowie israelischer Besatzung näher anzuschauen, statt rassistische Stereotype zu reproduzieren – oder queere Unterdrückung zu verharmlosen. Dabei wird klar, dass Diskriminierung von LGBTIA+-Personen ein internationales Phänomen ist, da sie, verkürzt gesagt, von den vorgegebenen Geschlechterrollen abweichen, in diese oftmals nur schwer einsortiert werden können. Sie werden somit als Bedrohung für die herrschende kapitalistische Ordnung und folglich das Ideal der bürgerlichen Familie angesehen. Je etablierter die geschlechtliche Arbeitsteilung, desto höher auch die Ablehnung von Queers könnte man sagen.

Dass Queerness innerhalb Palästinas ein gesellschaftliches Tabuthema darstellt, hat also nichts damit zu tun, dass Palästinenser:innen per se konservativ, rückschrittlich sind oder der Islam „böser“ ist als andere Religionen. Neben der Tatsache, dass viele Vertreter:innen des palästinensischen Nationalismus säkular sind, entwickeln auch andere Religionen stark reaktionäre Momente – siehe den Hinduchauvinismus in Indien oder  evangelikale Fundamentalist:innen in den USA. Dies ist meist eine Frage der gesellschaftlichen Basis und politischen Bedingungen, wo und wie stark religiöse Vorstellungen zur Ideologie rückschrittlicher Bewegungen werden und gar größere Massen erfassen können.

Die Gründe für das Tabu sind an die materiellen Gegebenheiten gebunden – und diese werden zum Großteil von der israelischen Besatzung und Apartheid bestimmt. Das wird besonders ersichtlich, wenn wir uns die ökonomische Situation von Frauen anschauen. Diese haben in den palästinensischen Gebieten im Schnitt höhere Bildungsabschlüsse, sind aber um ein Vielfaches mehr von Arbeitslosigkeit betroffen. Das ist an sich nichts Ungewöhnliches. Während wir in anderen Ländern in Krisenzeiten sehen, wie Frauen systematisch aus dem Produktionsprozess gedrängt werden, ist dieser „Krisenzustand“ jedoch in gewissem Maß Normalzustand, da es generell eine Knappheit an Arbeitsplätzen in den palästinensischen Gebieten gibt. Die Arbeitslosigkeitrate lag laut dem Internationalen Währngsfond 2022 insgesamt bei 26 %. Dabei gibt es erhebliche Unterschiede zwischen der Westbank (13 %) und Gaza (45 %), aber bei Geschlechtern (Frauen  40 %,  Männern 20 %).

Bedingt sind diese Zahlen vor allem durch die Restriktionen seitens des israelischen Staates. So können Bewohner:innen Gazas nicht einfach ausreisen und woanders arbeiten. Auch in der Westbank sind die Jobs, die Palästinenser:innen „zur Verfügung gestellt werden“ zum Großteil auf den Bausektor beschränkt. Der systematische Ausschluss von Frauen aus dem Produktionsprozess befeuert die bestehende patriarchale Arbeitsteilung in den palästinensischen Gebieten, da sie somit in die Familie gedrängt werden, Sorge- und Carearbeit übernehmen müssen und derart klassische Geschlechterrollen weiter reproduziert werden. So kommt es auch zu Erwartungen, von denen Bonnesen Christoffersen  erzählt, wie beispielsweise, dass Menschen in einem heiratsfähigen Alter auch schnellstmöglich heiraten,  was wiederum auf Queers Druck ausübt.

Auch Azina ist bezüglich der Lage in der Westbank der Meinung, dass vor allem der Einfluss der israelischen Behörden auf die Institutionen der Westbank dafür sorgt, dass Maskulinität und patriarchale Strukturen verstärkt werden. Der Einfluss der israelischen Besatzungsmacht auf alle gesellschaftlichen Bereiche der Palästinenser:innen raubt jedem Lebensbereich die Autonomie, sei es an Checkpoints oder in der eigenen Community. Dadurch wird ihnen letztendlich nicht einmal die Möglichkeit gegeben, die gesellschaftlichen Strukturen offener und inklusiver umzugestalten. Dies bestätigt auch Bonnesen Christoffersen: „Palästina hatte (und hat) eine lebendige und florierende Kultur, die leider seit 1948 sehr stark von der zionistischen Kolonisierung beeinträchtigt wird. Mein Eindruck von Palästinenser:innen ist, dass sie einen Mut und Courage besitzen, die über das hinausgehen, was ich anderswo erlebt habe, und dass es den Wunsch gibt, das Leben trotz der Umstände, in denen sie leben, zu feiern. […] Historisch gesehen war die Levante (Palästina, Libanon, Jordanien, Syrien) nie queerfeindlich. Tatsächlich gab es eine große Toleranz gegenüber anderen Sexualitäten und Geschlechtsausdrücken. Queerfeindlichkeit breitete sich erstmals während des europäischen Mittelalters aus. Und die europäischen Kolonialmächte waren es auch, die Jahrhunderte später, als sie die Welt kolonisierten, ihre queerfeindlichen Absichten und Ansichten gegenüber den Menschen durchsetzen, die kolonisiert wurden.“

Gleichzeitig ist es wichtig, klare Kritik an den Machthaber:innen innerhalb der palästinensischen Gebiete zu üben. Denn ob palästinensische Autonomiebehörde (PA) oder Hamas, beide scheren sich sonderlich wenig um Frauen- wie LGBTIA-Rechte. Ob durch explizite Kooperation mit der israelischen Besatzungsmacht wie seitens der PA oder durch die Umsetzung ihrer reaktionären religiösen Ideologie wie bei Hamas. Besonders Letztere hat auch schon eigene Mitglieder hingerichtet, nachdem sie homosexueller Aktivitäten beschuldigt wurden, und Betroffene berichten, von Hamas-Mitgliedern aufgrund ihrer Queerness bedroht, gefoltert und verhört worden zu sein. Der Vorwurf der Homosexualität wird also genutzt, um politische Gegener:innen, wie Mitglieder der Fatah, auszuschalten, indem sie sie aufgrund dessen verhaften und teilweise auch exekutieren. Doch auch hier ist es wichtig zu verstehen, dass insbesondere die Hamas nur aufgrund der Apartheid existiert und an gesellschaftlichem Zuwachs gewinnen konnte. So wurde sie nach ihrer Gründung zunächst von Israel toleriert, wohingegen andere Gruppen des palästinensischen Widerstands mit linker Ausrichtung hartnäckig verfolgt wurden. Des Weiteren wurde die Hamas überhaupt erst als Reaktion auf die israelische Besatzung gegründet, um den Widerstand zu bündeln. Sie und ihre reaktionäre Ideologie müssen natürlich von Marxist:innen im ideologischen Kampf um die Führung der palästinensischen Befreiungsbewegung herausgefordert und bekämpft werden. Dabei muss an dieser Stelle auch klare Kritik an Vertreter:innen der palästinensischen Linken geübt werden: Klar ist, dass  für ein Ende der Existenz der Hamas zuerst die Apartheid fallen muss, da sie hierfür die materielle Grundlage darstellt. Doch der Kampf für die Verbesserung von Frauen- und LGBTIA+-Rechten kann nicht hintangestellt werden, bis ein befreites Palästina erkämpft wurde, sondern muss aktiv Hand in Hand gehen – auch um eine klare, fortschrittliche Kraft im Befreiungskampf zu etablieren.

Pinkwashing

In diesem Kontext ist die Inszenierung Israels als „einzige Demokratie im Nahen Osten“ und als „besonders fortschrittlich“ in Bezug auf LGBTIA+-Rechte mehr als unglaubwürdig. Denn während die israelische Regierung selbst aktiv demokratische Umstrukturierung durch die Unterdrückung der Palästinenser:innen verhindert sowie die Lage nutzt, um queere palästinensische Personen zu verhöhnen, wenn sie davon sprechen, dass Queer for Palestine dasselbe sei wie „Chickens for KFC“, hat es in den letzten Jahren auch einen Rollback in Israel selber gegeben. Im Jahr 2023 wurden dort 5-mal mehr queerfeindliche Vorfälle in der Öffentlichkeit registriert als zuvor und eine Reihe von Regierungsvertreter:innen hat offen reaktionäre Aussagen getätigt. So behaupten die eigenen Minister:innen der ultrarechten Regierung, Homosexualität würde die größte Gefahr für das Land darstellen, wie zum Beispiel Yitzhak Pindrus (United Torah Judaism). Pindrus behauptet sogar, Homosexualität wäre gefärhlicher als die Hamas. Auch der israelische Minister für Nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir (Otzma Yehudit), der sich bereits gegen Pridedemos aussprach und auf der Pride 2008 in Tel Aviv sogar Gewalt gegen eine jüdische trans Frau ausgeübt haben soll (zumindest existieren Fotos, die diese Vermutung nahelegen) ist ein Beispiel dafür. Ben-Gvir ist übrigens mittlerweile auch für die Sicherheit der Jerusalem Pride zuständig. Wie man sich da als queere Person sicher fühlen soll, kann man schon mal in Frage stellen.

Der israelische Finanzminister Bezalel Smotrich (HaTzionut HaDatit) bezeichnet sich sogar selbst als einen faschistischen Homophoben, während der ehemalige sephardische Oberrabbiner Shlomo Amar Pride-Demonstrierende mit wilden Tieren vergleicht und der Meinung ist, Homosexuelle nach jüdischem Gesetz mit dem Tode bestrafen zu können. Der Bürgermeister Jerusalems Aryeh King ließ 2020 ein Regenbogenbanner vom Gebäude der US-Botschaft entfernen, da keine Erlaubnis eingeholt worden war und es ein Zeichen für Unreinheit darstellen würde. Aber nur beim Reden Schwingen soll es für die Queerfeind:innen Israels nicht bleiben, denn Teile der ultrarechten nationalistisch-konservativen Regierung Israels haben auch vor, ihre Queerfeindlichkeit in die Tat umzusetzen, indem sie erkämpfte Rechte für LGBTIA+-Personen wieder zurücknehmen. Viele fürchten, dass das vor allem die Adoptionsrechte für homosexuelle Paare, aber auch medizinische Unterstützung für trans Personen betrifft. Aber auch außerhalb der Regierung gibt es queerfeindliche Angriffe: 2015 attackierte ein Mann Personen auf der Jerusalem Pride mit einem Messer, kurz nachdem er aus dem Gefängnis für genau dieses Verbrechen im Jahr 2005 entlassen wurde.

Trotz alledem hält sich das Bild Israels als fortschrittlich in Bezug auf LGBTIA+-Rechte,
Aber all diese Aussagen und Taten zeigen auf, dass der Zionismus und auch der bürgerliche Staat an sich nicht in der Lage sind, die Unterdrückung queerer Personen zu beenden. Letztendlich nutzt der israelische Staat sein Pinkwashing aber nicht nur dazu, um die Unterdrückung der palästinensischen Community zu verschleiern und sich vermeintlich positiv abzuheben, auch wenn die progressivere Gesetzgebung sowieso hauptsächlich dem weißen cis männlichen Schwulen zugutekommt, sondern sie seine vermeintliche Vormachtstellung und Doppelmoral auch, um Kriegsverbrechen gegen Gaza zu rechtfertigen.

Homonationalismus

So gab es auch in den letzten Monaten Fotos von IDF Soldat:innen, welche die Regenbogenflagge in Gaza im Kriegsgebiet hochhielten und „In the Name of Love“ dazu schrieben. Die israelische Armee behauptet also, sie würde sich für queere Palästinenser:innen einsetzen, indem sie demokratische Rechte in die palästinensischen Gebiete brächte. Und das, während sie die (queeren) Palästinenser:innen und ihre Familien, Freund:innen und Bekannte umbringt und ihnen jegliche Möglichkeit zur Selbstermächtigung nimmt.

Diese Strategie kann auch als Homonationalismus bezeichnet werden. Geprägt von Jasbir Puar, beschreibt  der Begriff die Instrumentalisierung von queeren Rechten, um die eigenen nationalistischen Ziele umsetzen zu können, zum Beispiel in Form von Kriegen oder restriktiven Einwanderungsgesetzen. Dabei kann der israelische Staat den eigenen Zerstörungswahn gegen das palästinensische Volk gegenüber anderen Staaten und deren Bevölkerungen legitimieren und gleichzeitig die Spaltung zwischen Palästinenser:innen und  israelischer Arbeiter:innenklasse vorantreiben. Eine Spaltung, die für die herrschende Klasse gar nicht tief genug sein kann, denn die vereinten Unterdrückten und Ausgebeuteten können ihnen und ihrer Klasse sehr gefährlich werden. Um diese Spaltung zu überwinden, muss sich die israelische Arbeiter:innenklasse aber offensichtlich vom Joch des Zionismus befreien.

Besonders ergreifend kann man diesen Zusammenhang auch in den kurzen Statements queerer Palästinenser:innen beim Projekt „Queering the Map“ nachlesen. Ein Beispiel, was den Schmerz darüber noch einmal besonders unterstreicht, wie (queere:r) Palästinenser:innen unter der Besatzung und Krieg leiden müssen:

„Ich habe mir immer vorgestellt, dass du und ich in der Sonne sitzen, Hand in Hand, endlich frei. Wir sprachen über all die Orte, an die wir gehen würden, wenn wir könnten. Doch du bist jetzt weg. Wenn ich gewusst hätte, dass die Bomben, die auf uns niederregnen, dich mir wegnehmen würden, hätte ich der Welt bereitwillig erzählt, wie sehr ich dich geliebt habe. Es tut mir leid, dass ich ein Feigling war. Kiryat (eigene Übersetzung)“.

Diese anonyme Zeilen sollen an dieser Stelle erst einmal für sich sprechen.

Die Schlussfolgerung aus dieser Analyse muss für Kommunist:innen zwangsläufig darin liegen, dass erst die Befreiung von Kolonialismus und Imperialismus auch die für Palästinenser:innen, ob queer oder nicht, bedeutet.

In diesem Sinne richtet Azina die folgenden Worte an uns und auch an euch: „Wir brauchen grundlegende Gerechtigkeit und ein Ende der Besatzung. Bitte engagiert euch, meine feministischen Genoss:innen in Europa, denn: Ich habe weder den Wunsch, für die Heimat noch für den Erdboden hier zu sterben, aber wenn ich für die Menschheit, für Frieden und bedingungslose Liebe sterbe, macht es mir nichts aus.“

Erst in einem freien Palästina kann die Gesellschaft so umgestaltet werden, dass sich niemand mehr verstecken muss aus Sorge, als Nächste/r von der israelischen Besatzungsmacht massiv unterdrückt, entrechtet, gedemütigt, missbraucht, erpresst oder getötet zu werden. Daher müssen wir uns für ein freies, säkulares, binationales, sozialistisches Palästina einsetzen.

Frauen – und Queerbefreiung Hand in Hand

Bonnesen Christoffersen argumentiert, dass Frauen- und Queerkämpfe gemeinsam geführt werden sollten, um erfolgreich zu sein: „Nachdem ich auch mit einigen feministischen Bewegungen in Palästina interagiert habe, habe ich mitbekommen, dass die generelle Meinung existiert, dass die Rechte von Frauen über den Rechten von queeren Personen stehen. Nicht, dass diese Bewegungen queere Menschen nicht unterstützen, sondern eher in dem Sinne, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt sei, um über ihre Rechte zu sprechen. Ich denke daher, dass wenn palästinensische Bewegungen, die mit den gleichen Kämpfen konfrontiert sind (z. B. Patriarchat), sich zusammenschließen, um ihre Stimmen zu stärken, sie auch in der Lage sein könnten, mehr Bewusstsein für die Situation queerer Palästinenser:innen zu schaffen.“

Als Marxist:innen erkennen wir an, dass Frauen- und Queerunterdrückung auf dieselben Strukturen der Klassengesellschaft zurückgehen, egal ob in Palästina oder Deutschland: die geschlechtsbedingten Arbeitsteilung, welche maßgeblich mit aufrechterhalten wird durch das Ideal der bürgerlichen Familie und die Geschlechterrollen. Auch wenn die Lage von Frauen und queeren Personen unterschiedlich ist, so ist dennoch ein gemeinsamer Kampf vonnöten. Frauen kämpfen schon seit 1920 in der palästinensischen Befreiungsbewegung, in der sie schon seit jeher sexualisierte Gewalt durch die Besatzungsmächte erfahren mussten und weiterhin erfahren. Wenngleich sie eine wichtige Rolle einnehmen und einnahmen, sind sie immer noch selten an politischer Entscheidungsfindung beteiligt. Der Sieg der Hamas in Gaza war ein Rückschritt für die Rechte der Frauen, da sie darauf drängt, das palästinensische Recht durch die Scharia (wörtlich: gebahnter Weg; religiöses Gesetz) zu ersetzen. Dennoch setzen sich palästinensische Frauenaktivist:innen für Gesetze zum Schutz von Frauen vor Ehrenmorden und männlicher häuslicher Gewalt ein.

Wir müssen uns neben dem Ende der israelischen Apartheid, der Besatzung und für ein freies, säkulares, multiethnisches, sozialistisches Palästina auch konkret für die Vergesellschaftung der Hausarbeit einsetzen, um die materielle Grundlage von Frauen- und Queerunterdrückung auflösen zu können. Das bedeutet den Ausbau von Pflege, Kinderbetreuung, kollektive und kollektivierte Formen der Hausarbeit (Kantinen, Wäschereien etc.), die Stärkung der ökonomischen Unabhängigkeit von geschlechtlich und sexuell Unterdrückten und alternative Formen des Zusammenlebens. All das kann natürlich nicht von heute auf morgen passieren, und im Angesicht des aktuellen brutalen Krieges scheint dies auch unfassbar fern. Jedoch ist es die Aufgabe von Revolutionär:innen und allen, die solidarisch mit dem palästinensischen Befreiungskampf sind, nicht nur für eine sofortige Waffenruhe und das Ende der Apartheid einzutreten, sondern auch zu diskutieren, wie der Kampf für nationale Befreiung mit dem Recht auf sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung verbunden werden kann. Die Kämpfe darum sind keineswegs irrelevant oder nachgeordnet, aber ohne Umgestaltung der ökonomischen Struktur unserer Gesellschaft bleiben ihre Erfolge begrenzt. Zusätzlich sollten Frauen und queere Personen in Palästina auch für eine Reihe an Forderungen gemeinsam kämpfen, zum Beispiel:

  • Gleiche Rechte und Zugang zu Bildung für Alle, gleiche Eigentumsrechte, gleicher Lohn für gleiche Arbeit sowie volle Integration in den Produktionsprozess. Konkret: z. B. durch Quotierung in zentralen/wichtigen Beschäftigungsverhältnissen, um aktuell den  Ausschluss von Palästinser:innen von der Lohnarbeit entgegenzuwirken. Davon würden vor allem palästinensische Frauen in der aktuellen Situation profitieren, welche vor allem in Gaza  relativ hohe Bildungsabschlüsse haben, aber geringe Beschäftigungsraten.

  • Keine Straffreiheit für diejenigen, die Frauen oder queere Personen ermorden, vergewaltigen und schlagen, seien es Verwandte oder Fremde.

  • Für das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper, die eigene Sexualität und die eigenen reproduktiven Entscheidungen.

  • Ebenso muss auch innerhalb der palästinensischen Befreiungsbewegung gegen Vorurteile und Gewalt gegenüber Frauen und LGBTIA-Personen angekämpft werden, auch wenn wir das nicht zur Bedingung eines gemeinsamen Kampfes machen.

  • Für das Recht auf Caucustreffen für Frauen und LGBTIA-Personen innerhalb der palästinensischen Befreiungsbewegung.

Damit der Kampf gegen Besatzung, Imperialismus, Krieg, Frauenunterdrückung und Queerfeindlichkeit international geführt werden kann, ist klar, dass Solidaritätsbekundungen nicht ausreichen können, auch wenn wir bedingungslos hinter dem palästinensischen Befreiungskampf stehen. Stattdessen müssen wir uns international zusammenschließen und gemeinsam kämpfen. Denn unsere Feind:innen, die imperialistischen Staaten und ihre regionalen Handlanger:innen, sind für jede/n Unterdrückte/n und jede/n Ausgebeutete/n letztendlich die gleichen, auch wenn sich unsere Situationen in besetzten Gebieten, Halbkolonien und imperialistischen Kernzentren natürlich unterscheiden. Dafür braucht es eine internationale Frauen- und LGBTIA-Bewegung genauso wie eine internationale Arbeiter:innenbewegung, denn wir dürfen unsere Kämpfe nicht anhand von nationalen Grenzen spalten lassen, sondern müssen uns im Klaren darüber sein, dass sie durch Klassenlinien geprägt sind und auch dementsprechend klassenkämpferisch geführt werden müssen. Um diese Bewegungen anzuführen und die Kämpfe zuzuspitzen, bedarf es auch einer neuen kommunistischen Partei und einer neuen Internationale.

Wie kommen wir zu einem freien, säkularen, binationalen, sozialistischen Palästina?

Wir setzen uns für eine Ein-Staaten-Lösung ein, da wir der Meinung sind, dass das die einzige Möglichkeit darstellt, um die Befreiung des palästinensischen Volkes zu garantieren, ohne Zugeständnisse an den Zionismus machen zu müssen. Das bedeutet nicht, die israelisch-jüdische Bevölkerung zu vertreiben oder gar auszulöschen, jedoch sehr wohl, den Zionismus und damit den israelischen Staat zu zerschlagen. Da wir glauben, dass Religionen als Vorwand für imperialistische Unterdrückung und zur Umsetzung geopolitischer Interessen genutzt werden, setzen wir uns für einen säkularen, multiethnischen Staat ein, indem es kulturellen Austausch statt einseitiger Assimilation geben soll. Das Rückkehrrecht sowie der Zugang zu Wohnraum, Wasser, Lebensmitteln, Arbeit und Bildung für alle, egal ob Israelis oder Palästinenser:innen kann nur unter einer demokratischen Kontrolle der Arbeiter:innenklasse gewährleistet werden. Diese sozialistische Ein-Staaten-Lösung müsste in eine sozialistische Föderation des Nahen Ostens eingebettet werden, um die vom Imperialismus bewusst geschaffene Spaltung überwinden zu können und so ein massives Kampfmittel darstellen zu können. Demnach darf der Kampf der Palästinenser:innen nicht als isoliert verstanden werden, und die Arbeiter:innenklassen der umliegenden Länder müssen sich dem Kampf anschließen und einen neuen Arabischen Frühlung erzwingen. Das gilt auch in letzter Konsequenz für die israelische Arbeiter:innenklasse.

Als Ansatzpunkt in Halbkolonien kann der Kampf für die Vollendung der verbliebenen bürgerlich-demokratischen Aufgaben im Sinne von Trotzkis Theorie der permanenten Revolution angesehen werden, das heißt also: Fokus auf nationale Einheit und Unabhängigkeit, eine Agrarrevolution sowie politische Demokratie. Doch kann das im Imperialismus für Halbkolonien nicht wirklich vollständig erfüllt werden. Daher darf der Kampf hier keineswegs aufhören und muss in einen für Sozialismus umschlagen, um wirklich erfolgreich sein zu können. Doch das kann nicht durch Guerillatruppen erreicht werden, sondern nur durch Demonstrationen und Streiks, letztendlich massenhafte Aufstände. Also mit Hilfe einer Intifada mitsamt einem Generalstreik, zu dem auch international alle Gewerkschaften zur Beteiligung aufgerufen werden. Und die Massenaktionen in der 1. Intifada haben auch bereits gezeigt, dass das palästinensische Proletariat und die Jugend kämpfen können. Dafür braucht es den Aufbau von kämpferischen Gewerkschaften, Arbeiter:innen-, Bäuerinnen-/Bauernräte, Frauenkomitees  und auch Volksmilizen. Auch müssen die Kräfte der Arbeiter:innnenklasse und das regionale (Klein-)Bürger:innentum in einer antiimperialistschen Einheitsfront zeitweise gemeinsam gegen die Imperialist:innen kämpfen. Sie bleiben jedoch unerbittliche Klassenfeind:innen. Das bedeutet auch, dass es sich um getrennte Organisierung handeln muss, wobei sich die betroffenen Gruppierungen und Organisationen jederzeit offen kritisieren dürfen sollen. Das ist besonders für uns als Marxist:innen wichtig, da wir so die (klein-)bürgerliche Führung auf einer ideologischen Ebene angreifen und somit ihren Einfluss auf die Unterdrückten schmälern können.

Denn auch die Führungskrise der Arbeiter:innnenklasse ist etwas, was nicht nur in Deutschland, sondern auch in Halbkolonien vorhanden ist und auch zu dem immer wiederkehrenden Verrat an den Interessen der Unterdrückten und Ausgebeuteten durch (klein-)bürgerliche Bewegungen führt, etwas durch die Hamas oder auch während des Arabischen Frühlings. Daher braucht es eine revolutionäre Partei, um die Interessen der Arbeiteren:innnenklasse durchzusetzen, indem sie die Kämpfe zuspitzt und anführt. Die Avantgarde stellt hier die palästinensische Arbeiter:innenklasse mit dem Ziel dar, die israelische Arbeiter:innen klasse auch in die antizionistische Vorhut hineinzuziehen. Die Partei muss demokratisch-zentralistisch organisiert sein und zum Ziel haben, sowohl die israelische Regierung als auch die Palästinensische Autonomiebehörde zu entmachten und eine konstituierende Versammlung einzusetzen, die die Verfassung eines binationalen, säkularen, demokratischen und sozialistischen Staates ausarbeitet. Der Höhepunkt des revolutionären Kampfes stellt die Machtübernahme durch Arbeiter:innen und Bäuerinnen/Bauern in Form von Deligiertenräten sowie die Bewaffnung der arbeitenden Bevölkerung und Zerschlagung des bürgerlichen Staates in seiner gegenwärtigen unterdrückerischen Form dar. Aber der alleinige Kampf im Nahen und Mittleren Osten reicht nicht aus, um den Imperialismus weltweit zu besiegen. Hierfür muss die revolutionäre Partei auch in eine Internationale integriert werden, und für die Arbeiter:innenklasse in den imperialistischen Kernzentren sollte die Devise lauten: Der Hauptfeind steht im eigenen Land. Das kann zum Beispiel konkret bedeuten, sich an Blockaden von Waffenlieferungen zu beteiligen




Demonstration vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag

Fabian Johan, Den Haag, Infomail 1242, 12. Januar 2024

Die südafrikanische Regierung hat beim Internationalen Gerichtshof (IGH), dem wichtigsten internationalen Gericht der Vereinten Nationen, formell Anklage wegen Völkermordes gegen den Staat Israel erhoben. Als Folge seines brutalen Krieges gegen die Palästinenser:innen hat die südafrikanische Regierung erklärt, Israel habe die „spezifische Absicht … die Palästinenser:innen in Gaza als Teil der breiteren palästinensischen nationalen und ethnischen Gruppe zu zerstören“. (https://www.theguardian.com/world/2024/jan/09/explainer-what-is-the-icj-and-what-is-south-africas-claim-against-israel) Die Initiative Südafrikas wurde von der Organisation für Islamische Zusammenarbeit unterstützt, der 75 Mitgliedsstaaten angehören. Sie wurde auch von Hunderten fortschrittlicher palästinensischer und Friedensorganisationen unterstützt.

Am 11. und 12. Januar fanden die ersten beiden Anhörungen vor dem IGH in Den Haag statt. Eine Delegation progressiver Aktivist:innen begleitete die südafrikanische Abordnung, zu der auch der ehemalige linke Labour-Vorsitzende und Antikriegsaktivist Jeremy Corbyn gehörte. Da Corbyn stets der palästinensischen Solidaritätsbewegung nahestand und im Unterhaus imperialistische Kriege anprangerte, wurde er eingeladen, der Delegation beizuwohnen. Die Organisator:innen der Delegation erklären, Corbyn habe „immer auf der richtigen Seite der Geschichte gestanden, indem er eine Sache unterstützt hat, die darauf abzielt, die Rechte der Menschen zu schützen, unabhängig von ihrer Nationalität oder ethnischen Zugehörigkeit“.

Obwohl es ein Werktag war, waren viele Menschen am Donnerstagmorgen gekommen, um vor dem Gericht zu protestieren. Auffallend war die hohe Beteiligung der jüdischen Gemeinde, die seit Beginn des Krieges gegen den Gazastreifen am 7. Oktober begonnen hat, in den Niederlanden antizionistische jüdische Organisationen zu gründen. Einige Mitglieder der orthodoxen jüdischen Organisation Neturei Karta (deutsch: Wächter der Stadt Jerusalem) trugen Schilder mit den Worten „Der Staat Israel repräsentiert nicht das Weltjudentum“ und „Das Judentum verurteilt den Staat Israel und seine Gräueltaten“.

Ebenfalls anwesend waren Aktivist:innen von BDS Netherlands, Samidoun, Students for Palestine und Aktivist:innen von BIJ1 (Zusammen, einer antirassistischen linken Partei in den Niederlanden). Die große Menschenmenge versammelte sich um einen großen Bildschirm, auf dem die Live-Übertragung der Anhörung durch Al Jazeera zu sehen war. Als die südafrikanische Delegation die Palästinenser:innen verteidigte und Israel des Völkermords beschuldigte, brach die Menge in tosenden Applaus aus.

Wie der Guardian berichtet, kann das Verfahren Jahre dauern, aber „eine einstweilige Verfügung könnte innerhalb von Wochen erlassen werden“.  Wenn nachgewiesen werden kann, dass einige der israelischen Handlungen unter die Völkermordkonvention fallen, kann das Gericht innerhalb weniger Wochen vorläufige Maßnahmen ergreifen. Auch wenn ein Gerichtsurteil nicht vollstreckt werden kann, kann eine Erklärung der Vereinten Nationen zum Völkermord schwerwiegende Folgen haben, die zionistischen Angriffe weiter in den Augen der Öffentlichkeit delegitimieren, den palästinensischen Widerstand und die Solidaritätsbewegung stärken. Es würde der Gewerkschaftsbewegung helfen, zu einem Arbeiter:innenboykott gegen Israel aufzurufen, und jene Kräfte stärken, die für einen Stopp der Waffenlieferungen, der politischen und wirtschaftlichen Unterstützung Israels eintreten. Es ist daher wichtig, die internationalen Bemühungen zur Aufdeckung der Verbrechen Israels zu unterstützen, da sie die Solidaritätsbewegung mit Palästina stärken und uns so einem gerechten Frieden im Nahen Osten näherbringen.




„Zwei Staaten“ in Palästina: Geschichte einer reaktionären Idee

Robert Teller, Infomail 1239, 14. Dezember 2023

Dass „Zwei Staaten“ in Palästina niemals Wirklichkeit werden, bedeutet nicht, dass die Idee nicht auch einen eigenen Zweck erfüllen kann. Während Israels Bombenteppiche in Gaza Wohnviertel, Bäckereien, Justiz- und Regierungsgebäude in Schutt und Asche legen – und damit nebenbei auch jeden realen Ansatz palästinensischer Staatlichkeit pulverisieren – geistert die „Zweistaatenlösung“ wieder durch die Köpfe vor allem jener unter den Freund:innen Israels, die es für moralisch geboten halten, auch an eine „Zeit nach dem Krieg“ zu denken.

UN-Teilungsplan und Nakba

Ursprung der „Zweistaatenlösung“ ist der Teilungsplan von 1947, der nach einem Beschluss der UN-Vollversammlung aufgrund des von Britannien angestrebten Rückzugs aus Palästina durch eine eingesetzte Kommission erarbeitet wurde. Obwohl damals bereits die Schaffung eines einzigen föderalen und demokratischen Staates in ganz Palästina diskutiert wurde, entschied sich die Kommission schließlich für einen Teilungsplan, der mehr als die Hälfte der Fläche Palästinas für einen „jüdischen“ Staat vorsah, während Jerusalem unter UN-Verwaltung gestellt werden und auf der verbleidenden Fläche ein „arabischer“ Staat geschaffen werden sollte. Beide Staaten sollten politisch souverän, jedoch in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum verbunden sein.

Diese Aufteilung des Landes stand bereits damals in keinem Verhältnis zur demographischen und territorialen Realität der 32 % jüdischen Einwander:innen. Die große palästinensische Bevölkerungsmehrheit erstreckte sich auch auf etwa 400 palästinensische Dörfer innerhalb der vorgeschlagenen Grenzen eines „jüdischen“ Staates. Die Palästinenser:innen lehnten die Abtretung von Territorien an eine koloniale Siedler:innenbewegung ab, was nicht überrascht. Der Teilungsplan enthielt auch von Beginn an einen Verstoß gegen den Souveränitätsgedanken, mit dessen Anspruch die UNO gegründet wurde.

Der durch nichts demokratisch legitimierte Teilungsplan trug nicht dazu bei, die Spannungen zwischen einer kolonialen Siedler:innenbewegung und der indigenen Bevölkerung Palästinas zu entschärfen. Vielmehr verlieh er 1948 der gewaltsamen Vertreibung von 700.000 (und Ermordung von Tausenden) Palästinenser:innen politische und moralische Rückendeckung. Die Nakba endete in der militärischen Eroberung eines deutlich über den Teilungsplan hinausgehenden Territoriums und dessen ethnischer Säuberung. Diese gewaltsam geschaffenen Grenzen wurden 1949 durch Waffenstillstandsabkommen und die Aufnahme Israels in die UNO international anerkannt. Der in UN-Resolution 194 auferlegten Pflicht, allen palästinensischen Flüchtlingen die Rückkehr zu ermöglichen, kam Israel bekanntlich nie nach – und dies stand auch bei den vielen Verhandlungsrunden des „Friedensprozesses“, der zu einer Zweistaatenlösung hätte führen sollen, nie ernsthaft zur Debatte. Vielmehr war deren Voraussetzung gerade die Anerkennung der 1948 geschaffenen Verhältnisse, die seither Generationen von Palästinenser:innen zu Flüchtlingen im eigenen Land oder in den Nachbarstaaten machen.

Folgen des Sechstagekriegs

In die politische Debatte kam die „Zweistaatenlösung“ erst Jahrzehnte später wieder – und zwar nicht als Lösung für die nationale Frage Palästinas, sondern für das israelische „Problem“ der 1967 neu eroberten Gebiete, die sich für den zionistischen Staat als zweischneidiges Schwert herausstellten. Nach den Erfahrungen, die die Palästinenser:innen (und die Weltöffentlichkeit) 1948 gemacht hatten, konnten die Westbank und Gaza nicht in der gleichen Weise ethnisch gesäubert werden, um sie den Expansionsbestrebungen Israels zur Verfügung zu stellen. Aufgrund der dort verbliebenen großen palästinensischen Bevölkerung konnte sich Israel diese Gebiete weder einfach einverleiben noch an die unterlegenen arabischen Staaten abtreten oder gar eine palästinensische Selbstverwaltung zulassen, die es der PLO erlaubt hätte, sich entlang der Grenzen von 1948 zu formieren. Die „Lösung“ eines dauerhaften Besatzungsregimes erwies sich mit Beginn der ersten Intifada 1988 als nicht nachhaltig. Kollektive Kampfformen der Palästinenser:innen wie Streiks, Kauf- und Steuerboykott versetzten der israelischen Ökonomie schwere Schläge. Die nach 1967 verfolgte Strategie einer ökonomischen Integration und Entwicklung der eroberten Gebiete – bei gleichzeitiger Vorenthaltung jeglicher demokratischer Rechte – erwies sich als Bedrohung für das zionistische Projekt.

Oslo-Prozess

Das zentrale Versprechen der Osloer Abkommen 1993 beinhaltete Israels Rückzug aus der Westbank und dem Gazastreifen. Dies sollte jedoch erst als Endergebnis in einem Friedensabkommen vereinbart werden, als Abschluss eines 5 Jahre langen Prozesses, der in kleinen Schritten Verantwortung hin zur neu geschaffenen Palästinensischen Autonomiebehörde verlagern würde. Bis dahin sollte die palästinensische Seite unter Bewährung stehen und demonstrieren, dass sie „zum Frieden bereit“ sei.

Auf Seite Israels lag ein wichtiger Gesichtspunkt darin, die Armee zunehmend von ihrer Funktion als Polizei der besetzten Gebiete zu entbinden, also ihre militärischen Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. Im zionistischen Lager umstritten war die Frage der ökonomischen Integration. Die alleinige Kontrolle der Grenzen und des Außenhandels durch Israel seit 1967 ermöglichten der israelischen Ökonomie Extraprofite durch Überausbeutung der palästinensischen Arbeiter:innenklasse und durch Zölle und Handelsprofite. Obwohl die Wirtschaftsunion und auch die Bewegungsfreiheit für palästinensische Arbeiter:innen in den Osloer Abkommen vertraglich vereinbart wurde, setzte sich in Israel letztlich der Flügel im Sicherheitsapparat durch, der einen gemeinsamen jüdisch-palästinensischen Wirtschaftsraum als inakzeptable „Sicherheitsbedrohung“ sah. Die zunehmende Abriegelung der Westbank und des Gazastreifens war ein klarer Verstoß gegen den Wortlaut des Oslo-Abkommens, aber Israel betrieb diese aus genau der Logik heraus, mit der es in die „Friedensverhandlungen“ gegangen war: der angestrebten Minimierung der „Gefahr“, die mit der Verantwortung für das besetzte Volk einhergeht. Die Bewegungsfreiheit der Palästinenser:innen nach 1967 war zwar seit Beginn der Besatzung dem israelischen Militärregime in den Gebieten unterworfen, doch erst Mitte der 1990er Jahre wurde die Abriegelung von Dörfern, Städten bzw. der gesamten Westbank oder die Verhängung von Ausgangssperren durch militärischen Befehl ein alltäglicher Normalzustand.

Eine weitere wichtige Folge des Oslo-Abkommens war die Zerstückelung der Westbank in einen Flickenteppich mit abgestufter Aufgabenteilung zwischen dem israelischen Militär und der Autonomiebehörde. Dem anfänglichen Versprechen nach sollte der israelische Rückzug aus den A- und B-Gebieten nur der erste Schritt hin zu einer wachsenden palästinensischen Selbstbestimmung werden, und bis Ende 1999 sollte die gesamte Westbank der Autonomiebehörde übergeben werden. Umgesetzt wurde letztlich nur der Abzug aus den großen palästinensischen Bevölkerungszentren der Westbank (A- und B-Gebiete), die seither großteils Enklaven unter Verwaltung einer Israel treu ergebenen palästinensischen Hilfspolizei darstellen. Selbst hier behält sich Israel das Recht auf militärische Interventionen vor, die ggfs. höchstens durch die Auslieferung von Israel gesuchter Personen durch die palästinensische Polizei verhindert werden können. In Einzelvereinbarungen setzte Israel in jedem Teilrückzug Konditionen durch, die dem langfristigen Ziel der Kolonisierung der Westbank Rechnung tragen. So wurde etwa beim israelischen Abzug aus Hebron 1997 eine verbleibende dauerhafte Militärpräsenz zum „Schutz“ der damals 400 israelischen Siedler:innen vereinbart. Eine Folge dieses Abkommens ist, dass in der israelisch besetzten H2-Zone dieser Stadt seither 20.000 Palästinenser:innen ihr Leben den militärischen Bedürfnissen der innerstädtischen Siedler:innenkolonie unterordnen müssen. Die daraus entstandene Lebensrealität von Ausgangssperren, „sterilisierten“ (d. h. ethnisch gesäuberten) Straßen, Checkpoints und elektronischer Überwachung wurde zum Paradebeispiel des von Israel errichteten Apartheidsystems.

Die „Zweistaatenlösung“ der 1990er setzte auf Seiten der PLO zwei Bedingungen voraus: Einerseits die Anerkennung allen vor 1967 begangenen Unrechts als unverrückbare Tatsache, andererseits die Demobilisierung der Intifada und Entwaffnung der PLO. Damit wurden Fakten zugunsten Israels geschaffen. Die interessanten Fragen hingegen wurden vielsagend auf ein „endgültiges“ Abkommen in unbestimmter Zukunft vertagt – wie die des Rückkehrrechts, der israelischen Siedlungen, der Außenbeziehungen des palästinensischen Staates und des zukünftigen Status von Jerusalem (welches 1980 von Israel völkerrechtswidrig annektiert worden war). So unbestimmt das Abkommen in allen wesentlichen Fragen war – den Palästinenser:innen forderte es nicht nur handfeste Zugeständnisse ab. Es sollte auch in der Folgezeit dazu dienen, die Äußerung jeder nur denkbaren palästinensischen Forderung als „Sabotage des Friedensprozesses“ zu delegitimieren. Die palästinensische Seite war in der Pflicht, sich als „Partnerin“ Israels zu bewähren, bevor sie einer „echten“ Einigung würdig war.

Die israelische Seite hingegen interpretierte die getroffenen Abkommen so, dass sie jeden kleinen Schritt hin zur palästinensischen Unabhängigkeit unter Verweis auf „Sicherheitsbedenken“ blockieren konnte, während die palästinensischen Zugeständnisse – insbesondere die territoriale Aufteilung der Westbank – aber endgültig blieben. Als diskussionswürdig gilt seitdem nur noch die Rückgabe einzelner Landfetzen der Westbank, auf die Israel selbst nach Meinung seiner westlichen Schutzmächte keinen territorialen Anspruch besitzt. Die Souveränität über Grenzen, Luftraum und Küstengewässer, ja selbst das Recht palästinensischer Flüchtlinge aus den Nachbarländern auf Rückkehr in diese palästinensischen Bantustans – all das verletzt kategorisch israelische „Sicherheitsinteressen“.

Spätestens mit Beginn der 2. Intifada im Jahr 2000 war klar, dass eine endgültige Vereinbarung über Israels Abzug aus der Westbank unerreichbar ist. Die von einer politisch gebrochenen PLO unter Jassir Arafat unterzeichneten Abkommen dienen seither als politische Legitimation für die zeitlich unbegrenzte Besatzung der C-Gebiete und den massiven Transfer von Siedler:innen dorthin als menschliche Schutzschilde der Besatzung. Statt eine begrenzte palästinensische Selbstbestimmung zu erreichen, wurden die Palästinenser:innen zu Fremden in einem Gebiet, das sich vom israelischen Kernland nur durch die umfassenden Privilegien unterscheidet, mit denen der israelische Staat die Siedler:innen für ihre Funktion als zivile Besatzer:innen belohnt. Durch diese De-facto-Annexion der C-Gebiete wird vermieden, die israelische Verantwortung für die Palästinenser:innen (rassistisch als „demographische Gefahr“ bezeichnet) zu vergrößern.

Für die Unterstützer:innen des Staates Israel legitimiert eine angenommene Bedrohung der Siedler:innen jede denkbare Schikane gegen Palästinenser:innen. Ungeachtet der v. a. im Westen verbreiteten scheinheiligen Hoffnung, nach Oslo irgendwie mit den palästinensischen Forderungen abschließen zu können – reale Folge der Abkommen war ihre systematische Einzäunung durch eine nun tödliche Sperranlage um Gaza und ein System von Mauern, Checkpoints und Apartheidstraßen, das die Westbank durchzieht und eingrenzt. Der einzige palästinensische Flughafen, der ein Symbol für neu gewonnene Freiheiten der Palästinenser:innen sein sollte, wurde nur drei Jahre nach Eröffnung durch die israelische Luftwaffe zerstört. Die Autonomiebehörde sollte nach der Abnabelung Israels zur lokalen Verwalterin des Status quo der Besatzung werden. Außerdem bietet der von ausländischen „Hilfsgeldern“ abhängige Apparat allen möglichen „Freund:innen der Palästinenser:innen“ die Möglichkeit, ihre Komplizenschaft mit Israel finanziell zu kompensieren.

Obwohl es in Folge der Oslo-Abkommen einen Rechtsruck in Israel gab, der jede Illusion über die Möglichkeit einer friedlichen Lösung zerstreute – die für die Palästinenser:innen desaströsen Folgen des „Friedensprozesses“ liegen nicht in dessen Scheitern begründet, sondern wohnen diesem von Beginn an inne. Der nach seiner Ermordung 1995 vielfach zum Friedensstifter verklärte Premierminister Jitzchak Rabin ließ selbst keinen Zweifel daran, dass die von ihm ausgearbeiteten Abkommen keine palästinensische Souveränität zur Folge haben sollten und die „Sicherheitsgrenze“ Israels immer am Fluss Jordan liegen würde.

Eine weitere wichtige Erkenntnis aus Oslo ist aber, dass auch die vollständige politische Kapitulation der einst selbstbewussten PLO nicht ausreichte, um die palästinensische Frage ad acta zu legen. Die Zweite Intifada ab 2000 bewies, dass die Palästinenser:innen weiterhin zu massenhaftem Widerstand fähig waren. Die Reaktion Israels – der erneute militärische Vorstoß in die A- und B-Gebiete, die Belagerung von Jassir Arafats Hauptquartier in Ramallah und die Zerstörung der bis dahin aufgebauten zivilen palästinensischen Verwaltung in der Westbank, die routinemäßige Verhängung von Kollektivstrafen wie Ausgangssperren, Abriegelungen oder Hauszerstörungen – führte auch vor Augen, dass der Kern des Konflikts eben nicht der Unwille zum friedlichen Ausgleich ist, sondern die Fähigkeit und der Wille Israels, gewaltsam den Status der Palästinenser:innen als Vertriebene und Rechtlose durchzusetzen.

Die Intentionen der israelischen Regierung wurden vor dem israelischen Rückzug aus Gaza 2005 sehr klar durch Dov Weissglass, damals Berater von Premierminister Ariel Scharon, formuliert:

„Die Bedeutung des Rückzugsplans liegt darin, dass wir den Friedensprozess einfrieren. Und wenn man diesen Prozess einfriert, verhindert man die Gründung eines palästinensischen Staates und verhindert eine Diskussion über die Flüchtlinge, die Grenzen und Jerusalem. Das ganze Paket namens palästinensischer Staat mit allem, was es mit sich bringt, wurde auf unbestimmte Zeit von unserer Tagesordnung gestrichen.“

Wie bei jedem Einsatz militärischer Mittel ist das real herrschende Gewaltverhältnis der Maßstab für jeden „Friedensplan“. Die 2002 von den USA neu aufgelegte „Roadmap for Peace“ machte der israelischen Seite erhebliche Zugeständnisse. Von Israel wurde die Roadmap so interpretiert, dass als ihre Vorbedingung ein Ende der Intifada, die Entwaffnung des palästinensischen Sicherheitsapparates und die politische Entmachtung von Jassir Arafat erfolgen müsse. Die Roadmap hatte daher für Israel die Funktion, die Niederschlagung der Intifada mit politischer Legitimität zu versehen.

Deal of the Century

Der Trump-Plan von 2019 („Deal of the Century“) war letztlich für fast alle Beobachter:innen nur der Versuch, die Realität zu legalisieren und in eine dauerhafte Rechtsform zu gießen. Teil des Plans war die einseitige Annexion aller Siedlungen in der Westbank sowie des Jordantals, die lediglich von den USA „bewilligt“ werden müsste. Der palästinensische „Staat“ dürfte keinerlei bewaffneten Organe unterhalten, müsste alle rechtlichen Schritte gegen Israel vor internationalen Tribunalen unterlassen und dürfte nicht in eigener Verantwortung internationalen Organisationen beitreten. Bei Verstoß gegen irgendwelche Vereinbarungen würde Israel automatisch das Recht auf militärische Intervention erhalten, vorbehaltlich nur der Zustimmung durch die US-Administration. Der Plan enthält die Möglichkeit der Ausbürgerung von Palästinenser:innen mit israelischem Pass und die weitergehende Annexion von Gebieten der Westbank im „Tausch“ gegen Gebiete in der Negev-Wüste. Die Annexion Jerusalems würde unverrückbar anerkannt, alle Grenzen würden ausschließlich von Israel kontrolliert und die Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge selbst in diesen „Staat“ Palästina würde unter den Vorbehalt israelischer Zustimmung gestellt. Durch die „Hilfe“ von Investor:innen aus den Golfstaaten sollten die palästinensischen Kantone zu einer florierenden Sonderwirtschaftszone ausgebaut werden. Der Rest der Welt sollte auf diese Weise von der finanziellen Last befreit werden, einen Großteil der palästinensischen Bevölkerung über das UNRWA-Hilfswerk mit dem Nötigsten zu versorgen, was seit 1948 eine zentrale Voraussetzung der dauerhaften Ghettoisierung der palästinensischen Flüchtlinge und damit der israelischen „Sicherheitsinteressen“ ist.

Die „Zweistaatenlösung“ hat für Israel ihren Zweck erfüllt – die politische Unterwerfung der PLO. Zugleich hat sie 3 Jahrzehnte lang deutschen, US-amerikanischen und anderen Regierungen als Feigenblatt gedient, um ihre fortgesetzte Rückendeckung für den Kolonialstaat Israel politisch zu flankieren. Das erklärt auch, dass sie nicht so einfach aus den Köpfen verschwinden wird, wie es der zionistischen Rechten in Israel lieb wäre.

Resultat der Oslo-Abkommen ist auch der Apparat der Autonomiebehörde, der als Auftragnehmer des Besatzungsregimes für Israel unverzichtbar geworden ist. Dies unterstreicht auch die von Präsident Abbas und Premierminister Schtajjeh demonstrierte Bereitschaft, nach Ende von Israels Krieg in Gaza dort als Statthalter über die Trümmerwüste einzuspringen. Dass dies von Israel bislang ausgeschlossen wird, erklärt sich gerade aus der wichtigen Funktion, die die Behörde für Israel besitzt. Es ist nicht nur fraglich, woher diese die notwendige Autorität für die Neuordnung Gazas nehmen soll. Die politische Vereinigung von Gaza mit der Westbank würde auch den palästinensischen Massen die längst diskreditierte Autonomiebehörde als gemeinsame Gegnerin präsentieren und den Widerstand gegen deren Herrschaft als gesamtpalästinensische Frage, als zentralen Aspekt des Kampfes gegen Besatzung und Unterdrückung überhaupt, aufwerfen.

Für einen binationalen, säkularen, sozialistischen Staat!

Die Sackgasse in der Diskussion um die Zweistaatenlösung zeigt schlichtweg auf, dass die Lösung der palästinensischen Frage im Widerspruch steht zum Fortbestand eines kolonialen, ethnisch gesäuberten Staates Israel – in welchen Grenzen auch immer. Seine revolutionäre Überwindung ist die Voraussetzung für die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts beider Nationen, der palästinensischen und der jüdisch-israelischen. Dies erfordert neben der völligen rechtlichen Gleichstellung der Nationalitäten, der Anerkennung aller gesprochenen Sprachen als gleichberechtigt, der Anerkennung des Rückkehrrechts für alle palästinensischen Flüchtlinge weltweit und ihrem Anspruch auf Entschädigung auch, die ideologische Bindung der israelischen Massen an das zionistische Projekt zu durchbrechen. Solange die jüdisch-israelische Selbstbestimmung fälschlich mit der Aufrechterhaltung militärisch abgesicherter Völkerreservate gleichgesetzt wird, bleibt eine „gerechte Lösung“ eine Unmöglichkeit. Dieses Wegbrechen der israelischen Massen vom Zionismus kann jedoch keine Vorbedingung für den palästinensischen Befreiungskampf sein. Vielmehr wird jeder Schlag, den die Palästinenser:innen und die internationale Solidaritätsbewegung dem Staat Israel versetzen, auch die Grundlage dieser ideologischen Bindung schwächen, die auf dem chauvinistischen Glauben an die Unbesiegbarkeit Israels fußt.

Auch wenn heute der Kampf gegen den Siedlungsbau und den alltäglichen Versuch der Vertreibung von Palästinenser:innen in der Westbank auf der Tagesordnung steht, muss dieser auf die Anerkennung der jüdisch-israelischen Nation unter vollständiger Abschaffung sämtlicher Privilegien abzielen. Dieses Ziel ist unvereinbar mit der Existenz zweier Staaten. Die Zweistaatenlösung würde unweigerlich beinhalten, einen Grenzverlauf festzuschreiben, der durch koloniale Gewalt aufgezwungen ist – und mit diesem auch die Vertreibungen von 1948, von 1967, die der vergangenen Jahrzehnte und die mit allem verbundene Enteignung palästinensischen Eigentums unwiderruflich machen. Eng damit verknüpft ist die Aneignung von Wasser, landwirtschaftlicher Nutzfläche und anderer natürlicher Ressourcen durch den Siedlerkolonialismus und die Kontrolle der Außengrenzen. Status quo ist die Existenz eines einzigen souveränen Staates, der eine echte Teilung seiner Souveränität kategorisch ausschließt. Es ist eine Utopie, diesen Staat derart zu bändigen, dass neben ihm Platz für einen zweiten existiert. Voraussetzung für jede gerechte Lösung ist seine revolutionäre Zerschlagung und die Schaffung eines neuen binationalen Staates.

Obwohl Marxist:innen für unterdrückte Nationen das Recht auf Lostrennung und auf einen eigenen Staat fordern, kann diese Forderung keinesfalls unterschiedslos, ohne Berücksichtigung der spezifischen Umstände der Unterdrückung aufgestellt werden.

Ein palästinensischer „Staat“ neben Israel würde nicht nur vergangenes Unrecht legitimieren, sondern auch die derzeit vollzogenen ethnischen Säuberungen in der Westbank als endgültig hinnehmen müssen. Die Festlegung eines Grenzverlaufs zwischen beiden Staaten würde höchstwahrscheinlich eine neue Vertreibungswelle nach sich ziehen, die auf die Ausweisung eines möglichst großen Teils der Palästinenser:innen in den Grenzen von 1948 abzielt. Solche Szenarien werden u. a. von der ultrarechten zionistischen Partei „Jisra’el Beitenu“ (Unser Zuhause Israel) vertreten. Der reaktionäre Gehalt der „Zwei-Staaten“-Idee wird daran deutlich, dass ihr Ziel letztlich die Schaffung eines ethnisch homogenen Staates Israel ist, also der Abschluss der historischen Mission des Siedlerkolonialismus – wenn auch mit ggfs. geringfügig reduzierter territorialer Ausdehnung. Solange die Existenz eines Siedler:innenstaates auf der Basis ethnischer Exklusivität akzeptiert wird, kann der historische Zweck der Zweistaatenlösung nur in dessen Vollendung liegen – unabhängig davon, welche Hoffnungen einige Palästinenser:innen mit der Aussicht auf einen eigenen Staat neben Israel verbinden mögen. Ein unter den heutigen Bedingungen irgendwie vorstellbarer palästinensischer Staat – der seiner staatlichen Souveränität und wichtigsten sozialen Errungenschaft, des Rückkehrrechts, beraubt wäre – würde die palästinensische Frage nicht lösen, sondern die Unterdrückung mit umfassender politischer Legitimität ausstatten. Ein solcher „Deal“ würde auch auf die „Normalisierung“ Israels durch die Abraham Accords von 2020 aufbauen. Im schlimmsten Fall könnte dabei das ägyptische Regime gezwungen werden, einer Vertreibung der Palästinenser:innen aus Gaza und deren Ansiedlung auf dem Sinai zuzustimmen.

Revolutionär:innen sollten daher unmissverständlich für eine „Einstaatenlösung“ eintreten. Natürlich zieht diese Position auch die Frage des Klassencharakters des zu erkämpfenden Staates nach sich. Die Schaffung eines gerechten Ausgleichs beider Nationalitäten erfordert den massiven Transfer von Ressourcen zur Entschädigung und Wiederansiedlung der Vertriebenen. Die Beseitigung des Apartheidcharakters, der bereits im Städtebau und in Straßenverläufen einbetoniert worden ist, ist nur auf Grundlage gemeinschaftlichen Eigentums an Land, Wohnraum, Industrie und Bodenschätzen möglich. Sie fällt also der Arbeiter:innenklasse zu, die diese Ressourcen enteignen und einer gesamtgesellschaftlichen Planung des binationalen Staates zugänglich machen würde. Die Verknüpfung der demokratischen mit der sozialistischen Revolution stellt daher den programmatischen Kern der revolutionären Strategie zur Befreiung Palästinas dar.




Antisemitismus und Antizionismus

Teil 3 des Podcasts zum Thema Antisemitismus und wie er bekämpft werden kann

Lage der Klasse, Folge 6, Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht, Infomail 1231

Herzlich willkommen zur Lage der Klasse, dem Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht zu marxistischer Theorie und revolutionärer Praxis. Heute mit Lina und Katjuscha und der Frage: Wie zeigt sich Antisemitismus heute und wie können wir ihn erfolgreich bekämpfen?

Die Zuspitzung der Kämpfe in Palästina seit der Aufnahme unserer letzten Folge zeigen, wie brandaktuell diese Fragen sind. Im Zuge der Bombenangriffe und der drohenden Bodenoffensive der israelischen Armee in Gaza nach den Angriffen der Hamas am 07. Oktober wird der vorgebliche Kampf gegen Antisemitismus immer wieder als Rechtfertigung für das Vorgehen gegen den palästinensischen Widerstand genutzt und dient als Legitimierung der Unterdrückung und Ermordung von Palästinenser:innen. Eine genauere Einschätzung der aktuellen Lage wollen wir in unserer kommenden Folge vornehmen, in der es um ein Aktionsprogramm zu Palästina gehen soll. Heute wollen wir zeigen, welche Gefahr eine solche Verwischung des Antisemitismusbegriffs darstellt, nicht nur für den berechtigten Befreiungskampf der Palästinenser:innen, sondern vor allem auch für den Kampf gegen Antisemitismus. Denn wie wollen wir gegen Antisemitismus vorgehen, wenn wir kein präzises Verständnis davon haben?

Antisemitismus heute

Wir sprechen heute darüber, in welchen Formen Hass gegenüber Juden/Jüdinnen derzeit in verschiedenen Teilen der Gesellschaft zum Ausdruck kommt, und wollen beleuchten, welche Ansätze gegen Antisemitismus historisch bereits vertreten worden sind, um euch anschließend unsere eigene Position – also die Forderungen der Gruppe Arbeiter:innenmacht – näherzubringen.

Viele Rechtspopulist:innen aus AfD und ähnlichen Kreisen behaupten, dass Antisemitismus aktuell in Deutschland kaum noch eine Rolle spielt. Das einzige Problem seien die vielen Geflüchteten, die einen neuen Antisemitismus mit ins Land brächten. Es wird hier vom Antisemitismus als importiertes Problem unzivilisierter Völker schwadroniert. Tatsächlich zeigen Studien, dass es in den vergangenen Jahren einen Anstieg antisemitischer Straftaten gab, die aber vorwiegend von deutschen Rechten und eben nicht von Migrant:innen verübt wurden. Andererseits ist das eine gefährliche Gleichsetzung von Widerstand gegen nationale Unterdrückung, wesentliche Quelle der Ablehnung Israels im Nahen Osten, mit dem eliminatorischen Antisemitismus. Der schreckliche Anschlag auf die Synagoge in Halle 2019 und die Angriffe auf ein jüdisches Restaurant in Chemnitz 2018 zeugen davon. Für die AfD und dessen Gründungsmitglied Alexander Gauland sind Hitler und die Nazis ein „Vogelschiss“ in der sonst so „erfolgreichen deutschen tausendjährigen Geschichte“, wie er diese verharmloste. Hier ist der angebliche Kampf gegen Antisemitismus ein willkommenes Mittel, ihren antimuslimischen Rassismus salonfähig zu machen und Repressionen und Abschiebungen von Geflüchteten zu legitimieren.

Wir befinden uns in einer Zeit, in der nicht nur explizit rechte Kräfte gegen Migrant:innen wettern, sondern auch alle anderen bürgerlichen einen zunehmenden Abschreckungs- und Abschottungskurs gegenüber Geflüchteten fahren. Die Kündigung von Landesaufnahmeprogrammen von Geflüchteten, die Ausweitung der sogenannten „sicheren Herkunftsländer und -regionen“, schnellere Abschiebungen, verstärkter Grenzschutz und Migrationsabkommen – unter anderem mit Tunesien –, welche Flüchtende schon vor der europäischen Grenze stoppen sollen, sorgen medial kaum für Aufschrei und werden von allen bürgerlichen Parteien mitgetragen. Aktuell zeigt die EU Asylrechtsreform, welche die Abschaffung des geltenden Asylrechts und die Nutzung von Asylzentren bzw. eher Gefängnissen an den EU Außengrenzen vorsieht, dass es eine breite Unterstützung dieser rassistischen Abschottung gibt. Im Bundestag lehnte nur die Linkspartei die Reform ab, während SPD, FDP und Grüne diese mittrugen und CDU/CSU sogar noch weitere Schritte forderten. Der Wall um die Festung Europa soll ausgebaut werden – darin sind sich die meisten einig. Olaf Scholz erklärte gegenüber dem Spiegel: „Wir müssen endlich im großen Stil diejenigen abschieben, die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben.“ Der Rassismus gegenüber Migrant:innen dient dazu, unsere Klasse zu spalten und die Auswirkungen der kapitalistischen Krisen – wie finanzielle Not, Unsicherheit und Abstiegsangst – den Migrant:innen in die Schuhe zu schieben. Das zeigt sich, wenn Geflüchteten unterstellt wird, dass sie angeblich nur wegen der Sozialleistungen nach Deutschland kämen und damit den Deutschen alles wegnähmen. Auf die Spitze getrieben hat dies CDU-Chef Friedrich Merz, der die absurde Unterstellung äußerte, dass Migrant:innen beim Arzt säßen, um sich die Zähne neu machen zu lassen, während die deutschen Bürger:innen nebenan keine Termine bekämen.

Das Bild der „bösen Migrant:innen“ wird aktuell auch im Zuge der Solidaritätsproteste mit Palästina verbreitet. Es wird dabei das Bild der in Anführungszeichen „terroristischen Migrant:innen“ gezeichnet und eine angebliche Bedrohung durch die Solidaritätsbekundungen mit den Palästinenser:innen konstruiert, die gerne auch mal auf alle Migrant:innen ausgeweitet wird. Demonstrationen werden verboten und massive Repressionen ausgeübt. Es wurde sogar über die Abschiebung von sogenannten „Straftäter:innen“ gesprochen, was von der Bundesinnenministerin Nancy Faeser befürwortet wurde. Dies alles findet unter dem Deckmantel des angeblichen Kampfes gegen Antisemitismus statt.

Hierbei ist zu sagen, dass es sich nicht wirklich um einen Kampf gegen Antisemitismus handelt, sondern vielmehr die imperialistischen Interessen im Nahen Osten und die damit einhergehende Unterstützung von Israel ideologisch gerechtfertigt werden sollen. Wir dürfen nicht zulassen, dass der Kampf gegen Antisemitismus dafür instrumentalisiert wird, eine zunehmend rassistische Front gegenüber Migrant:innen zu verfestigen. Wir müssen hier klar sagen, dass dieser Scheinkampf einem wirklichen Kampf gegen Antisemitismus niemals gerecht wird – und, so behaupten wir, dem auch nicht gerecht werden kann.

In den vergangenen Folgen haben wir unser Verständnis von Antisemitismus dargelegt und verschiedene Formen des Hasses gegenüber Juden und Jüdinnen genauer beleuchtet. Im Kampf gegen Antisemitismus ist es zwingend notwendig, ein präzises Verständnis seiner Entstehung zu entwickeln, um Fehleinschätzungen zu vermeiden. Denn nur so kann verhindert werden, dass die AfD als „Volkspartei des gesunden Menschenverstandes“ erscheint – wie es die antideutsche Zeitschrift Bahamas schreibt – und die Proteste der antirassistischen Linken gegen sie als Verharmlosung des Holocausts dargestellt werden.

Definitionen und Kritik

In der öffentlichen Debatte ist aktuell eine Vielzahl diverser Definitionen von Antisemitismus im Umlauf. Auch gibt es zahlreiche Studien zu diesem Thema, die auf unterschiedlichen Verständnissen von Antisemitismus aufbauen und damit nur schwer vergleichbare Ergebnisse hervorbringen. David Ranan, der am Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin arbeitet, hat diese Problematik genauer beleuchtet und einige übliche Antisemitismusdefinitionen und Untersuchungsmethoden vorgestellt. Er problematisiert, dass er häufig mit Israelkritik gleichgesetzt wird, statt seine verschiedenen Formen differenziert zu erfassen. Eben jene Gleichsetzung verurteilt auch Moshe Zuckermann, ein israelisch-deutscher Soziologe und Professor an der Universität Tel Aviv. Er kritisiert, dass es in Deutschland inzwischen die Norm sei, „Israel“ und „Zionismus“ mit „den Juden/Jüdinnen“ gleichzusetzen. Er verweist darauf, dass der Staat Israel und seine Verteidiger:innen auf diese Gleichsetzung angewiesen sind. Er setzt sich für eine klare Trennung der Phänomene ein, ebenso wie für die Trennung von „Israelkritik“, „Antizionismus“ und „Antisemitismus“.

Ranan zeigt in seinen Publikationen auf, dass in der Antisemitismusforschung in Deutschland eine solche Trennung nicht stattfindet und undifferenzierte Erhebungsinstrumente zur Erfassung von Antisemitismus verwendet werden. Beispielsweise verwende die Antidiffamierungsliga seit 1913 zur Erfassung von Antisemitismus ein Instrument, das durch 11 Stichpunkte typische antijüdische Stereotype erfragt. Ein beispielhafter ist: „Juden haben zu viel Kontrolle über die US-Regierung“. Wer mehr als 6 von diesen Fragen gemäß Stereotyp beantwortet, gilt als antisemitisch. Sicherlich ist der Fragebogen hilfreich, um Vorurteile und Verschwörungstheorien zu erfassen, allerdings wird nicht notwendigerweise festgestellt, ob dahinter auch mit Aggression aufgeladener Hass gegenüber Juden und Jüdinnen lauert, welcher nochmal eine andere Qualität hat und die potenziell viel größere Gefahr darstellt.

Als weiteres Beispiel führt Ranan die „Mitte“-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung gemeinsam mit der Universität Bielefeld von 2016 an. Diese unterscheidet zwischen „klassischem“, „sekundärem“ und „israelbezogenem“ Antisemitismus. Hier wird also zwischen dem offenen Hass gegenüber Juden und Jüdinnen, einem unterschwelligen und verkleideten Antisemitismus, der sich beispielsweise in der Verharmlosung der Schoa äußert, und einem mit der Kritik an Israel verknüpftemn Antisemitismus unterschieden. Ranan kritisiert, dass die Studie den Eindruck erweckt, dass der israelbezogene im Vergleich zum sekundären Antisemitismus das größere Problem darstellt. Die Autor:innen der Studie gehen davon aus, dass zwar prinzipiell eine „neutrale Kritik“ an Israel möglich ist, diese aber äußerst selten vorkomme und in der Regel antisemitisch unterfüttert sei. Eine solche Verwischung der Unterschiede zwischen Israelkritik und latentem Antisemitismus ist vehement abzulehnen, denn sie verkennt, dass Letzterer mit aggressivem Verdrängungspotenzial belastet ist und langfristig die weitaus größere Gefahr darstellt.

Beide Beispiele zeigen, dass eine undifferenzierte Analyse und besonders die Gleichsetzung von Israelkritik mit Antisemitismus mögliche reaktionäre Einstellungen hinter den Stereotypen  über Juden und Jüdinnen aus dem Fokus lässt und zu einem verzerrten Bild der Verteilung von Antisemitismus in unserer Gesellschaft führt. Es kann schnell der Fehlschluss gezogen werden, dass Antisemitismus unter Menschen mit arabischem Migrationshintergrund sehr viel stärker verbreitet ist, da diese durch persönliche oder familiäre Erfahrungen natürlich tendenziell häufiger die Politik des Staates Israel kritisieren. Zugleich wird unter Deutschen die klassische Sündenbockaggression gegenüber Juden/Jüdinnen unterschätzt, denn viele Deutsche haben in ihrer Schulzeit gelernt, ihren antijüdischen Hass zu verschleiern und vermeintlich „korrekt“ auf Fragen, wie sie zu statistischen Zwecken gestellt werden, zu antworten. Es wird also suggeriert, dass Muslim:innen die größere Gefahr darstellen, während die Gefahr deutscher Rechter unterschätzt wird. Hierin ist ein gefährlicher Trugschluss begründet.

Die zentrale These Ranans lautet, dass es in Deutschland unter Menschen mit muslimischem Migrationshintergrund eine verstärkte Bereitschaft gibt, aberwitzige Stereotype über Juden und Jüdinnen zu teilen. Diese resultiere aus der Empörung über die Politik Israels gegenüber den Palästinenser:innen und dem Kurzschluss, diese auf Juden und Jüdinnen im Allgemeinen zu beziehen. Das Primäre sei also die Kritik an Israel, hinter der sich in den meisten Fällen keine antijüdische Haltung verberge. Im Vergleich dazu seien bei einigen Deutschen die antisemitischen Einstellungen das Primäre, die hinter einer Kritik am Staat Israel verborgen werden. Hier zeigt sich der Unterschied zwischen dem eliminatorischen Antisemitismus, den wir schon in unseren letzten Folgen genauer beleuchtet haben und einer antijüdischen Haltung der Unterdrückten, die sie von ihren Unterdrücker:innen auf alle Juden/Jüdinnen verallgemeinern.

Wir wollen in keiner Weise antijüdische Stereotype verharmlosen. Als Revolutionär:innen müssen wir uns aktiv gegen diese stellen und ankämpfen. Antisemitismus und antislawischer sind in Deutschland die beiden zentralen geschichtlichen Erscheinungsformen von Rassismus, so muss der Kampf dagegen sich auch fokussieren. In den letzten Jahren hat der antimuslimische Rassismus in Deutschland eine immer größere Bedeutung eingenommen. Gleichzeitig dürfen wir nicht leugnen, dass die größte Gefahr für Juden und Jüdinnen in Deutschland noch immer von Rechten ausgeht, deren Antisemitismus nach wie vor tief sitzt und im Kern einen vernichtenden Charakter aufweist. Diese Art des Antisemitismus steht in Tradition der deutschen Faschist:innen, für deren Ideologie er von Beginn an ein Wesensmerkmal darstellte. Wie wir in den vergangenen Folgen schon gehört haben, fungierten Juden und Jüdinnen dabei als Sündenböcke für die hässlichsten Auswirkungen des Kapitalismus, was zu einem schrecklichen historisch singulären Vernichtungsprozess führte. Nazis präsentierten sich als Verteidiger:innen der angeblich „überlegenen europäischen Zivilisation“ und konstruierten in Jüdinnen und Juden eine Bedrohung für die vermeintlich „überlegene deutsch-arische Rasse“. Dies diente unter anderem zur Legitimation der Expansionspläne in Osteuropa. Opfer der Schoa wurden zum großen Teil verarmte Juden/Jüdinnen aus Osteuropa, die der Erweiterung des sogenannten „Lebensraumes im Osten“ im Wege standen. Heute kann sich diese aggressive Form des Antisemitismus nicht mehr in einer solchen Offenheit zeigen und tritt eher latent auf. Dennoch keimt sie in der Mitte der Gesellschaft und kann potenziell wieder in vernichtender Weise eskalieren. Der zunehmende Rechtsdrall, der einerseits den rassistischen Kurs gegenüber Migrant:innen ebnet, kann ebenso den Boden für die weitere Ausbreitung eines gefährlichen Antisemitismus bereiten. Man muss sich nur den Fall Hubert Aiwanger anschauen, dessen faschistisches Flugblatt als „Jugendsünde“ abgetan und dessen Antisemitismus damit normalisiert wird. Trotz dieser antisemitischen Entgleisungen – oder gerade deshalb – konnte die Freien Wähler bei den diesjährigen Landtagswahlen sogar an Stimmen gewinnen.

So wie sich Rassismus gegenüber Migrant:innen gerade flächendeckend ausbreitet, ist dies ebenso mit Antisemitismus möglich. Wir müssen Antisemitismus also dort – in der Mitte unserer Gesellschaft – an der Wurzel packen und bekämpfen und ihn als Wucherung unserer kapitalistischen Gesellschaft begreifen.

Blick in die Geschichte

Um den Kampf gegen Antisemitismus nachzuvollziehen, machen wir aus dem Jetzt einen Sprung in die Vergangenheit: Historisch war es vor allem die Arbeiter:innenbewegung, die ihn aktiv geführt hat. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts trat diese als anwachsend organisierte Kraft auf, wobei sich jüdische und nicht-jüdische Arbeiter:innen gemeinsam in Gewerkschaften und sozialistischen Parteien organisierten und gegen ihre Ausbeutungsbedingungen kämpften. Als der Marxismus zunehmend an Einfluss gewann, verbreitete sich ein tieferes Verständnis der Zusammenhänge zwischen Kapitalismus und Antisemitismus. Es wurden die Klasseninteressen des Proletariats herausgearbeitet und aufgezeigt, dass diese im klaren Gegensatz zu Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus stehen. Auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1893 betonte deren Mitbegründer August Bebel den reaktionären Charakter von Antisemitismus und machte deutlich, dass er nur im Kampf für Sozialismus endgültig besiegt werden kann. Er vertrat die Ansicht, dass Antisemitismus den Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung auf einen kleinen Teil des Kapitals – das jüdische – ablenke und somit nicht im Interesse der Arbeiter:innenklasse stehen könne. Doch auch damals zeigte die Antisemitismusanalyse der Sozialdemokratie deutliche Mängel. Dem Antisemitismus wurde eine „revolutionäre“ Seite angedichtet. Die Ansicht war verbreitet, dass v. a. das Kleinbürger:innentum, das von der Krise gebeutelt war und sich von antisemitischer Propaganda verführen ließ, früher oder später schon merken würde, dass sie die Ursachen der Krise nur unzureichend erklären kann. Mit voranschreitender Zeit würde es im Kapitalismus die wahren Gründe seiner Verelendung automatisch erkennen und zum Kampf gegen ihn antreten. Dieser Irrglaube, dass die fehlgeleiteten Massen auf lange Sicht schon die Täuschung der antisemitischen Politik durchschauen werden, führte zur verhängnisvollen Unterschätzung ihrer Gefährlichkeit.

Diese Fehleinschätzung lehnten die Bolschewiki vehement ab. Im Gegensatz zur Sozialdemokratie, die sich aus Angst, Wähler:innenstimmen zu verlieren, teils sehr zögerlich zeigte, gegen Antisemitismus Stellung zu beziehen, blieben die Bolschewiki sehr klar und prinzipienfest. Sie können historisch zu den entschiedensten Kämpfer:innen gegen Antisemitismus gezählt werden. Trotzki erkannte sehr früh die Gefahr, die von den Nazis – speziell für Juden und Jüdinnen – ausging und analysierte den Charakter des Faschismus als bisher am meisten zugespitzte Form des eliminatorischen Antisemitismus und die zentrale Rolle des Kleinbürger:innentums in der faschistischen Bewegung. Auch in ihrer praktischen Arbeit kämpften die Bolschewiki entschieden gegen die Unterdrückung von Juden/Jüdinnen. Sie traten für die Anerkennung von Minderheitenrechten ein – wie beispielsweise der Etablierung von Schulunterricht auf Jiddisch – und kämpften gegen die Abschaffung diskriminierender Gesetze. Lenin arbeitete beispielsweise 100 Gesetzesstellen heraus, die geändert werden mussten, schrieb Artikel zum Thema und forderte die Parteiorganisationen zum Sammeln von Unterstützungserklärungen auf. Wichtig anzumerken ist, dass vor allem in der jungen Sowjetunion ein aktiver Kampf gegen Antisemitismus geführt wurde. Als sich zunehmend der Stalinismus mit seiner Theorie des Sozialismus in einem Land durchsetzte und damit einhergehend Patriotismus und völkischer Populismus propagiert wurden, schwand auch das Interesse am Kampf gegen Antisemitismus. Viele der Errungenschaften wurden zurückgenommen. Er fand wieder zunehmend Verbreitung und wurde teils bewusst als Ventil für den Unmut gegenüber der Bürokratie und zum Vorgehen gegen Linksoppositionelle eingesetzt.

Historisch waren es sicherlich vor allem aber Juden und Jüdinnen selbst, die einen Ausweg aus dem Hass, der ihnen entgegenschlug, suchten. Sie kämpften in Gewerkschaften, sozialistischen oder kommunistischen Parteien, gründeten Selbstverteidigungsgruppen und wurden zu eigenständigen, selbstorganisierten Subjekten ihrer Geschichte. Ende des 18. Jahrhunderts entstand der „Allgemeine jüdische Arbeiter:innenbund“, kurz „Bund“ genannt – eine jüdische Arbeiter:innenpartei, die kurz nach ihrer Gründung mehrere zehntausende Mitglieder gewann und in verschiedenen osteuropäischen Staaten wirkte. Für die Mitglieder des „Bundes“ war die Befreiung vom Antisemitismus unmittelbar mit dem Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung verknüpft. Er richtete sich also gleichzeitig gegen Antisemitismus und das Kapital. Ziel war es, die Welt als Ganzes zu verändern und die Klassengesellschaft überall aus den Angeln zu heben. Der Kampf dafür sollte im eigenen Land beginnen. Die Ansichten des „Bundes“ standen somit im Widerspruch zur zionistischen Idee, die als Antwort auf Antisemitismus die Auswanderung nach Palästina und Schaffung eines jüdischen Staates propagierte und eine jüdische Nation konstruierte. Der „Bund“ lehnte dies strikt ab und bewertete die Auswanderung nach Palästina als Realitätsflucht in eine Scheinwirklichkeit. Heute wird der Zionismus häufig als alternativlos im Kampf gegen Antisemitismus dargestellt. Der Kampf jüdischer Arbeiter:innen aber zeigt, dass der Zionismus historisch nicht der einzige Weg war und eine sozialistische Organisierung der Massen als Alternative möglich gewesen wäre. Der Vollständigkeit halber erwähnen wir noch die einflussreiche Strömung des liberalen Juden-/Jüdinnentums, die sich für eine Assimilierungsbewegung in den jeweiligen Nationalstaaten einsetzte. Moses Mendelssohn ist ihr wohl bekanntester Vertreter.

Allerdings verschoben sich die Machtverhältnisse in Richtung zionistischer Ideen. Innerhalb der sozialistischen Bewegung entbrannten heftige Diskussionen über die Frage der „jüdischen Nation“. Zwar lehnte es ein Großteil ab, in den Juden und Jüdinnen eine eigene Nation zu sehen und befürwortete ihre möglichst schnelle Integration dort, wo sie lebten. Rosa Luxemburg war beispielsweise eine der stärksten Verfechterinnen dieser Forderung. Dabei ist zu sagen, dass unter Integration nicht die Assimilierung im Sinne einer Unterordnung unter die bestehende nationale Leitkultur gemeint ist, sondern eine gleichberechtigte Entwicklung einer gemeinsamen, internationalen Kultur, bei der die progressiven Elemente der einzelnen Kulturen verschmelzen. Doch war die nationale Frage äußerst umstritten. Der „Bund“ verfolgte das Ziel, alle jüdischen Arbeiter:innen des zaristischen Russlands in einer sozialistischen Partei zu vereinen und die gesetzliche Anerkennung der Juden/Jüdinnen in Russland als eigene Nation mit Minderheitenstatus zu erreichen. Er vertrat also die Ansicht, dass Juden und Jüdinnen eine eigene Nation darstellten und sahen daher auch die Notwendigkeit, dass sie sich in einer eigenständigen Organisation zusammenschlossen. Die Bolschewiki lehnten die Vorstellung des Bundes von getrennten Parteien, die dann in einer sozialistischen Föderation zusammenarbeiten würden, ab. Sie vertraten die Position einer einheitlichen Partei, in der es autonome Sektionen für jüdische Arbeiter:innen geben müsse, denn sie verstanden, dass nur die gemeinsame Erfahrung im Klassenkampf die Mauern sozialer Unterdrückung sprengen kann.

Schließlich kam es zur Spaltung, aus der „Bund” und „kommunistischr Bund“ hervorgingen. Auch spalteten sich einige tausend Arbeiter:innen ab, die sich der Idee des Zionismus zuwandten. Es entstand die „Jüdische Sozialdemokratische Partei – Poale Zion“ – was auf Deutsch „Arbeiter:innen Zions“ bedeutet. Damit hatte der Zionismus, der bis dahin nur in kleinbürgerlichen Zirkeln bestand, zum ersten Mal eine größere Arbeiter:innenpartei hinter sich.

Sowohl die Gründung des „Bundes“ als auch die Entstehung der zionistischen Bewegung muss als Reaktion der jüdischen Bevölkerung auf den zunehmenden Antisemitismus im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts verstanden werden. Beide sahen in der Selbstorganisation der Juden und Jüdinnen die einzige Möglichkeit, gegen selbsterfahrene Diskriminierung und Gewalt zu kämpfen. Doch je nach Klassenzugehörigkeit unterschieden sich die Antworten auf die antisemitische Bedrohungslage. So war es insbesondere das Großbürger:innentum, welches die Auswanderung armer osteuropäischer Juden und Jüdinnen nach Palästina förderte, um diese mit wenig finanziellem Aufwand loszuwerden. Die jüdische Arbeiter:innenbewegung, insbesondere in Osteuropa, hingegen, setze sich für die Befreiung von Unterdrückung und Antisemitismus durch das Erkämpfen des Sozialismus ein und positionierte sich somit entschieden emanzipatorisch und eben nicht zionistisch. Anfangs war die zionistische Idee eine kleinbürgerlich-nationalistische. So hieß es auf dem ersten Zionistischen Weltkongress 1897: „Der Zionismus erstrebt die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina für diejenigen Juden, die sich nicht anderswo assimilieren können oder wollen.“ Der geschaffene Staat Israel sollte also als Schutzraum für alle Menschen jüdischen Glaubens fungieren. Der ideologische und organisatorische Kopf der zionistischen Bewegung war Theodor Herzl, der das bekannte Werk „Der Judenstaat“ verfasst hat. Wesentliche Triebfedern der zionistischen Idee waren die Angst vor der Auflösung jüdischer Identität in der Diaspora, aber auch die Sorge, dass der Antisemitismus weiter zunehmen würde, je mehr jüdische Geflüchtete aus Osteuropa zuwanderten. Als Lösung strebte der Zionismus also einen „eigenen“ Nationalstaat an, für den jedoch die grundlegenden Voraussetzungen fehlten: Abgesehen davon, dass mit Beginn der imperialistischen Epoche der Nationalstaat nichts Fortschrittliches mehr an sich hatte, fehlte es der jüdischen Gemeinschaft an einem gemeinsamen Territorium sowie einer gemeinsamen Hochsprache. So musste die zionistische Idee automatisch von tiefen Widersprüchen durchzogen sein, von denen wir hier einige benennen möchten:

Schon der altösterreichische Sozialhistoriker und marxistische Ökonom Roman Rosdolsky weist richtigerweise darauf hin, dass der Zionismus eine Art umgekehrter Antisemitismus ist, der nicht die jüdische Solidarität, sondern das Nationalstaatsprojekt in den Vordergrund stellt und paradoxerweise den Antisemitismus unbedingt als seine Legitimation benötigt. Nur durch massiven weltweiten Antisemitismus kann der Zionismus sein Ziel erreichen, was darin besteht, dass die jüdische Diaspora beendet wird, indem die Juden/Jüdinnen dieser Welt nach Israel gehen. Läge kein Antisemitismus vor und wären Menschen jüdischen Glaubens dort, wo sie leben, vollständig assimiliert und zufrieden, gäbe es kaum Anlass für sie, nach Israel auszuwandern.

Kommen wir zum zweiten Widerspruch: Zwar beteuert der Zionismus, säkular zu sein, doch die nationalstaatliche Aufladung der Stadt Jerusalem, auf welche man sich zuvor Jahrhunderte lang rein religiös-spirituell bezogen hatte, sowie der Umstand, dass aufgrund ihrer Heterogenität den israelischen Einwanderer:innen nur die Religion als einzige Gemeinsamkeit blieb, zeigten, dass hier Nationalismus und Religion untrennbar miteinander verflochten sind.

Ein weiterer gravierender ideologischer Widerspruch des Zionismus besteht darin, dass, zumindest unter kapitalistischen Bedingungen, die angebliche Befreiung der einen, also der Juden und Jüdinnen, zugleich die Unterdrückung der anderen, also der bereits seit Jahrtausenden dort lebenden Palästinenser:innen, bedeuten muss. Hier wird also deutlich, dass Israel von Beginn an ein kolonialistisches Projekt gewesen ist und die Zionist:innen schon immer auf die Unterstützung einer oder mehrerer imperialistischer Mächte angewiesen waren, die ihnen dabei halfen und heute noch helfen, sich gegen diejenigen, die zu Recht gegen ihre Vertreibung aufbegehren, sowie gegen die umliegenden arabischen Länder militärisch und ökonomisch zur Wehr zu setzen. So waren es nach 1918 der britische und nach 1956 bis heute der US-amerikanische Imperialismus, dem sich die Zionist:innen und der Staat Israel anbiedern mussten und die als Schutzmacht Israels dienten. Diese Großmächte unterstützten die Idee jüdischer Selbstbestimmung selbstverständlich nicht aus Nächstenliebe, schließlich gewährten sie die von den Nazis verfolgten Juden und Jüdinnen in ihren eigenen Ländern keine Zuflucht. Vielmehr war ihr Handeln geleitet durch ein geostrategisches Interesse, was ihnen eine Vormachtstellung im Nahen Osten und Zugriff auf große Erdölvorkommen bot. Neben diesem Kalkül hat jedoch der vermeintliche Kampf gegen Antisemitismus auch eine ideologisch tragende Rolle eingenommen: Die Unterstützung Israels seitens der imperialistischen Mächte, hier vor allem Deutschlands, soll als Kampf gegen Antisemitismus schlechthin dienen. Dies wird auch deutlich, wenn wir uns die Aussagen führender Politiker:innen seit dem 7. Oktober 2023 anhören, die von der Sicherheit Israels „als deutsche Staatsräson“ sprechen, während antisemitische Flugblätter aus der Vergangenheit billigend in Kauf genommen werden. In den vergangenen Jahrzehnten gelang es weiten Teilen der bürgerlichen Politik, die Überzeugung, die bloße Unterstützung Israels als den einzigen Kampf gegen Antisemitismus zu rühmen und die Ablehnung seiner Politik als bloßen Antisemitismus zu verurteilen, populär werden zu lassen. Auch, wenn sich uns hier Tag um Tag ihre Heuchelei zeigt, so sind diese Überzeugungen keineswegs bewusst gestreute, sondern vielmehr Folge geostrategischer Zwänge und einer zionistischen Idee, die in der Debatte um Antisemitismus eine tragende Rolle eingenommen hat.

Abgesehen von dem eben benannten Widerspruch ist zudem offensichtlich, dass es für die jüdische Arbeiter:innenklasse in einem kapitalistischen Staat, wie Israel einer ist, keine wirkliche Befreiung geben kann. Auch hier wird das jüdische Proletariat von der herrschenden Klasse ausgebeutet und immer wieder durch ihren großen gewerkschaftlichen Dachverband, der Histadrut, verraten. An diesem Umstand konnten auch die Labourzionist:innen mit ihren Ideen der Kibbuzim und Moschawim nichts Grundlegendes ändern (Kibbuz; wörtlich: Versammlung; Moschaw; wörtlich: Sitz, Siedlung. Beides bezeichnet genossenschaftlich-kollektive Landbebauungsformen). Diese ohnehin wenig fortschrittlichen Projekte sind mittlerweile durch andere Wirtschaftszweige verdrängt oder gänzlich privatisiert worden. Zugleich wird die jüdische Arbeiter:innenklasse in Israel ebenfalls durch die regelmäßigen Großspenden unterstützt, was die ideologische Abhängigkeit vom Zionismus als Projekt festigt.

Häufig wird von Zionist:innen behauptet, Juden und Jüdinnen hätten schon immer in ihre ursprüngliche und damit ihnen zustehende Heimat zurückgewollt. Dieses Argument ist historisch einerseits nicht haltbar – wie wir in Folge 1 unserer Podcastreihe aufgezeigt haben – und andererseits durch seine religiöse Begründung anachronistisch. Zudem vermittelt es, Araber:innen hätten seit ganzen 2.000 (!) Jahren zu Unrecht in Palästina gelebt. Würden alle Völker Ansprüche auf territoriale Realitäten von vor 2.000 Jahren erheben, so versänke die Welt in einem einzigen Blutbad. Paradoxerweise sind es gerade die USA, die das Argument des historisch begründeten territorialen Anspruchs in ihrem eigenen Land nicht für legitim halten.

Ein Widerspruch, auf den besonders wichtig hinzuweisen scheint, betrifft die Haltung des Zionismus gegenüber der arabischen Bevölkerung, welche stets zwischen Ignoranz und Rassismus schwankt. Im bereits erwähnten Buch „Der Judenstaat“ erwähnt Theodor Herzl die Araber:innen mit keinem Wort. Einer der frühesten Wahlsprüche der Zionist:innen lautete „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land!“ Hier wird die Existenz der arabischen Bevölkerung gänzlich geleugnet oder aber ihr wird offen rassistisch begegnet, indem unterstellt wird, sie sei unfähig, das Land ordentlich zu bestellen – wie es der erste Premierminister Israels, Ben-Gurion, formulierte. Hieraus lässt sich also angesichts der theoretischen und praktischen Ausrichtung des Zionismus schlussfolgern, dass Antizionist:in zu sein, bedeutet, das politische Programm der zionistischen Organisationen abzulehnen. Antijüdisch zu sein, bedeutet hingegen, rassistisch zu sein. Es gilt, Antizionismus und Antisemitismus strikt voneinander zu trennen. Auch jüdische linke Organisationen und Intellektuelle fordern diese Unterscheidung. Hier ist beispielsweise auf die „Jüdische Stimme für gerechten Frieden im Nahen Osten“ oder auf den israelischen Antisemitismusforscher Moshe Zuckermann hinzuweisen. Es zeigt sich, dass nicht alle Juden/Jüdinnen hinter der Politik Israels stehen. Ihre Gleichsetzung mit der zionistischen Ideologie oder einem zionistischen Staat ist generalisierend und damit antisemitisch,

Mit der Klarheit, mit der Antisemitismus und Antizionismus voneinander zu trennen sind, treten bürgerliche Institutionen wie deutsche Parteien, die UNO oder die EU leider nicht bei ihrer Suche nach treffenden Antisemitismusdefinitionen auf. Hier sind israelische Gremien stets bemüht, zu intervenieren und die Frage eines israelbezogenen Antisemitismus in die Debatte einfließen zu lassen oder direkt Antizionismus mit Antisemitismus gleichzusetzen. So entschied sich die deutsche Bundesregierung als Mitglied der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken, deren Antisemitismusdefinition politisch zu implementieren. Hier heißt es unter anderem: „[…] Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher [also antisemitischer] Angriffe sein.“ Zusätzlich entwarf der damalige israelische Innenminister Scharanski den sogenannten „3-D-Test für Antisemitismus“. Dieser gibt vor, unterscheiden zu können, wann Kritiken am Staat Israel antisemitisch seien und wann nicht. Dabei setzt er faktisch Antizionismus mit Antisemitismus gleich und trägt so dazu bei, die Gräueltaten Israels zu legitimieren, während das Aufbegehren dagegen weiter unterdrückt wird. Die Kriterien des Tests, also „Dämonisierung, Doppelstandards und Delegitimierung“, haben diverse Arbeitsdefinitionen in der europäischen und deutschen Politik maßgeblich beeinflusst.

Fortschrittlicher Antizionismus

Was in Gänze konsequenter und fortschrittlicher Antizionismus für uns bedeutet, darauf wollen wir gleich ausführlich eingehen. Die Entstehungsgeschichte des israelischen Staates thematisieren wir in unserer kommenden Spezialfolge, in der es um ein Aktionsprogramm für Palästina gehen soll. Darin wollen wir auch thematisieren, inwiefern auch ein falscher Antizionismus als Deckmantel für ein rassistisches und antisemitisches Programm genutzt werden kann, von dem wir uns in jedem Falle klar abgrenzen und es zutiefst verurteilen. Angesichts der anstehenden Bodenoffensive als Antwort auf den Angriff aus Gaza auf Israel am 7. Oktober 2023 hat die Frage nach einem progressiven Antizionismus erneut an Aktualität gewonnen. Auf die derzeitige Lage im Nahen Osten werden wir ebenfalls in unserer kommenden Folge vertieft eingehen. Vorerst möchten wir hier aber darstellen, aus welchen Überlegungen heraus Antizionismus für uns, also die Gruppe Arbeiter:innenmacht, legitim und notwendig ist und wofür wir stattdessen eintreten. Um unsere Position nachvollziehen zu können, ist es unvermeidbar, sich den Charakter und die Entstehungsgeschichte Israels vor Augen zu führen: Für die Schoa trugen die Araber:innen und Palästinenser:innen keine Verantwortung. Die darauffolgende große Einwanderungswelle nach Palästina hätte zu diesem Zeitpunkt nicht zwangsläufig zu der seit Jahrzehnten anhaltenden Entrechtung, Vertreibung, Einkesselung und dem dagegen laufenden Widerstand führen müssen. Der Charakter des israelischen Staates und dessen Stellung im imperialistischen Weltsystems führte erst zu den dramatischen Auseinandersetzungen, wie sie seit Jahrzehnten zwischen Israel und Palästina zu beobachten sind. Aber worin genau besteht dieser? Zum einen entschied man sich mit der Staatsgründung für eine kapitalistische Wirtschaftsorganisation, in der es ein Recht auf Privateigentum gibt, sowie für die Inanspruchnahme der Unterstützung durch imperialistische Großmächte. Dies führt neben der arabischen Segregation auch innerhalb der jüdisch-israelischen Gesellschaft zur Verschärfung der sozialen Spaltung. Für die dort Herrschenden fungiert der zunehmende Nationalismus als Bändigung gegen steigende Unzufriedenheit innerhalb der Arbeiter:innenklasse. Ein weiteres Charakteristikum ist, dass es aus zionistischer Sicht der Unterdrückung und Vertreibung der Araber:innen aus dem israelischen Herrschaftsgebiet bedurfte, um den jüdischen Charakter Israels zu garantieren. Dies macht es immer mehr zu einem Apartheidstaat, wie ihn auch Amnesty International bezeichnet. Die Apartheidsdefinition der UN umfasst unter anderem das Verweigern des „Recht[s] auf Verlassen des Landes und auf Rückkehr ins Heimatland, auf Staatsangehörigkeit, auf Freizügigkeit der Bewegung und des Aufenthalts“. Zudem wird auch „die Enteignung von Grundbesitz einer ethnischen Minderheit“ als Teil der Definition benannt. In Israel sind demnach mittlerweile grundlegende Züge von Apartheid zu erkennen. So existieren beispielsweise mehr als 50 Gesetze, die palästinensisch-israelische Bürger:innen in den unterschiedlichsten Lebensbereichen diskriminieren, und Wohngebiete werden rassistisch getrennt.

Zu guter Letzt sei als Merkmal zu nennen, dass in Palästina faktisch eine reaktionäre „Einstaatenlösung“ unter Aufrechterhaltung der Fiktion einer „Zweistaatenlösung“ praktiziert wird.
Wir sprechen uns gegen ein Israel in dieser Verfassung als sich entwickelnder Apartheidstaat und imperialistischen Brückenkopf aus. Jedoch dürfen wir als konsequente Antizionist:innen nicht dabei stehen bleiben, sondern müssen eine fortschrittliche Lösung zur Überwindung des aktuellen israelischen Staates aufzeigen, von der sowohl Palästinenser:innen als auch Juden und Jüdinnen profitieren. Selbstverständlich kann es sich hierbei nicht darum handeln, den „jüdischen Staat“ durch einen „palästinensischen“ zu ersetzen. Stattdessen treten wir für einen binationalen Staat ein, in dem Juden/Jüdinnen und Palästinenser:innen gleichberechtigt leben dürfen. Jeder „Antizionismus“, der die Berechtigung von Ersteren, in Israel zu leben, leugnet, ist reaktionär und tatsächlich antisemitisch.

Es sollte bis hierher klar geworden sein, dass die zionistische Idee den Antisemitismus in der Welt weder aufheben noch den Juden und Jüdinnen einen wirklichen Schutzraum bieten kann. Im Gegenteil, sie akzeptiert durch ihre Schlussfolgerungen eine antisemitische Welt als unveränderlich gegeben. Zudem lenkt die altbekannte Gleichsetzung von Antizionismus mit Antisemitismus, welche ohnehin politisch falsch ist, vom erstarkenden, wirklichen Antisemitismus der Rechten ab. Einer Rechten, die sich letztlich in die Geschichte der Schoa einreiht und den eliminatorischen Antisemitismus stets als Keim in sich trägt. Darüber hinaus fungiert der Vorwurf des Antisemitismus als einschüchterndes und mundtot machendes Werkzeug gegen all jene, welche sich solidarisch mit antiimperialistischen Befreiungskämpfen zeigen, aber auch ganz allgemein gegen internationalistische Linke, Gewerkschafter:innen und sogar linke Reformist:innen wie beispielsweise Corbyn – ganz unabhängig von der jeweils aktuellen Thematik. Diese Gleichsetzung ist ein Instrument von antideutschen Pseudolinken bis hin zur AfD.

Gegen Antisemitismus zu kämpfen, heißt für uns, nicht nur aufzuzeigen, weshalb die zionistische Idee keine Heil bringende ist. Gerade jetzt, in einer Zeit, in der antisemitische Gewalttaten und diverse Verschwörungstheorien in Reaktion auf die vielfältigen Krisen unserer Zeit wieder zunehmen, müssen wir den Kampf gegen ihn noch stärker zuspitzen. Krisen wie die Wirtschaftskrise 2007/08, die Niederlagen in verschiedenen Klassenkampfsituationen wie dem Arabischen Frühling oder dem Widerstand gegen das europäische Spardiktat sowie die Coronapandemie führten zu einem verstärkten Rechtsruck in vielen Ländern der Welt. Das bedeutet, dass der Kampf gegen Antisemitismus für uns vor allem auch einer gegen eben diesen Rechtsruck und das kapitalistische System sein muss, welches durch seine Produktionsweise und die damit verbundenen wiederkehrenden Krisen die Grundlage für antisemitische Ideologien abgibt. Für dieses Vorhaben braucht es ein antikapitalistisches Programm, welches der Arbeiter:innenklasse einen Weg aufzeigt, wie der Kampf gegen Rassismus, Rechtsruck und Nationalismus zu einem für eine befreite Gesellschaft ausgeweitet werden kann. Es ist notwendig, dass große Teile der Arbeiter:innenklasse für ein solches Programm gewonnen werden, denn nur sie sind es, die die Macht besitzen, dem kapitalistischen System seine Grundlage zu entziehen.

Wo immer sie uns begegnen, müssen wir antisemitischen Vorurteilen und Anfeindungen entschieden entgegentreten. Im Hier und Jetzt müssen wir daher Forderungen aufstellen, die dem Antisemitismus entgegenwirken und die Widersprüche des Kapitalismus zuspitzen. Dazu gehört unter anderem die Verteidigung des Rechts auf freie Ausübung der Religion und Kultur. Ebenso müssen wir das Recht auf Schutz gegenüber Angriffen auf jüdische Einrichtungen und Privatpersonen einfordern und antirassistische Selbstverteidigungsstrukturen organisieren. Zugleich müssen wir uns dafür einsetzen, dass Fluchtwege stets offenbleiben, damit Menschen, die flüchten müssen, in einem anderen Land Schutz finden können. Die Forderung nach offenen Grenzen und vollen Staatsbürger:innenrechten für alle ist daher eine zentrale im Kampf gegen Antisemitismus und eine wichtige Antwort auf die Fragen, die globale Migrationsbewegungen heute aufwerfen. Wie wir bereits eingangs erwähnt haben, ist es unmöglich, dass ein kapitalistischer Nationalstaat vollständigen Schutz gegenüber Antisemitismus gewähren kann. Daher muss der Kampf für den Sozialismus mit der Forderung nach einem binationalen, säkularen Staat unbedingt verbunden werden.

Lasst uns den rechten Pseudokämpfen gegen Antisemitismus eine revolutionäre antikapitalistische Perspektive auf der Grundlage einer marxistischen Analyse entgegensetzen, damit sich die Schoa niemals wiederholt!

Wir hoffen, euch die soziale und politische Dimension des modernen Antisemitismus, des Zionismus sowie unsere Haltung dazu ein wenig nähergebracht zu haben. Sicherlich gibt es zu dem Thema noch weitaus mehr zu sagen. Wenn ihr neugierig geworden seid, so empfehlen wir Euch unser theoretisches Journal mit dem Namen „Revolutionärer Marxismus“, welches wir in regelmäßigen Abständen herausgeben. Das 51. Werk dieser Buchreihe trägt den Namen „Antisemitismus, Zionismus und die Frage der jüdischen Nation“ und vertieft einige Themen, die wir in dieser Folge angerissen haben. Wie bereits angekündigt, werden wir in den kommenden Wochen eine Spezialfolge zu den aktuellen Geschehnissen im Nahen Osten und der Frage, wie wir uns als Revolutionär:innen zum palästinensischen Befreiungskampf positionieren sollten, herausbringen.

Aber das in einer anderen Folge von „Lage der Klasse.“




Stoppt den Krieg gegen Gaza! Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand!

Flugblatt der Gruppe Arbeiter:innenmacht, Infomail 1235, 4. November 2023

Israel führt Krieg gegen Gaza. Seit über 14 Tagen fliegt die Armee massive Angriffe gegen Gaza, aber auch auf Stellungen im Libanon und in Syrien. Bei den Einsätzen der israelischen Luftwaffe und mit Raketen sind bisher über 9.000 Menschen getötet worden. Rund eine Million Palästinenser:innen – die Hälfte der Bewohner:innen Gazas – befindet sich auf der Flucht.

Israels Kriegsziele

Die israelische Strategie zielt auf die „Säuberung“ und Vernichtung des gesamten palästinensischen Widerstandes in Gaza. Die Hamas, aber auch sämtliche andere Organisationen, die sich zur Wehr gesetzt haben und setzen (wie Islamischer Dschihad, PFLP, DFLP), sollen ausradiert werden. Um dafür den Boden vorzubereiten, werden Städte und Infrastruktur systematisch zerstört und große Teile der Bevölkerung vertrieben.

Rücksicht auf die Zivilbevölkerung wird von Seiten des Notstandskabinetts und der Armee nur genommen, um das Gewissen der „demokratischen“ Öffentlichkeit im Westen zu beruhigen und Brüche in der Front der Unterstützer:innen im Inneren zu vermeiden. 

Israel und seine Verbündeten, allen voran alle westlichen imperialistischen Regierungen, rechtfertigen den Krieg als „Akt der Selbstverteidigung“ gegen den „Terrorismus“ der Hamas. Sie erklären ihre „bedingungslose Solidarität“ mit Israel. Die USA entsenden zwei Flugzeugträger mit Einsatzkräften ins östliche Mittelmeer. Frankreich, Deutschland, die EU und Britannien versprechen Waffenlieferungen und materielle Hilfe. Zugleich mahnen sie die Einhaltung des Völker- und Kriegsrechts an, weil sie fürchten, dass ein zu rücksichtsloses Vorgehen die ohnedies angeschlagene westliche imperialistische Dominanz im Nahen Osten weiter schwächen könnte.

Die Vorstellung, dass es sich bei dem Angriff Israels um einen Krieg zur Selbstverteidigung handle, stellt die Wirklichkeit auf den Kopf. Es geht nicht nur um die Vernichtung der Hamas und aller bewaffneten, Widerstand leistenden palästinensischen Gruppierungen. Es geht darum, den Widerstandswillen und die Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung zu brechen.

Gescheiterte Strategie

Die US-Strategie seit Trump, die der israelischen Regierung unter Netanjahu wie auch von Armeeführung und Geheimdienst setzten auf eine „Friedenslösung“ im Nahen Osten ohne Einbeziehung der Palästinenser:innen. Diesbezüglich wurde die Politik Trumps unter Biden fortgesetzt und die EU und deren führende Mächte folgten dabei den USA. Die Abkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, die Verhandlungen mit Saudi-Arabien und anderen Staaten zur längerfristigen „Normalisierung“ mit Israel schienen diese Strategie zu bestätigen.

Der israelische Staat ging im Grunde davon aus, dass er die Palästinenser:innen weiter ohne wirksamen Widerstand und großen internationalen Aufschrei marginalisieren könnte, Siedlungsbau und Landraub in der Westbank weiter voranschreiten würden und Gaza abgeriegelt und seine Bevölkerung weiter ausgehungert würde. Die Ermordung von über 300 Palästinenser:innen in der Westbank und der weitere Landraub bis zum Oktober 2023 schienen das auch zu bestätigen.

Die meisten Staaten des Nahen Ostens haben in den letzten Jahren den Weg Ägyptens und Jordaniens beschritten und faktisch ihren Frieden mit Israel gemacht. Das Schicksal der Palästinenser:innen stellte kein Hindernis für eine Intensivierung des wirtschaftlichen Austauschs dar. Auch in geostrategischer Sicht haben z. B. Israel und die Türkei als wichtige Waffenlieferant:innen und Unterstützer:innen Aserbaidschans bei der Vertreibung der Armenier:innen aus Arzach (Bergkarabach) kooperiert. Kein Wunder also, dass die ersten Erklärungen der Arabischen Liga zum Angriff der Hamas auf Israel und zum angedrohten Vergeltungsschlag sehr vorsichtig ausfielen. Bis heute rufen Ägypten, Saudi-Arabien oder Jordanien zur „Mäßigung auf allen Seiten“ oder zu einer Waffenruhe auf. Allerdings hat Saudi-Arabien die Verhandlungen mit Israel ausgesetzt.

Auch wenn zur Zeit die arabischen Staaten kein Interesse an einer direkten Konfrontation mit Israel hegen, so hat der Angriff der Hamas der zuletzt verfolgten Nahoststrategie des US-Imperialismus und seiner Verbündeten einen schweren Schlag versetzt. Die Vorstellung, den Nahen Osten unter Ausschluss der Palästinenser:innen zu befrieden, entpuppte sich als reaktionäre Illusion. Sie ist gescheitert.

Welche Alternative?

Insgesamt hat der Krieg gegen Gaza die Lage im Nahen Osten grundlegend verändert und ihn zu einem Zentrum der Instabilität gemacht. Während auf der einen Seite eine konterrevolutionäre, barbarische Vertreibung und eine Vernichtung des palästinensischen Widerstandes drohen, können auf der anderen die Unterdrückten die aktuelle Lage auch zu ihren Gunsten wenden, wenn sie die inneren Widersprüche im Lager des Zionismus und der imperialistischen Reaktion nutzen. Das erfordert wiederum, dass die Arbeiter:innenklasse als selbstständige, führende Kraft in der Solidarität mit Palästina, und damit verbunden auch in Palästina, in Erscheinung tritt.

Nur, wenn sie angesichts der Angriffe des Zionismus bedingungslos auf Seiten der Unterdrückten steht, den Widerstand trotz dessen reaktionärer politischer  Führung unterstützt und gegen die Regierungen im Westen mobilmacht, mit der Unterstützung Israels bricht und sich mit ihren Klassenbrüdern und -schwestern im globalen Süden zusammenschließt, kann sie auch als verlässliche Verbündete des palästinensischen Volkes in Erscheinung treten.

Nur dann werden die palästinensischen Massen erkennen können, dass die reaktionären arabischen und islamistischen Regime nicht ihre Verbündeten sind, wohl aber deren Arbeiter:innen und Jugend, und es eine wirkliche Alternative zur Politik und Strategie von Hamas und Fatah gibt – eine Politik, die den Kampf um nationale Befreiung mit dem für die sozialistische Revolution verbindet. Nur so wird es möglich sein, dass die palästinensische Arbeiter:innenklasse auch zur führenden Kraft des Befreiungskampfes werden kann. Und schließlich wird es nur unter der Bedingung eines massiven Widerstandes und der weltweiten Unterstützung Palästinas möglich sein, die israelische Arbeiter:innenklasse vorm Zionismus zu retten, so dass nicht nur einer politisch fortgeschrittenen antizionistischen Minderheit, sondern auch der Masse der Lohnabhängigen klar wird, dass sie der Zionismus nicht nur zu Kompliz:innen der Unterdrückung macht, sondern dass ihre Freiheit und Sicherheit unter einem Regime, das auf der Unterdrückung einer anderen Nation aufbaut, letztlich eine Schimäre sind.

Aufgaben der Arbeiter:innenbewegung

Die erste und vordringliche Aufgabe der Linken und Arbeiter:innenbewegung auf der ganzen Welt besteht darin, den palästinensischen Befreiungskampf zu unterstützen. Wir treten für die Niederlage Israels ein und solidarisieren uns mit dem Widerstand in Gaza und ganz Palästina. Zugleich verschweigen wir unsere grundlegenden Differenzen mit der reaktionären Hamas, mit Dschihad, aber auch mit der palästinensischen Linken nicht. Wir unterstützen den Befreiungskampf trotz seiner Führung und ihrer falschen Strategie, Politik und Programmatik.

Die Stellung des zionistischen Staates im Nahen Osten, seine zentrale Rolle als Statthalter westlicher imperialistischer Interessen, die enorme Hochrüstung der israelischen Armee und das Ausmaß westlicher Unterstützung bedeuten auch, dass der palästinensische Widerstand internationale Unterstützung braucht. Daher bedarf es einer internationalen Strategie, um den Kampf zum Sieg zu führen.

1. Widerstand und Befreiungskampf in Palästina

Im gegenwärtigen Krieg, im Angriff auf Gaza unterstützen wir den bewaffneten palästinensischen Widerstand. Je länger sich dieser der IDF entgegenstellen kann, desto höher wird der politische und materielle Preis für den Angriff und die Invasion.

Der Ausbruch der Hamas-geführten Kräfte aus Gaza verkörperte selbst einen legitimen Akt im nationalen Befreiungskampf. Unterdrückte haben das Recht, aus einem Territorium auszubrechen, in dem sie vom unterdrückenden Staat über Jahre inhaftiert werden, ihre Versorgung von diesem blockiert und rationiert wird, ein großer Teil der Bevölkerung zur Arbeitslosigkeit verurteilt ist, wo immer wieder Infrastruktur, Wohnungen, Sozial- und Gesundheitseinrichtungen zerstört werden.

Es ist im Kampf gegen nationale Unterdrückung natürlich legitim, die militärischen Institutionen und Einheiten der Unterdrücker:innen anzugreifen, auf Raketenbeschuss mit Raketen zu antworten. Das heißt aber nicht, dass wir allen Aktionen oder ihrer Führung unkritisch gebenüberstehen dürfen oder diese Kritik verschweigen sollen.

Als revolutionäre Marxist:innen stehen wir in entschiedener Feindschaft zur Strategie und Politik der Hamas (wie aller islamistischen Kräfte) und ihrem politischen Regime. Ebenso lehnen wir die willkürliche Tötung von oder Massaker an israelischen Zivilist:innen ab. Diese erleichtern es Zionismus und Imperialismus offenkundig, ihren Großangriff auf Gaza auch in den Augen vieler Arbeiter:innen als „Selbstverteidigung“ hinzustellen.

Aber es greift viel zu kurz, willkürliche Tötungen von Zivilist:innen nur der Hamas oder dem Islamismus anzulasten. Sie sind auch Ausdruck der viel umfassenderen, Jahrzehnte andauernden Unterdrückung, der täglichen Erfahrung des Elends, Hungers, der Entmenschlichung in Gaza durch die israelische Abriegelung. Aus der nationalen Unterdrückung wächst der Hass auf den Staat der Unterdrücker:innen und alle, die diesen mittragen oder offen unterstützen – und dazu gehört auch die große Mehrheit der israelischen Bevölkerung und der israelischen Arbeiter:innenklasse.

Der politische Kampf gegen die religiöse Rechte im Lager des palästinensischen Widerstands und die Kritik an politisch falschen oder kontraproduktiven Aktionsformen dürfen keineswegs zu einer Abwendung vom Kampf gegen die Unterdrückung führen. Heute, wo die westliche Propaganda die realen Verhältnisse auf den Kopf stellt, müssen wir klar zwischen der Gewalt der Unterdrückten und der Unterdrücker:innen unterscheiden. Nur wenn die revolutionäre Linke und die Arbeiter:innenklasse den Kampf um nationale Befreiung gegen den Zionismus und „demokratischen“ Imperialismus unterstützen, werden sie in der Lage sein, eine politische Alternative zu islamistischen Kräften aufzubauen. Nur so werden sie eine revolutionäre Partei bilden können, die den Kampf um nationale Befreiung mit dem um eine sozialistische Revolution verbindet.

Dies beinhaltet notwendig auch die Beteiligung am Befreiungskampf und militärisch koordinierte gemeinsame Aktionen. In der Westbank und Israel unterstützen wir Solidaritätsaktionen mit der Bevölkerung Gazas. Wir unterstützen Massenprotest und Streiks gegen die Besatzung. Eine neue Massenintifada ist angesagt.

Doch ist nicht nur ein gemeinsamer Kampf nötig. Die Führungen des Befreiungskampfes verfügen selbst über keine Strategie, die eine revolutionäre Lösung bringen kann. Hamas und Fatah vertreten letztlich reaktionäre bürgerliche Programme. Die palästinensische Linke vertritt eine Etappentheorie, der zufolge der Kampf um nationale Befreiung und der um eine sozialistische Umwälzung streng voneinander getrennt sind,

Diesem Programm stellen wir jenes der permanenten Revolution entgegen. Wir treten für einen gemeinsamen, binationalen, sozialistischen Staat in Palästina ein, der Palästinenser:innen wie Juden und Jüdinnen gleiche Rechte gewährt, der allen vertriebenen Palästinenser:innen das Rückkehrrecht garantiert und auf der Basis des Gemeineigentums an Land und großen Produktionsmitteln in der Lage ist, die Ansprüche zweier Nationen gerecht und demokratisch zu regeln. Ein solcher Kampf wird nicht durch Reformen erreicht werden können, sondern nur durch den revolutionären Sturz des zionistischen Staates.

In Israel und Palästina treten wir auch für die möglichst enge Einheit im Kampf mit den antizionistischen Kräften der israelischen Linken und Arbeiter:innenbewegung ein. Nur wenn die Arbeiter:innenklasse mit dem Zionismus bricht, kann sie sich auch selbst befreien.

Uns ist jedoch bewusst, dass die israelischen Lohnabhängigen über Jahrzehnte nicht nur an der Unterdrückung, Vertreibung und Überausbeutung der palästinensischen Massen teilhatten, sondern dass der Labourzionismus wie auch die „liberalen“ Zionist:innen selbst aktiv an der Vertreibung und Unterdrückung beteiligt waren und sind.

So wichtig und richtig es ist, Spaltungen und Brüche im zionistischen Lager auszunutzen und zu befördern, so dürfen wir uns keinen Illusionen über die Tiefe der Bindung der israelischen Arbeiter:innen an den Zionismus hingeben. Wir müssen uns vielmehr darüber klar sein, dass deren Masse wahrscheinlich erst unter dem Eindruck einer tiefen Krise des zionistischen kolonialistischen Projekts für einen Bruch mit dem Zionismus gewonnen werden kann. Daher ist die Stärke des palästinensischen Befreiungskampfes selbst ein zentraler Motor, um überhaupt Risse im Zionismus zu vertiefen. Die antizionistische Linke in Israel hat daher jedes Interesse am Erfolg des palästinensischen Befreiungskampfes und muss diesen unterstützen. Nur auf dieser Basis lässt sich eine wirkliche Einheit palästinensischer und jüdischer Arbeiter:innen herstellen.

2. Die Massen im Nahen Osten

In den arabischen Ländern, in der Türkei, im Iran wie in der gesamten Region muss die Arbeiter:innenklasse mit ihren Kräften die Mobilisierungen gegen Israel in Solidarität mit Palästina unterstützen. Sie muss sich dabei zugleich von reaktionären oder gänzlich verlogenen staatlichen Institutionen abgrenzen, die die Palästinafrage für reaktionäre Zwecke oder eigene geostrategische Interessen missbrauchen (z. B. Erdogan in der Türkei).

Daher müssen die Gewerkschaften und die Linke nicht nur unter eigenem Banner und mit eigenen Aktionen mobilisieren. Sie müssen auch über Demonstrationen und Protestkundgebungen hinausgehen. So sollten Transportarbeiter:innen alle Exporte nach Israel blockieren, indem sie z. B. das Beladen von Schiffen oder Flugzeugen verweigern oder deren Auslaufen oder Abflug verhindern.

Sie müssen die Offenlegung aller wirtschaftlichen und militärischen Abkommen sowie aller Geheimverträge mit Israel fordern, um so die wirkliche Kooperation ihrer angeblich propalästinensischen Regierungen offenzulegen, und den Stopp diese Kooperation erzwingen. Sie müssen für die Schließung der Militärbasen der USA und ihrer Verbündeten in der Türkei und im gesamten arabischen Raum eintreten.

Dieser Kampf gegen die verschiedenen reaktionären Regierungen muss mit dem gegen die soziale und ökonomische Krise wie gegen die mehr oder weniger unverhüllten Diktaturen verbunden werden, um so einen zweiten Arabischen Frühling einzuläuten – einen Arabischen Frühling, dessen linke und proletarische Kräfte die Lehren aus dem Scheitern des ersten Anlaufs ziehen, indem sie von Beginn an die Notwendigkeit anerkennen, eine solche Revolution permanent zu machen und nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben. Dies erfordert, in diesen Bewegungen revolutionäre Arbeiter:innenparteien aufzubauen, die für ein Programm der permanenten Revolution kämpfen und für Vereinigte Sozialistische Staaten des Nahen Ostens.

3. Die Arbeiter:innenklasse im Westen

Der Arbeiter:innenklasse in den imperialistischen Zentren Nordamerikas und Europas kommt insofern eine Schlüsselrolle zu, als diese Staaten auch die wichtigsten wirtschaftlichen und militärischen Unterstützer und Verbündeten Israels sind. Lohnabhängige in aller Welt sollten den gesamten Handel mit Israel auf dem Land-, See- und Luftweg boykottieren. Versuche, solche Aktionen oder Kundgebungen zur Unterstützung Palästinas als antisemitisch zu bezeichnen, müssen zurückgewiesen und entlarvt werden. Auf den Aufruf der palästinensischen Gewerkschaften darf nicht nur mit warmen Worten, sondern muss mit Taten reagiert werden.

In diesen Staaten kämpfen wir gegen jede weitere militärische, finanzielle und ökonomische Unterstützung des zionistischen Staates und seiner Angriffsmaschinerie. Wir fordern die Offenlegung aller Verträge, wir kämpfen für den Stopp aller Rüstungsexporte und den Rückzug aller entsandten Streitkräfte aus dem Nahen Osten und von der Mittelmeerküste, die als Rückendeckung für Israel gegenüber der Hisbollah oder anderen dienen.

In diesen Ländern kämpfen wir gegen die massive rassistische antipalästinensische und antimuslimische Hetze. Wir kämpfen gegen die Kriminalisierung der Solidaritätsbewegung mit Palästina, wir fordern die Entkriminalisierung aller palästinensischen Organisationen und Vereine und die Streichung der sog. Terrorlisten der EU und USA.

Die Solidarität mit Palästina erfordert in allen westlichen Ländern auch einen Kampf, um die Arbeiter:innenklasse über die Lügen aufzuklären und die wahren Ursachen des Krieges und die Berechtigung des Befreiungskampfes darzulegen.

Die berechtigte Trauer und das Mitgefühl mit den zivilen jüdischen Opfern des Angriffs aus Gaza werden zur ideologischen Vorbereitung auf die Unterstützung eines Krieges gegen die dortige Bevölkerung missbraucht, der zur Vernichtung jeden Widerstandes und zur Massenvertreibung führen soll. Daher auch die gebetsmühlenartige Beteuerung, dass die „Solidarität mit Israel“ auch dann nicht nachlassen dürfe, wenn „andere Bilder“ aus Gaza kommen. Ganz nebenbei erklärt der Deutsche Bundestag auch gleich seine Unterstützung für Militärschläge im Libanon oder in Syrien und verstärkten Druck gegen den Iran.

Dieser Hetze und Kriegstreiberei, der offiziellen „öffentlichen“ Meinung, der sich fast alle politischen Parteien der „Mitte“ – Konservative, Liberale, Grüne, Sozialdemokratie – wie auch jene der extremen Rechten, aber selbst die meisten linksreformistischen Organisationen und die Führungen der Gewerkschaften anschließen, müssen wir entschlossen entgegentreten.

Dies ist ein notwendiger Teil des Kampfes für eine breite, auch von der Arbeiter:innenklasse in Europa und Nordamerika unterstützte Solidaritätsbewegung mit Palästina. Daher müssen wir die Lügen der Herrschenden entlarven, um einen Stimmungsumschwung in der Arbeiter:innenklasse, insbesondere in den Gewerkschaften herbeizuführen. Das wird nur möglich sein, wenn wir der Hetze durch die Medien, aber auch der sozialchauvinistischen Politik der Führungen von Gewerkschaften, SPD und Linkspartei offen entgegentreten und ihre Unterstützung der Angriffe auf Gaza anprangern. Nur so – wenn wir Solidarität mit Palästina und den Kampf gegen den Chauvinismus und Rassismus der Führungen der Arbeiter:innenbewegung miteinander verbinden – kann und wird es möglich sein, eine gemeinsame Solidaritätsbewegung für Palästina aufzubauen, die sich auf die Migrant:innen und auf die fortschrittlichen und internationalistischen Teile der Arbeiter:innenklasse stützt.

  • Sofortige Einstellung der israelischen Bombardierung und der IDF-Tötungen im Westjordanland!

  • Öffnung der Grenzübergänge nach Gaza für Treibstoff, Lebensmittel, Wasser, medizinische Hilfe und die Medien!

  • Ein Ende der westlichen Waffenlieferungen an Israel, Abzug der Kriegsschiffe aus der Region!

  • Arbeiter:innenaktionen zur Beendigung der wirtschaftlichen und militärischen Hilfe für Israel!

  • Sieg des palästinensischen Widerstands!

  • Für ein vereinigtes, säkulares, sozialistisches Palästina mit Gleichheit für alle seine Bürger:innen, israelische wie palästinensische, als Teil einer sozialistischen Föderation des Nahen Ostens!



Hamas: nur eine weitere terroristische Organisation?

Jeremy Dewar, Infomail 1235, 1. November 2023

Die Hamas wird von den USA, Kanada, der EU, Deutschland, dem Vereinigten Königreich, Japan und Australien als „terroristische Organisation“ eingestuft. Andere Länder, vor allem Saudi-Arabien, haben ihren militärischen Flügel verboten.

Die rechte Politikerin und britische Innenministerin Suella Braverman erklärte, die Organisation lebe einen „mittelalterlichen Antisemitismus“ und sei „dem Islamischen Staat (ISIS) ebenbürtig“. Dies wird von der Labour-Partei und sogar von einigen Linken, die die Organisation als „faschistisch“ bezeichnen, aufgegriffen.

Vieles soll die Menschen davon abhalten, sich näher mit der Hamas, ihrer Ideologie und Praxis zu befassen. Insbesondere sollen wir pauschal die Botschaft schlucken, dass die Hamas den Gazastreifen diktatorisch regiert und ihre Beziehung zu den Palästinenser:innen im Gazastreifen einseitig und ausbeuterisch ist.

Die Wahrheit ist vielschichtiger und offenbart eine Massenorganisation mit tiefen Wurzeln in der palästinensischen Bevölkerung.

Ursprünge und Ideologie

Die Hamas geht auf eine Initiative des palästinensischen Ablegers der ägyptischen Muslimbruderschaft zurück, der Anfang der 1980er Jahre zu Zwecken der Bildung, der religiösen Unterweisung und sozialen Wohlfahrt gegründet wurde. Sie wurde im Dezember 1987 gegründet, fünf Tage nachdem die erste Intifada gegen die israelische Besatzung ausbrach. Hamas ist ein Akronym für Islamische Widerstandsbewegung, bedeutet aber auf Arabisch „Begeisterung“.

Die israelischen Behörden duldeten ihre Aktivitäten zunächst als konservativ-religiöses Gegengewicht zu den säkularen nationalistischen und „marxistischen“ Befreiungsbewegungen und Guerillaorganisationen. Sie war bei weitem nicht die erste bewaffnete palästinensische Widerstandsorganisation. Die säkulare Fatah unter Jassir Arafat und die marxistisch-leninistische Volksfront für die Befreiung Palästinas unter der Führung von George Habasch waren zwischen dem Krieg von 1967 und der Intifada von 1987 die dominierenden Kräfte in der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO). Anfang der 1980er Jahre entstand eine weitere islamistische Gruppe, der Islamische Dschihad.

Nachdem ihre Kämpfer:innen 1982 aus dem Südlibanon vertrieben worden waren, gab die PLO den Guerillakampf auf, den sie in den 1960er und 1970er Jahren geführt hatte, und ihr Prestige sank. Sie beteiligte sich an den Abkommen von 1992, erkannte schließlich den Staat Israel an und verurteilte den „Terrorismus“ als Preis für die Gründung der neuen Palästinensischen Autonomiebehörde. Schon bald verstrickte sie sich in Korruption und Zusammenarbeit mit der israelischen Unterdrückung im Westjordanland und im Gazastreifen.

Nachdem Arafat sowohl den bewaffneten Kampf als auch das Ziel eines einzigen säkularen Staates aufgegeben hatte, entschied er sich für den Schatten der Macht in einem zersplitterten Staat im Westjordanland, der immer noch unter israelischer Militärkontrolle stand. Damit überließ er der Hamas den militanten Widerstand als politisches Geschenk.

Dies wurde durch die Tatsache begünstigt, dass die israelischen Unterdrücker:innen weiterhin an der Schraube drehten, auch bei der Palästinensischen Autonomiebehörde. Die jungen Palästinenser:innen verlangten nach einer wirksamen Widerstandsbewegung, die bereit und in der Lage ist, sich mit der Waffe in der Hand gegen die mörderische Unterdrückung der Proteste der Bevölkerung durch die IDF zu wehren.

Die Gründungscharta der Hamas aus dem Jahr 1988 erklärte es zur Pflicht aller Muslim:innen auf der ganzen Welt, den palästinensischen Waqf (heiliges Gebiet) „vom Fluss bis zum Meer“ zu verteidigen und zu befreien. Sie benannte „die Juden/Jüdinnen“ als Feind:innen und erklärte, dass nur eine kleine Anzahl von ihnen bleiben dürfe. Ihr Ziel ist eine islamische Gesellschaft, die religiös und sozial konservativ ist. In dieser Hinsicht stellt ihre Ideologie ein Spiegelbild der zionistischen Hardlinerdoktrin dar.

Somit ist die Ideologie der Hamas eine durch und durch reaktionäre, antisemitische Utopie. Ihre Gründungscharta vertritt alle antisemitischen Verschwörungstheorien, wonach die Juden/Jüdinnen hinter jedem Krieg und jeder Revolution stecken, und führt als Beweis die berüchtigte Fälschung der zaristischen Geheimpolizei, die Protokolle der Weisen von Zion, an. Obwohl sich Sprecher:innen der Hamas davon distanziert haben, wurde es nie aufgehoben und bleibt eine mächtige Waffe in den Händen Israels und seiner Unterstützer:innen.

Denjenigen, die behaupten, die Hamas sei faschistisch und unterscheide sich nicht von ISIS, muss jedoch eine Reihe von Punkten entgegengehalten werden. Erstens ist die Hamas im Gegensatz zu ISIS eine Massenorganisation, die durch ihre Schulen und Universitäten, ihre Krankenhäuser und Wohlfahrtsprogramme und ihre Tausende von Widerstandskämpfer:innen tief in der palästinensischen Gesellschaft verwurzelt ist, insbesondere im Gazastreifen.

ISIS gehört zum takfirischen Zweig des Islamismus, der andere Muslim:innen als Abtrünnige betrachtet, gegen die ein terroristischer Krieg geführt werden kann. Folglich glaubt er daran, den Islam „von oben“ aufzuerlegen, unabhängig von den Wünschen der Bevölkerung. Die Hamas hingegen glaubt an eine Islamisierung „von unten“ und hat bei vielen Gelegenheiten auf die Bedürfnisse und Bestrebungen ihrer Basis reagiert.

In den seltenen Fällen, in denen lokale Hamaskommandeur:innen versucht haben, strenge islamische Bekleidungsvorschriften durchzusetzen, sind diese immer gescheitert und haben fast nie den Segen der Führung erhalten. Vielmehr hat sie ihre Vision als an das historische Kalifat angelehnt beschrieben, in dem christliche und jüdische Gemeinschaften toleriert wurden.

Weder ihr Sozialsystem noch ihre Korruptionsfreiheit sind jedoch der eigentliche Grund für die Unterstützung der Massen. Vielmehr ist es ihr Ruf der „Standhaftigkeit“ bei der Verfolgung der ursprünglichen gemeinsamen Ziele aller palästinensischen Bewegungen, einschließlich des Rechts auf Rückkehr für alle 1948 und 1967 Vertriebenen und ihre Nachkommen. Dennoch ist ihre Bilanz nicht ganz so kompromisslos, wie es den Anschein haben mag, und der Grund dafür ist ihre Abhängigkeit von verschiedenen Staaten der arabischen und islamischen Welt.

Kompromisse seit Oslo

Natürlich weigerte sich die Hamas, an den Gesprächen teilzunehmen, die zu den Osloer Verträgen führten, weil dies die Anerkennung des Existenzrechts Israels bedeuten würde. Aber schon damals gab es in ihren Reihen und ihrer Führung eine Debatte über die Teilnahme, da die Gespräche von den Palästinenser:innen, die eine Art von Staatlichkeit anstrebten, damals massiv unterstützt wurden. In den folgenden Jahren wurde weiter darüber diskutiert, ob man Israel anerkennen und eine Hudna (Waffenstillstand) auf der Grundlage eines vorübergehenden palästinensischen Staates in den Grenzen von 1948 mit Jerusalem als Hauptstadt, dem Abzug der israelischen Truppen und dem Abbau der Siedlungen vereinbaren sollte.

Obwohl sie sich bei den Präsidentschaftswahlen 2005, die Mahmud Abbas von der Fatah gewann, der Stimme enthielt, kandidierte die Hamas bei den allgemeinen palästinensischen Wahlen 2006 und erlangte eine Mehrheit in der Legislative und die Kontrolle über den Gazastreifen. In ihrem Wahlprogramm verzichtete sie auf die antisemitische Sprache ihrer Charta (ohne sie zu verleugnen) und erklärte den zionistischen Staat Israel und nicht „die Juden/Jüdinnen“ zum Feind. Außerdem erkannte sie ihn faktisch an.

Unmittelbar nach ihrem Wahlsieg stellten die „demokratischen“ imperialistischen Mächte USA und EU die Finanzierung der allgemeinen Palästinensischen Autonomiebehörde ein und leiteten alle Hilfen über das Büro von Abbas weiter. Die Versuche der Hamas, eine Einheitsregierung zu bilden, scheiterten, was zum so genannten Bruderkrieg von 2007 führte, der damit endete, dass die Fatahkräfte aus dem Gazastreifen vertrieben wurden und die Hamas den Streifen beherrschte, den Israel 2005 geräumt hatte, um ihn noch stärker zu blockieren.

Zwei weitere Kriege mit Israel in den Jahren 2008 – 2009 (Operation Gegossenes Blei) und 2014 (Operation Schutzkeil) sowie Einfälle im Jahr 2021 führten zur Zerstörung eines Großteils der Infrastruktur des Gazastreifens. In der Zwischenzeit haben Israels Blockade und das Verbot der Organisation als „terroristisch“ durch den westlichen Imperialismus versucht, die Hamas zu isolieren und ruinieren. Heute sind nur noch der Iran und Katar bereit, ihre Führung aufzunehmen und ihr Hilfe und diplomatische Dienste zukommen zu lassen.

Schlussfolgerung

Der fundamentalistische rechte Flügel Israels, der unter den Regierungen von Benny Gantz und Benjamin Netanjahu gestärkt wurde, bleibt mit der unerschütterlichen Unterstützung durch die USA, sowohl unter Trump als auch unter Biden, die entscheidende Kraft in Israel-Palästina.

Es stimmt nicht, dass die Hamas darauf nur mit Raketen geantwortet hat. In den Jahren 2018 – 2019 kam es zu Massenprotesten entlang der Grenze zum Gazastreifen; israelische Scharfschütz:innen töteten 190 unbewaffnete Demonstrant:innen und verletzten Tausende. Dann, im Jahr 2020, brach die sogenannte Dritte Intifada mit Massendemonstrationen in den Flüchtlingslagern und wichtigsten Städten des Westjordanlandes aus. Natürlich wurde auch diese von den IDF unterdrückt. Im Jahr 2021 kam es zu einem palästinensischen Generalstreik.

Bewaffnete rechte Siedler:innen mit Unterstützung durch die IDF machten das Jahr 2022 zum blutigsten Jahr im Westjordanland seit Jahren, als sie ihre Kontrolle über das Land brutal ausweiteten. Selbst die völlig friedliche BDS-Kampagne wird in westlichen Ländern verboten, während Kritik an Israel unterdrückt oder als „antisemitisch“ stigmatisiert wird.

Kein Wunder, dass der Ruf nach bewaffnetem Widerstand immer lauter wird. Der Aufschwung der Bewegung Löwengrube im Westjordanland in den letzten zwei Jahren (mit Beteiligung der Hamas) spiegelt diese Realität wider. Und deshalb wird der Widerstand auch dann weitergehen und bewaffnet sein, wenn die Infrastruktur der Hamas im Gazastreifen in diesem Krieg zerstört wird.

Der Ausbruch vom 7. Oktober mag den Plan der USA, Israels und Saudi-Arabiens zur „Normalisierung“ der Beziehungen und zur Wiederherstellung eines größeren Einflusses der USA in der Region gestoppt haben, aber das bleibt ihr Ziel. Die Aktion ermöglichte es rivalisierenden zionistischen Parteiführer:innen auch, ihre Reihen zu schließen und die israelische Bevölkerung zu vereinen, gerade als sich die schwersten Spaltungen in der Geschichte des Staates abzeichneten. Schlimmer noch, sie gab den Zionist:innen Deckung für ihre rachsüchtigen Vergeltungsmaßnahmen und lieferte einen Vorwand, um noch mehr Palästinenser:innen im Westjordanland aus ihren Häusern zu vertreiben, ja sogar die gesamte Bevölkerung zu verjagen, was das erklärte Ziel einiger Mitglieder der Regierung Netanjahu ist.

In den Fehlern der Hamas zeigt sich auch der Fehler im Programm des palästinensischen bürgerlichen Nationalismus, ob säkular oder islamistisch. Auch wenn es die dringenden Bedürfnisse der am meisten unterdrückten Menschen zum Ausdruck bringt, ist es als Strategie auf die Unterstützung durch benachbarte Regime angewiesen, die es dann für ihre eigenen Zwecke manipulieren. Im Grunde hat die Hamas die fatale stalinistische Etappentheorie, die sich für die verschiedenen PLO-Fraktionen als Sackgasse erwies, nicht überwunden. Stattdessen hat sie ihr lediglich einen islamistischen Anstrich verpasst und die „Volksfront“ durch eine reaktionäre klerikale Diktatur ersetzt.

Nichtsdestotrotz müssen alle Sozialist:innen und konsequenten Demokrat:innen den palästinensischen Widerstand gegen die IDF unterstützen, sofern sie sich der zionistischen Besatzung und dem Apartheidstaat widersetzt. Aber wir können weder das soziale und politische Programm der Hamas noch ihre Kampfmethoden unterstützen, weder eine elitäre Guerillastrategie noch Massaker an hilflosen israelischen Zivilist:innen.

Echte Solidarität mit Palästina bedeutet, für eine radikal andere Strategie einzutreten, deren Elemente sich in den drei Intifadas gezeigt haben: Mobilisierungen mit bewaffneter Selbstverteidigung und Appelle an die umliegende und internationale Arbeiter:innenklasse, sich gegen Israel und den Versuch des Westens zu erheben, die Hamas von der Landkarte zu tilgen, womit sie jede Form des Widerstands meinen, wenn nicht gar das palästinensische Volk als Ganzes.

Wir fordern die Aufhebung der Gesetze, die die Hamas als terroristische Organisation etikettieren. Israel ist der eigentliche Massenterrorist, wie wir heute sehen können. Die riesigen weltweiten Demonstrationen zeigen die breite Unterstützung der Bevölkerung für Gaza und die palästinensische Sache. Diese Mobilisierungen müssen zu direkten Aktionen übergehen, die den Waffen- und Handelsverkehr mit Israel blockieren, einschließlich Streiks der Gewerkschaften, um die israelfreundlichen Regierungen und Politiker:innen zu zwingen, sich aus dem Gazastreifen zurückzuziehen und die Einfuhr von Lebensmitteln, Treibstoff, Unterkünften, medizinischer Ausrüstung und Hilfsgütern zu ermöglichen. Sie müssen die Forderung nach einer dauerhaften Aufhebung der jahrzehntelangen Belagerung des Gazastreifens und dem Abzug nicht nur der IDF, sondern auch der Kriegsschiffe und Flugzeuge der USA und Großbritanniens beinhalten.

Diese unmittelbaren und strategischen Fragen unterstreichen die Notwendigkeit einer internationalen Partei der Arbeiter:innenklasse, die die Kräfte in Palästina, den umliegenden Ländern des Nahen Ostens und innerhalb Israels selbst vereint, egal wie weit entfernt Letzteres im Moment auch erscheinen mag. Bewaffnet mit der Strategie der permanenten Revolution und der Taktik der Massenaktion können Revolutionär:innen damit beginnen, die Führungskrise zu lösen, die so viele Niederlagen und so viel Leid nicht nur in Palästina, sondern in allen umliegenden Ländern verursacht hat.




Resolution zum Krieg gegen Gaza

Internationales Exekutivkomitee der Liga für die Fünfte International, Infomail 1235, 26. Oktober 2023

Israel führt Krieg gegen Gaza. Als Reaktion auf die Angriffe vom 7. Oktober droht es mit blutiger Rache. Seit über 14 Tagen fliegt die Armee massive Angriffe gegen Gaza, aber auch auf Stellungen im Libanon und Syrien. In der Westbank wurden Palästinenser:innen, die sich mit Gaza solidarisieren, umgebracht – bisher über 100. Bei den Einsätzen der israelischen Luftwaffe und mit Raketen sind bisher über 6.000 Menschen in Gaza getötet worden. Rund eine Million Palästinenser:innen – die Hälfte der Bewohner:innen der Gazastreifens – befindet sich auf der Flucht nach Süden. Israel hat tagelang die Versorgung mit Wasser, Medikamenten und Energie unterbrochen. Die begrenzte Zahl LKWs, die den Grenzübergang Rafah passieren dürfen, ist lt. UNO total unangemessen niedrig. Die Bevölkerung Gazas wird faktisch ausgehungert und Krankenhäusern die Stromlieferung verweigert, die für Operationen an einer zunehmenden Zahl von Opfern benötigt wird. Eine humanitäre Katastrophe findet vor den Augen der Weltöffentlichkeit statt.

Dabei stehen wir erst am Beginn dessen, was droht. Eine Bodeninvasion der IDF steht bevor. Die israelische Regierung und der Generalstab verkündeten die größte Mobilisierung der Armee in der Geschichte des Landes. 360.000 Reservist:innen wurden einberufen. Ihre Aufgabe: Hamas vernichten, Gaza von „Terrorist:innen“ und allen, die Widerstand leisten, „säubern“. Ganzen Städten und der Infrastruktur droht Zerstörung. Hunderte Panzer und Artilleriefahrzeuge, Zehntausende Soldat:innen machen sich zum Sturm auf Gaza bereit, dessen Norden schon jetzt weitgehend dem Erdboden gleichgemacht wurde.

Angesichts dieser nationalistischen Mobilisierung treten die Differenzen zwischen Regierung und Opposition im zionistischen Lager zurück. Der Regierung der nationalen Einheit und einem fünfköpfigen Kriegskabinett aus Vertreter:innen von Regierung und Opposition wurden weitgehend unbeschränkte Vollmachten eingeräumt.

Israels Kriegsziele und deren Widersprüche

Die israelische Strategie zielt auf die „Säuberung“ und Vernichtung des gesamten palästinensischen Widerstandes in Gaza. Die Hamas, aber auch sämtliche andere Organisationen, die sich zur Wehr gesetzt haben und setzen (Islamischer Dschihad, PFLP, DFLP), sollen ausradiert werden. Um dafür den Boden vorzubereiten, werden Städte und Infrastruktur systematisch zerstört und große Teile der Bevölkerung vertrieben. Diese sollen den Norden Gazas verlassen oder es drohen „verheerende humanitäre Konsequenzen“ – mit anderen Worten der Mord an Tausenden und Abertausenden. Danach sollen die Bodentruppen folgen und der Süden des Landes „gesäubert“ werden.

Ältere Menschen und Schwerkranke werden nicht in der Lage sein zu gehen.  Die Krankenhausbehörden sagen, dass es unmöglich sein wird, ihre Patient:innen und die Opfer der anhaltenden Bombardierung über die verkraterten und durch Ruinen blockierten Straßen zu transportieren, die immer noch unter Luftangriffen stehen. Die Verdoppelung der Bevölkerungsdichte in einem Gebiet, das ohnehin schon am stärksten überbevölkert ist und in dem es weder Ersatzunterkünfte noch Wasser- oder Treibstoffvorräte gibt, ist zumindest eine kollektive Bestrafung. Wenn sie in vollem Umfang durchgeführt wird, wäre es korrekter, dies als Völkermord zu bezeichnen.

Rücksicht auf die Zivilbevölkerung wird von Seiten der Notstandskabinetts und der Armee nur genommen, um das Gewissen der „demokratischen“ Öffentlichkeit im Westen zu beruhigen und Brüche in der Front der Unterstützer:innen im Inneren zu vermeiden. Die internationalen Unterstützer:innen Israels, allen voran die USA, Britannien und die führenden EU-Mächte, Deutschland und Frankreich, fürchten zudem, dass eine lange, extrem barbarische Kampagne gegen die Bevölkerung Gazas im gesamten Nahen Osten einen Flächenbrand entfachen könnte. Sie fürchten, dass die reaktionären Verbündeten in den arabischen Staaten (Saudi-Arabien, Ägypten und die Golfölmonarchien) ihre faktische Tolerierung der israelischen Politik der letzten Jahre nicht mehr aufrechterhalten könnten und der westliche imperialistische Einfluss weiter geschwächt werden würde.

Israel und seine Verbündeten, allen voran alle westlichen imperialistischen Regierungen, rechtfertigen den Krieg als „Akt der Selbstverteidigung“ gegen den „Terrorismus“ der Hamas. Sie erklären ihre „bedingungslose Solidarität“ mit Israel. Die USA entsenden zwei Flugzeugträger mit Einsatzkräften ins östliche Mittelmeer. Frankreich, Deutschland, die EU und Britannien versprechen Extrawaffenlieferungen und materielle Hilfe. Zugleich mahnen Biden, Scholz und die anderen Staats- und Regierungschef:innen der westlichen Welt die Einhaltung des Völker- und Kriegsrechts ein, weil sie fürchten, dass eine zu rücksichtslose Misshandlung auch die ohnedies angeschlagene westliche imperialistische Dominanz im Nahen Osten weiter schwächen könnte.

Die Vorstellung, dass es sich bei dem Angriff Israels um einen Krieg zur Selbstverteidigung handle, stellt die Wirklichkeit auf den Kopf. Es geht nicht nur um die Vernichtung der Hamas und aller bewaffneten, Widerstand leistenden palästinensischen Gruppierungen. Es geht darum, den Widerstandswillen und die Widerstandsfähigkeit der ganzen palästinensischen Nation zu brechen. Nur zu gut wissen die Vertreter:innen des zionistischen Regimes und dessen imperialistischen Verbündete, dass Jahrzehnte der Repression, von Bombardements, Militäroperationen diesen nicht zu brechen vermochten, auch wenn sie die Lage der Palästinenser:innen immer mehr verschlechterten, diese immer mehr marginalisierten und die Vertreibung der Bevölkerung seit Gründung des Staates Israel fortsetzen.

Daher drängt extrem rechte Flügel der israelischen Führung auf die Vertreibung der Bevölkerung Gazas, auf die „vollständige Säuberung“, auf Massenexodus – und ist dafür bereit, den Tod Tausender und Abertausender, ja ein Pogrom an der gesamten Bevölkerung in Kauf zu nehmen. Die Notstandsregierung und die Armeeführung haben sich zumindest teilweise diese Rhetorik zu eigen gemacht. Sie entmenschlichen die Palästinenser:innen rassistisch als „menschliche Tiere“, die wie wilde Tiere behandelt werden müssen. Allen, die nicht flüchten, drohen sie mit „verheerenden humanitären Konsequenzen“. Gaza soll lt. Ihren Aussagen nach der Militäroperation nicht mehr wieder entstehen, wie es einmal war.

Unklar ist jedoch, wie das genau geschehen soll. Eine Bodeninvasion und ein unter Umständen langwieriger Guerillakampf gegen die von Hamas geführten Kämpfer:innen werden die kommenden Tage, Wochen, wenn nicht Monate andauern. Die israelische Regierung hat erklärt, dass sie beabsichtigt, den Gazastreifen vollständig vom übrigen Palästina abzuschneiden. Wie dieser Kampf endet, welche Seite politisch siegt und welche „Ordnung“ in Gaza errichtet, hängt natürlich auch von der Entschlossenheit des Widerstandes wie auch von der Rücksichtslosigkeit des zionistischen Angriffs ab. Geht es nach der israelischen Rechten und großen Teilen des Kabinetts, die sich auf sie stützen, so kann es dort bis zur Massenvernichtung an den Palästinenser:innen gehen. Im Moment gehen die Äußerungen der Notstandsregierung in diese Richtung, aber das darf nicht drüber hinwegtäuschen, dass es keine Einheitlichkeit im zionistischen Lager bezüglich der längerfristigen Kriegsziele und der zukünftigen „Neuordnung“ Gazas gibt.

Daher werden der israelischen Rechten auch Grenzen im Inneren gesetzt. Ein Flügel im zionistischen Lager will einen gewissen Restbestand der „demokratischen“ Herrschaftsform in Israel sichern (und zwar nicht nur gegenüber Netanjahu), sondern auch palästinensische Kräfte wie die Fatah und die PNA (Palästinensische Nationalbehörde) in Zukunft als ihren verlängerten Arm integrieren.

Vor allem aber drängen die internationalen Verbündeten Israels darauf, dass es zu keiner dauerhaften Besetzung Gazas kommt, dessen zukünftige Verwaltung formell von palästinensischen Kräften übernommen werden soll. Diese Bedingungen sind zugleich auch wichtig, um Saudi-Arabien, Ägypten und andere arabische Staaten als Verbündete zu halten und auch für eine etwaige Wiederaufnahme von Gesprächen am Ende der Gazaoperation mit zu gewinnen. Das setzt aber zumindest voraus, eine Scheinlösung der „Palästinafrage“ zu verkaufen, obwohl Israels unerbittlicher Ausbau der Siedlungen dies praktisch unmöglich gemacht hat.

Auswirkungen und Ursachen des Angriffs

Der Angriff der von Hamas geführten palästinensischen Kräfte aus Gaza hat die Palästinafrage wieder ins Zentrum der Politik im Nahen Osten und auch der internationalen Politik gerückt.

Die US-Strategie seit Trump, die der israelischen Regierung unter Netanjahu wie auch von Armeeführung und Geheimdienst setzten auf eine „Friedenslösung“ im Nahen Osten ohne Einbeziehung der Palästinenser:innen. Diesbezüglich wurde die Politik Trumps unter Biden fortgesetzt und die EU und deren führende Mächte folgten dabei den USA. Die Abkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, die Verhandlungen mit Saudi-Arabien und anderen Staaten zur längerfristigen „Normalisierung“ mit Israel schienen diese Strategie zu bestätigen.

Der israelische Staat ging im Grunde davon aus, dass er die Palästinenser:innen weiter ohne wirksamen Widerstand und großen internationalen Aufschrei marginalisieren könnte, Siedlungsbau und Landraub in der Westbank weiter voranschreiten würden und Gaza abgeriegelt und seine Bevölkerung weiter ausgehungert würde. Die Ermordung von über 300 Palästinenser:innen in der Westbank und der weitere Landraub bis zum Oktober 2023 schienen das auch zu bestätigen. Die Proteste des Iran und seiner Verbündeten waren einkalkuliert vorsichtig. Weder das Regime in Teheran noch die Hisbollah hatten ein Interesse an einer wirklichen militärischen Konfrontation.

Die meisten Staaten des Nahen Ostens haben in den letzten Jahren den Weg Ägyptens und Jordaniens beschritten und faktisch ihren Frieden mit Israel gemacht. Das Schicksal der Palästinenser:innen stellte kein Hindernis für eine Intensivierung des wirtschaftlichen Austauschs dar. Auch in geostrategischer Sicht haben z. B. Israel und die Türkei als wichtige Waffenlieferant:innen und Unterstützer:innen Aserbaidschans bei der Vertreibung der Armenier:innen aus Bergkarabach (Arzach) kooperiert. Kein Wunder also, dass die ersten Erklärungen der Arabischen Liga zum Angriff der Hamas auf Israel und zum angedrohten Vergeltungsschlag sehr vorsichtig ausfielen. Bis heute rufen Ägypten, Saudi-Arabien oder Jordanien zur „Mäßigung auf allen Seiten“ oder zu einer Waffenruhe auf. Allerdings hat Saudi-Arabien die Verhandlungen mit Israel ausgesetzt.

Auch wenn zur Zeit die arabischen Staaten kein Interesse an einer direkten Konfrontation mit Israel hegen, so hat der Angriff der Hamas der zuletzt verfolgten Nahoststrategie des US-Imperialismus und seiner Verbündeten einen schweren Schlag versetzt. Die Vorstellung, den Nahen Osten unter Ausschluss der Palästinenser:innen zu befrieden, entpuppte sich als reaktionäre Illusion. Sie ist gescheitert.

Der Angriff der Hamas war sicherlich durch mehrere Faktoren motiviert und auch Resultat einer Entscheidung des militärischen Flügel gegen den politischen, der in Katar sitzt. Dieser fürchtete die absehbare vernichtende Reaktion Israels. Doch die immer größere Marginalisierung der Palästinenser:innen in der Westbank und in Gaza in den letzten Jahren stellte die Hamas wie den gesamten Widerstand auch vor die prekäre Alternative, entweder immer mehr mit dem Rücken an die Wand gedrückt zu werden oder einen Ausbruch aus dem Freiluftgefängnis Gaza zu wagen, wohl wissend, dass der Zionismus in jedem Fall mit massiven Angriffen reagieren würde. Der Ausbruch war also wesentlich eine Reaktion auf die immer größere Isolierung und den drohenden Wegfall vorgeblicher Verbündeter der Palästinenser:innen wie Saudi-Arabien.

Insgesamt hat der Krieg gegen Gaza die Lage im Nahen Osten grundlegend verändert und ihn zu einem Zentrum der Instabilität gemacht. Während auf der einen Seite eine konterrevolutionäre, barbarische Vertreibung aus Gaza und eine Vernichtung des palästinensischen Widerstandes drohen, können auf der anderen die Unterdrückten die aktuelle Lage auch zu ihren Gunsten wenden, wenn sie die inneren Widersprüche im Lager des Zionismus und der imperialistischen Reaktion nutzen. Das erfordert wiederum, dass die Arbeiter:innenklasse als selbstständige, führende Kraft in der Solidarität mit Palästina, und damit verbunden auch in Palästina, in Erscheinung tritt.

Nur, wenn sie angesichts der Angriffe des Zionismus bedingungslos auf Seiten der Unterdrückten steht, den Widerstand trotz dessen reaktionärer politischer  Führung unterstützt und gegen die Regierungen im Westen mobilmacht, mit der Unterstützung Israels bricht und sich mit ihren Klassenbrüdern und Schwestern im globalen Süden zusammenschließt, kann sie auch als verlässliche Verbündete des palästinensischen Volkes in Erscheinung treten.

Nur dann werden die palästinensischen Massen erkennen können, dass die reaktionären arabischen und islamistischen Regime nicht ihre Verbündeten sind, wohl aber deren Arbeiter:innen und Jugend, und es eine wirkliche Alternative zur Politik und Strategie von Hamas und Fatah gibt – eine Politik, die den Kampf um nationale Befreiung mit dem für die sozialistische Revolution verbindet. Nur so wird es möglich sein, dass die palästinensische Arbeiter:innenklasse auch zur führenden Kraft des Befreiungskampfes werden kann. Und schließlich wird es nur unter der Bedingung eines massiven Widerstandes und der weltweiten Unterstützung Palästinas möglich sein, die israelische Arbeiter:innenklasse vorm Zionismus zu retten, so dass nicht nur einer politisch fortgeschrittenen antizionistischen Minderheit, sondern auch der Masse der Lohnabhängigen klar wird, dass sie der Zionismus nicht nur zu Kompliz:innen der Unterdrückung macht, sondern dass ihre Freiheit und Sicherheit unter einem Regime, das auf der Unterdrückung einer anderen Nation aufbaut, letztlich eine Schimäre ist.

Die internationale Reaktion

Die internationalen Reaktionen auf den Ausbruch der Hamas und auf den Krieg gegen Gaza könnten nicht unterschiedlicher ausgefallen sein. Während die USA, Britannien, Japan und die EU-Mächte Israel unterstützen, rufen die imperialistischen Rivalen Russland und China ebenso wie die meisten Staaten des globalen Südens zum Waffenstillstand und zu humanitärer Hilfe auf. Natürlich verurteilen auch sie mehr oder weniger offen Hamas und den palästinensischen Widerstand. Sie wollen zum Vorkriegszustand zurückkehren.

Natürlich hat die Politik Moskaus oder Peking nichts mit Solidarität mit Palästina zu tun. Sie verfolgen nur eigene, dem Westen entgegengesetzte imperialistische Interessen und hoffen so, ihre geostrategischen Positionen zu stärken. Die verschiedenen Regionalmächte in der Region lehnen den Angriff Israels offener oder verdeckter ab, rufen zu „Mäßigung“ auf, weil sie damit sowohl eigene Interessen verfolgen, aber auch weil sie eine Destabilisierung in ihren eigenen Ländern und damit ihrer eigenen Herrschaft fürchten. Reaktionäre islamistische Regime wie der Iran oder reaktionäre islamistische Bewegungen inszenieren sich außerdem als einzig konsequente Verbündete der Palästinenser:innen. Dass dabei offen Antisemitismus propagieren, muss ebenso entlarvt werden wie ihr Versuch, von ihrer eigenen Diktatur und der Unterstützung konterrevolutionärer Regime z. B. in Syrien demagogisch abzulenken.

Doch diese vorgeblichen reaktionären „Freund:innen“ oder „Unterstützer:innen“ Palästinas dürfen den Blick nicht darauf verstellen, dass die Sympathie der Massen in den meisten Ländern der Welt dem palästinensischen Volk und seinem Befreiungskampf gilt. Die Masse der Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen und der Jugend in den halbkolonialen Ländern durchschaut sehr genau, dass die Darstellung des Krieges als eines zwischen israelischer „Demokratie“ gegen „islamistischen Terror“ seine Ursachen und seinen Charakter verschleiert, dass es sich um einen Krieg eines Unterdrückerstaates gegen die Unterdrückten handelt. Genau das wissen auch die palästinensischen und arabischen Migrant:innen in den westlichen Ländern sowie die große Mehrzahl der rassistisch unterdrückten Bevölkerung.

Daher gehen seit Wochen Massen auf die Straße, folgen dem Aufruf zu Großdemonstrationen und globalen Aktionstagen. Die Straßen im globalen Süden füllen sich – und daraus kann und soll eine internationale Massenbewegung der Solidarität mit Palästina werden. Selbst in den westlichen Staaten ist die öffentliche Meinung nicht so eindeutig für Israel ausgerichtet, wie die Regierungen uns gern glauben machen möchten.

In London beteiligten sich 150.000 am 14. Oktober an einer Demonstration in Solidarität mit Palästina und 300.000 am 21. Während in Britannien das Demonstrationsrecht noch anerkannt ist, greifen andere europäische Länder wie Deutschland und, in geringerem Maße Frankreich, zu extremen rassistischen und antidemokratischen Maßnahmen, verbieten Kundgebungen in Solidarität mit Gaza regelmäßig, nehmen hunderte Menschen fest, die sich den Verboten nicht beugen wollen und kriminalisieren alle Organisationen des palästinensischen Widerstandes.

Zur Legitimierung diese Maßnahmen greifen sie auf die Lüge zurück, dass Antizionismus, ja fast jede Israelkritik antisemitisch sei. Selbst der Verweis auf die Ursachen des gegenwärtigen Konflikts gilt schon als „Relativierung“ des „islamistischen Terrors“. Diese Hetze verknüpft sich mit einer dramatischen Zunahme des antimuslimischen Rassismus und soll die Bevölkerung der „demokratischen“ Staaten auf die weitere Aushebelung demokratischer Rechte vorbereiten und darauf einschwören, mit Israel auch dann solidarisch zu bleiben, wenn immer mehr Bilder über die Massaker und Kriegsverbrechen seitens der israelischen Armee öffentlich werden.

Der extreme Kontrast zwischen der Lage in den halbkolonialen und westlichen imperialistischen Ländern zeigt auch, was von der Behauptung zu halten ist, dass die ganze Welt hinter Israel stände. Unter der Welt werden vor allem die Länder Nordamerikas und Europas verstanden, die gerade einmal 12 % der Weltbevölkerung beheimaten – und auch dort ist die öffentliche Meinung vor allem die, die von den auf die imperialistische Staatsräson getrimmten Medien veröffentlicht wird, die sich in der Hand der westlichen Staaten oder der Monopolkonzerne im Medienbereich befinden.

Diese spiegeln vor allem die Interessen der imperialistischen Regierungen und Bourgeoisien wider. Sie können sich aber auch auf die Führungen der bürokratisierten Gewerkschaften und der meisten reformistischen Parteien stützen – sei es die SPD in Deutschland, Labour in Britannien oder die schwindsüchtige PS in Frankreich. Auch die Mehrzahl der europäischen Linksparteien solidarisiert sich uneingeschränkt oder verdeckt mit Israel oder nimmt eine „neutrale“ Haltung im Kampf zwischen Unterdrückten und Unterdrücker:innen ein. Dies verdeutlich einmal mehr den sozialchauvinistischen und proimperialistischen Charakter dieser Parteien und bürokratisierten Gewerkschaftsapparate.

Während sie sich über den „Terror“ der Hamas empören und die Tötung unschuldiger Zivilist:innen anprangern, versichern sie den israelischen Angriffen auf Gaza ihre Unterstützung, denen Tausende unschuldige palästinensische Zivilist:innen zum Opfer gefallen sind und weiter fallen werden. Statt die Seite der Arbeiter:innen und Unterdrückten in Gaza zu ergreifen, statt die palästinensischen und arabischen Migrant:innen gegen Rassismus und Repression zu verteidigen, unterstützen diese Berufsverräter:innen die Unterdrückung.

Der Aufbau einer Solidaritätsbewegung mit Palästina ist unmöglich ohne einen entschlossenen Kampf gegen diese chauvinistischen und proimperialistischen Irreführer:innen der Arbeiter:innenklasse. Die notwendige und berechtige Kritik an den Führungen des palästinensischen Befreiungskampfes, an Hamas, Dschihad, aber auch den militanten Kräften der Fatah, der PFLP und der DFLP hat nur dann einen revolutionären und fortschrittlichen Wert, wenn sie auf der Grundlage der Unterstützung des Befreiungskampfes formuliert wird. Ansonsten bleibt sie im gegenwärtigen Krieg bestenfalls nur eine beredte Form der Passivität oder wie bei den reformistischen Führungen eine der Unterstützung der zionistischen und imperialistischen Aggression.

Aufgaben der Arbeiter:innenbewegung

Die erste und vordringliche Aufgabe der Linken und Arbeiter:innenbewegung auf der ganzen Welt besteht darin, den palästinensischen Befreiungskampf zu unterstützen. Wir treten für die Niederlage Israels ein und solidarisieren uns mit dem Widerstand in Gaza und ganz Palästina. Zugleich verschweigen wir unsere grundlegenden Differenzen mit der reaktionären Hamas, mit Dschihad, aber auch mit der palästinensischen Linken nicht. Wir unterstützen den Befreiungskampf trotz seiner Führung und ihrer falschen Strategie, Politik und Programmatik.

Die Stellung des zionistischen Staates im Nahen Osten, seine zentrale Rolle als Statthalter westlicher imperialistischer Interessen, die enorme Hochrüstung der israelischen Armee und das Ausmaß westlicher Unterstützung bedeuten auch, dass der palästinensische Widerstand internationale Unterstützung braucht. Daher bedarf es einer internationalen Strategie, um den Kampf zum Sieg zu führen.

1. Widerstand und Befreiungskampf in Palästina

Im gegenwärtigen Krieg, im Angriff auf Gaza unterstützen wir den bewaffneten palästinensischen Widerstand. Je länger sich dieser der IDF entgegenstellen kann, desto höher wird der politische und materielle Preis für den Angriff und die Invasion.

Der Ausbruch der Hamas-geführten Kräfte aus Gaza verkörperte selbst einen legitimen Akt im nationalen Befreiungskampf. Unterdrückte haben das Recht, aus einem Territorium auszubrechen, in dem sie vom unterdrückenden Staat über Jahre inhaftiert werden, ihre Versorgung von diesem blockiert und rationiert wird, ein großer Teil der Bevölkerung zur Arbeitslosigkeit verurteilt ist, wo immer wieder Infrastruktur, Wohnungen, Sozial- und Gesundheitseinrichtungen zerstört werden.

Es ist im Kampf gegen nationale Unterdrückung natürlich legitim, die militärischen Institutionen und Einheiten des/r Unterdrücker:in anzugreifen, auf Raketenbeschuss mit Raketen zu antworten. In allen Kriegen sind zivile Opfer unvermeidlich, obwohl mutwillige Grausamkeit gegenüber Zivilist:innen nicht nur den Opfern schadet, sondern als Rechtfertigung für die weitaus größere Grausamkeit der Unterdrücker:innen erscheint.

In Wirklichkeit ist auch nicht die Hamas Verursacherin solch Blutvergießens und Schreckens. Es ist vielmehr der zionistische Staat Israel, der auf der rassistischen, kolonialistischen Vertreibung der Palästinenser:innen basiert. Auf dieser Basis ist jede demokratische und fortschrittliche Lösung unmöglich. Solange dieser herrscht, Palästina kontrolliert, Gaza und die Westbank als innere Kolonien „verwaltet“, die Bevölkerung permanent vertreibt, enteignet, ghettoisiert, kann es keinen Frieden und keine Gerechtigkeit geben.

Letztlich wird Gaza auch nicht von der Hamas oder irgendeiner anderen dort aktiven politischen Kraft beherrscht, sondern vom israelischen Staat – ganz so wie Gefängnisse nicht von den Gefangenen kontrolliert werden, selbst wenn sie sich innerhalb der Gefängnismauern „frei“ bewegen dürfen.

Als revolutionäre Marxist:innen stehen wir in entschiedener Feindschaft zur Strategie und Politik der Hamas (wie aller islamistischer Kräfte) und ihrem politischen Regime. Ebenso lehnen wir die willkürliche Tötung von oder Massaker an israelischen Zivilist:innen ab. Diese erleichtern es Zionismus und Imperialismus offenkundig, ihren Großangriff auf Gaza auch in den Augen vieler Arbeiter:innen als „Selbstverteidigung“ hinzustellen.

Es greift darüber hinaus viel zu kurz, willkürliche Tötungen von Zivilist:innen nur der Hamas oder dem Islamismus anzulasten. Sie sind auch Ausdruck der viel umfassenderen, Jahrzehnte andauernden Unterdrückung, der täglichen Erfahrung des Elends, Hungers, der Entmenschlichung in Gaza durch die israelische Abriegelung. Aus der nationalen Unterdrückung wächst der Hass auf den Staat der Unterdrücker:innen und alle, die diesen mittragen oder offen unterstützen – und dazu gehört auch die große Mehrheit der israelischen Bevölkerung und der israelischen Arbeiter:innenklasse.

Der politische Kampf gegen die religiöse Rechte im Lager des palästinensischen Widerstands und die Kritik an politisch falschen oder kontraproduktiven Aktionsformen dürfen keineswegs zu einer Abwendung vom Kampf gegen die Unterdrückung führen. Heute, wo die westliche Propaganda die realen Verhältnisse auf den Kopf stellt, müssen wir klar zwischen der Gewalt der Unterdrückten und der Unterdrücker:innen unterscheiden. Nur wenn die revolutionäre Linke und die Arbeiter:innenklasse den Kampf um nationale Befreiung gegen den Zionismus und „demokratischen“ Imperialismus unterstützen, werden sie in der Lage sein, eine politische Alternative zu islamistischen Kräften aufzubauen. Nur so werden sie eine revolutionäre Partei bilden können, die den Kampf um nationale Befreiung mit dem um eine sozialistische Revolution verbindet.

Dies beinhaltet notwendig auch die Beteiligung am Befreiungskampf und militärisch koordinierte gemeinsame Aktionen. Es inkludiert eine Politik der antiimperialistischen Einheitsfront mit allen Kräften des Widerstandes. In der Westbank und Israel unterstützen wir Solidaritätsaktionen mit der Bevölkerung Gazas. Wir unterstützen Massenprotest und Streiks gegen die Besatzung. Wir verurteilen und bekämpfen die weiter erfolgenden Angriffe und Morde an Palästinenser:innen durch die israelischen Sicherheitskräfte und durch bewaffnete Siedler:innen.

Wir verurteilen insbesondere auch den Einsatz von Kräften der PNA gegen Protestierende. Diese reaktionären Angriffe auf die eigene Bevölkerung müssen enden, die Kräfte der PNA müssen mit ihrer Rolle als Hilfspolizei des Zionismus brechen. Sie und ihre Waffen müssen Aktionsausschüssen des palästinensischen Widerstandes unterstellt werden. Eine neue Massenintifada ist angesagt.

Doch in Palästina ist nicht nur ein gemeinsamer Kampf nötig. Die Führungen des Befreiungskampfes verfügen selbst über keine Strategie, die eine revolutionäre Lösung bringen kann. Hamas und Islamischer Dschihad sind kleinbürgerlich-reaktionäre, islamistische Kräfte, wobei die Hamas nicht nur aufgrund ihrer militärischen Fähigkeiten, sondern auch aufgrund ihrer Wohlfahrtsprogramme eine Massenbasis besitzt. Beide Organisationen verfolgen das reaktionäre Ziel einer Theokratie in Palästina, beide verbinden Antizionismus mit Antisemitismus. Beide betrachten nicht die Arbeiter:innenklasse als führende Klasse im Befreiungskampf, sondern ordnen diese und ihre Klasseninteressen jenen des Kleinbürger:innentums und der Bourgeoisie unter dem Deckmantel „islamischer Einheit“ unter. Es ist daher auch kein Zufall, dass ihre wirklichen internationalen Verbündeten und Unterstützer:innen nicht die arabischen Massen, sondern reaktionäre islamistische Regime wie Iran, Katar und Saudi-Arabien oder Bewegungen wie die Hisbollah sind.

Die palästinensische Linke (PFLP und DFLP) ordnet sich faktisch der Führung der Hamas politisch unter – ganz so, wie sie sich zu Zeiten der PLO der Fatah untergeordnet hatte. Die „Ablehnungsfront“ gegen das Osloer Abkommen, die die palästinensische Linke mit Hamas, Dschihad und anderen Gruppen gebildet hat, ist kein bloß zeitweiliges militärisches Abkommen, keine Form der antiimperialistischen Einheitsfront, sondern im Grunde ein strategisches Bündnis, das einer Unterordnung der palästinensischen Arbeiter:innenklasse gleichkommt.

Den bürgerlichen Programmen und der Etappentheorie, die die palästinensische Linke vertritt, stellen wir ein Programm der permanenten Revolution entgegen. Wir treten für einen gemeinsamen, binationalen, sozialistischen Staat in Palästina ein, der Palästinenser:innen wie Juden und Jüdinnen gleiche Rechte gewährt, der allen vertriebenen Palästinenser:innen das Rückkehrrecht garantiert und auf der Basis des Gemeineigentums an Land und großen Produktionsmitteln in der Lage ist, die Ansprüche zweier Nationen gerecht und demokratisch zur regeln. Ein solcher Kampf wird nicht durch Reformen erreicht werden können, sondern nur durch den revolutionären Sturz des zionistischen Staates.

In Israel und Palästina treten wir auch für die möglichst enge Einheit im Kampf mit den antizionistischen Kräften der israelischen Linken und Arbeiter:innenbewegung ein. Nur wenn die Arbeiter:innenklasse mit dem Zionismus bricht, kann sie sich auch selbst befreien.

Uns ist jedoch bewusst, dass die israelischen Lohnabhängigen über Jahrzehnte nicht nur an der Unterdrückung, Vertreibung und Überausbeutung der palästinensischen Massen teilhatten, sondern dass der Labour Zionismus wie auch die „liberalen“ Zionist:innen selbst aktiv an der Vertreibung und Unterdrückung beteiligt waren und sind.

So wichtig und richtig es ist, Spaltungen und Brüche im zionistischen Lager auszunutzen und zu befördern, so dürfen wir uns keinen Illusionen über die Tiefe der Bindung der israelischen Arbeiter:innen an den Zionismus hingeben. Wir müssen uns vielmehr darüber klar sein, dass deren Masse wahrscheinlich erst unter dem Eindruck einer tiefen Krise des zionistischen kolonialistischen Projekts für einen Bruch mit dem Zionismus gewonnen werden kann. Daher ist die Stärke des palästinensischen Befreiungskampfes selbst ein zentraler Motor, um überhaupt Risse im Zionismus zu vertiefen. Die antizionistische Linke in Israel hat daher jedes Interesse am Erfolg des palästinensischen Befreiungskampfes und muss diesen bedingungslos unterstützen.

2. Die Massen im Nahen Osten

In den arabischen Ländern, in der Türkei, im Iran wie in der gesamten Region muss die Arbeiter:innenklasse mit ihren Kräften die Mobilisierungen gegen Israel in Solidarität mit Palästina unterstützen. Sie muss sich dabei zugleich von reaktionären oder gänzlich verlogenen staatlichen Institutionen abgrenzen, die die Palästinafrage für reaktionäre Zwecke oder eigene geostrategische Interessen missbrauchen (z. B. Erdogan in der Türkei).

Daher müssen die Gewerkschaften und die Linke nicht nur unter eigenem Banner und mit eigenen Aktionen mobilisieren. Sie müssen auch über Demonstrationen und Protestkundgebungen hinausgehen. So sollten Transportarbeiter:innen alle Exporte nach Israel blockieren, indem sie z. B. das Beladen von Schiffen oder Flugzeugen verweigern oder deren Abflug oder Auslaufen verhindern.

Sie müssen die Offenlegung aller wirtschaftlichen und militärischen Abkommen sowie aller Geheimverträge mit Israel fordern, um so die wirkliche Kooperation ihrer angeblich propalästinensischen Regierungen offenzulegen und den Stopp diese Kooperation erzwingen. Sie müssen für die Schließung der Militärbasen der USA und ihrer Verbündeten in der Türkei und im gesamten arabischen Raum eintreten.

Dieser Kampf gegen die verschiedenen reaktionären Regierungen muss mit dem Kampf gegen die soziale und ökonomische Krise wie gegen die mehr oder weniger unverhüllten Diktaturen verbinden werden, um so einen zweiten Arabischen Frühling einzuläuten – einen Arabischen Frühling, dessen linke und proletarische Kräfte die Lehren aus dem Scheitern des ersten Anlaufs ziehen, indem sie von Beginn an die Notwendigkeit anerkennen, eine solche Revolution permanent zu machen und nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben. Dies erfordert, in diesen Bewegungen revolutionäre Arbeiter:innenparteien aufzubauen, die für ein Programm der permanenten Revolution kämpfen und für Vereinigte Sozialistische Staaten des Nahen Ostens.

3. Die Arbeiter:innenklasse im Westen

Die Solidarität mit Palästina stellt eine Aufgabe der gesamten globalen Arbeiter:innenklasse dar. Im Krieg gegen Gaza sollten die Lohnabhängigen in allen Ländern auf die Straße gehen, ihre Solidarität zum Ausdruck bringen und jede materielle und militärische Unterstützung Israels durch betriebliche und gewerkschaftliche Aktionen stoppen.

Dabei kommt der Arbeiter:innenklasse in den imperialistischen Zentren Nordamerikas und Europas jedoch insofern eine Schlüsselrolle zu, als diese Staaten auch die wichtigsten wirtschaftlichen und militärischen Unterstützer und Verbündeten Israels sind. Gewerkschaften sollen ihre Mitglieder dazu aufrufen, Waffenlieferungen an Israel zu blockieren. Lohnabhängige in aller Welt sollten den gesamten Handel mit Israel auf dem Land-, See- und Luftweg boykottieren. Versuche, solche Aktionen oder Kundgebungen zur Unterstützung Palästinas als antisemitisch zu bezeichnen, müssen zurückgewiesen und entlarvt werden. Auf den Aufruf der palästinensischen Gewerkschaften darf nicht nur mit warmen Worten, sondern muss mit Taten reagiert werden.

In diesen Staaten kämpfen wir gegen jede weitere militärische, finanzielle und ökonomische Unterstützung des zionistischen Staates und seiner Angriffsmaschinerie. Wir fordern die Offenlegung aller Verträge, wir kämpfen für den Stopp aller Rüstungsexporte und den Rückzug aller entsandten Streitkräfte aus dem Nahen Osten und von der Mittelmeerküste, die als Rückendeckung für Israel gegenüber der Hisbollah oder anderen dienen.

In diesen Ländern kämpfen wir gegen die massive rassistische antipalästinensische und antimuslimische Hetze. Wir kämpfen gegen die Kriminalisierung der Solidaritätsbewegung mit Palästina, wir fordern die Entkriminalisierung aller palästinensischen Organisationen und Vereine und die Streichung der sog. Terrorlisten der EU und USA.

Die Solidarität mit Palästina erfordert in allen westlichen Ländern auch einen Kampf, um die Arbeiter:innenklasse über die Lügen aufzuklären und die wahren Ursachen des Krieges und die Berechtigung des Befreiungskampfes darzulegen.

Die berechtigte Trauer und das Mitgefühl mit den zivilen jüdischen Opfern des Angriffs aus Gaza werden zur ideologischen Vorbereitung auf die Unterstützung eines Krieges gegen die dortige Bevölkerung missbraucht, der zur Vernichtung jeden Widerstandes und zur Massenvertreibung führen soll. Daher auch die gebetsmühlenartige Beteuerung, dass die „Solidarität mit Israel“ auch dann nicht nachlassen dürfe, wenn „andere Bilder“ aus Gaza kommen. Ganz nebenbei erklärt der Deutsche Bundestag auch gleich seine Unterstützung für Militärschläge im Libanon oder Syrien und verstärkten Druck gegen den Iran.

Dieser Hetze und Kriegstreiberei, der offiziellen „öffentlichen“ Meinung, der sich fast alle politischen Parteien der „Mitte“ – Konservative, Liberale, Grüne, Sozialdemokratie – wie auch jene der extremen Rechten, aber selbst die meisten linksreformistischen Organisation und die Führungen der Gewerkschaften anschließen, müssen wir entschlossen entgegentreten.

Dies ist ein notwendiger Teil des Kampfes für eine breite, auch von der Arbeiter:innenklasse in Europa und Nordamerika unterstützte Solidaritätsbewegung mit Palästina, die ihren Ursprung in Nahost fand. Auch den Herrschenden ist bewusst, dass selbst in den Ländern, wo eine proisraelische Stimmungslage vorherrscht, diese nicht ewig anhalten wird. Denn in den kommenden Wochen werden trotz medialer Entstellung auch immer wieder und immer mehr Horrorbilder über die Auswirkung der israelischen Bombardements mit Tausenden Toten und die Ausweglosigkeit für Hunderttausende Flüchtlinge in Gaza zeugen.

Daher müssen wir schon heute daran arbeiten, die Lügen der Herrschenden zu entlarven, um einen Stimmungsumschwung in der Arbeiter:innenklasse, insbesondere in den Gewerkschaften herbeizuführen. Das wird nur möglich sein, wenn wir der Hetze durch die Medien, aber auch der sozialchauvinistischen Politik der Führungen von Gewerkschaften, SPD und Linkspartei offen entgegentreten und ihre Unterstützung der Angriffe auf Gaza anprangern. Nur so – wenn wir Solidarität mit Palästina und den Kampf gegen den Chauvinismus und Rassismus der Führungen der Arbeiter:innenbewegung miteinander verbinden – kann und wird es möglich sein, eine gemeinsame Solidaritätsbewegung für Palästina aufzubauen, die sich auf die Migrant:innen und auf die fortschrittlichen und internationalistischen Teile der Arbeiter:innenklasse stützt.

  • Sofortige Einstellung der israelischen Bombardierung und der IDF-Tötungen im Westjordanland!

  • Öffnung der Grenzübergänge nach Gaza für Treibstoff, Lebensmittel, Wasser, medizinische Hilfe und die Medien!

  • Ein Ende der westlichen Waffenlieferungen an Israel, Abzug der Kriegsschiffe aus der Region!

  • Arbeiter:innenaktionen zur Beendigung der wirtschaftlichen und militärischen Hilfe für Israel!

  • Sieg des palästinensischen Widerstands!

  • Für ein vereinigtes, säkulares, sozialistisches Palästina mit Gleichheit für alle seine Bürger:innen, israelische wie palästinensische, als Teil einer sozialistischen Föderation des Nahen Ostens!



Israel: Netanjahus Gesetz spaltet zionistisches Lager

Dave Stockton, Infomail 1229, 31. Juli 2023

Am 24. Juli gelang es Israels Premierminister Benjamin Netanjahu schließlich, seinen Gesetzentwurf durch die Knesset zu bringen, der die Befugnis des Obersten Gerichtshofs des Landes vereitelt, vom Parlament verabschiedete Gesetze aufzuheben, weil sie „unangemessen“ sind (d. h., weil sie „die Rechte anderer Bürger:innen verletzen“). Israel hat (wie Großbritannien!) kein einziges Verfassungsdokument, das einschränkt, was das Parlament erlassen kann, sondern nur eine Reihe von Grundgesetzen, die von der Knesset mit einfacher Mehrheit verabschiedet werden. Und dieser Gesetzentwurf ist nur die erste Tranche. Ein weiterer wurde bereits ausgearbeitet, der der Regierung weitreichende Befugnisse bei der Ernennung von Richter:innen einräumen soll.

Die Verabschiedung des Gesetzes wurde von riesigen Massendemonstrationen in Jerusalem, Tel Aviv(-Jaffa) und anderen Zentren begleitet, an denen sich schätzungsweise 600.000 Menschen beteiligten. Netanjahus Likud-Partei und die ihr nahestehenden rechtsextremen religiösen und siedlerorientierten Parteien sehen sich seit acht Monaten mit massiven Protesten und einem eintägigen Generalstreik im März konfrontiert, zu dem der Gewerkschaftsbund Histadrut aufgerufen hatte. Nun sieht sich Netanjahu mit einem weiteren angedrohten Streik und der Weigerung von etwa 10.000 Reservist:innen konfrontiert, sich zum Dienst in der Armee zu melden.

Staatskrise

Jair Lapid, der die Opposition in der Knesset anführt und Vorsitzender der säkularen Partei der bürgerlichen Mitte Jesch Atid (Es gibt eine Zukunft) ist, erklärte, er werde den Obersten Gerichtshof auffordern, das Gesetz aufzuheben, da die Abstimmung „eine Übernahme der Macht über die israelische Mehrheit durch eine extreme Minderheit“ bedeute. Der rechtsextreme Minister für die Nationale Sicherheit Israels, Itamar Ben-Gvir, entgegnete, der Oberste Gerichtshof habe kein Recht, ein Grundgesetz zu streichen, und wenn er dies täte, käme dies einem Staatsstreich gleich. Sicherlich steht der zionistische Staat vor einer noch nie dagewesenen Krise, die eine große Kluft in der gesamten Gesellschaft widerspiegelt. Dies wird auch Israels Unterstützer:innen in den USA und der EU in eine heikle Lage bringen.

Warum hat sich die Likud-Koalition auf dieses noch nie dagewesene Abenteuer eingelassen? Sicherlich ist es für Netanjahu persönlich wichtig, die Befugnisse der Gerichte zu untergraben, da er mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert ist, die er abwehren möchte. Aber für seine rechten Koalitionspartner:innen ist es noch wichtiger, die Justiz zu zähmen. Sie hoffen, auf diese Weise jede Zurückhaltung der Gerichte bei der weiteren Beschlagnahmung palästinensischen Landes und der Ausweitung illegaler Siedlungen im Westjordanland zu unterbinden. Die israelische Bewegung Peace Now (Frieden jetzt) stellt fest, dass die Regierung allein seit Januar den Bau von 12.855 Siedler:innenwohnungen genehmigt hat.

Bereits 61 % des Westjordanlandes stehen unter direkter israelischer militärischer und ziviler Kontrolle, und die palästinensischen Städte und Dörfer sind in ein Archipel unzusammenhängender Gebiete aufgeteilt, die von festungsartigen Siedlungen schwer bewaffneter rechter Zionist:innen überragt werden. Dies macht einen palästinensischen Staat seit langem undurchführbar und die „Zweistaatenlösung“ der Osloer Abkommen zu einem zynischen Witz.

Die Siedler:innen und die extremen religiösen Parteien streben offen danach, die Zerstörung der palästinensischen Nation durch ethnische Säuberung so weit wie möglich zu vollenden. Dies als Apartheid zu bezeichnen, ist eigentlich eine Untertreibung. Und der Versuch, ein ganzes Volk zu vertreiben, ist ganz sicher ein rassistisches Projekt. Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir, der zusammen mit seinem Verbündeten Bezalel Smotrich das Bündnis „Jüdische Macht“ leitet, ist ein Anführer der rechtsextremen Siedler:innen im besetzten Westjordanland und hat an Demonstrationen teilgenommen, bei denen hauptsächlich „Tod den Araber:innen“ skandiert wurde.

Spaltung des zionistischen Blocks

Doch der Versuch der derzeitigen Regierung, jedes rechtliche Hindernis für dieses Projekt zu beseitigen, hat den zionistischen Block gespalten und die Einheit der israelischen Bevölkerung bedroht. Seit etwa einem Jahr ist die Mehrheit der jüdischen Bürger:innen des Landes aufgewacht und hat erkannt, dass Netanjahu und Ben-Gvir ihre eigenen demokratischen Rechte – oder besser gesagt Privilegien – bedrohen, da sie sich nicht gleichermaßen auf die Palästinenser:innen erstrecken. Dies hat zu den größten und am längsten andauernden Straßenprotesten in der Geschichte des Staates geführt. Für die meisten Bürger:innen Israels, die an einen europäischen und nordamerikanischen Lebensstandard und bürgerliche und soziale Freiheiten gewöhnt sind, ist die Aussicht auf Gesetze, die von religiösen Fanatiker:innen diktiert werden, kaum verlockend.

Tatsächlich zeigen Meinungsumfragen seit Februar, dass über 60 Prozent der Israelis das neue Gesetz ablehnen. In der Tat sieht ein großer Teil der 7 Millionen jüdischen Bürger:innen Israels den Obersten Gerichtshof als ihren letzten Schutz vor einer Koalitionsregierung, in der religiöse Parteien eine offen erklärte Agenda verfolgen, die die Bürger:innenrechte von säkularen Juden und Jüdinnen, Frauen und LGBTIA+-Personen verletzen und die Unterstützung des Landes durch westeuropäische und nordamerikanische Regierungen, eine wichtige wirtschaftliche Stütze des Siedler:innenstaates, entfremden würde.

Leider scheint es, dass nur wenige in den Reihen der Massenproteste gegen Netanjahus Gesetze die Wahrheit gegenüber den Palästinenser:innen erfassen oder anerkennen, dass diese Gesetze auch darauf abzielen, die vollständige Enteignung der ursprünglichen Bewohner:innen des Landes zu vollenden. Die palästinensischen Israelis, die ein Fünftel der Bevölkerung ausmachen, waren bei den Protesten weitgehend abwesend, obwohl sie zu den am stärksten Betroffenen der rechtsextremen Regierungen mit ihren juristischen „Reformen“ gehören wird.

Antizionistische Demonstrant:innen

Nichtsdestotrotz marschierten bei den meisten Demonstrationen Blöcke von mutigen Besatzungsgegner:innen, darunter auch jüdische Antizionist:innen. Sie trugen Transparente mit der Aufschrift: „Es gibt keine Demokratie mit Apartheid“ und „Eine Nation, die eine andere Nation besetzt, wird niemals frei sein“. Die Weigerung der nationalen Organisator:innen, bei den Demos in Tel Aviv palästinensische Flaggen auf der Bühne zu zeigen, verdeutlicht jedoch die Grenzen ihrer Vorstellung von Demokratie oder davon, wer wirklich ein:e Bürger:in Israels ist.

Dann gibt es die absoluten Wälder von Isreal-Fahnen und das Singen der Nationalhymne, die von „der 2000 Jahre alten Sehnsucht der jüdischen Seele, eine freie Nation in unserem eigenen Land zu sein, dem Land von Zion und Jerusalem“ spricht. Kurzum, es handelt sich um überwältigend zionistische Märsche, deren Organisator:innen keinen Zusammenhang zwischen der Verteidigung ihrer eigenen demokratischen Rechte und dem Fehlen dieser Rechte bei 20 % ihrer Mitbürger:innen sehen.

Siedlungsbau und Vertreibung

Das andere zentrale Anliegen der Regierung ist eine massive Beschleunigung des Siedlungsbaus im Westjordanland. Ben-Gvir ist ein Anführer rechtsextremer Siedler:innen und hat an Demonstrationen in Jerusalem teilgenommen, bei denen vor allem „Tod den Araber:innen!“ skandiert wurde.

Aber die sieben Millionen Palästinenser:innen, die unter zionistischer Herrschaft leben, haben auch wenig Grund, hoffnungsvoll auf den Obersten Gerichtshof zu blicken. Im Jahr 2018 verabschiedete die Knesset ein weiteres „Grundgesetz“, das Israel als „Nationalstaat des jüdischen Volkes“ definiert. Seine Fürredner:innen machten klar, dass „nationale Rechte in Israel ausschließlich dem jüdischen Volk zustehen“. Gegen das Gesetz wurde Berufung eingelegt und nach langen Verzögerungen legte der Oberste Gerichtshof keinen Einspruch gegen diese unverschämt rassistische und antidemokratische Definition der Staatsbürger:innenschaft ein. Im Juli 2021 entschied er, dass das Gesetz verfassungsgemäß sei und den demokratischen Charakter des Staates nicht in Frage stellen würde.

Unter dieser Regierung führte Israel kürzlich einen zweitägigen Angriff auf das dicht besiedelte Flüchtlingslager außerhalb von Dschenin, in dem 14.000 Palästinenser:innen leben. Dabei kam es zu heftigen Kämpfen mit militanten Palästinenser:innen und zur vorsätzlichen und weitreichenden Zerstörung der zivilen Infrastruktur, einschließlich Wasser- und Abwassersystemen, Telekommunikation, Strom und Gesundheitseinrichtungen. Mindestens 13 Palästinenser:innen wurden getötet und 100 verletzt. Mehr als ein Viertel der Bevölkerung des Lagers war gezwungen zu fliehen. Es ist mit weiteren derartigen Gräueltaten zu rechnen.

Imperialistische Freunde

Joe Biden, wie alle US-Präsidenten seit Truman „ein überzeugter Freund Israels“, hat sich dennoch kritisch zu den neuen Gesetzen geäußert. Er und die große Mehrheit der Demokratischen Partei lehnen Netanjahus Justizreform ab, weil sie befürchten, dass sie zusammen mit der zunehmenden Vorherrschaft extremer fundamentalistischer Kräfte den Mythos zerstören wird, dass Israel „die einzige Demokratie im Nahen Osten“ ist, und seine Nützlichkeit als regionaler Spalter und Disziplinierer der arabischen und muslimischen Staaten der Region gefährdet.

Trotz der derzeitigen Unruhen hat der US-Kongress mit überwältigender Mehrheit eine Resolution verabschiedet, in der erklärt wird, dass Israel „kein rassistischer oder Apartheidstaat“ ist. Die endgültige Abstimmung fiel mit 412 zu 9 Stimmen aus. Und das, obwohl Netanjahu mit seiner üblichen Offenheit erklärt hat: „Israel ist kein Staat für alle seine Bürger:innen … gemäß dem Nationalstaatsgesetz, das wir verabschiedet haben, ist Israel der Nationalstaat des jüdischen Volkes – und nur dessen.“ Wie die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem (Ebenbild) unmissverständlich erklärt hat, handelt es sich um ein einzigartiges „Regime der jüdischen Vorherrschaft vom Jordan bis zum Mittelmeer: Das ist Apartheid.“

Trotz einer koordinierten Kampagne der israelischen Botschaften und der langjährigen Freund:innen Israels an der Spitze beider Parteien des politischen Establishments in den USA ergab eine Umfrage unter amerikanischen Juden und Jüdinnen aus dem Jahr 2021, dass 25 % der Befragten Israel nun als Apartheidstaat ansehen, und bei den unter 40-Jährigen stieg der Anteil auf 38 %.

Kein Wunder, dass die Freund:innen Israels besorgt sind, dass Netanjahu und seine Verbündeten den Anspruch des Staates, die einzige Demokratie im Nahen Osten zu sein, auf fatale Weise entlarven, und das zu einer Zeit, in der Biden versucht, sein neues Kalter-Krieg-Lager der Demokratie aufzubauen, um dem der Autokratie gegenüberzutreten. Dies ist umso mehr ein Grund, warum die Freund:innen der Palästinenser:innen in der ganzen Welt den Kampf für die Isolierung des rassistischen Siedlerstaates verstärken und gleichzeitig die mutigen Israelis unterstützen müssen, deren Verteidigung der demokratischen Rechte sich auch auf die der Palästinenser:innen erstreckt.

Dennoch stehen die Palästinenser:innen vor einem Dilemma. Die israelische Repression hat soziale Massenbewegungen und Mobilisierung immer schwieriger gemacht und junge Aktivist:innen zu individuellen Angriffen auf Siedler:innen oder israelische Zivilist:innen getrieben, die mit brutalen Repressalien beantwortet werden. Und die derzeitige Regierung würde auf das erste Anzeichen einer bewaffneten Intifada mit ziemlicher Sicherheit mit einem militärischen Angriff reagieren, um die Flüchtlingslager zu räumen und noch mehr Gebiete zu erobern.

Aber die Massenmobilisierung gegen Netanjahu bietet palästinensischen und antizionistischen Organisationen die Möglichkeit, gegen ihn und seine rassistischen Minister:innen zu mobilisieren, aber auch mit ihren eigenen demokratischen Slogans für gleiche Rechte und für ein Ende des Diebstahls palästinensischen Landes und palästinensischer Häuser, und zwar unter dem Motto „Getrennt marschieren, aber gemeinsam streiken“. In den Städten und Dörfern des Westjordanlandes, des Gazastreifens und in Jerusalem könnte sich eine Bewegung entwickeln, die nicht nur zum Sturz Netanjahus und zu einer historischen Krise des zionistischen Staates führen, sondern auch Israels „demokratische“ westliche Unterstützer:innen in die Enge treiben würde.

Dies stellt die Sozialist:innen in den westlichen imperialistischen Staaten und die Antiimperialist:innen in der halbkolonialen Welt vor die noch größere Aufgabe, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die fortgesetzte Unterstützung ihrer Regierungen für Israel zu bekämpfen. Dies wiederum wird die Unterstützung der israelischen Bevölkerung für die fortgesetzte Unterdrückung weiter spalten und kann den palästinensischen Massen den Weg zu einer Massenintifada öffnen. Das wird eine revolutionäre Wirkung auf die gesamte Region zeitigen.




Israels Angriff auf Dschenin

Dave Stockton, Infomail 1227, 4. Juli 2023

Am 3. Juli startete die israelische Armee eine massive Attacke auf Dschenin im nördlichen Westjordanland mit mehreren Drohnenangriffen und mindestens einem Raketeneinschlag in einem Wohnblock. Nach Angaben von Anwohner:innen wurden in den frühen Morgenstunden bis zu 10 Luftangriffe geflogen, wobei Rauch aus den Trümmern von Gebäuden aufstieg.

Ein Konvoi gepanzerter israelischer Fahrzeuge wurde gesichtet, der sich in Richtung des großen Flüchtlingslagers der Stadt bewegte. Nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums wurden bei dem Angriff mindestens acht Palästinenser:innen getötet und mehr als 20 weitere verwundet.

Der palästinensische Krankenwagenfahrer Khaled al-Ahmad sagte der Nachrichtenagentur Reuters: „Was sich im Flüchtlingslager abspielt, ist ein echter Krieg. Es gab Angriffe aus der Luft auf das Lager, und jedes Mal, wenn wir mit fünf bis sieben Krankenwagen hinfahren, kommen wir voller Verletzter zurück.“

Associated Press berichtet, dass in diesem Jahr bereits mehr als 140 Palästinenser:innen im Westjordanland durch israelischen Beschuss getötet wurden. Das riesige Lager ist der Sitz des Dschenin-Bataillons, dem Kämpfende der Fatah, der Hamas und des Islamischen Dschihad angehören, und hat sich zum Hauptstützpunkt des Widerstands entwickelt. Minister:innen der rechtsextremen Regierung von Benjamin Netanjahu wie der Minister für Nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir und der Finanzminister Bezalel Smotrich, die beide der rechtsextremen Siedlerbewegung nahestehen, haben ihr Ziel, die Palästinenser:innen von ihrem Land zu vertreiben, schamlos verfolgt.

Am 21. Juni wüteten israelische Siedler:innen im Westjordanland in dem Dorf Turmus Ayya und fackelten 30 Häuser und 60 Autos ab. Dies wurde sogar von der Regierung Biden verurteilt, vielleicht weil in dem Dorf viele palästinensische Amerikaner:innen leben.

Ali Abunimah, Co-Gründer der Website The Electronic Intifada, berichtete auf Al Jazeera (Al Dschasira): „Man darf nicht vergessen, dass Dschenin und das nördliche Westjordanland im Allgemeinen stark unter der israelischen Siedlerkolonisierung durch die fanatischsten Siedler:innen leiden, die in den letzten Wochen überall im Westjordanland Pogrome verübten, die von der israelischen Armee und der israelischen Regierung gefördert und unterstützt wurden.“

Er fügte hinzu, der Angriff sei „die Rache für den zunehmenden Widerstand gegen die Invasion der Siedler:innen im nördlichen Westjordanland und den rekordverdächtigen Diebstahl palästinensischen Landes für koloniale Siedlungen“.

Netanjahu kehrte Ende 2022 ins Amt zurück und kündigte ein Gesetz an, das die Macht des Obersten Gerichtshofs beschneiden soll, der die Siedler:innen erzürnt hatte, indem er ihre ungeheuerlichsten Landnahmen für illegal erklärte. Die „Reform“ würde es einer einfachen Mehrheit in der Knesset ermöglichen, fast alle Entscheidungen des Gerichts aufzuheben, und sie hätte den zusätzlichen Vorteil, dass sie „Bibi“ (Benjamin Netanjahu) helfen würde, seinem Prozess wegen Korruption zu entgehen. Die Angelegenheit hat monatelang zu Massendemonstrationen am Mittwochabend in Tel Aviv und Jerusalem geführt und dem Ansehen des Landes bei seinen internationalen Verbündeten geschadet.

Unterdessen wurde der Siedlungsprozess in der Woche vor dem Angriff auf Dschenin beschleunigt. Netanjahu gab bekannt, dass er 1.000 neue Siedlerhäuser in Eli genehmigt habe, und nannte diesen Schritt eine „Antwort auf den Terror“. Kurz zuvor hatte die zivile Verwaltung der israelischen Verteidigungsstreitkräfte Pläne für weitere 7.349 Wohneinheiten im Westjordanland genehmigt, die zu den 12.149 Objekten gehören, die im Jahr 2023 das Planungsstadium erreicht haben. Der Minister für Nationale Sicherheit, Ben-Gvir, forderte die Regierung in einer Rede auf einem Siedleraußenposten am Berg Sabih auf, eine groß angelegte Militäraktion im Westjordanland zu starten, um Land für den Ausbau der Siedlungen zu räumen.

Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass unter dieser offenkundig rassistischen Regierung eine ganz neue Phase der Massenenteignung (d. h. der ethnischen Säuberung) im Gange ist. Es ist auch klar, dass die Sorge der westlichen Demokratien um die Demokratie, die im Zusammenhang mit der Ukraine lautstark geäußert wurde, gedämpft ist, wenn es um Palästina geht, abgesehen von den routinemäßigen Plädoyers für die Wiederbelebung der Gespräche über die gescheiterte „Zwei-Staaten-Lösung“. Israel ist mehr denn je ein sich ausbreitender Kolonialstaat, der insofern, als er einer Minderheit von Palästinenser:innen den Verbleib gestattet, tatsächlich ein rassistischer Staat im Stil der Apartheid ist.

In der Zwischenzeit haben seine konservativen, liberalen und sozialdemokratischen Unterstützer:innen in Europa und Nordamerika eine unerbittliche Kampagne geführt, um alle, die die Palästinenser:innen verteidigen, als Antisemit:innen zu verleumden. Ihr besonderes Schreckgespenst ist die BDS-Bewegung (Boykott, Desinvestition und Sanktionen), die viele auf den falschen Anspruch Israels aufmerksam gemacht hat, die „einzige Demokratie im Nahen Osten“ zu sein.

Es ist klar, dass die Sache eines säkularen, binationalen, demokratischen und sozialistischen Palästinas ein Lackmustest dafür ist, was  revolutionärer Sozialismus und ein Antiimperialismus im 21. Jahrhundert bedeuten.




Verbote gegen Palästinasolidarität: Diktatorische Allüren im demokratischen Wolfspelz

Jan Hektik, Neue Internationale 273, Mai 2023

Solidarität mit Israel ist in Deutschland Teil der Staatsräson. Jede Person, die schon einmal mediale Berichterstattung oder Bundestagsdebatten zum Thema des palästinensischen Widerstandes mitbekommen hat, weiß genau, was das heißt. Am 15.05. ist wieder die alljährliche Nakba und wie letztes Jahr stehen die Uhren des deutschen Rechtsstaats auf Verbot.

So wurden in Berlin am 15. und 16. April zwei Demonstrationen in Solidarität mit den politischen Gefangenen in Palästina verboten. Eine weitere Kundgebung am 17. April wurde ebenfalls untersagt.

Während in Palästina der Widerstand gegen die israelische Apartheid hochkocht und sich auch von der Palästinensischen Autonomiebehörde nicht mehr kontrollieren lässt, demonstrieren gleichzeitig über 100.000 Menschen allein in Tel Aviv gegen die demokratiefeindlichen Reformen der Regierung Netanjahu auf der Straße. Eine Verbindung der Kämpfe bleibt jedoch aus – nicht zuletzt, weil die Bewegung gegen die reaktionäre Regierung selbst den Kampf für die demokratischen Rechte der Palästinenser:innen letztlich ablehnt.

Hetze und Repression

Doch hier in Deutschland, im ach so demokratischen Westen, wo man eine solche Perspektive der gemeinsamen Solidarität und der Kämpfe gegen israelische Besatzung und die weitere Beschneidung demokratischer Rechte in der Region leichter verbinden könnte, wurden Demonstrationen in Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf am Wochenende von der Polizei verboten und vom Verwaltungsgericht bestätigt.

Auslöser dessen ist ein Shitstorm der Presse aufgrund eines Ausrufs auf einer Demo „Tod Israel! Tod den Juden!“ Es wird wegen Volksverhetzung gegen Unbekannt ermittelt und die Demonstrationen eine Woche später wurden verboten mit der Begründung, es sei wahrscheinlich, dass es zu weiteren volksverhetzenden Straftaten und gewaltsamen Ausschreitungen kommen könnte. Zu letzteren kam es übrigens auf erstgenannter Demo nicht.

Darüber hinaus „vergisst“ die bürgerliche Berichterstattung zu erwähnen, dass sich die Organisator:innen der Demonstration entschieden gegen reaktionäre antisemitische Parolen aussprachen. Solche müssen natürlich entschieden abgelehnt werden. Wer einmal Demonstrationen organisiert hat, weiß jedoch auch, dass Veranstalter:innen von Aktionen mit hunderten oder tausenden Teilnehmer:innen keine Verantwortung für reaktionäre Äußerungen Einzelner übernehmen können.

Doch der bürgerlichen Hetze geht es genau darum, eine solche Äußerung eines/r Unbekannten, die/der durchaus auch ein/e Provokateur:in sein kann, den Organisator:innen wie überhaupt der gesamten Palästinasolidarität in die Schuhe zu schieben. Dies läuft über die falsche und reaktionäre Gleichsetzung von Antisemitismus mit Antizionismus.

Zweierlei Maß

Hinzu kommt, dass, nebenbei, auch mit zweierlei Maß gemessen wird, wenn es um linke und rechte Demonstrationen geht.

Der Heßmarsch ist eine von Neonazis jährlich veranstaltete Demonstration zu Ehren und in Gedenken des NSDAP-Mitglieds Rudolf Heß, der nach dem Krieg auf Nachfrage sagte, er bereue nichts, und tatsächlich an der Ermordung von Millionen Jüdinnen und Juden mitgewirkt und diese politisch bis zu seinem Tod verteidigt hat. 2019 verhöhnte der Veranstalter die Opfer des NSU und sagte, dass für Rudolf Heß kein Denkmal gebaut werde, da er „kein Drogenhändler“ und „nicht schwul“ gewesen sei.

Wagt es nicht, uns diese Heuchelei als Kampf gegen Antisemitismus zu verkaufen! Wenn die absolute Mehrheit aller gegen Jüdinnen und Juden gerichteter Straftaten von weißen Nazis begangen wird, diese offen marschieren können und dann den davon Betroffenen mit der Begründung des Antisemitismus das Demonstrationsrecht genommen wird, ist das blanker Hohn. Noch widerlicher wird das Ganze, wenn man die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse mit einbezieht.

Solidarität!

Allein dieses Jahr wurden über 83 Palästinenser:innen durch IDF (Israel Defense Force) oder bewaffnete Siedlergruppierungen getötet. Das palästinensische Gebiet ist von allen Seiten eingezwängt. Die dort wohnenden Menschen leben wie in einem großen Freiluftgefängnis und sind immer wieder Angriffen seitens Israels ausgesetzt. Auch Amnesty International attestiert ihm die Klassifizierung als Apartheidstaat nach UN-Recht, weil es de facto zwei Klassen an Staatsbürger:innen gibt und die palästinensische Bevölkerung weitgehend entrechtet ist.

Die Gewalt der Unterdrücker und die der Unterdrückten sind außerdem nicht mit gleicher Elle zu messen! Aussagen wie „Tod den Juden“ sind gerade im Interesse eines fortschrittlichen Widerstandes zu verurteilen und wer sie verbreitet, muss von Palästinademos verwiesen werden. Doch wir glauben keine Sekunde, dass es dem deutschen Staat oder der Springerpresse um den Schutz des jüdischen Proletariats geht. Wir glauben keine Sekunde, dass es dem israelischen Staat um den Schutz des jüdischen Proletariats geht. Und wir glauben keine Sekunde, dass eine reaktionäre Äußerung eines/r Einzelnen einen gerechten Kampf um nationale Befreiung illegitim macht.

Wir sind solidarisch mit dem palästinensischen Befreiungskampf! Wir kritisieren zugleich die aktuelle Führung des Kampfes, seien es islamistische Kräfte wie die Hamas, seien es bürgerliche wie die Fatah. Aber verteidigen den Widerstand gegen alle heuchlerischen Angriffe des deutschen Staates und seiner Medien.

  • Schluss mit den Demonstrationsverboten! Schluss mit den Verboten palästinensischer Organisationen und Vereine!