Nieder mit der Taliban-Diktatur: Befreit die afghanischen Frauen!

Interview mit einer afghanischen Geflüchteten in Pakistan, 15.01.2024, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

1,7 Millionen afghanische Flüchtlinge, etwa die Hälfte der 3 – 4 Millionen in Pakistan lebenden Afghan:innen, sollen bis Ende des Jahres abgeschoben werden, wenn sie das Land nicht „freiwillig“ verlassen. Viele davon sind vor der Verfolgung durch die Taliban geflohen. Nun müssen sie Pakistan verlassen, andernfalls drohen ihnen Haft und Abschiebung. Seit Anfang November sind Schikanen und Zwangsabschiebung von Afghan:innen weit verbreitet. Gleichzeitig nehmen die Proteste seit Wochen zu, vor allem am Grenzübergang Chaman (Belutschistan). Tausende von pakistanischen Paschtun:innen schließen sich den Protesten an, darunter zahlreiche Arbeiter:innen. Die Demonstrant:innen haben auf beiden Seiten der Grenze massenhafte Sitzstreiks organisiert.

Der Grund für die Proteste an der Grenze ist ganz klar. Die paschtunische Bevölkerung lehnt die Abschiebungen nicht nur ab, sondern versteht sie auch richtig als Teil der Politik und Interessen der Regierung, die das Leben der paschtunischen Bevölkerung zum Elend verschlechtert hat. Sie erkennet, dass die Abschiebungen Hand in Hand mit der Enteignung der Afghan:innen gehen, die ihnen ihre Lebensgrundlage und ihr Recht auf ein Leben in dem Gebiet nehmen, in dem sie – manchmal seit Generationen – arbeiten und leben.

Im Rahmen unserer bedingungslosen Solidarität mit den mutigen afghanischen Frauen in Afghanistan und in der Diaspora spricht FIGHT mit Roya Afghan Aazad (dokumentierter Flüchtling mit POR-Karte), die in Pakistan lebt, über den Stand der Dinge seither, wobei der Schwerpunkt auf den afghanischen Frauen heute liegt. Die Interviewpartnerin wählte diesen Namen, um ihre Identität zu schützen. Er bedeutet „Traum für ein freies Afghanistan“. Das Interview führt Minerwa Tahir.

FIGHT: Vielen Dank, dass du sich bereit erklärt hast, mit uns zu sprechen, Roya. Wie würdest du die allgemeine Situation der Frauen in Afghanistan beschreiben? Dürfen sie frei arbeiten? Dürfen sie nur in bestimmten Berufen oder gar nicht arbeiten? Unterscheidet sich das Leben der afghanischen Frauen aus der Mittelschicht heute von dem der Frauen aus der Arbeiter:innenklasse?

Roya Afghan Aazad: Ich habe mehrere Verwandte, die in Afghanistan leben, und dort gibt es ein vollständiges Verbot für die Ausbildung von Frauen an Universitäten. Da Bildung zum Beispiel nur bis zur sechsten Klasse erlaubt ist, versuchen viele Mädchen, sich online weiterzubilden, wenn auch nur informell. Ich habe viele Verwandte, die Medizin und Ingenieurwesen studierten und nun gezwungen sind, ihre Ausbildung abzubrechen. Infolgedessen treten psychische Probleme auf.

Was die Arbeit anbelangt, so arbeiteten viele Freund:innen in Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, aber nach einiger Zeit wurden alle ihre Stellen gestrichen. Seit 40 Jahren herrscht in Afghanistan Krieg. Das bedeutet, dass es viele Witwen und Waisen gibt. Wenn eine Witwe drei Kinder hat, ist sie die einzige Ernährerin. Wenn ihr Mann gestorben ist, wie soll sie dann ihre Kinder ernähren, wenn nicht durch Arbeit? Verwandte erzählten mir, dass die Situation so schrecklich ist, dass ehemalige Lehrer:innen eines ihrer Kinder verkaufen mussten, um vier andere zu ernähren. Vor allem Frauen wurden in die Armut gedrängt. Aber diejenigen, die männliche oder wirtschaftliche Unterstützung haben, können sich auf diese verlassen. Ich kenne eine Frau, die Managerin war. Jetzt ist sie Witwe und wegen des Beschäftigungsverbots für Frauen arbeitslos. So kommt es zu einer extremen Verarmung der Frauen.

Auch Vergewaltigungen und andere geschlechtsspezifische Gewalttaten sind weit verbreitet, werden aber nicht gemeldet, weil es keine Medienfreiheit gibt. Die geringe Berichterstattung erweckt den Eindruck, dass die Frauen in Würde leben, aber die Realität sieht anders aus. Nach 2021 mussten die Menschen ihre Töchter aufgrund der Wirtschaftskrise verkaufen. Zwangsverheiratungen von älteren Männern mit Minderjährigen sind weit verbreitet. Eltern, die arbeitslos sind und Töchter haben, sehen sich gezwungen, ihre Töchter an ältere Männer zu verkaufen, um den Rest der Familie zu ernähren. Die Wirtschaftskrise und die erzwungene Arbeitslosigkeit sind die Hauptursachen dafür.

FIGHT: Du hast psychische Probleme erwähnt. Kannst du bitte beschreiben, über welche Art von Problemen berichtet wird? Und wie sieht es mit der Gesundheitsversorgung im Allgemeinen aus?

Roya Afghan Aazad: Viele Studentinnen, die sich in den letzten Semestern befanden, als die Ausbildungsverbote verhängt wurden, sind jetzt mit Selbstmordgedanken konfrontiert. Sie erhalten nicht einmal Pässe, um ins Ausland zu gehen und sich weiterzubilden. Du kannst dir vorstellen, dass die Taliban den Frauen nicht erlauben, im Land zu studieren, warum sollten sie ihnen dann ermöglichen, sich im Ausland fortzubilden. In ihrn Augen hat es keinen Sinn, Frauen auszubilden, da sie zu Hause bleiben und Kinder gebären und aufziehen sollen.

Psychische Erkrankungen sind weit verbreitet, auch unter meinen Verwandten. Als ich ein kleines Mädchen fragte, was sie nach der sechsten Klasse machen würde, fing sie an zu weinen. „Wir haben keine Zukunft. Wir sitzen fest. Wir können diese Hölle nicht verlassen“, sagte sie mir. […] Ich würde nicht ausschließen, dass viele Selbstmord begangen haben. Was ist der Sinn dieses Lebens? 20 Jahre lang hatten wir Schulen und Sport, und jetzt wird uns das plötzlich weggenommen.

Auch viele afghanische Frauen, die sterben, sterben nicht auf natürliche Weise. Sie sterben bei der Geburt, weil eine Reihe von Krankenhäusern geschlossen wurde und es aufgrund verschiedener von der Regierung aufgestellter Hürden kein weibliches Personal gibt. Das Gesundheitswesen ist der einzige Beruf, in dem einige Frauen arbeiten, aber viele wurden entmutigt. Ich habe einen Cousin in Kabul, der Arzt ist.  Ich habe ihn gefragt: Wird es in Zukunft keine Ärztinnen mehr geben? Wenn schwangere Frauen von Männern betreut werden, wo bleiben dann die so genannte Ehre, die Purdah (Verschleierung) und der Islam der Taliban? Er erzählte mir, dass Ärztinnen zwar offiziell praktizieren dürfen, aber nicht bezahlt werden, und dass der Berufsstand aufgrund dieser Situation generell Arbeitskräfte verliert.

FIGHT: Wie verbreitet ist das Phänomen der Selbstmorde?

Roya Afghan Aazad: Man darf nicht vergessen, dass dies ein Land ist, in dem es keine freien Medien gibt. Es gibt zwar einige Berichte in den sozialen Medien, aber wenn sie über solche Dinge berichten, dann anonym und ohne Ortsangabe zur Sicherheit. In den letzten Tagen hat sogar ein männlicher Journalist Selbstmord begangen, so dass wir uns vorstellen können, wie schrecklich es für Frauen sein muss. In Kabul haben die Menschen Smartphones und Internet. In den ländlichen Gebieten haben die Frauen keinen Zugang zu Informationen. Eine große Anzahl von Verbrechen, die Frauen in diesen Gebieten betreffen, wird überhaupt nicht gemeldet.

FIGHT: Dürfen Frauen und Kinder ihre Häuser ohne männlichen Vormund verlassen?

Roya Afghan Aazad: Sie sind von der Regierung angewiesen worden, einen männlichen Begleiter zu haben, auch wenn es sich um einen Minderjährigen handelt. Letzte Woche habe ich ein Video von einem weinenden Mädchen gesehen. Sie trug eine bodenlange Burka und hatte ein Exemplar des Korans bei sich. Sie sagte, ihre 19-jährige Schwester sei von der Regierung mit der Begründung abgeführt worden, dass sie den Hidschab nicht ordnungsgemäß getragen hätten. Und das, obwohl diese Mädchen eine bodenlange Burka trugen.

FIGHT: Das klingt ganz ähnlich wie die Situation im Iran. Gilt dort eine Kleiderordnung? Gilt sie für Frauen und Mädchen jeden Alters oder gibt es Ausnahmen? Und was bedeutet die Machtübernahme durch die Taliban für afghanische Frauen, die beruflich als Journalistinnen, Lehrerinnen, Diplomatinnen, Übersetzerinnen usw. tätig waren? Können sich Frauen in Afghanistan politisch organisieren? Können sie ihre Meinung frei äußern? Gibt es Versammlungsfreiheit? Gibt es die Freiheit zu protestieren?

Roya Afghan Aazad: Es ist sehr ähnlich wie im Iran. In Afghanistan gilt die Regel: Burka für alle. Es gibt keine Ausnahmen. Alle Journalist:innen, die ausreisen konnten, haben das Land verlassen. Andere warten darauf, gerettet zu werden. Sie haben keine Arbeit. Als die Taliban die Macht übernahmen, führten sie Razzien durch, um nach allen zu suchen, die mit den USA und NGOs zusammenarbeiteten, egal ob männlich oder weiblich. Es sind grausame Videos aufgetaucht, die zeigen, wie diese Razzien durchgeführt wurden, wobei die Menschen vor den Augen ihrer Familienangehörigen abgeführt wurden. Berufstätige Frauen haben es sehr schwer. Diejenigen, die in die Nachbarländer geflohen sind, wurden von ihren ehemaligen Arbeit„geber“:innen mit dem Versprechen, gerettet zu werden, dazu aufgefordert. Einige wurden gerettet, aber andere leiden immer noch, weil sie auf ihr Visum warten. Eine Reihe von Menschen kam mit gültigen pakistanischen Visa nach Pakistan, aber nun sind ihre Visa dort abgelaufen und sie werden als Menschen ohne Papiere betrachtet. Infolgedessen leiden sie unter der Unsicherheit von Nahrung und Unterkunft, da niemand Menschen ohne gültige Papiere eine offizielle Arbeit geben würde. Ihr Leben war in Gefahr, und wenn sie heute keine Dokumente haben, was sollen sie dann tun? Wer wird sich um sie kümmern? Sie werden erbarmungslos gezwungen, zu der Regierung zurückzukehren, vor deren Verfolgung sie geflohen sind. Wohin sollen sie gehen?

Und nein, es gibt keine Freiheit zu protestieren. Als die Taliban an die Macht kamen, gab es in großen Städten wie Kabul, Herat, Masar-e-Scharif, Dschalalabad usw. Proteste. Viele dieser Menschen wurden identifiziert, ihre Häuser wurden später durchsucht und sie wurden verhaftet. Dies wirkt abschreckend auf Formen des Widerstands. Frauen haben dann natürlich Angst vor Verhaftung und Inhaftierung.

(Anmerkung der Interviewerin: Trotz der Unterdrückung durch die Taliban gibt es in Afghanistan weiterhin Proteste. Der jüngste Fall war, als Frauen gegen die Schließung von Schönheitssalons unter dem islamistischen Regime protestierten).

FIGHT: Wie ist die Lage der Frauen, die religiösen und ethnischen Minderheiten angehören, in Afghanistan?

Roya Afghan Aazad: Die Hazara sind eine der gut ausgebildeten Gemeinschaften in Afghanistan. Im Vergleich zu anderen Ethnien sind sie nicht konservativ. Sie waren häufig das Ziel von Bombenanschlägen. Erst letzte Woche wurde ein Viertel der Hazara in Kabul angegriffen. Sie wurden angegriffen, als die Taliban noch nicht an der Macht waren, und sie werden auch weiterhin angegriffen, wenn die Taliban an der Macht sind. Das wirft Fragen auf. In jedem Fall werden die Frauen der Gemeinschaft vom Verbot der Bildung betroffen sein. Außerdem sind die Taliban Sunnit:innen, während die Hazara Schiit:innen sind. Die religiösen Aktivitäten der Hazara, wie z. B. das Feiern ihrer Juloos (Geburtstag des Propheten Mohammed) und anderer wichtiger Tage, wurden verboten. Religionsfreiheit gibt es in Afghanistan nicht. Auch die Sikhs fliehen seit 2021 nach Indien, und nur sehr wenige bleiben im Land.

FIGHT: Für Ukrainer:innen, die vor dem Krieg fliehen, gibt es beschleunigte Visaverfahren und Ausnahmeregelungen, und das zu Recht. Leider gilt das nicht für Afghan:innen, obwohl westliche Länder direkt an dem Krieg beteiligt waren, der sie  heute zu Flüchtlingen macht. Was würdest du dazu sagen?

Roya Afghan Aazad: Diejenigen, die vorgeben, Pat:innen der Menschlichkeit und der Menschenrechte zu sein, sind die schlimmsten Menschenrechtsverletzer:innen. Die ukrainischen Flüchtlinge wurden zeitweise ohne Visum und Pass aufgenommen. Aber wenn es um afghanische geht, wurden sie im Stich gelassen und warten nach zwei Jahren immer noch auf ein Visum. Schließlich sind die Ukrainer:innen die „zivilisierten“ Flüchtlinge. Sie sind nicht wie die Afghan:innen, Syrer:innen und Iraker:innen. Das ist Diskriminierung. Die Nationalität eines Flüchtlings sollte nicht über seinen Anspruch auf Menschenrechte entscheiden. Es gibt niemanden, die/der diese Länder für diese Diskriminierung zur Rechenschaft zieht. Die Afghan:innen sind heute Ihretwegen Flüchtlinge, aber sie sind heute nicht für sie da. Um uns Ich glaube, dass man sich um die Ukrainer:innen kümmern sollte, aber das sollte man auch. Wir sollten nicht als unzivilisiert angesehen werden.

FIGHT: Was würden Sie über die Behandlung sagen, die die pakistanische Regierung den Afghan:innen im Laufe der Jahre zuteil werden ließ?

Roya Afghan Aazad: Meine Familie kam 1997 nach Pakistan und ich bin hier aufgewachsen. Als ich in der Mittelstufe war (das pakistanische Äquivalent zum Abitur), wusste ich nicht, dass ich ein Flüchtling war. Ich kannte nicht einmal die Bedeutung des Wortes Flüchtling. Als mir klar wurde, dass ich ein Flüchtling bin, begann ich mich zu fragen, ob dies nicht mein Heimatland ist, wo es wirklich ist. Ich habe mich darüber informiert und festgestellt, dass Pakistan in den Krieg in Afghanistan verwickelt war. Zuerst habe ich dem Gastland die Schuld gegeben. Aber ich bin Studentin der internationalen Beziehungen und habe einen MPhil der Universität Karatschi. Ich habe mich auch mit den Kriegsherren in Afghanistan befasst und bin zum Schluss gekommen, dass man von außen angegriffen wird, wenn man Außenstehenden die Türen seines Hauses für seine eigenen Interessen öffnet. Ich gebe den Warlords die Schuld für den Ausverkauf meines Landes. […] Eine Reihe von Akteuren ist für meine missliche Lage verantwortlich. Von den Vertretern Afghanistans wie Gulbuddin Hekmatyar, Hamid Karzai und Aschraf Ghani bis hin zu den Mudschahidin, von allen regionalen Nachbarn bis hin zu allen imperialistischen Mächten wie der UdSSR und den USA – alle Länder waren aufgrund ihrer eigenen Interessen beteiligt.

FIGHT: Wie sieht das Leben der afghanischen Flüchtlinge aus, die in die Nachbarländer geflohen sind? Nach dem, was du mir erzählst, scheint es eine hierarchische Abstufung der afghanischen Flüchtlinge in Pakistan zu geben. Einige Afghan:innen durften bleiben, während andere pauschal abgeschoben werden müssen. Ist das richtig?

Roya Afghan Aazad: Es gibt Flüchtlinge in Pakistan, aber viele sind auch in den Iran gegangen. Im Iran ist es schlimmer als in Pakistan. Die afghanischen Flüchtlinge in Pakistan wurden einer Kategorisierung unterzogen, und einige dürfen immer noch bleiben. Inhaber:innen einer afghanischen Staatsbürger:innen- und einer POR-Karte besitzen grundlegende Rechte, wie das Recht auf Bildung, Unterkunft und Gesundheit. Im Iran ist dies nur sehr eingeschränkt möglich. Ich war noch nie im Iran, aber ich berufe mich auf Informationen, die mir Verwandte und Freund:innen von dort gegeben haben. Aber selbst afghanische Flüchtlinge ohne Papiere hatten vor Oktober 2023 Zugang zu niederen Arbeiten, mit denen sie einen Tageslohn verdienen konnten. Sie hatten auch Zugang zur Gesundheitsversorgung in Pakistan. Nach Oktober 2023 erleben wir eine beispiellose staatliche Politik. Meine Familie kam 1997 nach Pakistan und lebt seither hier. In den Jahren 2015 – 2016 fanden einige Abschiebungen statt. Aber das Ausmaß, das wir heute sehen, gab es nicht. Pakistan behauptet, diese Entscheidung aus Sicherheitsgründen getroffen zu haben. Aber sie hätten auch sehen müssen, dass viele derjenigen, die nach Afghanistan zurückgeschickt werden, in Lebensgefahr sind. Flüchtlinge sind immer noch Menschen, auch wenn man die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 nicht unterzeichnet hat.

FIGHT: Wie hat sich die Weltgemeinschaft, sowohl die Nachbarländer wie Pakistan als auch die breitere Gemeinschaft, insbesondere der Westen, deiner Meinung nach gegenüber den Afghan:innen verhalten?  Was würdest du über die Herrschaft von Aschraf Ghani und die aktuellen Sanktionen des Westens gegen Afghanistan sagen?

Roya Afghan Aazad: Unsere unmittelbaren Nachbarländer sind Pakistan und Iran. In den letzten 40 Jahren sind Flüchtlinge aus Afghanistan in diese Länder gekommen, weil die Grenze durchlässig ist, aber auch, weil sich beide Regierungen ihrer eigenen Verwicklung in die Situation in Afghanistan bewusst waren, sei es in Form der Mudschahidin oder des Kriegs gegen den Terror. In Pakistan hat man im Laufe der Jahre auch einige Flüchtlinge registriert. Diejenigen, die nach 2021 nach Pakistan kamen, wurden jedoch nicht registriert, obwohl sie aus ihrem Herkunftsland flohen, weil ihr Leben bedroht war. Jetzt werden sie abgeschoben. Wie kann man jemanden abschieben, die/der in seinem Herkunftsland in Lebensgefahr ist?

In der Zwischenzeit hat die Weltgemeinschaft auch nicht viel getan. Kurz nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan brach der Krieg in der Ukraine aus. Seitdem sind Ukrainer:innen die Flüchtlinge, um die sich der Westen kümmert, und alle haben die Afghan:innen vergessen. Zwei Jahre lang wurden keine Visa für die Menschen ausgestellt, die in den Ländern Pakistan und Iran festsaßen, obwohl viele Chef:innen ihren afghanischen Mitarbeiter:innen geraten hatten, vorübergehend in Pakistan Zuflucht zu suchen, da dort Visa ausgestellt würden. Nachdem Pakistan mit den Massenabschiebungen begonnen hat, wurden einigen wenigen Personen Visa ausgestellt.

Was die Sanktionen anbelangt, so erhalten die Taliban jede Woche 40 Millionen US-Dollar. Wie kann eine terroristische Organisation zwei Jahre lang überleben? Die afghanische Währung hat sich durch die Hilfe der USA und UN-Organisationen stabilisiert. Aber der US-Dollar ist dort die eigentliche Währung, und deshalb hat sich der Wechselkurs stabilisiert. Aber die ganze Hilfe gelangt in die Hände der Taliban. Als das Erdbeben in Herat ausbrach, haben mir alle meine Verwandten, die dort leben, erzählt, dass die Taliban alles nehmen, was reinkommt, und der einfache Mann bekommt die drittklassige Ware. Die Mehrzahl der Güter geht an die Taliban. Bei der Verteilung werden dann die Hazara, Turkmen:innen und Tadschik:innen diskriminiert. Die Taliban-Kämpfer erhalten die Waren, die als Hilfsgüter eingehen. Dies hat schwerwiegende wirtschaftliche Auswirkungen auf die einfache Bevölkerung. Witwen leiden am meisten. Sie sind die Bedürftigsten, aber die Taliban glauben, dass Frauen keine Menschen sind. Nach ihrer Logik bilden Männer die einzige menschliche Ressource im Land.

FIGHT: Was würdest du sagen, sind die wichtigsten Forderungen der afghanischen Frauen heute? Wie können sie heute ihre Freiheit erlangen? Wie sieht der Widerstand in Afghanistan aus? Werdet ihr in irgendeiner Form von afghanischen Männern unterstützt? Wie sieht die Unterdrückung durch den Taliban-Staat aus, wenn Menschen Widerstand leisten?

Roya Afghan Aazad: Das Recht auf Arbeit und Bildung, auf ein Leben in Freiheit und auf Redefreiheit. Journalistinnen, Sängerinnen und andere künstlerische Berufe, Lehrerinnen, NGO-Mitarbeiterinnen und Bankangestellte sind von ihren Berufen ausgeschlossen. Unser Grundbedürfnis ist das Recht auf Redefreiheit, Arbeit und Bildung. Afghanische Frauen sollten das Recht haben, sich an der Politik zu beteiligen. Welchem Islam die Taliban folgen, ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Die Frau des Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) war ebenfalls Kauffrau. Es war ihr nicht verboten zu arbeiten. Allah sagt, dass der Erwerb von Wissen für alle Muslim:innen Pflicht ist. Muslim:innen sind sowohl Männer als auch Frauen. Die Taliban vergessen das oft, und deshalb berauben sie uns der Bildung.

Wenn die internationale Gemeinschaft und die westlichen Länder Druck auf die Taliban ausüben, anstatt sie zu stärken, dann können die Rechte der Frauen gewährleistet werden. Alle Frauen, die ihre Stimme für ihre Rechte erhoben haben, wurden verhaftet. Es gibt eine Journalistin, die in Deutschland Asyl gefunden hat und deren Familie nun zur Zielscheibe wird. Diese Familie protestierte in Deutschland und forderte, dass die internationale Gemeinschaft die Geschlechterapartheid in Afghanistan anerkennt.

Leseempfehlung

Für uns ist klar: Weltweit müssen sich Parteien der Arbeiter:innenklasse, Gewerkschaften und linke Organisationen mit den afghanischen Flüchtlingen und ihren Sit-ins solidarisieren. Dabei heißt es, klar für offene Grenzen und Staatsbürger:innenrechte für alle einzustehen. Wir kämpfen überall gegen Abschiebungen, ob nun in Pakistan oder Deutschland. Dabei geht es uns nicht nur darum, dass Geflüchtete bleiben können, sondern auch die gleichen Rechte erhalten – also zu arbeiten, wählen zu gehen und und nicht als Menschen 2. Klasse in den jeweiligen Ländern leben zu müssen.
Mehr zur Lage von Frauen und Widerstand in Afghanistan:




Palestine will never die: Wie weiter mit der Palästinasolidarität in Deutschland?

Jaqueline Katherina Singh, Neue Internationale 280, Februar 2024

Ob Münster, Hamburg, Leipzig, Dresden, Düsseldorf: Seit Beginn der Bombardierungen Gazas gibt es in Deutschland zahlreiche Proteste. Mancherorts wie in Berlin, Frankfurt am Main oder Hamburg konnten sogar aufgrund des stetigen Drucks Demonstrations- und Versammlungsverbote durchbrochen werden. Seit Monaten organisieren Aktivist:innen Aktionen gegen die Vertreibung und den drohenden Genozid an Gazas Bevölkerung. Kurzum: Es ist das erste Mal seit Jahren, dass es eine massenhafte Palästinasolidarität gibt, die versucht, sich Gehör zu schaffen – angesichts des Kräfteverhältnisses und der politischen Lage in Deutschland ein mehr als schweres Anliegen.

Denn die Bundesregierung hat mehr als klargemacht, dass sie kein Interesse hat, das Morden zu verhindern. Sie ist vielmehr aktive Unterstützerin durch die diversen Waffenlieferungen, die sich seit Oktober 2023 verzehnfacht haben und hat mit ihrer Enthaltung bei UN-Resolutionen sowie der Leugnung des Genozids beim Internationalen Gerichtshof deutlich gemacht, dass sie die Angriffe und Vertreibung der Palästinenser:innen unterstützt. Israels Sicherheit ist deutsche Staatsräson und anders als in Britannien, den Niederlanden oder Belgien sind die Gewerkschaften nicht in die Mobilisierungen eingebunden. Prozionistische Positionen, die letzten Endes die Unterdrückung der Palästinenser:innen legitimieren, sind nicht nur Regierungssache, sondern auch in bedeutenden Teilen der Arbeiter:innenbewegung und Linken verbreitet.

Was ist das Ziel?

Auch deswegen ist es kein Wunder, dass viele Aktivist:innen müde sind, erschöpft, ausgelaugt. Denn trotz aller Anstrengungen und Proteste ist es bisher nicht gelungen, den Krieg zu beenden, die Bombardierungen zu stoppen. Stattdessen werden stetig neue Nachrichten über das Elend und Leiden von Gazas Bevölkerung in die Social Media Feeds gespült.

Doch es gibt etwas Antreibendes: Es ist unsere Aufgabe, nicht nur für die Menschen zu kämpfen, die in diesem Moment sterben, sondern auch für jene, die als Nächste dran sein könnten. Denn es gibt keine Sicherheit für die Bevölkerung in der Westbank. Deswegen müssen wir nicht nur gegen die Bombardierung Gazas kämpfen, sondern für Palästinenser:innen in der Westbank, den Camps, allen von Israel besetzen Gebieten. Für uns geht es also um alle, die jetzt vom israelischen Staat ermordet werden – und alle, die drohen, ermordet und vertrieben zu werden – und für alle, die bereits vertrieben worden sind. Denn sie haben das Recht zurückzukehren. Es geht uns nicht nur um einen Waffenstillstand, sondern darum, die Unterdrückung der Palästinenser:innen zu beenden, und dieser Kampf ist nicht verloren.

In Deutschland ist dieser Weg steinig und schwer. Aber die Anstrengungen der Aktivist:innen in den vergangenen Monaten haben es geschafft, eine Grundlage zu errichten, auf der man einen Teil des Kräfteverhältnisses in Deutschland dauerhaft ändern kann – und propalästinensische, antizionistische Positionen besser in der Linken zu verankern, um so den Kampf weiterzuführen. Doch wie schaffen wir das konkret?

Was also tun?

Einer der essenziellen Schritte ist es, mehr Leute in die Bewegung hereinzuziehen. Aktivist:innen, die innerhalb der Bewegung aktiv sind, wissen, dass das leichter geschrieben ist als getan. Mit einfacher Überzeugungsarbeit ist es nicht möglich, denn eigentlich sprechen die Zahlen der getöteten Palästinenser:innen sowie die Geschichte der Besatzung für sich. Doch selten bringen reine Fakten Menschen zur Einsicht, wie wir am Beispiel des Klimawandels sehr gut wissen. Eines der Kernprobleme liegt darin, dass es in Deutschland nicht nur eine organisierte mediale Kampagne gegen die Palästinasolidaritätsproteste gibt, sondern der ganze Konflikt rund um Besatzung und Krieg aus Perspektive des zionistischen Regimes medial dargestellt wird, kombiniert mit dem Rechtsruck und der Zunahme des antimuslimischen Rassismus vor allem nach dem 7. Oktober. Deswegen müssen wir uns fragen, wie wir dies aufbrechen können.

1. Bundesweite Vernetzung und Koordinierung

Um dem Protest mehr Ausdruck zu verleihen, braucht es eine bundesweite Koordinierung. Gemeinsame Slogans, Forderungen und bundesweite (de)zentrale Aktionstage können zum einen helfen, die Isolierung an manchen Orten zu durchbrechen, und Mobilisierungen erleichtern. Vor allem hilft ein kollektiver Auftritt dabei, mehr Menschen außerhalb der Bewegung anzusprechen. Er verdeutlicht: Wir sind nicht alleine, wir sind Teil einer Bewegung – in Deutschland und international. Um dies zu ermöglichen, bietet sich eine Strategie- und Aktionskonferenz an, an der sich Aktivist:innen und Organisationen aus der Bewegung beteiligen können, bei der ein gemeinsamer Austausch sowie die Planung künftiger, gemeinsamer Aktivitäten stattfindet. Insbesondere das Datum 14. Mai – der Nakba-Tag – bietet sich an, bundesweit einen kollektiven Massenprotest zu organisieren. Dabei ist es besonders relevant, Deutschlands Rolle offen herauszustellen. Nicht nur dass Palästinenser:innen und antizionistische Juden und Jüdinnen mit Repression überzogen werden, auch die Finanzierung des Völkermordes sowie Lieferung von Waffen sollten angesprochen werden. Mögliche Forderungen können beispielsweise sein:

  • Nein zu allen Waffenlieferungen an Israel, Schluss mit allen Rüstungs-, Wirtschafts- und Geheimdienstkooperationen!

  • Nein zu weiteren autoritären Einschränkungen der Meinungsfreiheit, des Versammlungsrechts, des Asyl- und Staatsbürger:innenschaftsrechts! Für die Aufnahme von Vertriebenen aus Gaza und Unterstützung der medizinischen Versorgung!

  • Für ein Ende des Verbots palästinensischer Organisationen und Slogans für Befreiung und Gleichheit.

2. Aufbau von Basisstrukturen an Schulen, Unis und in Betrieben

Ob in München oder Berlin: In manchen Städten haben sich vor allem an Universitäten bereits Solidaritätskomitees gebildet. Den Protest an Orte zu bringen, an denen sich Menschen tagtäglich aufhalten müssen, ist ein zentraler Schritt, wenn man Bewegungen verankern sowie ausweiten will. Denn es geht darum, die Orte an denen wir sein müssen, zu politisieren und jene zu erreichen, die unsicher sind oder schlichtweg keine Ahnung haben (wollen), sie in die Konfrontation zu bringen.

Dabei ist wichtig, allgemeine Forderungen der Bewegungen mit solchen vor Ort zu verbinden um so die Auseinandersetzung greifbarer zu machen für jene, die noch nicht Teil ihrer sind. Konkret kann das beispielsweise heißen, dass Projekte, die den israelischen Staat unterstützen oder in Kooperation mit ihm stattfinden, ausgesetzt oder beendet werden; dass einseitige Solidarisierungsstatements zurückgenommen werden; dass die jeweilige Schule sich dazu entschließt, Verbote wie das der Kufiya nicht umzusetzen. Es kann auch bedeuten, für konkrete Forderungen zu kämpfen wie beispielsweise Solidaritätserklärungen gegen Kündigungen, die Übernahme von Ausstellungen, die gecancelt worden sind, oder die Schaffung neuer Projekte und offener Solidarisierung mit den Palästinenser:innen.

3. Druck ausüben, Opposition organisieren – die Arbeiter:innenklasse gewinnen

Wie andere Länder zeigen, ist es für wirksame Proteste notwendig, die Gewerkschaften auf unsere Seite zu ziehen. Ob Belgien oder Italien: Hier haben Arbeiter:innen Waffensendungen blockiert. Ähnliches wäre beispielsweise möglich, wenn es darum geht, Waffen an Israel zu blockieren und deren Transport zu stoppen. In Deutschland gestaltet sich das Ganze jedoch nicht einfach. Sowohl der DGB (Deutscher Gewerkschaftsbund) als auch die DGB-Jugend haben sowohl in der Vergangenheit wie auch jetzt einseitige Stellungnahmen in Solidarität mit dem israelischen Staat – und somit auch der mörderischen Offensive – verfasst.

Überraschend ist das nicht, schließlich tragen sie auch an anderen Stellen die Politik der Regierung mit. Abschreiben dürfen wir diese Massenorganisationen deswegen jedoch nicht. Ein Solidaritätsstreik, organisiert durch diese Verbände, wäre um ein Vielfaches größer und effektiver als alles, was wir aktuell aus den Aktionen selbst heraus organisieren können. Das heißt: Die Gewerkschaften in Bewegung zu bringen, klappt nicht, indem man einfache Appelle verfasst, an ihnen vorbei Proteste organisiert oder die Hoffnung in Bürokrat:innen setzt. Nur im Rahmen einer politischen Bewegung, die a) die deutschen Gewerkschaften klar auffordert, es ihren Geschwisterorganisationen in anderen Ländern gleichzutun, und b) aktiv auf die Gliederungen zugeht und sie versucht, in eine Kampagne mit einzubeziehen, können wir erfolgreich sein. Kleine Lichtblicke sind hier beispielsweise auch der Offene Brief an den DBG-Jugendbundesausschuss, unterzeichnet von mehr als 500 Gewerkschaftsmitgliedern, die sich gegen die einseitige Positionierung stellen. (https://www.change.org/p/offener-brief-den-dgb-bundesjugendausschuss) Dies kann ein erster Ansatz sein, um weitere Aktivität anzustoßen: Seien es Anträge in Gewerkschaftsgliederungen selbst, die eine klare Verurteilung der israelischen Offensive benennen, verbunden mit der Teilnahme an lokalen Protesten. Damit wir die Gewerkschaften und generell die reformistische Arbeiter:innenbewegung von der Unterstützung der Regierung und für Solidarität mit Palästina gewinnen können, brauchen wir eine massenhafte Aufklärungskampagne über den wirklichen Charakter des Krieges gegen die Palästinenser:innen und die imperialistischen Interessen im Nahen Osten. Nur Lohnabhängige, die die Lügen der Herrschenden durchschauen, indem wir sie geduldig überzeugen, können für Solidaritätsaktionen und den Aufbau einer Bewegung gewonnen werden, die in der Arbeiter:innenklasse verankert ist.

Zweifache Aufgabe

Das heißt, für uns als Revolutionär:innen stellen sich zwei Aufgaben. Wenn wir – ähnlich wie in Britannien – Hunderttausende von Menschen auf die Straße bringen wollen, dann müssen wir mehr Kräfte integrieren als jene, die es bereits gibt, und existierende Strukturen bündeln. Und so eine Bewegung ist notwendig, um Repression, Desinformation und der Regierungspolitik etwas entgegenzustellen. Zum einen geht es also um den Aufbau einer breiten, palästinasolidarischen Bewegung, an der sich mehr Kräfte beteiligen – vor allem die Organisationen der Arbeiter:innenklasse.

Zum anderen müssen wir in solch einer Bewegung für ein revolutionäres, internationalistisches Programm eintreten. Dabei machen wir unsere Position nicht zur Vorbedingung für alle, die sich am Aufbau einer Protestbewegung gegen das Morden und die Vertreibung einsetzen wollen, sondern kämpfen in dieser dafür. Denn Bewegung alleine hilft nicht, wenn man nicht an den entscheidenden Punkten mit entsprechenden Mitteln Druck ausübt und ziellos vor sich hin demonstriert oder zwar abstrakt die richtigen Forderungen aufwirft, aber nicht die Massen hinter sich weiß, diese durchzusetzen.

Unserer Meinung nach kann die Befreiung Palästinas nur möglich sein, wenn wir in den imperialistischen Ländern die Komplizenschaft mit der israelischen Regierung beenden. Dazu bräuchte es massenhafte, längere Streikwellen sowie Blockaden gegen die Waffenlieferungen, wie es in Italien oder Belgien bereits passiert ist. Gleichzeitig braucht es in den Ländern des Nahen Ostens eine Massenbewegung wie den Arabischen Frühling. Denn die aktuellen Regime haben mehr als klargemacht, dass ihnen nicht nur der Lebensstandard ihrer eigenen Bevölkerung egal ist, sondern sie maximal bereit sind, die israelische Regierung in Worten zu kritisieren. Taten sind mehr als sparsam wie Erdogans oder Assads Praxis zeigen, die weiter Krieg gegen die Kurd:innen und ihre eigenes Volk führen. Ihnen geht es darum, ihre eigene Stellung zu erhalten. Es bräuchte aber eine Bewegung, die die Despot:innen aus ihren Ämtern fegt und im Interesse der Arbeiter:innenklasse handelt. Lasst uns die Anstrengungen der vergangenen Monate nutzen und den Protest voranbringen! In dem Sinne: Stoppt das Morden, stoppt den Krieg, Intifada bis zum Sieg!




Pakistan: Solidarität mit den afghanischen Flüchtlingen und Massenprotesten!

Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1237, 20. November 2023

1,7 Millionen afghanische Flüchtlinge, etwa die Hälfte der 3 – 4 Millionen in Pakistan lebenden Afghan:innen, sollen bis Ende des Jahres abgeschoben werden, wenn sie das Land nicht „freiwillig“ verlassen. Viele der 1,7 Millionen sind vor der Verfolgung durch die Taliban geflohen. Nun müssen sie Pakistan verlassen, andernfalls drohen ihnen Haft und Abschiebung.

Seit Anfang November sind Schikanen und Zwangsabschiebung von Afghan:innen weit verbreitet. Gleichzeitig nehmen die Proteste seit Wochen zu, vor allem am Grenzübergang Chaman (Belutschistan). Tausende von pakistanischen Paschtun:innen schließen sich den Protesten an, darunter zahlreiche Arbeiter:innen. Die Demonstrant:innen haben auf beiden Seiten der Grenze massenhafte Sitzstreiks organisiert.

Der Grund für die Proteste an der Grenze ist ganz klar. Die paschtunische Bevölkerung lehnt die Abschiebungen nicht nur ab, sondern versteht sie auch richtig als Teil der Politik und der Interessen der Regierung, die das Leben der paschtunischen Bevölkerung miserabel gemacht hat. Sie erkennen, dass die Abschiebungen Hand in Hand mit der Enteignung der Afghan:innen gehen, die ihnen ihre Lebensgrundlage und ihr Recht auf ein Leben in dem Gebiet nehmen, in dem sie – manchmal seit Generationen – arbeiten und leben.

Darüber hinaus will die Regierung paschtunische Führer:innen und Händler:innen dazu zwingen, künftig Grenzkontrollen durchzuführen. Der Zusammenschluss von Kaufleuten und lokalen Stämmen soll gezwungen werden, Pässe und Visa auszustellen. Doch zumindest bisher haben sie diese Anordnungen abgelehnt. Derzeit beteiligen sich Bauern und Bäuerinnen, Händler:innen, Stammesführer:innen und berufstätige Paschtun:innen verschiedener politischer Parteien an diesem Protest und lehnen die Regierung und ihre Politik ab.

Die Demonstrant:innen lehnen die Zwangsvertreibung von afghanischen Flüchtlingen ab und fordern, dass die Regierung diese unmenschliche Politik zurücknimmt und das Leben der afghanischen Flüchtlinge nicht noch härter und ärmer macht. Ihre Vertreibung wird alles zerstören, was sie in harter Arbeit ein Leben lang und über Generationen hinweg aufgebaut haben. Zurück in Afghanistan gibt es nichts für sie und viele sind ernsthaften Bedrohungen durch das Regime ausgesetzt.

Die geschäftsführende Regierung von Anwaar-ul-Haq Kakar will von der Krise des Systems, der grassierenden Inflation und der Energieknappheit ablenken. Sie macht die Afghan:innen für den Mangel an Ressourcen verantwortlich. Deshalb werden die afghanischen Flüchtlinge zum Sündenbock gestempelt und der Rassismus gegen sie wird angeheizt. In der Tat wird die Bewegungsfreiheit aller Menschen ohne Pass an der Grenze von Chaman in Zukunft vollständig unterbunden.

Der Grenzhandel ist auch in Belutschistan zu einem ernsten Problem geworden. Dort ist die Beschäftigung und der Lebensunterhalt von Millionen von Menschen damit verbunden. Die Politik der pakistanischen Regierung vernichtet diese im Interesse des Großkapitals.

Diejenigen, die bereits Opfer der vom Imperialismus und dem Staat aufgezwungenen Marginalisierung und des Krieges sind, werden um alles gebracht. Daher liegt es in der Verantwortung der Arbeiter:Innen im ganzen Land, auch in Belutschistan, sich mit den afghanischen Flüchtlingen zu solidarisieren. Die pakistanischen Gewerkschaften müssen die Massensitzstreiks und Proteste an den Grenzen unterstützen. Sie müssen in Solidaritätsmobilisierungen und Streiks mit ihren afghanischen Brüdern und Schwestern auftreten und sich in einem gemeinsamen Kampf gegen alle Abschiebungen, für das Recht aller Flüchtlinge, in Pakistan zu leben und zu arbeiten, und gegen die Inflation, die staatlichen Kürzungen, die Diktate des Internationalen Währungsfonds und die kapitalistische Krise, die die wahre Ursache für das Elend der pakistanischen Arbeiter:innen, Bauern und Bäuerinnen und der afghanischen Flüchtlinge sind, vereinen.

Weltweit müssen sich Parteien der Arbeiter:innenklasse, Gewerkschaften und linke Organisationen mit den afghanischen Flüchtlingen und ihren Sit-ins solidarisieren. Sie müssen Proteste und Kundgebungen in verschiedenen Ländern organisieren und Solidaritätsbotschaften an die Protestierenden senden!




Letzte Generation und Antifa Ost: Demokratische Grundrechte verteidigen!

Jaqueline Katherina Singh, Neue Internationale 275, Juli/August 2023

Was haben Antifa Ost und die Letzte Generation gemeinsam? Auf den ersten Blick nicht viel. Die einen haben sich auf der Straße festgeklebt, um den Verkehr aufzuhalten – gegen den Klimawandel, für das 9-Euro-Ticket. Antifa Ost hat Nazis angegriffen. Klimaschutz und Antifaschismus: zwei Themen, die links besetzt sind, aber sehr gerne auch von Bürgerlichen aufgegriffen werden, wenn sie sich fortschrittlich und cool fühlen wollen, anstatt rechte Stammtischparolen nachzuäffen. Das ist aber nicht ihre Gemeinsamkeit. Es ist die staatliche Repression, die beide Bewegungen erfahren (haben).

Woher kommt das?

Die Liste kann noch verlängert werden. Lina und die Letzte Generation sind nur die populärsten Beispiele. Ob die Verbote der Palästinasolidarität in Berlin, die Räumung von Lützerath oder Angriffe auf das Streikrecht: Sie alle finden statt unter zugespitzten gesellschaftlichen Verhältnissen. Denn von der progressiven „Fortschrittskoalition“ von Grünen, SPD und FDP bleibt aktuell nicht viel übrig.

Stattdessen hat sich der Rechtsruck erneut verschärft. Die Ursache dabei ist zweierlei. Zum einen übt das weltpolitische Geschehen natürlich Einfluss auf das Geschehen in Deutschland aus. Seit Beginn des Ukrainekrieges, der eine Verschärfung des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt markiert, weht ein anderer Wind. Während im Wahlkampf die Grünen noch Werbung mit der Friedenstaube in U-Bahnhöfen plakatierten, gibt es fast keine/n aus ihrer Führung, die/der nicht ein Bild in Militäruniform in der Ukraine von sich in den Weiten des Internets verbreitet.

Dabei geht es nicht nur um Waffenlieferungen und das Versprechen, die westliche Demokratie in der Ukraine zu verteidigen. Im Rahmen dessen steigt auch die Erfordernis, das Geschehen innerhalb des eigenen Nationalstaates unter Kontrolle zu halten. Somit werden innerhalb der letzten Monate immer neue Maßnahmen zur Steigerung der „Sicherheit“ ergriffen, wird immer mehr Repression forciert als Teil der Militarisierung nach innen. Eine „wehrhafte“ bürgerliche Demokratie, die klar aufzeigt, dass demokratische Rechte in erster Linie nur für jene gelten, die den Status quo beibehalten oder ihn weiter nach rechts verschieben wollen.

Eingeläutet wurde dies mit den Sondervermögen für die Bundeswehr, die ohne große Proteste hingenommen wurden, und dies gilt es aufrechtzuerhalten. Zum anderen befeuert der Kriegskurs zusammen mit der existierenden Krise den Rechtsruck, den wir seit 2015 erleben. Die Pandemie hat nicht nur Nerven gekostet, sondern auch finanziell viele Haushalte der Arbeiter:innenklasse getroffen durch Kurzarbeit sowie Entlassungen. Kombiniert mit steigenden Lebensmittel- und Energiepreisen sowie lauen gewerkschaftlichen Kämpfen nährt das den Boden für den aktuellen Erfolg der AfD, aber auch populistische Ausfälle der CDU, die sich unter Führung von Friedrich Merz zu rhetorisch rechten Glanzleistungen aufschwingt.

Überall Polizei, nirgendwo Gerechtigkeit

Klar ist: Die Letzte Generation, Antifa Ost und vor allem Lina E. gehören verteidigt und es ist unsere Aufgabe zu zeigen, dass die Angriffe auf sie nicht nur solche auf uns alle bedeuten, sondern auch klare Formen von Klassenjustiz. Denn wer verurteilt jene, die nichts tun, während Menschen weltweit schon jetzt an den Folgen des Klimawandels sterben? Hitzewellen, Waldbrände oder die Folgen der Flut im Ahrtal betreffen Massen an Menschen und sie hätten verhindert werden können. Wer verurteilt die Polizist:innen, die offenkundig rechtes Gedankengut in Chatgruppen umherschicken? Wer die Reichsbürger:innen, die ganze Waffenlager zu Hause anlegen, oder jene, die dafür verantwortlich sind, dass Tausende Menschen an den Außengrenzen der Festung Europa sterben und noch mehr in menschenunwürdigen Zuständen leben müssen?

Statt tatsächlicher Veränderung gibt es seitens der bürgerlichen Politik höchstens halbe Aktionen und schale Worte. Die Letzte Generation und Antifa Ost haben auf die Missstände unserer Gesellschaft reagiert. Dabei haben sie Grenzen übertreten, die den bürgerlichen Staat und die bürgerliche Öffentlichkeit alarmieren. Um ein Exempel zu statuieren, dass besser nicht viele diesem Weg folgen sollten, erleben wir Schauprozesse und Repression.

In diesem Sinne kann man sagen, dass beide Taktiken, ziviler Ungehorsam und antifaschistische Selbstjustiz, erfolgreich gewesen sind. Denn Aufmerksamkeit hat es auf jeden Fall gegeben. Doch der Erfolg hört da auf, wenn es darum geht, mehr Menschen in Aktion zu bringen und eine gesamtgesellschaftliche Handlungsperspektive aufzuzeigen. Das ist teilweise gar nicht das Ziel gewesen – und schon das ist ein politisches Problem. Noch mehr aber ist ziel- und massenorientiertes Handeln dringend notwendig, wenn man sich erfolgreich gegen Repression wehren und das Problem an der Wurzel packen will.

Deswegen müssen wir die Aktivist:innen vor dem bürgerlichen Staat verteidigen, aber gleichzeitig auch darüber diskutieren, welche Strategie, welche Taktiken wir brauchen, um dabei erfolgreich zu sein. Denn einfach nur den Widerstand zu unterstützen und uns für die Taten zu feiern, bringt uns nicht weiter. Im schlimmsten Fall verbrennt es Aktivist:innen und sorgt dafür, dass Potenziale, um das Ruder gesellschaftlicher Dynamik herumzureißen, verlorengehen und man das erst viel zu spät merkt.

Zwei Seiten einer falschen Medaille

Hinter beiden Taktiken steckt die Idee, dass die unmittelbare Tat mehr Menschen dazu motiviert, sich durch die direkte Aktion zu radikalisieren bzw. sich ihr bestenfalls anschließen. Das ist vielleicht eine schöne Idee. Aber es ist auch eine falsche, denn sie klammert mehrere Probleme aus:

a) Gesellschaftliche Kräfteverhältnisse. Wie viel Aufmerksamkeit die eigenen Aktionen generieren sowie wie viele neue Aktivist:innen gewonnen werden können, hängt nicht nur von der direkten Aktion ab, sondern von den aktuellen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen. So könnten wir im derzeit versuchen, so viele Abschiebungen wie möglich zu blockieren – es würde nicht unmittelbar etwas ändern können. Proteste und Dynamiken können selten beeinflusst werden, wenn Einzelaktivist:innen einfach nur „ein bisschen mehr machen“ und mehr Kraft, Energie und Zeit in die Aktion hineinstecken. Das ist Voluntarismus und ignoriert, dass es nicht nur eine Frage der graduell zunehmenden Überzeugung von Individuen ist. Ebenso fallen Kräfte aus der Betrachtung, die aktiv gegen einen arbeiten und ihre Meinung nicht ändern werden, weil sie vom Status quo profitieren.

b) Hemmschwellen und Passivität. Auch wenn der Protest als gewaltfrei und niedrigschwellig bezeichnet wird, so ist es letzten Endes seine Form, die zum einen für breite Teile der Bevölkerung praktisch schwer umsetzbar ist (bspw. wenn man Kinder zu betreuen hat). Zum anderen kreiert es eine Lücke: Auf der einen Seite die Aktivist:innen, die die Aktionsform vorgeben, auf der anderen der „Rest“ bzw. die Arbeiter:innenklasse. Somit werden diese dazu verdammt, entweder sich der Aktionsform zu beugen oder Solidaritätsbekundungen zu äußern, und damit in der Passivität zu verweilen. Zentrales Element einer jeden Bewegung muss es aber sein, nicht nur Aufmerksamkeit zu schaffen, sondern die Aktiven zu integrieren, politische Entscheidungen treffen zu lassen, sich selbsttätig zu politisieren, um so den Protest und die politische Bewusstseinsbildung der Klasse zu stärken. Kommt es nicht dazu, geht die Bewegung schneller ein und bringt dem kollektiven Gedächtnis recht wenig.

Vom zivilen Ungehorsam …

Darüber hinaus muss man aber zwischen den Formaten von Selbstjustiz und zivilem Ungehorsam differenzieren. Letzterer wird ideengeschichtlich dem libertären Unternehmer und Selbstverwirklicher Henry David Thoreau zugeordnet, der im 19. Jahrhundert eine (!) Nacht im Gefängnis verbrachte, da er sich weigerte, Steuern zu bezahlen, und daraufhin seinen Akt des „zivilen Ungehorsams“ zum politischen Prinzip erklärte. Er verfasste den Essay „Civil Disobedience“ (auf Deutsch: „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“). Später wurde das Konzept noch von anderen Theoretiker:innen wie Hannah Arendt und Jürgen Habermas aufgegriffen.

In der Theorie handelt es sich beim zivilen Ungehorsam um einen angekündigten Regelübertritt, mit dem man auf einen gesellschaftlichen Missstand aufmerksam machen will. Sobald diese Aufmerksamkeit erzeugt ist, kümmern sich „die gesellschaftlichen Mechanismen“ dann darum, das Übel anzugehen. Das heißt: Ziviler Ungehorsam hat gar nicht das Ziel, den bürgerlichen Staat anzugreifen, sondern impliziert oftmals die Zusammenarbeit mit diesem. Das kann nicht nur gefährlich werden, sondern trägt ein Missverständnis in sich, was das aktuelle Problem ist. Denn es ist keines der mangelnden Aufmerksamkeit, sondern eines gegensätzlicher Interessen.

Im Kapitalismus erscheint der Staat als über den Klassen stehende Instanz, quasi als unabhängiger Vermittler zwischen Besitzenden und der Arbeiter:innenklasse. Letztendlich vertritt er aber das Interesse, das Privateigentum aufrechtzuerhalten.  Enteignung der Energiebetriebe und deren Unterstellung unter Arbeiter:innenkontrolle oder die Neustrukturierung der Produktion nach den Bedürfnissen der Erde und Arbeiter:innenklasse sind nicht einfach so möglich. So ist auch die Nutzung fossiler Energieträger keine Frage mangelnder Aufmerksamkeit, sondern sie wird beibehalten, weil konkrete Profitinteressen dahinterstecken. Und dass der Staat bereit ist, sich regenden Widerstand mit Kraft zu zerbrechen, hat er oft genug bewiesen. Lützerath, Danni und Hambi dienen hier als traurige Beweise. Es ist dabei auch nicht ausschlaggebend, wie „friedlich“ oder „gewalttätig“ der Protest selbst agiert.

Wir haben in den letzten Monaten gesehen, wie Sitzblockaden mit Schmerzgriffen abtransportiert werden und immer mehr Polizeigewalt gegen Aktivist:innen stattgefunden hat. Aktuell sind wir an dem Punkt, an dem versucht wird, selbst diese Form des gewaltfreien Protesten schon vorab zu verhindern. Wir müssen uns also politisch und organisiert verteidigen, selbst wenn wir nur grundlegende Rechte wie unsere Versammlungsfreiheit wahrnehmen wollen.

… und Selbstjustiz

Das Konzept der Selbstjustiz birgt weniger das Problem, dass es auf den bürgerlichen Staat vertraut. Vielmehr steckt hier die Annahme dahinter, dass dieser unfähig ist oder kein Interesse hegt, bestimmte Probleme anzugehen, und man somit selber aktiv werden muss. Als Revolutionär:innen lehnen wir Gewalt nicht prinzipiell ab. Wir wissen vielmehr, dass sie notwendig ist, wenn es darum geht, Strukturen zu schützen wie beispielsweise eigene Versammlungsräume oder – flächendeckender – wie Asylunterkünfte. Wir wissen, dass Streiks letztlich Streikposten erfordern. Und wir wissen, dass die herrschende Kapitalist:innenklasse revolutionär gestürzt werden muss.

Gleichzeitig dürfen wir uns nicht von moralischen Argumenten leiten lassen. Denn klar, nach Hanau scheint es besser, Rechten einfach vorsorglich aufs Maul zu hauen. Doch damit werden auch folgende Fragen aufgeworfen: Wenn wir uns das Recht herausnehmen zu richten, wenn man selber das macht, warum sollten es dann nicht andere Gruppen auch tun? Warum nur die radikale Linke? Und wer legt die Grundlage fest, auf der solche Entscheidungen gefällt werden? Macht es Sinn, einfach Nazis anzugreifen oder wäre es nicht sinnvoller, sich gezielt auf Kader zu stürzen oder bereits für Gewalt Bekannte?

Solange es keine Massenbewegung der Arbeiter:innenklasse gibt, sondern nur Kleingruppen, tendieren solche Entscheidungen immer auch zu einer gewissen Willkür. Gerechtigkeit ist also nicht nur eine moralische Frage, sondern auch eine der gesellschaftlichen Verhältnisse. In der aktuellen bürgerlichen Rechtsprechung profitieren bei sexueller Gewalt gegenüber Frauen von deren Vorteilen (Unschuldsvermutung, Beweislast beim Staat) oft auch Täter, genauso wie Rechte und Faschist:innen. Doch das heißt nicht, dass die Prinzipien wie Unschuldsvermutung an sich falsch sind, sondern es stellt sich vielmehr die Frage, wie diese umgesetzt und kontrolliert werden. Steht dahinter kein Plan, sondern nur individuelle Entscheidung, kommt es zu einer Verrohung der Gesellschaft, und auch das kann nicht unser Ziel sein. Zusätzlich kann es passieren, dass die Gewalt, die man ausübt, einen von breiteren Schichten der Bevölkerung isoliert, da diese die eigenen Entscheidungen nicht nachvollziehen können. Somit wären diese dann zwar subjektiv richtig, bringen uns aber als kollektive Bewegung nicht weiter.

Und was jetzt?

Beide Taktiken setzen also nicht wirklich an der Wurzel an, sondern versuchen, im bestehenden System Lösungsansätze zu finden. Das ist nicht an sich schlecht, aber das Problem ist, dass man so im Hamsterrad der gesellschaftlichen Probleme immer weiterläuft sowie sich zeitgleich der Willkür und des Ermessens des bürgerlichen Staates aussetzt. Spitzt sich die Situation weiter zu – und das kann ganz schnell beispielsweise unter einer von Merz geführten CDU an der Regierung passieren –, können Präventivhaft & Co so schnell ausgeweitet werden, dass man nicht mal mehr einen kleinen Schritt im Hamsterrad machen kann.

Das Nervige ist: Eine einfache Kampagne für demokratische Rechte ist mehr als dringend nötig. Allein, diese ist unzureichend. Das wäre so, wie bspw. Pfadfinder:innen in schlechten US-Komödien zu versuchen, an einer Tür Kekse zu verkaufen und nach 10 Minuten nochmal zu klingeln, es erneut zu probieren und sich dann zu wundern, warum man weggeschickt wird. Was braucht es dann also noch?

Neben einer Kampagne, die sich für die Rücknahme aller Repressionen und Verurteilungen der Letzten Generation und der im Leipziger Kessel Festgehaltenen einsetzt sowie für die Abschaffung des Paragraphen §129, müssen wir anfangen, eine Bewegung aufzubauen, die eine Basisverankerung an Schulen, Unis und in Betrieben aufweist.

Das heißt: Große, bundesweite Mobilisierungen, damit dann diese Basisarbeit vor Ort stattfinden kann. Also: Infoveranstaltung, aktive Diskussion mit Kolleg:innen und Vollversammlungen, bei denen eine Verbindung zwischen dem gesellschaftlichen Problem mit denen vor Ort gesucht wird sowie Forderungen formuliert und gemeinsam beschlossen werden. Das ist wichtig, um

a) mehr Leute zu erreichen und in Diskussion zu bringen als nur jene, die sich ohnedies für das Thema interessieren. Schule, Unis und Betriebe sind in der Regel Orte, die wir nicht meiden können, und die politische Diskussion an diese Orte zu tragen, sorgt dafür, diese auch zu beleben, damit man sich ihr weniger entziehen kann.

b) Aktionskomitees vor Ort aufzubauen, die solche Dinge organisieren und mehr Leute befähigen, aktiv eigene politische Entscheidungen zu treffen. Das hört sich theoretisch nach ’nem Plan an, aber praktisch bleibt die Frage offen, wie man dazu kommt, dass das nicht nur an wenigen Orten passiert, sondern flächendeckend.

Hier liegt die Aufgabe darin, Organisationen der Arbeiter:innenklasse in Bewegung zu setzen und aktiv Druck auszuüben, damit diese nicht nur verbal einem Protest zusagen, sondern auch die eigene Mitgliedschaft aufrufen, ihn vor Ort zu organisieren –, wie beispielsweise die Gewerkschaften oder die Linkspartei. Wenn auch nur ein Viertel von deren Mitgliedschaft eine aktive Rolle einnähme, brächte das einen signifikanten Unterschied an Mobilisierungskraft.

Bleibt zuletzt die Frage des Themas. Wie bereits geschrieben, wird eine Bewegung allein um demokratische Rechte in der aktuellen Situation wenig Erfolg erzielen. Deswegen muss das Ziel darin bestehen, dies mit aktuellen gesellschaftlichen Fragen zu verbinden. Dabei ist es zentral, nicht nur aus der Defensive zu agieren, das heißt drohende Verschlechterungen abzuwehren, sondern auch klare Verbesserungen zu erkämpfen. Ein praktisches Beispiel, was man nutzen könnte, sind die kommenden Streiks bei der Bahn und in der Tarifrunde Nahverkehr. Schon jetzt gibt es mit der Kampagne #wirfahrenzusammen Bestrebungen, dass Klimaaktivist:innen in die Betriebe gehen, um die gemeinsamen Kämpfe miteinander zu verbinden, und es ist sind auch gemeinsame Streiktage zwischen Beschäftigten und Umweltbewegung in Planung. Die Aufgabe von Organisationen wie Ende Gelände, Fridays for Future, marx21, dem SDS und generell der Linken in den Gewerkschaften läge darin, einen offenen Aufruf zu erstellen, der a) gemeinsame Forderungen vorgibt und b) die obig beschriebene Basisorganisation vorschlägt und deutlich sagt, dass die Gewerkschaften und DIE LINKE dies flächendeckend umsetzen sollten, um gemeinsam im Kampf gegen die Umweltzerstörung ein klares Zeichen zu setzen.

Im Rahmen dessen gilt es dann klar aufzuzeigen, dass wir unseren Protest nicht spalten lassen und für die Umsetzung demokratischer Rechte einstehen, drehen sie sich um unsere Proteste oder Streiks. Denn wir können uns schon denken, was passiert, wenn man bereits jetzt einzelne Aktivist:innen, die sich auf der Straße festkleben, als „organisierte Terrorist:innen“ bezeichnet, sollten Eisenbahner:innen und Busfahrer:innen streiken und die Infrastruktur lahmlegen. Dabei ist die Frage des kostenlosen öffentlichen Personenverkehrs, verbunden mit massiven Investitionen und höherem Personalschlüssel, die zentrale Forderung, um gemeinsam voranzukommen, einen Erfolg praktisch zu erkämpfen. Das geht aber nur, wenn wir die Angriffe auf demokratische Rechte aktiv mit den zu erwartenden Protesten verbinden.




Großer Alarm in Lützi: Cops stürmen den Ort

Leo Drais, Infomail 1210, 11. Januar 2022

Es wird endgültig Ernst. Heute Morgen wurden die Bewohner:innen und Aktivist:innen in Lützerath  von einem Großaufmarsch der Polizei geweckt. Eine endlose Schlange Bullenwannen zog sich durch den Tagebau Garzweiler. Ihr Ziel ist für heute wohl, einen Zaun um den Ort zu errichten und Barrikaden zu beseitigen. Damit sie dafür freie Hand erhalten, haben sie den Ort gestürmt. Die Besetzer:innen haben sich auf Baumhäusern und Häusern verschanzt, Tripods und Konstruktionen sind besetzt, Sitzblockaden wurden gebildet. Die Polizei arbeitet sich mit Schweißbrennern und schwerem Werkzeug an einbetonierten Stahlträgern ab, Klettercops räumen Strukturen.

Wir lassen uns nicht spalten!

Ideologische Helferin der Bullen und damit von RWEs Profitinteressen ist die Presse, insbesondere die aus dem Haus Springer und anderer Privater. Während im WDR eine Reporterin ihrem Kollegen im Studio noch versucht zu widersprechen, als dieser meinte, im Studio hätte man noch nichts von Polizeigewalt gehört, gibt es für WELT-Abonnent:innen die erwartbare einseitige Berichterstattung. Steinwürfe und Molotowcocktails von Aktivist:innen sind Gewalt. Prügeln, Pfeffern, Schmerzgriffe, Schläge, Stürmen, Schubsen – alles gegenüber friedlichen Aktivist:innen – werden nicht beim Namen genannt: Gewalt, ganz zu schweigen von der Brachialgewalt, die von Räumpanzern, Wasserwerfern, Abrissbaggern bis hin zu den Schaufelradbaggern RWEs ausgeht.

Diese Zerstörung Lützeraths und damit unserer Lebensgrundlagen ist nichts anderes als rohe kapitalistische Gewalt, deren Soldat:innen die Cops sind. Im Fernsehen und Internet wurden heute morgen auch gewerkschaftliche Vertreter:innen der Bullen interviewt. Es soll der Anschein entstehen, sie machen da nur ihren Job, so wie andere Beschäftigte auch. Aber Bullshit! Cop sein ist keine Arbeit wie alle anderen. Sie ist weder politisch neutral (die Politik war‘s, die entschieden hat, Lützerath zu räumen) noch demokratisch (oder gibt es irgendeine zivile Kontrolle über die Polizei?). Sie ist eine hörige gewalttätige Vollstreckerin der Manager:innen von RWE und deren Lakai:innen in der Berufspolitik, die wie schon im Danni und im Hambi Leben gefährdet. um die gewinnbringende Zerstörung der Erde voranzutreiben. Und daher: Bullen raus aus dem Deutschen Gewerkschaftsbund – ihr seid keine Arbeiter:innen!

Die ganze Unterscheidung zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit dient nur dazu, den Protest zu spalten. Herbert Reul forderte völlig zynisch bei der Einweihung einer Polizeiwache, dass sich „die, die das Klima und nicht Chaoten schützen wollen“ von den „Randalierenden distanzieren sollen“! Fallen wir nicht darauf rein! Reul und seine Knüppelgang sind es, die gerade in Lützerath randalieren und Strukturen angreifen!

Lützi ist ein solidarischer Ort. Ob Sitzblockade, Lockon oder auch, wenn Menschen aktiven Widerstand leisten (also Militanz, aka Gewalt), ist legitim und Lützerath hat Platz für alle, solange Rücksicht aufeinander genommen wird. Denn durch Lützi läuft die 1,5-Grad-Grenze. Ihre Verteidigung ist für viele Menschen überlebensnotwendig!

Viele Menschen waren in den letzten Tagen in Lützi, aber haben es wieder verlassen müssen, weil sie zur Arbeit müssen, sich Verhaftungen und Repression nicht leisten können, schlicht Angst vor behelmten Gewalttäter:innen haben. Aber sie waren da, haben sich eingebracht, sind immer noch da, unterstützen das „Unser aller Camp“ in Keyenberg, was nun zum Rückgrat von Lützi wird. Oder sie sind in Gedanken bei den Aktivist:innen, unterstützen sie finanziell oder planen ihre Anreise zur Großdemo am 14. Januar. Alles das ist wichtig! Lützi ist viel mehr als die Bilder, die die Presse zeigt! Es ist eine Bewegung, die sich von der Regierung und insbesondere von den Grünen verraten fühlt. Es sind Anwohner:innen des Tagebaus, die vielleicht selbst in ihrer Vergangenheit vertrieben wurden. Es sind die, denen FFF nicht genug war.

Wie gewinnen wir?

Wer es noch kann – auf nach Lützi! Es wird auch vom Camp in Keyenberg aus immer wieder Aktionen geben, um die Besetzung zu unterstützen. Wer sich da verständlicherweise nicht rein traut – auch kein Problem! Es gibt viele andere Aufgaben: Küfa, Shuttle fahren, Camp aufbauen und vieles mehr.

Die Klimabewegung geht mit Lützi einen wichtigen Schritt. Viele verlieren das Vertrauen in die Grünen, die hier ihre lange Tradition klimazerstörender, bürgerlicher Realpolitik fortsetzen. Der Danni und der Hambi grüßen genauso wie der Plan, eine Erdgasinfrastruktur hochzuziehen, die uns auf Jahre weiter an fossile Energie binden wird. Ob‘s die Welt ruiniert, ist den Grünen egal. Hauptsache es kommt nicht aus Russland!

Zurecht pragert die Vorsitzende der Linkspartei, Janine Wissler, den neuerlichen und sicher nicht letzten Verrat der Grünen (und natürlich auch der SPD) an. Doch sie schweigt sich darüber aus, dass auch Berliner Bullen trotz rot-grün-roter Landesregierung an der Räumung beteiligt sind. Wir fordern die Linkspartei auf, mit diesen Halbheiten zu brechen und den Kampf ohne Wenn und Aber voll zu unterstützen!

Viele Klimaaktivist:innen haben zudem in den letzten Jahren ihren Weg zum Antikapitalismus gefunden. Gut so, denn ohne diesen ist jeder Versuch eines Klimaschutzes im Endeffekt nur Zeit Schinden oder Greenwashing. Es gibt keinen grünen Kapitalismus. Dass Lützi auch den Versuch darstellt, eine andere, solidarische und rücksichtsvollere Art des Zusammenlebens im Kleinen umzusetzen, ist deswegen auch nur konsequent.

Aber Lützi alleine reicht leider nicht. Wir brauchen Klimaklassenkampf! Wir brauchen politische Streiks, die die Forderung nach einer schnellstmöglichen Energiewende durchsetzen – ohne die Kohle unter Lützi! Wir brauchen Betriebsbesetzungen, die für eine nachhaltige Produktion eintreten  (passiert gerade in Italien in einer kleinen Autoteilefabrik bei Florenz).

Die Gewerkschaftsspitzen von IG BCE oder IG Metall wollen davon natürlich nichts wissen. An den Tischen von RWE und VW frisst es sich gut. Umso wichtiger ist es, dass kämpferische Gewerkschafter:innen sich gegen diese Machenschaft organisieren, in den Gewerkschaften eine (klima-)klassenkämpferische Opposition aufbauen. Und umso wichtiger ist es, dass Lützerath auch einen Schritt hin zu einer engen, organischen Verbindung zwischen Klimabewegung und Arbeiter:innenbewegung setzt. Möglichkeiten gibt es viele: Dieses Jahr stehen Tarifrunden bei der Bahn, der Post und im öffentlichen Dienst an. Klimaaktivist:innen sollten hier den Kontakt und den Austausch suchen und Arbeitskämpfe unterstützen, sie politisieren. Besonders im Transportbereich von Bahn und Post bietet es sich an, Themen rund um die Klimakrise einzubringen. Umgekehrt stellt jetzt Lützerath eine große Chance dar. Alle Gewerkschaftslinken sollten sich auf den Weg dorthin machen, wenn sie können. Überlassen wir das Thema nicht den Bossen unserer Gewerkschaften!

  • Lützi bleibt, damit die 1,5-Grad-Grenze bleibt!

  • Freiheit für alle Aktivist:innen – Klima schützen ist kein Verbrechen!

  • Kein Zaun um Lützerath – sofortiger Abbruch des Polizeieinsatzes!

  • Kolleg:innen von der IG BCE: Brecht mit RWE!

  • Kommt am 14. Januar zur Großdemo nach Lützerath!

Unterstützung aus der Ferne

Spendet an die Bewegung vor Ort: Kontoinhaberin: Lützerath lebt, IBAN:  DE24 4306 0967 1204 1870 01, Verwendungszweck: Lützi Lebt.

Oder via PayPal: nutzt gerne den Weg der Überweisung, da wir bei Paypal Gebühren an Elon Musk zahlen müssen: https://cutt.ly/OJAyBsa

Achtet auf Solidemos in Euren Städten!

Macht Solifotos und schickt sie an https://luetzerathlebt.info/ticker/




Nein zur Kriminalisierung der Palästina-Solidaritätsbewegung!

Martin Suchanek, Infomail 1150, 21. Mai 2021

Der Unterschied könnte nicht größer sein. Am 15. Mai, dem bisherigen Höhepunkt der Solidaritätsbewegung mit dem Widerstand in Palästina und einer neuen, entstehenden Intifada, gingen in Deutschland Zehntausende, in Europa Hunderttausende auf die Straße. In Palästina erhebt sich eine neue Generation gegen die weitere Vertreibung, gegen Entrechtung und Annexion, gegen Neokolonialismus und Imperialismus. Der Generalstreik in Israel und in den besetzten Gebieten, die Solidarität mit der Bevölkerung in Gaza, die Erhebung in den Flüchtlingslagern und unter der palästinensischen Diaspora verdeutlichen, dass wir am Beginn einer neuen Massenbewegung stehen. Sie wird von einer neuen Generation von KämpferInnen getragen, von denen viele nach einer politischen Alternative zur Fatah, zur Palästinensischen Autonomiebehörde und zur Hamas suchen.

Alle, die sich mit dem palästinensischen Volk solidarisieren, haben schlichtweg begriffen, dass es sich um einen gerechtfertigten Kampf gegen die Unterdrückung und für Selbstbestimmung handelt. In den Ländern Europas und auch in der Bundesrepublik gingen in den letzten Wochen vor allem die am meisten unterdrückten Teile der Gesellschaft auf die Straße: migrantische ArbeiterInnen und Jugendliche. Unterstützt wurden sie von jenen Teilen der Linken und der ArbeiterInnenklasse, die für Internationalismus und Antiimperialismus stehen. In Ländern Südeuropas wie Italien oder in Skandinavien solidarisieren sich außerdem auch Gewerkschaften, linke Parteien und demokratische Bewegungen mit Aktionen bis hin zu Arbeitsniederlegungen und Boykottaktionen in den Häfen, um die Verschiffung von Waffen nach Israel zu blockieren.

Parlamentarische Inszenierung

Das Kontrastprogramm zu diesem Akt internationaler Solidarität liefert das politische Establishment in Europa und der Bundesrepublik: Die bedingungslose Solidarität mit Israel, mit dem Unterdrücker. In der EU geht diese sogar so weit, dass der ungarische Premierminister, Rassist und Antisemit Orbán, zugleich ein enger politischer Freund des israelischen Regierungschefs Netanjahu, eine Resolution der EU-AußenministerInnen blockieren ließ, weil diese nicht einseitig genug war. Darin wurde zwar die Hamas als Aggressorin benannt und Israels „Selbstverteidigungsrecht“ betont, aber auch die Forderung nach einem „sofortigen Stopp aller Gewalt“ und der „Umsetzung einer Waffenruhe“ erhoben. Schon das ging dem Rechtsaußen zu weit.

Die Scharade um die EU-Außenpolitik soll jedoch keine Zweifel aufkommen lassen, wo die imperialistische Allianz unter deutsch-französischer Führung steht – auf Seiten des imperialistischen Vorpostens. Von AfD, über FDP, CDU/CSU, SPD, Grüne bis hin zu den SprecherInnen der Linkspartei herrscht im deutschen Bundestag eine wirklich breite, reaktionäre Einigkeit: Die bedingungslose Solidarität mit Israel gilt als Staatsräson. Ob für Beatrix von Storch oder Gregor Gysi, Christian Lindner oder Olaf Scholz, Armin Laschet oder Annalena Baerbock: Alle stehen auf Seiten des Aggressors, alle verteidigen die Vertreibung der PalästinenserInnen. Geteilter Meinung sind sie allenfalls dann, wenn darüber räsoniert wird, ob Israel nicht „übertrieben“ hätte mit Unterdrückung und Repression, ob es nicht auf weitere Annexionen und Vertreibungen verzichten solle. Dass der US-amerikanische Imperialismus und die EU die israelische Regierung zu einem Waffenstillstand zwangen, spiegelt vor allem wider, dass sie ein breiteres Bündnissystem unter Einschluss der Türkei und arabischer Regime stabilisieren wollen, nicht an einer ehrlichen Sorge um Menschenrechte. Den parlamentarischen Worten folgen daher in Deutschland und Europa auch Taten gegen die Solidaritätsbewegung.

Kundgebung der KriegstreiberInnen

Bei Reden im Bundestag wollen es die Parteien nicht belassen. Unter dem Motto „Solidarität mit Israel – Gegen jeden Antisemitismus“ sprachen VertreterInnen der israelischen Botschaft, der Stadt Berlin, des Bundestages und aller Bundestagsparteien mit Ausnahme der AfD am 20. Mai am Brandenburger Tor. Die AfD, an deren Israelsolidarität und antimuslimischem und antiarabischem Rassismus kein Zweifel bestehen kann, wurde aus Gründen der politischen Korrektheit nicht angefragt, um der ganzen Angelegenheit einen demokratischen Anstrich zu geben. Inhaltlich nachvollziehbar ist es eigentlich nicht, warum der Rechtspopulismus bei dieser chauvinistischen Versammlung von KriegstreiberInnen fehlen soll.

Umso erbärmlicher ist, dass sich nicht nur die Grüne Baerbock und der SPD-Vize Scholz mit ihren Bekenntnissen zur Staatsräson einfinden sollten, sondern auch DGB-Chef Hoffmann und der Spitzenkandidat der Linkspartei zu den Bundestagswahlen, Dietmar Bartsch. Verwunderlich ist das zwar nicht, schließlich gehören Sozialchauvinismus und proimperialistische Positionen zum täglichen Brot deutscher staatstragender, sozialpartnerschaftlicher GewerkschaftsbürokratInnen oder reformistischer Apparatschiks und Abgeordneter. Aber die offene Verteidigung des Aggressors und Unterdrückerstaates Israel offenbart, wie tief die deutsche ArbeiterInnenbewegung, DGB, SPD, aber auch die Linkspartei politisch gesunken sind.

Mit dieser ungeschminkten Parteinahme heben sie sich negativ von den meisten ihrer europäischen Schwesterorganisationen ab, die eine „neutrale“ oder sogar eine propalästinensische Position einnehmen bis hin zur Unterstützung der Protestkundgebungen, der BDS-Bewegung oder sogar direkter gewerkschaftlicher Aktionen. In der Bundesrepublik erscheint das undenkbar. Hier treten PolitikerInnen wie Bartsch sogar im Gegensatz zu den Beschlüssen der Linkspartei auf, um ihre Nähe zur Regierung auszudrücken. Auch den Sozialdemokraten und DGB-Vorsitzenden Hoffmann kümmern die zahlreichen friedenspolitischen und pazifistischen Beschlüsse von Gewerkschaftstagen nicht weiter, wenn er beim Support für die modernste und best ausgerüstete Militärmacht im Nahen Osten dabei sein darf.

Mit dieser reaktionären Politik, die Kritik an Israel und Widerstand gegen seine neokoloniale Politik mit Antisemitismus gleichsetzt, entfremden sich die deutschen Gewerkschaften und reformistischen Parteien weiter von MigrantInnen und Geflüchteten, ja wirken regelrecht abstoßend. Und das zu Recht. In der aktuellen Situation stellen sie als Organisationen der ArbeiterInnenaristokratie, also der relativ privilegierten  Lohnabhängigen, eine soziale Hauptstütze des deutschen Imperialismus und seiner Außenpolitik dar. Die Solidarität mit Israel beinhaltet daher immer auch die Unterstützung der ökonomischen und geostrategischen Interessen des deutschen Kapitalismus und der von ihm dominierten EU.

Flankendeckung für Hetze

Damit erleichtern DGB, SPD und auch weite Teile der Linkspartei den offen bürgerlichen Parteien und Medien ihre systematische Desinformation und Hetze sowie den Ruf nach noch mehr Überwachung, Kriminalisierung und Verbot von palästinensischen Organisationen und Vereinen.

Einen Aspekt dieser Hetze bildet die pauschale Diffamierung von Demonstrationen gegen die israelische Politik als antisemitisch und als Unterstützung von angeblichen TerroristInnen. Dies findet mehr oder weniger deutlich in ganz Europa statt. So wettert in Frankreich auch Macron eifrig gegen die Aktionen von PalästinenserInnen, AraberInnen und ihre UnterstützerInnen in der französischen Linken. Im Unterschied zu Deutschland stimmen die Parteien der französischen Linken – einmal von den SozialdemokratInnen abgesehen – nicht darin ein. Auch viele Gewerkschaften kritisierten zumindest die israelische Politik, manche beteiligen sich auch offen an Solidaritätsaktionen mit Palästina.

In Deutschland hingegen rechtfertigt die große Mehrheit der ReformistInnen und BürokratInnen die israelische Politik, verteidigt letztlich die UnterdrückerInnen. Daher werden die Demonstrationen der letzten Wochen unisono als antisemitisch diffamiert.

Um diese Entstellung und Demagogie zu rechtfertigen, werden Übernahmeversuche der Demonstrationen durch die türkische Rechte (AKP, Graue Wölfe) sowie Einzelfälle antisemitischer Äußerungen als Vorwand verwendet, um die Solidaritätsdemonstrationen insgesamt zu diffamieren.

Geflissentlich wird dabei verschwiegen, dass bei der großen Mehrheit der Aktionen überhaupt kein Antisemitismus zutage trat und deren OrganisatorInnen die Abgrenzung zu etwaigen antisemitischen Kräften systematisch betrieben. So erklärte „Palästina Spricht“ in einem vor dem Nakba-Tag veröffentlichten Statement:

„Allen, die meinen, sie müssen ihren Antisemitismus unter dem Vorwand der Palästinasolidarität verbreiten, sei Folgendes ans Herz gelegt: Wir brauchen Eure ‚Solidarität’ nicht. Wenn Ihr Juden hasst, habt Ihr nichts bei uns verloren. Wir sind für ein freies Palästina, weil wir gegen alle Formen von Unterdrückung und menschenbezogener Feindlichkeit sind. Wir sind gegen den zionistischen Apartheidstaat Israel, aber wir sind auch gegen seine Gleichsetzung mit dem Judentum. Diese Gleichsetzung ist genauso antisemitisch wie der Spruch ‚Scheiß Juden’. Wir stehen an der Seite der Juden und Jüdinnen, die nun von einigen für die Taten Israels verantwortlich gemacht und angegriffen werden, nur weil sie Juden und Jüdinnen sind. Und wir rufen gleichzeitig dazu auf, die brutale Gewalt, die von Israel ausgeht, und Dutzende Menschenleben kostet, zu verurteilen.“

Nicht nur die Worte sind deutlich und klar, auch die OrdnerInnen und RednerInnen agierten in den meisten Städten gemäß dieser Erklärung. Überhaupt bestand die große Stärke vieler Massendemonstrationen gerade in der Vielfalt der TeilnehmerInnen, in deren internationalem und internationalistischem Charakter.

Daher bedienen sich die GegnerInnen der Palästinasolidarität einschließlich ihrer Anhängsel in Gewerkschaften, reformistischen Parteien und unter sog. radikalen Linken einfach einer Umdefinition des Begriffs Antisemitismus. Demzufolge gelten sogar die Losung „From the river to the sea, Palestine will be free“, der Aufruf zu einer Intifada oder die Forderung nach einer Einstaatenlösung und dem Rückkehrrecht für alle PalästinenserInnen als „antisemitisch“ und „gewalttätig“.

Kurzum, das Eintreten für eine demokratische Lösung sowie für die Abschaffung und Aufhebung aller Formen der Unterdrückung der PalästinenserInnen, die in der Forderung nach dem Rückkehrrecht und einem gemeinsamen multinationalen Staat ausdgerückt ist, erscheint als „antisemitisch“ – und das, obwohl die Zweistaatenlösung in der Realität längst erledigt ist. Der Ruf nach einer neuen Intifada wird als „gewalttätig“ diffamiert. Wir bekennen uns schuldig. Wir verteidigen nicht nur das Recht der Unterdrückten, sich gegen ihre Unterdrückung zu erheben. Die Erfahrung von Jahrzehnten hat vielmehr gezeigt, dass nur der organisierte Massenwiderstand wie jüngst im Generalstreik und massenhafte internationale Solidarität Erfolg bringen können. Sie sind es auch, die die reaktionäre Einheit von jüdischer Bourgeoisie und ArbeiterInnenklasse im zionistischen Israel aufbrechen und die antizionistische Linke stärken können.

Der deutsche Staat und seine ParteigängerInnen in Gewerkschaften und reformistischen Parteien lehnen eine solche Perspektive der Veränderung ab. Sie verteidigen vielmehr den Status quo, der im Krieg hunderten PalästinenserInnen den Tod durch Bomben und im Frieden den Tod durch Blockade, Hunger und Überausbeutung bringt. Sie verteidigen einen Status quo, der auf systematischer Unterdrückung basiert und damit einen wirklichen Frieden, ein gleichberechtigtes Zusammenleben zwischen Juden/Jüdinnen und PalästinenserInnen verhindert. Und sie verharmlosen den wirklichen wachsenden Antisemitismus der extremen Rechten und des Rechtspopulismus in Deutschland und Europa.

Es ist daher unbedingt notwendig, dass die internationalistische und klassenkämpferische Linke die Solidaritätsbewegung mit Palästina unterstützt und gleichzeitig den Kampf gegen die prozionistischen KriegstreiberInnen und HetzerInnen in der ArbeiterInnenbewegung aufnimmt. Unmittelbar ist sicherlich die Auseinandersetzung in der Linkspartei von großer Bedeutung, weil es dort noch verhältnismäßig viele GegnerInnen der Besatzungspolitik gibt. Aber strategisch nicht minder bedeutend ist es auch, diese Konfrontation in die AnhängerInnenschaft der SPD und vor allem in die Gewerkschaften zu tragen, um die ideologische Vorherrschaft des Sozialchauvinismus zu bekämpfen und vor allem die Gewerkschaften zu Instrumenten der internationalen Solidarität umzugestalten.

Nein zur Kriminalisierung! Schluss mit Überwachung und Terrorlisten!

Der Kampf gegen die Solidaritätsbewegung nimmt nicht nur die Form von Hetze, Lügen und ideologischen Rechtfertigungen an. Seit Jahren finden sich zahlreiche palästinensische politische Organisationen und Vereine auf den sog. Terrorlisten in Deutschland und der EU. Die Aktivitäten von GenossInnen und AktivistInnen werden überwacht, deren demokratisches Rechte auf Meinungs- und Organisationsfreiheit eingeschränkt oder außer Kraft gesetzt. Legale Vereine werden bespitzelt und überwacht. Dies betrifft sowohl islamistische Organisationen wie die Hamas als auch jene der Linken wie beispielsweise die PFLP.

In Frankreich, aber auch in Deutschland und Österreich wurden in den letzten Wochen Demonstrationen in Solidarität mit Palästina verboten oder aufgelöst. Einerseits wurde den OrganisatorInnen eine Unterstützung des „Terrorismus“, also die Solidarität mit dem Widerstand, vorgeworfen, zum anderen „Antisemitismus“ und der Verstoß gegen den Infektionsschutz.

Die ArbeiterInnenbewegung und die Linke müssen alle diese Verbote kategorisch ablehnen und bekämpfen. Der deutsche, französische oder österreichische Staat, ihre Polizeikräfte und Gerichte sind keine vorgeblich neutralen SchiedsrichterInnen im sog. Nahostkonflikt. Sie stehen letztlich auf Seiten einer Partei, des Unterdrückers, weil Israel auch ihre wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen verteidigt.

Daher lehnen wir das Verbot aller palästinensischen Organisationen ab, die sich auf den sog. Terrorlisten befinden. Zweifellos finden sich darunter auch reaktionäre Organisationen wie die Hamas, die auch zurecht des Antisemitismus beschuldigt werden. Doch es ist eine verlogene Vorstellung, dass es bei diesen Verboten um den Kampf gegen reaktionäres Gedankengut ginge. Schließlich findet sich in der illustren Gemeinschaft der europäischen Volkspartei nach wie vor Fidesz, um nur ein Beispiel zu nennen, unter den Mitgliedsorganisationen. In den Reihen und im Umfeld von FPÖ, AfD und RN finden sich zahlreiche militante, hartgesottene RassistInnen, AntisemitInnen und sonstige kleinbürgerliche ReaktionärInnen. An ein Verbot dieser AnhängerInnen weißer Vorherrschaft denkt in der EU oder in der Bundesrepublik niemand. Schließlich könnten sie ja wieder oder noch als KoalitionspartnerInnen und als VerteidigerInnen des Abendlandes gebraucht werden.

Beim Verbot der Hamas und anderer islamistischer Organisationen geht es also nicht um den Kampf gegen den Antisemitismus, sondern um imperialistische Herrschaftssicherung und Rassismus. Zudem bildet das Verbot reaktionärer Organisationen in migrantischen Communities Gerichten, Verfassungsschutz und Polizei einen Vorwand zur Bespitzelung und zu Untersuchungen aller MigrantInnen und Geflüchteten und zu einer unerträglichen Gesinnungsschnüffelei. Nichts anderes nämlich sind die Forderungen von rechten und konservativen PolitikerInnen, dass der Aufenthaltsstatus von MigrantInnen an Bekenntnisse zum Existenzrecht Israels gebunden werden solle (und damit selbst das Eintreten für einen demokratischen, säkularen binationalen Staat schon als Abschiebegrund interpretiert werden könnte).

So wichtig der Kampf gegen reaktionäre, islamistische Strömungen auch ist, so handelt es sich dabei um eine politisch-ideologische Auseinandersetzung, die von einer klassenkämpferischen und internationalistischen Linken nur gewonnen werden kann, wenn sie sich klar gegen jede Kriminalisierung, jede rassistische Überwachung und Ausgrenzung der Communities stellt. Generell kann der Kampf gegen populistische, autoritäre oder gar faschistische Organisationen – egal ob deutsche oder türkische FaschistInnen wie die Grauen Wölfe – nicht dem bürgerlichen Staat überlassen werden. In den Händen des deutschen, französischen oder sonstigen demokratisch-imperialistischen Staates würden solche Verbote vor allem zu einem Vorwand für rassistische Unterdrückung und polizeiliche Kontrollen.

Dies zeigt sich vor allem auch darin, dass die Verbote und Kriminalisierungsversuche der EU und der westlichen Staatengemeinschaft linke Organisationen, Befreiungsbewegungen oder Solidaritätskampagnen weitaus mehr als rechte treffen. Letztere verfügen in der Regel über finanzkräftigere Unterstützung, Verbindungen zu reaktionären Regimen und damit auch mehr Mittel, der Repression auszuweichen.

Gegen linke Organisationen wie die PFLP oder die PKK hingegen arbeiten die deutschen, französischen oder europäischen Geheimdienste und Polizeibehörden eng zusammen. Natürlich kollaborieren sie dabei auch mit verbündeten reaktionären Regimen, seien es die Türkei oder arabische Staaten.

Zum Schweigen bringen

Die Repression gegen linke Befreiungs- und Widerstandsorganisationen trifft dabei nicht nur ihre AktivistInnen, ihre Infrastruktur oder Versammlungsräume. Vor allem dient sie auch dazu, diese politisch zum Schweigen zu bringen. Das Verbot ihrer Aktionen, Veranstaltungen und Publikationen bedeutet auch, dass sie ihre politische Strategie, ihre Politik und ihr Programm nicht offen vertreten und zur Diskussion stellen können. Sie sind gezwungen, diese vor der Öffentlichkeit zu verbergen.

So wie widerständige SklavInnen im Kolonialismus (und wie im Grunde alle in die Illegalität gezwungenen Organisationen) sind sie gezwungen, ihre Überzeugungen und Auffassungen in einer Art SklavInnensprache zu formulieren, die Sprache des antiimperialistischen Widerstandes durch jene des bürgerlich-demokratischen Protests zu ersetzen und zu verwässern. Diese staatlich auferlegte Zensur führt über die unmittelbare Repression hinaus auch zu einer Verschiebung des öffentlichen Diskurses und trägt so zur Marginalisierung und Kriminalisierung der politischen Auseinandersetzung um Strategien unter verschiedenen Strömungen der Linken bei. Mit dem Verbot linker Organisationen wird also nicht nur deren Handlungsfreiheit eingeschränkt, es führt auch zu einer generellen Einschränkung der Meinungsfreiheit und zu einer Verengung des politischen Horizonts und Diskurses in der Linken. Zur Herausbildung eine revolutionären Strategie (inklusive der Kritik von falschen Konzepten von Linken und Befreiungsorganisationen) bedarf es aber einer möglichst offenen, kontroversen Diskussion. Ansonsten wird die politische Formierung eines revolutionären Subjekts selbst erschwert, ja blockiert. Dies ist kein Abfallprodukt der Kriminalisierung und Einschränkung demokratischer Freiheiten für linke, klassenkämpferische, revolutionäre und antiimperialistische Organisationen, sondern ein essentieller Bestandteil ebendieser. Der Kampf gegen die EU-Terrorlisten, gegen die Kriminalisierung von Organisationen wie der PFLP oder der PKK ist daher nicht nur ein unerlässlicher Akt internationaler Solidarität, sondern auch ein wichtiger Bestandteil für die Neuformierung einer revolutionären, internationalen Bewegung der ArbeiterInnenklasse selbst.




Solidarität mit der Jugend in Sheikh Jarrah! Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand!

Flugblatt von ArbeiterInnenmacht und REVOLUTION zum Nakba-Tag, 15. Mai, Infomail 1150, 19. Mai 2021

Seit Montag, den 10. Mai, bombardiert die israelische Luftwaffe Gaza. Mindestens 119 Menschen, darunter 9 Kinder, wurden nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums bis zum Morgen des 14. Mai getötet, mehr als 800 wurden verletzt. Die israelischen Streitkräfte flogen hunderte Angriffe, nahmen Gaza mit Artilleriefeuer unter Beschuss und drohen mit einem lange anhaltenden Bombardement oder sogar dem Einsatz von Bodentruppen.

Die Regierung Netanjahu und die Armeeführung präsentieren und rechtfertigen die Bombardierungen einmal mehr als Akt der Selbstverteidigung – und in ihrem Gefolge auch die westlichen imperialistischen Schutzmächte und Verbündeten Israels. Die Aktion wird als Reaktion auf den Abschuss von Raketen aus Gaza dargestellt, als Vergeltung auf eine vorhergehende Aktion der Hamas und des palästinensischen Widerstandes, die pauschal als „Terrorist_Innen“, „Islamist_Innen“ oder blutrünstige „Antisemit_Innen“ diffamiert werden. Während die deutsche, US-amerikanische und andere westliche Regierungen ihre Anteilnahme am Tod der jüdischen Zivilist_Innen ausdrücken und Israel ihrer bedingungslosen Solidarität versichern, kommen die palästinensischen Opfer nur am Rande vor.

Die ideologische Rechtfertigung der zionistischen Regierung wie ihrer westlichen UnterstützerInnen präsentiert die Palästinenser_Innen als Aggressor_Innen. Die regelmäßigen Aufrufe zu „Frieden“ und Waffenstillstand können niemanden darüber hinwegtäuschen, dass die imperialistischen Mächte allesamt am Status quo, an der weiteren Entrechtung, Vertreibung und Kolonisierung Palästinas nicht nur nichts ändern wollen, sondern dies unterstützen.

Verschwiegen wird daher, worum es im „Konflikt“ eigentlich geht, worin seine Ursachen eigentlich bestehen. Dabei verdeutlicht der Kampf gegen die Räumung palästinensischer Wohnungen und Häuser im Ostjerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah exemplarisch, worum es sich dreht: um die fortgesetzte, systematische Vertreibung und nationale Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung. Ostjerusalem soll die nächste Etappe der Vertreibung und Annexion durch den zionistischen Staat darstellen – eine fortdauernde, die mit der Gründung Israels und dessen Expansion untrennbar verbunden ist.

Sheikh Jarrah

Auch wenn mittlerweile die internationalen Meiden voll sind mit Berichten über Sheikh Jarrah, die Zusammenstöße von Polizei, zionistischen, rechten Siedler_Innen und palästinensischen Jugendlichen, so dienen diese wohl eher dem Einschwören auf die israelische und westliche politische Linie denn der Information.

Es wird nicht erwähnt, dass der zionistische Staat seit seiner Gründung unablässig fortfährt, Palästinenser_Innen aus ihren Wohnungen und Häusern zu vertreiben und dadurch in die Flucht zu zwingen. Es werden die rechten Gruppierungen nicht erwähnt, die friedlich Fasten brechende oder protestierende Palästinenser_Innen angreifen, sie aus ihren Häusern werfen und tatkräftig von den staatstragenden Parteien hofiert und unterstützt werden. Es wird beim Lob für Israels Impfkampagne nicht erwähnt, dass in den vom Staat besetzten israelischen Gebieten die Bevölkerung nicht nur keinen Zugang zum Impfstoff erlangt, sondern auch das gesamte Gesundheitssystem permanent vor dem Zusammenbruch steht. Palästinenser_Innen sind faktisch Menschen zweiter Klasse. Ihnen werden gleiche bürgerliche Rechte vorenthalten, Westbank und Gaza werden immer mehr von der Außenwelt abgeschottet.

Die rechte Regierung Netanjahu setzt seit Jahren auf einen aggressiveren Kurs der Vertreibung und der Annexion von Land in der Westbank infolge des Siedlungsbaus. Unter der Administration Trump und deren „The Deal of the Century“ wurde Jerusalem offiziell als Hauptstadt Israels anerkannt, eine Einladung an die zionistische Regierung, an Behörden und Gerichte sowie an rechte SiedlerInnen, die Annexion Ostjerusalems voranzutreiben.

Al-Aqsa, Jerusalem und der Widerstand

Gegen die Räumung palästinensischer Häuser und Wohnungen wehren sich seit Tagen vor allem Jugendliche in Ostjerusalem. Dagegen ging die Polizei mit äußerster Brutalität, mit Blendgranaten und Wasserwerfern vor. Hunderte wurden zum Teil schwer verletzt, um Unrecht und Ordnung der Herrschenden aufrechtzuerhalten.

Anlässlich des „Jerusalem-Tages“, an dem in Israel die Annexion Ostjerusalems im Zuge des 6-Tage-Krieges von 1967 gefeiert wird, eskalierten rechte Siedler_Innen am 10. Mai bewusst die Lage, indem sie trotz der Spannungen ihren jährlichen reaktionären Fahnenmarsch durchführten. Diesmal wurde aus der gezielten Provokation faktisch ein Angriff auf die al-Aqsa-Moschee.

Dabei wurden bewusst und provokant religiöse Gefühle verletzt. Im Kern geht es aber um keine Glaubensfrage, sondern darum, den national und rassistisch Unterdrückten ihre Ohnmacht, ihre Chancenlosigkeit vorzuführen.

Der Widerstand gegen die Räumungen bildet daher nur einen Aspekt eines größeren Kampfes gegen ein System der Unterdrückung, der Vertreibung, der fortgesetzten Kolonisierung und imperialistischen Ausbeutung.

Flächenbrand

Der Kampf um Sheikh Jarrah und um al-Aqsa wirkt wie der berühmte Funken, der das Pulverfass zu entzünden droht. In zahlreichen Städten in der Westbank gingen Jugendliche, Arbeiter_Innen, Bauern/Bäuerinnen und die verarmten Massen auf die Straße. In Nazareth, Kafr Kana oder Schefar’am brachen in der Nacht vom Montag zum Dienstag lokale Aufstände aus. In Gaza marschieren Hunderte, wenn nicht Tausende, an die von der israelischen Armee hermetisch abgeriegelte und hochmilitarisierte Grenze.

Hamas und verschiedene Gruppen des palästinensischen Widerstandes feuern hunderte Raketen auf Israel, wohl wissend um die blutige Antwort von dessen Luftstreitkräften. Doch diese verzweifelten Aktionen in einem asymmetrischen Krieg verdeutlichen auch die Entschlossenheit des palästinensischen Volkes, dessen Würde und Existenz untrennbar mit dem Widerstand gegen die Besatzung verbunden ist.

Dieser Widerstand gegen die Besatzung ist in all seinen Formen legitim. Dass Raketenangriffe auf die Zivilbevölkerung bei Unterdrückten als einziger Ausweg erscheinen, ist zwar nachvollziehbar, politisch sind sie aber kontraproduktiv. Dennoch unterscheiden wir als Revolutionär_Innen klar zwischen der Gewalt der Unterdrücker_Innen, des israelischen Staates und seiner Armee, und der Unterdrückten und solidarisieren uns mit dem Widerstand.

Eine neue Intifada liegt in der Luft. Die entscheidende politische Frage ist jedoch, wie sich diese ausweiten, wie sie siegen kann. Die zionistische Vertreibung und Expansion und die offene Unterstützung durch Trump haben schon in den letzten Jahren die PalästinenserInnen in eine immer verzweifeltere Lage gebracht und auch die politische Führungskrise in der Linken und Arbeiter_Innenklasse massiv verschärft. Auch wenn die Palästinensische Autonomiebehörde und die Hamas die Bewegung in Ostjerusalem unterstützen, so kollaboriert Erstere nach wie vor mit dem zionistischen Staat und jagt einer Verhandlungslösung nach. Auch die Hamas verfügt über keine Strategie zum Sieg und bietet eine reaktionäre, religiöse und keine fortschrittliche, demokratische oder gar sozialistische Perspektive im Interesse der Arbeiter_Innenklasse.

Die zentrale Frage besteht daher darin, wie die fortgesetzten Bombardements Israels gestoppt und die lokalen Aufstände der Jugend verbreitert werden können und in diesem Zug auch eine neue, revolutionäre Kraft in Palästina aufgebaut werden kann. Dies ist nicht so sehr eine organisatorische, sondern vor allem eine programmatische Frage.

Neue Intifada!

Um den Widerstand gegen die zionistische Aggression voranzutreiben, braucht es eine neue Intifada, die die Form eines Generalstreiks in den Werkstätten und auf den Feldern sowie der Einstellung jeder Kooperation mit den Institutionen der Besatzungsmacht annimmt. Die Möglichkeiten des rein ökonomischen Drucks in Palästina sind aufgrund der Ersetzung palästinensischer Arbeitskraft in vielen israelischen Unternehmen erschwert, wenn auch nicht unmöglich.

Von entscheidender Bedeutung könnte und müsste die Solidarität der Arbeiter_Innenklasse und Unterdrückten in den Ländern des Nahen Ostens sein, indem sie Israel und seine militärische Maschinerie durch Streiks und Weigerung, Waren zu transportieren oder Finanztransaktionen durchzuführen, unter Druck setzen. Dies könnte in Verbindung mit massenhaften Solidaritätsdemonstrationen auch die reaktionären arabischen Regime in Ägypten und Saudi-Arabien oder die vorgeblichen Freund_Innen der PalästinenserInnen wie Erdogan oder Chamenei entlarven und die Arbeiter_Innenklasse zur führenden Kraft im Kampf gegen den Zionismus machen.

Dieser Druck kann auch die klassenübergreifende Einheit zwischen Kapital und jüdischer Arbeiter_Innenklasse in Israel unterminieren und damit die Perspektive eines gemeinsamen Kampfes von palästinensischer Arbeiter_Innenklasse und Bauern-/Bäuerinnenschaft mit der jüdischen Arbeiter_Innenklasse gegen Zionismus und für einen gemeinsamen, multinationalen Staat unter Anerkennung des Rückkehrrechts aller Palästinenser_Innen eröffnen.

Schließlich müssen die Arbeiter_Innenklasse und die Linke in den imperialistischen Ländern selbst in Solidarität mit dem palästinensischen Volk auf die Straße gehen.

Die Bombardements, die Belagerung Gazas und die Siedlungsbauten in der Westbank haben auch jede Hoffnung auf die Zwei-Staaten-Lösung begraben. Angesichts der Vertreibung, der Aggression und Unnachgiebigkeit der israelischen Regierungen erweist sie sich nicht nur als reaktionär, sondern schlichtweg auch als komplett illusorisch, als diplomatische Farce. Die einzig mögliche demokratische Lösung besteht in der Zerschlagung des Systems der Apartheid und der rassistischen Grundlage des zionistischen Staates, im Recht auf Rückkehr für alle Palästinenser_Innen und in der Errichtung eines binationalen Staates auf der Basis vollständiger rechtlicher Gleichheit aller. Damit sie ohne nationalistische Gegensätze erfolgen kann, muss diese demokratische Umwälzung mit einer sozialistischen, mit der Enteignung des Großkapitals und Großgrundbesitzes verbunden werden.

  • Schluss mit der Besatzung! Keine Bomben auf Palästina!
  • Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand!
  • Rückkehrrecht für alle Vertriebenen!
  • Für einen binationalen Staat, in dem alle Staatsbürger_Innen gleiche Rechte haben unabhängig von ethnischer Herkunft und Religion!
  • Für ein sozialistisches Palästina als Teil Vereinigter Sozialistische Staaten des Nahen und Mittleren Ostens!



Frankreich: Nieder mit den „Sicherheits“-Gesetzen und der Straffreiheit der Polizei!

Marc Lassalle, Infomail 1128, 1. Dezember 2020

Die zweite Welle der Pandemie, verbunden mit einem zweiten monatelangen Shutdown, stellt sicherlich bei weitem nicht die beste Voraussetzung dar, um einen Abwehrkampf gegen das drakonische neue Sicherheitsgesetz von Staatspräsident Emmanuel Macron zu organisieren. Doch seine Regierung sieht sich plötzlich mit großem Widerstand konfrontiert: Mehr als hunderttausend marschierten am 28. November in Dutzenden von Demonstrationen im ganzen Land. Allein in Paris war die Demonstration massiv, und selbst das Innenministerium, das dafür berüchtigt ist, solche Zahlen herunterzuspielen, sprach von 46.000 daran teilnehmenden Menschen. Nach Angaben der OrganisatorInnen beteiligten sich 200.000!

Die Menschen auf den Straßen haben absolut Recht, das neue ultrarepressive Sicherheitsgesetz abzulehnen. Sollte es angenommen werden, würde es jede/n bestrafen, der/die Bilder von PolizistInnen mit dem Ziel verbreitet, „ihre physische oder psychische Integrität zu gefährden“. Natürlich sind die Bestimmungen absichtlich vage gehalten, aber wenn es angenommen würde, würde es die Rechte von JournalistInnen ernsthaft einschränken, ebenso wie die Freiheit von allen Menschen, missbräuchliche oder gewalttätige Handlungen der Polizei als Beweismittel für eine Anzeige zu filmen.

„Auf dem Weg zu einem Polizeistaat?“ lautet der Titel einer Analyse dieses Gesetzes, die vom Syndicat de la Magistrature, der Gewerkschaft der RichterInnen, erstellt wurde und in der behauptet wird, dass das Gesetz jede demokratische Kontrolle der Polizei noch weiter schwächen würde. Gérald Darmanin, Innenminister und Hauptbefürworter dieses Gesetzes, hatte den VertreterInnen der Polizei bereits vor der Abstimmung über das Gesetz in der Assemblée Nationale (dem französischen Parlament) versichert: „Seien Sie versichert, dass wir zusammen mit dem Präsidenten und dem Premierminister immer da sein werden, um Sie zu schützen.“

Laut der NGO-ReporterInnen von Sans Frontières (Ohne Grenzen) „könnten die PolizeibeamtInnen, wenn sie mit einem/r JournalistIn konfrontiert werden, der/die sie filmt, davon ausgehen, dass diese Bilder in großem Umfang mit dem Ziel reproduziert werden, sie zu kompromittieren, und könnten daher die betreffenden Personen festnehmen, um sie wegen eines offensichtlichen Vergehens zu verfolgen“. In der Tat hat Darmanin bereits klargestellt, dass JournalistInnen, die über Demonstrationen berichten wollen, sich bei den Polizeibehörden akkreditieren sollten, was eine weitere offensichtliche Verletzung der Rechte der Presse darstellt.

Tagtägliche Polizeigewalt und Rassismus

Zwei aktuelle Beispiel von Polizeimethoden machen deutlich, warum jede/r die bestehenden Rechte verteidigen sollte. Die erste ereignete sich am 24. November, als die Polizei etwa hundert MigrantInnen, die auf dem Place de la République (Platz der Republik) im Zentrum von Paris Zelte aufgeschlagen hatten, gewaltsam vertrieb. Einige MigrantInnen wurden brutal zu Boden geworfen, andere wie Müll aus ihren Zelten gezerrt, mit Schlagstöcken geschlagen und mit Tränengas besprüht. Selbst Darmanin fühlte sich genötigt, diese Bilder als „schockierend“ zu bezeichnen. Natürlich stellt das keinen „Einzelfall“ dar, sondern war und ist seit Monaten alltägliche Praxis im Umgang mit MigrantInnen und Roma, die zu Tausenden aus maroden Lagern rund um Paris und anderswo vertrieben wurden.

Der gewalttätige Überfall von vier PolizistInnen auf den (schwarzen) Musikproduzenten Michel Zecler, nur weil er keine Gesichtsmaske trug, begleitet von rassistischen Beleidigungen, erinnert uns ein weiteres Mal daran, dass Polizeibrutalität kein Einzelfall ist. Ohne diese Bilder wären diese Übergriffe unbekannt oder unbewiesen geblieben, und die Polizei würde von völliger Straffreiheit profitieren. Als Reaktion auf den Protest von „Black Lives Matter“ in den USA marschierten im Juni zwanzigtausend Menschen in Paris, um diese systematische Anwendung staatlicher Gewalt anzuprangern, wie z. B. den Erstickungstod von Adama Traoré im Jahr 2016 im Polizeigewahrsam, oder die Vergewaltigung eines jungen Mannes, Théo, mit einem Schlagstock, der so schwer verletzt wurde, dass er operiert werden musste usw. Beides geschah in Aulnay-sous-Bois im Norden von Paris.

Das neue Sicherheitsgesetz ist nur das letzte in einer langen Liste repressiver Maßnahmen, die oft im Gefolge von Terroranschlägen überstürzt eingeführt wurden: 30 solcher Gesetze in den letzten 20 Jahren. Vor einem Monat schockierte der brutale Mord an Samuel Paty, einem Lehrer, bei einem Terroranschlag das ganze Land. Diesen Schock versuchte die Regierung für repressive Gesetze zu missbrauchen – unter dem Vorwand, die „Meinungsfreiheit“ zu verteidigen – ein makaberer Witz, wenn man bedenkt, was sie selbst tut: das Arsenal der Sicherheitsgesetze zu verstärken und eine brutale Unterdrückung jeglicher Proteste vorzubereiten.

Dasselbe geschah unter allen früheren Präsidenten: Jacques Chirac, dann Nicolas Sarkozy und François Hollande. Abgesehen von der Stärkung eines Polizeistaates haben diese Maßnahmen auch ein kurzfristigeres Ziel: Sie zielen darauf ab, die rechten WählerInnen und sogar die AnhängerInnen des reaktionären Rassemblement National (des ehemaligen Front National; FN) davon zu überzeugen, dass Macron eine energische rechte Politik verfolgt und sie deshalb bei den nächsten Präsidentschaftswahlen im Jahr 2022 für ihn stimmen sollten. Es ist kein Zufall, dass alle wichtigen MinisterInnen der gegenwärtigen Regierung Macrons früher Persönlichkeiten der rechtsgaullistischen Partei UMP (Union pour un mouvement populaire; Union für eine Volksbewegung) waren, insbesondere Jean Castex (Premierminister), Gérald Darmanin (Innenministerium) und Bruno Le Maire (Wirtschaft).

Ein weiteres kürzlich von der Regierung vorgeschlagenes Gesetz gegen „Separatismus“ (gegen „antirepublikanisches Gedankengut“) stellt in Wirklichkeit ein weiteres islamfeindliches Gesetz dar, das nahelegen soll, dass der Islam unweigerlich hinter Unsicherheit und Terrorismus steht. Hinzu kommen eine weit verbreitete, von der Regierung geförderte Hexenjagd in den Medien, die Halal-Regale (mit Lebensmitteln gemäß islamischem Kodex) in Supermärkten als Zeichen von „Separatismus“ anprangert, Angriffe auf die „Islamo-Linke“ als gefährlichen Wundbrand an Universitäten oder die Schließung des Kollektivs gegen Islamophobie (CCIF), einer Organisation zur Verteidigung der Opfer antimuslimischer Angriffe.

Während die Regierung nun kleinere symbolische Gesetzesänderungen anbietet, fordern die Gewerkschaften zu Recht Einstellung und Aufgabe des gesamten Projekts. Die Solidarität zwischen allen Opfern des Rassismus und der organisierten ArbeiterInnenklasse ist unerlässlich für diesen Kampf. Angesichts einer neuen Welle von Massenentlassungen in wichtigen Unternehmen wie Renault, das die Schließung seines Werks in Flins, seines wichtigsten französischen Standorts, mit einem Verlust von 2.574 Arbeitsplätzen plant, wird das neue Sicherheitsgesetz morgen gegen ArbeiterInnen und Jugendliche in Streikposten, bei Betriebsbesetzungen oder auf der Straße eingesetzt werden, die ihre Arbeitsplätze und ihre demokratischen Rechte verteidigen.

Die Demonstrationen vom letzten Wochenende können zum Fanal für den Aufbau einer gemeinsamen Massenbewegung werden – gegen die sog. Sicherheitsgesetze, gegen Rassismus und zum Kampf gegen Schließungen und Massenentlassungen!




Pakistan: Von ArbeiterInnenprotesten zu ArbeiterInnenrevolten

Shehzad Arshad, Infomail 1104, 22. Mai 2020

Am Dienstag, dem 19. Mai, fanden in ganz Pakistan unter der Schirmherrschaft des Workers‘ Solidarity Committee (WSC; ArbeiterInnensolidaritätskomitee) Proteste statt. Unter den TeilnehmerInnen waren politische AktivistInnen, StudentInnen und Frauen. In vielen Städten schlossen sich ArbeiterInnen, die aus verschiedenen Fabriken entlassen worden waren, den Protesten an oder verknüpften ihre eigenen Aktionen damit. Insgesamt wurden trotz der von der Regierung auferlegten politischen Restriktionen in etwa 30 Städten Kundgebungen und Demonstrationen abgehalten.

Die Hauptforderungen des WSC sind:

  1. Keine Entlassungen oder Gehaltskürzungen! Unwesentliche Arbeiten sollten gestoppt, aber die ArbeiterInnen weitere volle Bezahlung und die Zusicherung der Aufrechterhaltung ihres Arbeitsplatzes am Ende der Krise erhalten!
  2. Brot und Medikamente für alle! Während dieser Abriegelung sollten jeder Familie Lebensmittel und grundlegende Medikamente im Wert von 30.000 Rupien (ca. 170 Euro) pro Monat zur Verfügung gestellt werden!
  3. Automatische Mietentlastung! Keine Arbeit, keine Miete!
  4. Keine Abzüge bei Rentenzahlungen!

Die Ziele des WSC bestehen darin, die Stimme der ArbeiterInnen gegen die Angriffe der herrschenden Klasse zu erheben, diese zu organisieren und eine Massenbewegung für den Schutz der Gesundheit und des Lebens der Lohnabhängigen aufzubauen.

Zu dieser Front gehören die Awami Workers‘ Party, der pakistanische Gewerkschaftsbund (PTUF), die National Trade Union Federation (NTUF; Nationaler Gewerkschaftsbund), Mazdoor Mahaz (PMM), die Women’s Democratic Front (WDF; Demokratische Frauenfront), Mehnat Kash Thereek (MKT), die Revolutionary Socialist Movement (RSM; Revolutionäre Sozialistische Bewegung), Workers‘ Democracy (WD; ArbeiterInnendemokratie), Mazdoor Ikhath (MI), die National Students Federation (NSF; Nationaler Studierendenverband) sowie weitere Organisationen. Obwohl sie erst um den 1. Mai dieses Jahres gegründet wurde, zeigt die Zahl der Proteste und Mobilisierungen trotz der politischen Restriktionen, die in der letzten Woche auferlegt wurden, das Potenzial dieser Initiative.

Aktionen

Die massiven Auswirkungen der Pandemiekrise und die wachsende Zahl von ArbeiterInnenkämpfen waren der Grund für die Gründung des WSC. Viele Aktivistinnen und Aktivisten waren der Meinung, dass Kämpfe nicht nur möglich seien, sondern dass sie miteinander verbunden und vereint werden müssten. So reagierte eine Reihe linker Organisationen und Gewerkschaften positiv auf den Aufruf zu einer Einheitsfront, und ihnen schlossen sich StudentInnen- und Frauenorganisationen an.

Anfangs dachten wir, dass Online-Videokonferenzen und Demonstrationen in einigen wenigen Städten ein guter Anfang wären, aber in den letzten Tagen vor dem Aktionstag änderte sich die Situation. In vielen Städten bereiteten sich linke Organisationen und Gewerkschaften auf Proteste vor und setzten sich mit uns in Verbindung. Dies deutet auf eine sich verändernde objektive Situation hin, was bedeutete, dass der Aufruf zu einer gemeinsamen Aktion auf fruchtbaren Boden fiel.

Der WSC-Protest war für einen Tag geplant, an dem auch die Beschäftigten in Karatschi, Lahore und Scheikhupura für die Zahlung von Löhnen und Zulagen protestierten. Auch Mitglieder des WSC schlossen sich diesen Protesten an. Unmittelbar nach der Abriegelung protestierten viele Beschäftigte gegen Entlassungen, die Nichtzahlung von Löhnen und Gehältern sowie die Kürzung von Gehältern und Zulagen.

In Karatschi hatten bereits in mehreren Fabriken, nämlich Roof, Lucky und International Textiles, Proteste stattgefunden. Bis zu einem gewissen Grad haben die Erfolge der Arbeiterinnen und Arbeiter in diesen Fabriken, in denen die Unternehmen gezwungen waren, ihren Forderungen nachzugeben oder zumindest Zugeständnisse zu machen, bei den Beschäftigten Begeisterung ausgelöst. Es hat gezeigt, dass EigentümerInnen und Geschäftsführungen herausgefordert und besiegt werden können.

Ebenfalls in Karatschi wurden unter der Schirmherrschaft des WSC zwei Demonstrationen organisiert. Die erste davon fand in Ghani Chowrangi (Stadtteil in Karatschi) statt, wo der Vorsitzende der Mazdoor Kisan Party (MKP; ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenpartei), Qamar Abbas, sagte: „Die ArbeiterInnen werden ständig entlassen, und bisher sind etwa 700 von Ghani Glass entlassen worden. Uns liegen Berichte über die Entlassung von etwa 500 ArbeiterInnen von Artistic Millionaire Korangi, 800 bis 1000 von Al-Karam, 700 von Gul Ahmed, etwa 200 von Rajabi Textiles und allen Beschäftigten von Siddique Sons vor.“

Die zweite Demonstration fand in Habib Chowrangit, einem anderen Stadtteil von Karatschi, statt, angeführt von der NTUF. Die Demonstration wurde von einer großen Zahl örtlicher FabrikarbeiterInnen und GewerkschaftsführerInnen angeführt, von denen viele auch während der Abriegelung an verschiedenen Protesten teilgenommen hatten. Mitglieder der NTUF waren auch ständig am Kampf der Denim-FabrikarbeiterInnen in Karatschi beteiligt. Sie hatten drei Tage lang protestiert, als Polizei und Werkschutz am 19. Mai das Feuer auf sie eröffneten.

Abdullah Basit, der Führer der NTUF, schreibt über die verletzten ArbeiterInnen: „Die Industriezone Korangi ist die größte Pakistans. Seit gestern finden in der Denim Clothing Company (Bekleidungsfabrik) Korangi Demonstrationen statt. Gestern hatte die Unternehmensleitung versprochen, Prämien zu gewähren, aber sobald die Arbeiterinnen und Arbeiter heute Morgen das Tor der Fabrik erreichten, schloss die Unternehmensleitung die Tür und sagte, dass der/die EigentümerIn das Unternehmen geschlossen habe. Die ArbeiterInnen saßen friedlich am Haupttor, als die Verwaltung mit Hilfe der Polizei das Feuer eröffnete und die ArbeiterInnen mit Hilfe politischer Parteien einschüchterte, aber die ArbeiterInnen blieben vereint.“

Tariq Mahmood, der Verwaltungsleiter des Unternehmens, kniete vor den ArbeiterInnen nieder und kündigte an, dass am 21. Mai eine Prämie ausgezahlt wird. Die Denim Clothing Company arbeitet für internationale Marken, und das Unternehmen befolgt nicht einmal die grundlegenden Anforderungen der Einhaltung der sozialen Distanzierung und Hygiene und verstößt in schwerwiegender Weise gegen das Arbeitsrecht. Entgegen der kürzlich verabschiedeten Verordnung der Regierung von Sindh (eine der Provinzen Pakistans) wurden während der Abriegelung 15.000 Beschäftigte ohne Lohn entlassen. Aber ihr Kampf hat sich als fruchtbar erwiesen, und alle großen Unternehmen in der Industriezone Korangi haben jetzt angekündigt, dass sie Prämien zahlen werden.

In Lahore, in der Nähe des Ortes, an dem das WSC protestiert hat, begannen am Morgen 5.000 Beschäftigte der Fabrik US Apparel gegen die Nichtzahlung von Gehältern und Prämien zu protestieren. Die Beschäftigten haben deutlich gemacht, dass sie ihren Protest fortsetzen werden, wenn ihre UnternehmerInnen nicht zahlen. Tausende Beschäftigte aus verschiedenen Fabriken im Industriegebiet wurden bereits entlassen, und viele von ihnen werden nicht bezahlt. In Lahore beteiligten sich auch entlassene Beschäftigte von BSl und DSl an den Protesten. Diese Kämpfe haben die Möglichkeiten für eine breitere Organisierung der ArbeiterInnenklasse in dem Gebiet verbessert.

In Sheikhupura, wo die Hauptforderung des ArbeiterInnenprotestes das Ende der Rentenkürzungen lautete, in einiger Entfernung an der Straße Sheikhupura–Faisalabad, veranstalteten die ArbeiterInnen von Sapphire Textile einen Protest. Sie sagten, dass die ChefInnen seit drei Monaten ihre Löhne und Gehälter nicht gezahlt hätten. Sollten die EigentümerInnen sich weiterhin weigern, die Gehälter zu zahlen, drohen sie damit, die Straße Scheikhupura–Faisalabad zu blockieren.

Veränderung der Lage

Diese ganze Situation zeigt, dass sich unter der Oberfläche ein bedeutender Wandel vollzieht, die ArbeiterInnenklasse ist in Bewegung! Diese Streiks nehmen zu – und das stärkt das Vertrauen der ArbeiterInnen, was wiederum diese Botschaft auf andere Klassengeschwister in der Region überträgt. Das heißt, wenn wir die Angriffe der UnternehmerInnen abwehren wollen, müssen wir kämpfen. Es ist klar, dass Appelle und Verhandlungen in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation Pakistans nicht viel bewirken werden.

Wir brauchen einen alle umfassenden Kampf mit Massendemonstrationen, -streiks und Besetzungen. Wir müssen die Proteste, die sonst lokal oder auf einzelne Betriebe beschränkt bleiben würden, vereinen und koordinieren. Nur so können wir die Verarmung, den Hunger und die Gesundheitsrisiken stoppen, denen Millionen von ArbeiterInnen, BäuerInnen und sogar Teile der „Mittelschicht“ ausgesetzt sind.

Sicherlich ergeben sich neue Möglichkeiten, aber wir müssen uns der Schwäche der gewerkschaftlichen und linken Organisationen in Pakistan bewusst sein. Vor diesem Hintergrund müssen wir eine Strategie entwickeln, wie wir in dieser Situation arbeiten können. Um die Kämpfe zu organisieren, wird es von wesentlicher Bedeutung sein, Betriebskomitees und Aktionskomitees in den Wohnvierteln der ArbeiterInnenklasse zu bilden.

Gleichzeitig müssen wir die Lohnabhängigen auffordern, den Gewerkschaften beizutreten, sie zu Kampforganen zu machen und sich zu organisieren, um ihre Zersplitterung durch Fusionen auf demokratischer Grundlage zu überwinden und Industriegewerkschaften in allen Wirtschaftszweigen zu schaffen.

Während es für SozialistInnen jetzt unerlässlich ist, sich den Industriegebieten zuzuwenden und mit den Gewerkschaften zusammenzuarbeiten, müssen wir auch die Grenzen des rein gewerkschaftlichen Kampfes verstehen und eine revolutionäre Strategie formulieren, um die ArbeiterInnenklasse für den Sozialismus zu gewinnen. Das ist eine schwierige und mühsame Aufgabe, aber es kann keinen besseren Zeitpunkt geben, sie zu beginnen, als dann, wenn die Krise des Kapitalismus die ArbeiterInnen zum Kampf drängt.




Erster Mai 2020 – Wir zahlen nicht für Virus und Krise!

Diskussionsbeitrag von ArbeiterInnenmacht und REVOLUTION, Infomail 1100, 22. April 2020

Während im Mai Produktion und Schulen wieder anlaufen sollen, sollen am Ersten Mai alle Kundgebungen und Demonstrationen untersagt bleiben. Ein generelles Demo-Verbot lässt sich zwar bundesweit nicht mehr durchsetzen, aber die Einschränkungen laufen faktisch auf das Verbot von Massendemonstrationen hinaus, auch wenn die Menschen noch so sehr auf Ansteckungsgefahr achten würden. In vielen Städten und Bundesländern wie z. B. in Berlin droht selbst kleinen Aktionen massive Repression. Für uns – und wohl auch für einen großen Teil der radikalen Linken oder klassenkämpferischer ArbeiterInnen und GewerkschafterInnen – stellt die entscheidende Frage eigentlich weniger dar, ob, sondern wie und mit welcher politischen Stoßrichtung wir am Ersten Mai aktiv werden. Die bundesweite Diskussion zur Frage ist daher begrüßenswert – und auch, dass eine Reihe von Gruppierungen und Bündnissen zur Aktion aufruft.

Besondere Bedeutung kommt unserer Meinung nach dabei dem Aufruf der „Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften“ (VKG) zu. Nicht, weil dieser so viel besser als andere wäre, sondern weil es von politisch-strategischer Bedeutung für unsere zukünftigen Kämpfe ist, dass wir die Auseinandersetzung in die Betriebe und Gewerkschaften tragen.

Drohende Katastrophe

Über vier Millionen KurzarbeiterInnen, eine tiefe Rezession, drohende Massenentlassungen bei gleichzeitiger Überarbeitung im Gesundheitswesen oder im Einzelhandel verdeutlichen, dass die aktuelle Krise des Kapitalismus‘ eine des Gesamtsystems, eine der gesamten Produktion und Reproduktion darstellt. Natürlich sind schon heute die Schwächsten und Unterdrücktesten (Geflüchtete, Alte, Kranke, Frauen aus der ArbeiterInnenklasse, …) am härtesten betroffen. Die Ausgangssperren bewirken z. B. gleichzeitig auch einen massiven Anstieg häuslicher Gewalt, die insbesondere Frauen und Kinder trifft.

Es ist absehbar, dass diese Krise die gesamte Klasse der Lohnabhängigen mit extremer Härte treffen wird – ob nun FacharbeiterInnen in der Großindustrie, prekär Beschäftigte oder die noch einigermaßen „gesicherten“ Teile im öffentlichen Dienst. Die Kosten dieser Krise – und damit die, die das Kapital und sein Staat uns aufhalsen wollen – werden viel größer sein als 2008/2009 oder bei den Einschnitten durch die Agenda 2010. Dies wird die aktuellen Probleme noch verstärken: ob Rechtsruck, Umweltzerstörung, Kriegsgefahr oder Angriffe auf Arbeitsrechte.

All jene, die dagegen Widerstand leisten wollen, befinden sich aktuell in einer widersprüchlichen Lage. Wir alle stehen nicht nur vor dem Problem der Einschränkung unserer Bewegungsfreiheit und der Aushebelung demokratischer Rechte. Wir stehen auch vor dem Problem, dass zur Zeit die Regierung die öffentliche Meinung bestimmt. Merkel ist es – nicht zuletzt mithilfe von SPD und DGB-Gewerkschaften – gelungen, eine Art nationalen Schulterschluss zu inszenieren. Praktisch alle Medien, alle Landesregierungen sowie die Führungen von UnternehmerInnenverbänden und Gewerkschaften unterstützen ihn. Im Grunde macht auch die parlamentarische Opposition mit – einschließlich großer Teile der Linkspartei.

Das wird sicher nicht immer so bleiben. Schon heute stellen Teile der AfD und der extremen Rechten das auf reaktionäre Weise in Frage. Auch UnternehmerInnenverbände fordern nicht nur Milliarden für das Kapital, sondern auch die Abschaffung von Rechten der ArbeiterInnenklasse, „Streichung“ des Urlaubs usw.

Gleichzeitig herrschen in der ArbeiterInnenklasse und selbst in größeren Teilen der Linken das Hoffen auf Staat und SozialpartnerInnenschaft oder Lähmung und Schweigen vor. Und das, obwohl die drohende soziale, gesellschaftliche Katastrophe durchaus klar sichtbar wird.

Wie Widerstand entfalten?

Angesichts dieser Situation müssen wir am Ersten Mai die Frage ins Zentrum rücken, wie wir den notwendigen Klassenwiderstand entfalten. Denn wenn wir jetzt nicht anfangen, Widerstand aufzubauen, dann werden seitens des Kapitals Fakten geschaffen. Dabei ist es jetzt unsere Aufgabe, Antworten auf die aktuellsten Fragen zu geben: Wer verhindert die Zwangsräumung, wenn man aufgrund von Kurzarbeit die Miete nach August nicht zahlen kann? Wie retten wir die 40.000 Geflüchteten, die aktuell an der EU-Außengrenze auf den griechischen Inseln zum Tode verurteilt werden? Wie wehren wir uns gegen drohende Entlassungen und kommende Sparmaßnahmen?

Wir müssen jetzt anfangen, Antworten auf diese Fragen zu geben – auch als kämpferische Minderheit, um für größere Teile der Lohnabhängigen und Aktive sozialer Bewegungen sichtbar zu werden. Wir werden kämpferische ArbeiterInnen, SchülerInnen, MigrantInnen nur schwer für zukünftige gemeinsame Aktionen und Bündnisse gewinnen können, wenn ihnen das Abhalten einer Aktion oder Demonstration als Selbstzweck erscheint.

Die Form kann vielmehr flexibel gehandhabt werden. Zum Schutz der TeilnehmerInnen sollten wir bei Straßenaktionen (z. B. einer Demo) auf Gesichtsmasken und Abstand Halten achten. Das folgt aus unserer Verantwortung für die TeilnehmerInnen. Aber ein Auftreten ist auch notwendig, um den Herrschenden die Scheindebatte möglichst zu erschweren, dass Demos ein besonderes Gesundheitsrisiko darstellen würden (während es Öffnungen von Betrieben und Schulen anscheinend nicht sind).

Entscheidend ist jedenfalls der Inhalt, um den wir für den Ersten Mai mobilisieren. Die drängendsten Fragen für Millionen Lohnabhängige müssen dabei im Zentrum stehen. Wir schlagen folgende zentralen Punkte/Forderungen für den Ersten Mai und für die Neuformierung einer Anti-Krisenbewegung vor:

Gesundheit vor Profite!

  • Kostenlose Gesundheitsversorgung für alle – von Tests bis zur Unterbringung in Krankenhäusern und Intensivmedizin. 500 Euro/Monat mehr für alle Beschäftigten in den Pflegeberufen!

#stayathome: Wir zahlen nicht für die Krise!

  • Keine Wiederöffnung der Unternehmen ohne Schutz- und Hygieneplan unter Kontrolle der Beschäftigten!
  • Gegen alle Entlassungen! 100 % Lohnfortzahlung für alle, die in Kurzarbeit sind! Keine Aushebelung von Arbeitszeitbeschränkungen und Arbeitsrecht!
  • Keine Milliarden-Geschenke für die Konzerne – massive Besteuerung von Vermögen und Gewinnen! Entschädigungslose Enteignung der Banken und des Großkapitals unter Kontrolle der Beschäftigten!

Keine Rendite mit der Miete!

  • Für das Aussetzen aller Miet- und Kreditzahlungen für die arbeitende Bevölkerung! Enteignung der großen Immobilienkonzerne wie Deutsche Wohnen, Vonovia und Co. Nutzung von Leerstand, um die Räume Bedürftigen wie Geflüchteten und Obdachlosen zur Verfügung zu stellen!

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  • Abschaffung von Lagersystemen und rassistischen Asylgesetzen: Offene Grenzen und StaatsbürgerInnenrechte für alle!

Dafür sollten wir am Ersten Mai aktiv werden. Wir sollten dabei Demonstrationen und Kundgebungen möglichst dort organisieren, wo die Menschen leben und arbeiten, die wir erreichen wollen. Das kann im Kiez (wie in Berlin-Friedrichshain) sein, wir sollten aber unsere Solidarität und Perspektive auch vor Unterkünften von Geflüchteten, vor Kliniken und Krankenhäusern (natürlich nur in Absprache mit den dort Untergebrachten oder Beschäftigten) zum Ausdruck bringen.

So können wir den Ersten Mai zu einem Kampftag für unsere Forderungen und zur Verteidigung demokratischer Rechte – einschließlich des Streikrechts machen. Ein solches politisches Signal zielt darauf ab, unmittelbar all jene zu vereinen, die beim nationalen Schulterschluss von Kapital und Kabinett nicht weiter mitmachen wollen und die im Betrieb, an der Schule, Uni und im Stadtteil eine neue Anti-Krisenbewegung aufbauen wollen.