Bleibt die deutsche Wirtschaft zurück?

Markus Lehner, Neue Internationale 281, April 2024

Liest man gerade Wirtschaftszeitungen und noch mehr Börsennachrichten, so könnte man meinen, „die Welt“ befinde sich im wirtschaftlichen Aufschwung. Interessant ist dabei sowohl, was unter „Welt“ als auch „Aufschwung“ verstanden wird. Natürlich wird gefeiert, dass wieder einmal die USA auf der Überholspur sind – und dies wird kontrastiert mit der „totalen Ausnahme“ des deutschen wirtschaftlichen Dahinkriechens. Natürlich wird Letzteres der „Politik“ angelastet, die eine ähnliche Dynamik wie in den USA durch Bürokratie, Energie- und Umweltauflagen, Arbeitsgesetze etc. behindere.

Ungleiche Entwicklung: Europa …

An diesem Bild muss einiges korrigiert werden. So wurde Anfang letzten Jahres für die USA eine ähnlich stagnative Erholung nach der Coronarezession wie in Europa erwartet. Tatsächlich wurden dann die vorausgesagten Wachstumsraten von Quartal zu Quartal nach oben korrigiert, bis die im internationalen Vergleich beachtlichen 2,4 % erreicht wurden. Dies kontrastiert mit den Wachstumsraten um die 0 % im EU-Raum und den wirtschaftlichen Einbrüchen in China rund um die Immobilienkrise und den Auswirkungen der späten Aufhebung der Coronalockdowns. Parallel zum sanften US-Aufschwung gab es auch höhere Wachstumsraten in Ländern wie Japan (2 %), Mexiko (3,4 %), Indien (6,5 %) – zum Teil offenbar bedingt durch die Erholung in den USA.

Was Europa betrifft, so ist es bei weitem nicht nur Deutschland, das weit hinter den Wachstumsraten der genannten Länder zurückgefallen ist. Außer ihm (-0,2 %) waren 2023 auch die Niederlande und Schweden in einer leichten Rezession – also neben der nach BIP größten Volkswirtschaft der EU auch Nummer 5 und 8. Alle großen EU-Länder (mit der bemerkenswerten Ausnahme Spaniens) blieben bei Wachstumsraten unter 1 % bzw. schrammten knapp an Rezessionen vorbei.Dies trifft auch auf die krisengeschüttelte Nach-Brexit-Ökonomie Britanniens zu.

Natürlich hat diese Situation viel mit der geopolitischen Entwicklung rund um den Ukrainekrieg zu tun. Die Russlandsanktionen und insbesondere der schlagartige Verzicht auf billigeres russisches Erdgas und -öl haben nicht nur, aber besonders die deutsche Ökonomie getroffen. Der Ersatz durch Flüssiggas und Ausbau erneuerbarer Energien gelang zwar teilweise, führte aber zu stark erhöhten Preisen. Der deutsche Energiepreisindex stieg 2022 um etwa 65 % – fiel allerdings 2023 wieder um 25 %, was in Summe immer noch einen mehr als 20%igen Anstieg gegenüber der Vorsanktionszeit bedeutet. Dazu kommt, dass die vermehrten Rüstungsausgaben in ganz Europa zu Haushaltsbeschränkungen führen, die den Spielraum für große Konjunkturprogramme stark einengen.

… und USA

Beide Faktoren fallen für die USA weg: Dort kam es seit 2022 zu keinen nennenswerten Energiepreiserhöhungen (auch weil dort außer Alibisteuern in einzelnen Bundesstaaten keine CO2-Bepreisung stattfindet). Im Gegenteil – durch die erhöhte Nachfrage nach Flüssiggas konnte der US-Energiesektor wesentlich zum Wirtschaftswachstum beitragen. Ebenso ermöglicht die spezielle Rolle seines Finanzsystems es den USA, unabhängig davon, dass die Neuverschuldung inzwischen pro Jahr 8 % des BIP ausmacht, trotzdem riesige Konjunkturprogramme aufzulegen. Diese umfassten 2023 das Doppelte aller anderen westlichen Industrienationen zusammen genommen. Insbesondere die Coronahilfen führen bis heute zu einem stabilen Anstieg der Konsumausgaben durch den Binnenverbrauch. Die Kehrseite dieser Schulden- und Subventionspolitik zeigt sich darin, dass das Inflationsniveau in den USA trotz steigender Zinsen nicht unter 3 – 4 % (bei der Kerninflation sogar über 5 %) liegt – im Gegensatz zum EU-Raum, wo es (auch stagnationsbedingt) mittlerweise unter die 3 % gesunken ist.

Die US-Konjunktur profitiert auch von einer „Entspannung auf dem Arbeitsmarkt“ durch gestiegene Immigration. Angesichts der seit dem Zinsanstieg steigenden Rate von Firmeninsolvenzen gibt es in den USA einen größeren Spielraum für die Umschichtung von Kapital und Arbeit (Migrant:innen für Billigjobs, Entlassene für neue Investitionsbereiche). Tatsächlich ist der leichte Aufschwung verbunden mit einem enormen Anstieg an Firmenzusammenbrüchen: 2023 hat sich die Zahl der Großinsolvenzen gegenüber dem Vorjahr verdreifacht. Beides (Migration und Insolvenzen) wirken in der EU und Deutschland auch aufgrund der politischen Rahmenbedingungen nur bedingt in Richtung Umschichtung von Kapital und Arbeit.

Gleichzeitig wirkt sich die Umstrukturierung der globalen Märkte und Wertschöpfungsketten in der EU negativer aus als in den USA. Insbesondere Deutschland und die Niederlande sind von „Friendshoring“-Tendenzen und Lieferkettenproblemen stark betroffen, vor allem was die Geschäftsbeziehungen mit China betrifft. Bezeichnenderweise hat das USA-China-Geschäft trotz politischen Getöses im letzten Jahr wieder enorm an Fahrt aufgenommen (7 % Anstieg der Importe in die USA).

Börseneuphorie

Obwohl also die derzeitige Wachstumsphase der USA offenbar durch einige Sonderfaktoren bedingt ist, herrscht gerade an den Börsen eine Euphorie, als sei eine neue Boomära angebrochen. Seit letztem Oktober stiegen die Aktienkurse an den US-Börsen genauso wie auch der DAX fast parallel um 22 %. In den USA sind es insbesondere Technologiewerte, die mit „Künstlicher Intelligenz“ in Verbindung gebracht werden, welche durch die Decke gehen. So beim Chiphersteller Nvidia, dessen Kurswert sich im letzten Quartal 2023 verfünffacht hat. Nvidia, das die Hardware für die gestiegenen Anforderungen von KI-Anwendungen liefert, hat aber im selben Zeitraum seinen Quartalsprofit von 3 Milliarden US-Dollar auf 17 Milliarden gesteigert. Und es ist nur eines von 7 „Großen“, die derzeit vom KI-Hype an den Börsen profitieren. Tatsächlich versprechen die Fortschritte in der Integration von generativer KI in die herkömmlichen IT-Infrastrukturen künftig große Produktivitätssprünge. Doch kann sich deren Realisierung noch mehrere Jahre hinziehen. Die großen Erwartungen könnten also genauso verfrüht sein wie 1999 während der Dotcomblase.

Insgesamt hat sich die Börse wieder einmal stark von den realwirtschaftlichen Werten entfernt, wie sie sich etwa im „Price-Earning“-Index ausdrücken. Dieser vergleicht die Kursbewertung mit den längerfristigen inflationsbereinigten Gewinnen. Als „normal“ gelten dabei Werte um die 20 – beim großen Crash 1929 stand er bei 31,5, vor dem Dotcomcrash bei 44,2 – derzeit steht er bei 34,2. Kein Wunder also, dass sich an den Börsen eine gewisse Nervosität breitmacht. Es reichen wohl ein paar schlechte Daten von Unternehmen oder Konjunkturprognosen für die USA, um Kursstürze auszulösen. Die Unsicherheit an den Finanzmärkten addiert sich zu der Masse an Krisenmomenten, die sich derzeit zusammenballen (Klima, Kriege, Schulden, Inflation, Stockungen im Welthandel und den Wertschöpfungsketten, politische Unsicherheiten …).

Bei den deutschen Aktienwerten sticht vor allem ein Titel hervor: der des Rüstungskonzerns Rheinmetall: Vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine noch bei 90 steht der Kurs aktuell bereits bei 500. Im weltweiten Vergleich ist der Konzern zwar eine kleine Nummer, mit allerdings wichtigen technischen Fähigkeiten (aktuell etwa in der gesteigerten Produktion von Artilleriemunition). Der neue Rüstungswettlauf in Europa erfordert für die EU-Kapitale eine völlig neue Struktur von Rüstungskonzernen. Die vielen kleinen nationalen Monopole können alleine im internationalen Wettlauf nicht Schritt halten. Hier fungiert Rheinmetall als Modell, indem dieser Konzern seit einiger Zeit mehrere kleinere Firmen schluckte (in Spanien, den Niederlanden, Rumänien …). Das andere sind große europäische „Kooperationen“, so die der „Panzerschmiede“ Krauss-Maffei Wegmann mit der französichen Nexter zu KNDS (KMW+Nexter) mit Sitz in Amsterdam. KNDS ist im letzten Jahr in eine Kooperation mit einem der größten europäischen Rüstungskonzerne, der italienischen Leonardo, eingestiegen – insbesondere um den zukünftigen Panzer der europäischen Streitkräfte zu bauen. Es ist zu befürchten, dass die europäischen Rüstungskonzerne zu einem neuen Zentrum der EU-Industriepolitik werden, die Milliarden an Steuergeldern, Investmentkapital und Spekulationsanlagen verschlingen werden.

Perspektiven

Neben den Unwägbarkeiten des Ukrainekriegs und den Kosten der Aufrüstungspolitik sind die anderen Faktoren schon benannt, die eine Einschätzung der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland schwer machen: die weitere Entwicklung der Krise in China, mit ihren Auswirkungen auf die internationalen Wertschöpfungsketten; die Fragmentierung des Welthandels; die wachsenden Kosten von Klimakatastrophen und die Entwicklung der Energiekosten; die Unsicherheiten der Entwicklung in den USA (nicht nur was den Ausgang der Präsidentschaftswahl betrifft, sondern auch die Konjunktur); die Möglichkeit von Turbulenzen auf den Finanzmärkten; die Möglichkeit weiterer Großinsolvenzen nach der Karstadt-Benko-Pleite etc. Auch wenn die Konjunkturklimaindikatoren inzwischen aufwärts zeigen, so können einige dieser Unsicherheitsfaktoren schnell zu einem erneuten Abrutschen in eine verlängerte Rezession führen.

Während die Situation auf dem Arbeitsmarkt, die Probleme mit sinkendem Massenkonsum und Inflation dazu geführt haben, dass seit letztem Jahr bis heute zu einem Aufschwung von Lohnkämpfen gekommen ist, so haben selbst diese nicht einmal in den tarifgebundenen Bereichen Reallohnverluste verhindern können. Im Umfeld von Rezession und Firmenpleiten werden die Lohnkämpfe in nächster Zeit sicher nicht einfacher werden. Insbesondere in der Metallindustrie stehen weitere Auseinandersetzungen darum an, wer die Kosten der Transformation zu CO2-reduzierten Technologien (z. B. in der weniger personalintensiven E-Mobilität) tragen muss. Die Streiks der GDL haben gezeigt, dass sie mit der weniger als bei DGB-Gewerkschaften üblichen Rücksichtnahme durchaus Druck ausüben können. Die Probleme müssen zu Lasten der Profite des Kapitals durch Aufteilung der Arbeit auf alle Hände (Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohnausgleich) und Angleichung der Lohn- an die Preisentwicklung gelöst werden. Insofern ist das Gegenteil von Lohnzurückhaltung angesichts der gegenwärtigen Rezessionserwartungen angesagt.

Zugleich machen die Resultate der Lohnkämpfe der letzten Jahre nicht nur die fatale Rolle der Gewerkschaftsbürokratie deutlich, die als Bremsklotz fungiert. Sie werfen auch die Frage auf, wie diese durchbrochen werden kann. Das erfordert zum einen den Aufbau einer klassenkämpferischen, organisierten Opposition in den Betrieben und Gewerkschaften. Ihre Aufgabe besteht dabei sowohl in der Radikalisierung der Kämpfe wie auch in der Verbreiterung einer politischen Alternative zur reformistischen und verbürokratisierten Führung.

Doch es wäre zugleich zu kurz gegriffen zu glauben, dass das Problem der politischen Ausrichtung und Führung der Arbeiter:innenklasse auf rein gewerkschaftlicher und betrieblicher Ebene gelöst werden könne. Der Kampf für eine Basisbewegung wird letztlich nur erfolgreich sein, wenn er Hand in Hand mit dem für die Schaffung einer neuen revolutionären Partei und Internationale einhergeht.




Erweiterung der BRICS-Staaten

Yorick F, Infomail 1230, 8. September 2023

Die BRICS Staaten wollen sich mit dem Jahresbeginn 2024 fast verdoppeln. Das wurde auf ihrem Gipfel in Johannesburg (Südafrika) vom 22. bis 24.8.2023 beschlossen. Zu den 5 bisherigen Namen gebenden Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika sollen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Saudi-Arabien, Argentinien, Äthiopien, Ägypten und dem Iran sechs weitere dazukommen. Einig davon sind schon seit Jahren erklärte Gegner des westlichen imperialistischen Blocks, andere waren jahrzehntelang jedoch dessen strategische Verbündete, die sich aber seit Jahren zwischen den USA und China neu positionieren.

Diese Erweiterung, die unter dem Namen BRICS Plus firmiert, will sich als Gegengewicht zu den 2006 gegründeten geführten G7 positionieren und könnte – wenn auch nicht in unmittelbarer Zukunft – eine ernste Bedrohung für das US-geführten Staatenbündnis werden.

Aktuell leben in den BRICS-Staaten bereits 42 Prozent der Weltbevölkerung, nach der Erweiterung wären es sogar 46. Bedeutsamer ist aber die ökonomische Zunahme: Die aktuellen 31 Prozent Anteil an der Weltwirtschaftsleistung nach Kaufkraft bereinigtem BIP würden sich auf 37 erhöhen. Tatsächlich überholten die BRICS damit bereits die G7. Was als Wendepunkt in der kapitalistischen Weltordnung erscheint, muss jedoch relativiert werden.

Ungleichheit unter den BRICS

Zunächst herrscht innerhalb der BRICS – noch mehr noch als in den G7 – eine extreme Ungleichverteilung der Anteile an diesem BIP vor. China zeichnet verantwortlich für 17,6 Prozent, gefolgt mit großem Abstand von Indien mit 7 Prozent und schließlich Russland (3,1), Brasilien (2,4) und Südafrika (0,6). Nach dem ökonomisch bedeutsameren Nominalwert in US-Dollar, also dem nicht bereinigten BIP, liegen die BRICS immer noch weit hinter den G7. So verfügten sie als gesamter Block 2022 über ein BIP von 26 Billionen US-Dollar, etwa so viel wie die USA alleine.

Nach BIP pro Kopf sind die BRICS noch immer weit abgeschlagen. Selbst wenn man nicht nach der Kaufkraft des US-Dollars rechnet, sondern bereinigte Größen zu Grunde legt, fällt es in den USA mit 80.035 US-Dollar mehr als dreimal so hoch aus wie das chinesische BIP von 23.382.

Auch als BRICS Plus mit allen potenziellen neuen Mitgliedsstaaten bleibt das Wirtschaftsbündnis letztlich eine weitaus schwächere und kleinere Wirtschaftsmacht als der imperialistische Block der G7. Darüber hinaus sind die BRICS in noch höherem Maße divers in ihrer Bevölkerung, dem BIP pro Kopf, ihrer Geografie und der Zusammensetzung ihrer Handelsströme.

Nicht zuletzt herrscht größere Uneinigkeit auch politisch zwischen den Mitgliedsstaaten, während  der G7–Block über lange etablierte Institutionen des globalen Finanzkapitals, gemeinsame militärische Institutionen verfügt und die Hegemonie der USA über ihre imperialistischen Verbündeten größer ist als jene Chinas über die BRICS-Staaten.

Im Gegensatz zu den G7, die unter Führung der USA trotz innerer Konkurrenz relativ einheitliche wirtschaftliche Ziele gegenüber den anderen Ländern verfolgen, haben die BRICS auch in Bezug auf ihre Wirtschaftsstrategie diese nicht. Sie eint – was für die aktuelle Lage schon bedeutend genug ist – vor allem, dass sie ein Gegengewicht gegenüber den USA und den anderen langjährigen imperialistischen Mächten bilden wollen. Sie haben aber keine gemeinsame Zielsetzung bezüglich eine anderen Weltwirtschaftsordnung.

Es eint sie vielmehr der Versuch, sich von der wirtschaftlichen Dominanz der USA und insbesondere des US-Dollars zu lösen. Und selbst das dürfte schwierig werden. Der Dollar bleibt trotz sinkender Dominanz der USA die weltweit bedeutsamste Währung für Handel, Investition und Devisenreserven. Der Anteil des Renminbi an globalen Währungsreserven hingegen beträgt heute nur etwa 3 %. Selbst China hält noch 58 % seiner Währungsreserven in Dollar. So wurde auch die Diskussion über die Ablösung des Dollars insbesondere aufgrund der Einwände vor allem Indiens auf den nächsten Gipfel im russischen Kasan (Republik Tatarstan) vertagt.

Auch im Hinblick auf die dominanten internationalen Institutionen der kapitalistischen Weltordnung gibt es wenig Aussicht auf eine Ablösung der westlichen Hegemonie. Die New Development Bank (NBD) konnte bisher kein spürbares Gegengewicht als Kreditinstitution gegenüber IWF und Weltbank aufbauen.

Dennoch wird sich die internationale Rivalität in diesem Jahrzehnt politisch, wirtschaftlich und militärisch verschärfen und die Erweiterung der BRICS wird insbesondere für China wohl von größerer Bedeutung sein. Das Bündnis erweitert sich um drei wichtige Lieferanten von fossilen Rohstoffen: Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und den Iran. Unter Miteinbeziehung Russlands werden derzeit 60 Prozent der weltweit geförderten Öl- und Gasvorkommen in BRICS-Ländern gewonnen. Demnächst könnte BRICS Plus 80 Prozent der weltweiten Ölförderung kontrollieren.

Innere Spannungen

Vor allem Indien befürchtet eine wachsende Dominanz Chinas innerhalb des BRICS-Bündnisses, insbesondere auch aufgrund des territorialen Streites an der indisch-chinesischen Grenze. Die führende Rolle innerhalb des Bündnisses hat China zwar sowieso inne, aber mit einer Währung, die sich konjunkturell am Renminbi (Yuan; RMB) orientieren würde, könnte es seine dominierende Rolle für die BRICS Staaten ausbauen. Als zweitgrößte imperialistische Macht der Welt betrachtet China die BRICS letztlich natürlich als Mittel, den kriegsgeschüttelten russischen Imperialismus, aber auch aufstrebende und geostrategisch wichtige Halbkolonien enger an sich zu binden und seine ökonomische, militärische und politische Dominanz auszubauen.

Doch das ist bei weitem nicht die einzige Konfliktlinie innerhalb des BRICS-Bündnisses. Damit zusammenhängend bildet die Frage, was das Bündnis eigentlich vor allem in Bezug auf die G7 sein soll, einen immer wiederkehrenden Streitpunkt. Während China und Russland das Bündnis für sich als Unterstützung im Kampf um die Neuaufteilung der Welt mit dem Westen sehen wollen, sind die meisten anderen alten wie neuen Mitgliedsstaaten gegen eine dezidiert antiwestliche Ausrichtung und erhoffen sich, sowohl mit den G7 als auch den BRICS gute Beziehungen zu unterhalten. So verhalten sich die meisten z. B. in der Frage des Ukrainekrieges nach außen hin neutral.

Staaten wie Brasilien und Indien, aber auch neue Mitglieder wie Ägypten oder die VAE haben zwar ein direktes Interesse daran, China als Partner auf ihrer Seite zu haben, wollen aber auch nicht ihre wirtschaftlich guten Beziehungen mit dem Westen aufgeben. Andere (neue) Mitglieder wie der Iran oder Südafrika stehen hingegen ziemlich eindeutig auf russischer Seite, auch wenn Südafrika sich dem UN-Beschluss des internationalen Haftbefehls gegen Putin beugt und dieser deshalb nur per Videoschalte an der Konferenz teilnehmen konnte. Gerade aufgrund dessen waren vor allem Indien und Brasilien eher abgeneigt gegenüber einer Erweiterung des Bündnisses und forderten einheitliche Kriterien für zukünftige BRICS-Plus-Mitgliedsstaaten, da sie befürchten, innerhalb des Bündnisses an Einfluss zu verlieren und den Kurs vollständig in die Hände v. a. Chinas zu legen.

Diese Konflikte könnten in Zukunft auch durchaus noch größer werden, wenn es um die Aufnahme von 16 weiteren Staaten geht, die bereits einen Antrag auf Mitgliedschaft gestellt haben. 40 weitere haben ihr Interesse bekundet.

Unter den Bewerber:innen sind nämlich so unterschiedliche Staaten wie Kuba oder Venezuela mit einer recht eindeutigen antiwestlichen Ausrichtung, aber z. B. auch Nigeria, welches relativ gute Beziehungen zum Westen pflegt und vor einem potentiellen Krieg in der Sahelzone mit Niger, Burkina Faso und Mali auf Seiten des Westens steht.

Diese Spannungen zeigen zu einem gewissen Grad den Charakter des Bündnisses auf. Es ist offensichtlich nicht das Ziel Chinas und Russlands, eines zu schaffen, welches die Interessen der unterdrückten Nationen des globalen Südens vertritt, sondern ihre eigenen ökonomischen und geostrategischen Ziele zu verfolgen. Aber zugleich müssen sie Kompromisse mit wichtigen halbkolonialen Ländern eingehen, um diese näher an sich zu ziehen oder aus einer engen Westbindung zu lösen. Die Formel, ein umschließendes Bündnis für mehr friedliches Miteinander in einer neuen multipolaren Weltordnung zu schaffen, dient dabei als ideologische Klammer, die realen imperialistischen Ambitionen Russlands und Chinas zu verschleiern – ganz ähnlich wie das Spielen der Demokratiekarte auf westlicher Seite.

Vor welchem Kontext findet das statt?

Noch deutlicher wird das, wenn wir uns angucken, in welchem Kontext, in welcher aktuelle Periode wir uns befinden. Die aktuellen wie auch die nächsten Jahre sind von einer tiefen Überakkumulationskrise, stagnierenden oder fallenden Profitragen geprägt. Natürlich versuchen alle kapitalistischen Staaten, die Kosten von Krieg, Krise, Stagnation auf die Arbeiter:innenklasse abzuwälzen (beispielsweise auch durch die Inflation). Aber das wird nicht reichen, um die Weltwirtschaft wieder flottzumachen, zumal innerimperialistische Konkurrenz und der Krieg um die Ukraine gemeinsame Lösungsstrategien mehr und mehr verunöglichen.

Die Tage der unbestrittenen Vorherrschaft des imperialistischen Blocks unter Führung der USA sind vorbei – und damit die Zeiten der ungehinderten Expansion der Handels- und Finanzströme der 1990er Jahre und der ersten beiden Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts. Da die Rentabilität des Kapitals in den großen Volkswirtschaften in den letzten beiden Dekaden zurückging, hat sich der Kampf der großen kapitalistischen Volkswirtschaften um die Generierung von Profit verschärft.

Und dies führt zu einer Zersplitterung der wirtschaftlichen Macht. Der imperialistische Block unter Führung der USA ist zwar immer noch dominant, aber seine Vorherrschaft wird wie nie seit 1945 in Frage gestellt. Das führt dazu, dass sich die innerimperialistischen Konflikte weiter verschärfen. Nicht nur die Konkurrenz zwischen den großen Rivalen USA/EU und China, sondern auch zwischen verbündeten Imperialist:innen tritt immer mehr zum Vorschein (z. B. die Versuche des US-Imperialismus mithilfe Anheizens des Ukrainekrieges Deutschland und Frankreich über die EU weiter an sich zu binden). Als Resultat davon wollen viele Staaten ihren Spielraum zwischen den sich formierenden Blöcken vergrößern, um sich im Zweifelsfall auf die günstigste Seite zu schlagen. Zugleich stehen etablierte Liefer- und Wertschöpfungsketten immer mehr zur Disposition, so dass immer mehr Tendenzen einer „Deglobalisierung“ hervortreten. Der Weltmarkt wird zunehmend fragmentiert, wirtschaftliche, militärische und politische Blöcke formieren sich im Rahmen des imperialistischen Weltsystems.

Nein zu allen imperialistischen Blöcken!

Für uns ist also klar, dass dieser Gipfel nicht, wie von z. B. dem brasilianischen Präsidenten Lula behauptet, einer der unterdrückten Völker des globalen Südens war. Die BRICS sind vielmehr ein Bündnis aus imperialistischen Mächten (China und Russland) sowie halbkolonialen Staaten, die ihrerseits um einen größeren Anteil am Reichtum der Welt kämpfen, inklusive bedeutender Regionalmächte, die selbst gern in den Kreis imperialistischer Mächte aufsteigen möchten (was sicher bei Indien am deutlichsten hervortritt).

Wir sehen in einem Erstarken der chinesischen und russischen Einflusssphäre keinen antiimperialistischen Fortschritt, sondern im Gegenteil ein Mittel des russischen und vor allem des chinesischen Imperialismus, in der sich im Zuge der Deglobalisierung vollziehenden Blockbildung möglichst viele Staaten als u. a. Einflusssphären, Ressourcenquellen und Absatzmärkte um sich zu scharen, um vor allem wirtschaftlich den USA die Stirn zu bieten.

Bei der Neuaufteilung der Welt zwischen „alten“ Großmächten (USA und die übrigen G7) einerseits und den neuen, aufstrebenden handelt es sich im einen reaktionären, innerimperialistischen Gegensatz, der auf dem Rücken der Arbeiter:innenklasse und der unterdrückten Nationen ausgetragen wird.

Als Revolutionär:innen müssen wir zum einen die Propaganda unserer „eigenen“ imperialistischen Bourgeoisie – des deutschen Kapitals – und seiner Regierung vom „Gipfel der Tyrannen“ als Heuchelei entlarven und den Klassenkampf gegen diese entschlossen führen. Gleichzeitig müssen wir uns mit der Arbeiter:innenklasse und den Unterdrückten auch in den BRICS-Staaten im Kampf gegen „ihre“ herrschende Klasse solidarisieren. Dazu aber müssen wir selbst eine internationale Kampforganisation unserer Klasse, eine neue revolutionäre Internationale aufbauen.

Nein zu BRICS, G7 oder NATO – Zerschlagung aller imperialistischen Bündnisse! Für den gemeinsamen Kampf der Arbeiter:innen und Unterdrückten!




IAA München: Autoindustrie umschalten

Mattis Molde, Neue Internationale 2023, September 2023

Die Internationale Automobilausstellung (IAA) ist nicht mehr das, was sie mal war. Einst war es die Präsentation der neuesten und teuersten Automobile zu Werbe und Verkaufszwecken, ein Ort, an dem Technik- und Autobegeisterte vor allem männlichen Geschlechts ihrer echten Leidenschaft kollektiv frönen konnten. Aber schon die Ausstellung 2021 verzeichnete zeitweise „leere Hallen“ und die Stimmung war „verklemmt“, wie Redakteur:innen von Auto motor und sport (Deutsche Automobilzeitschrift) in einem Interview mit dem VDA (Verband der Automobilindustrie) beklagten.

Die IAA 2023 sieht ein Riesenvolksfest in der Münchner Innenstadt vor, alle dürfen Probe fahren, Autos, E-Bikes, Scooter und sogar überwiegend „kostenfrei“. Angeblich geht es um „Mobility“ und im Werbefilmchen ist auch ganz kurz eine Straßenbahn zu sehen sowie zwei Fußgänger:innen –  auf einem Berggrat wandernd. Wie sind sie dorthin angereist? Sicher mit dem Auto, das aber unsichtbar bleibt.

Ein Filmchen so wie die übliche Autowerbung, in der es meist um viel entlegene Natur geht, gerne steil, mit Schnee oder Sand, die ein kraftvolles Fahrzeug erfordert, gerne auch Familie mit Kindern, die im SUV (Sport Utility Vehicle; Stadtgeländewagen bzw. Geländelimousine) wundervoll geschützt sind, oder –„alternativ“ – junge moderne Individuen, die ihre besondere Individualität mit einem ebenso besonderen Kleinwagen ausleben. In dieser Werbung kommen praktisch nie andere Autos vor, schon gar nicht die Realität verstopfter Innenstädte oder blockierter Autobahnen. Das einzige Auto, das vorkommt, ist das Produkt der werbenden Firma.

Beim IAA-Werbefilmchen muss man sich anstrengen, mal kurz im Hintergrund zwei Rücklichter zu entdecken – Berge und Baby sind länger zu sehen. Die Automobilbranche hat ganz offensichtlich ein Imageproblem.

Es ist nicht so, wie die Autoindustrie gerne tut, dass sie unverdientermaßen schlechtgeredet wird. Nein, sie ist schlecht: hauptverantwortlich für den Klimawandel und für eine Verkehrspolitik, die ineffizient und teuer ist und das größte Hindernis für eine Wende dieser. Ein wahrheitsgetreuer Film über diese Branche müsste Autounfälle und Abholzungen zeigen, Waldbrände und Ölpest. Sie setzt ihre Interessen mit Lobbyarbeit, Drohungen und kriminellen Methoden durch. Sie muss bekämpft werden und die IAA ist ein guter Platz, diesen Kampf zu propagieren.

Der Gegner

Der VDA richtet die IAA aus und besorgt die ganze politische Vertretung des deutschen Autokapitals mit Büros in Berlin, Brüssel und China. Er sorgt für die unglaublichen Subventionen für die Industrie in Form von Geldern für die Transformation (E-Mobilität, Biosprit …), Forschung, Abwrackprämien und E-Auto-Zuschüsse, für Autobahnbau und Aufbau von Ladestruktur und dazu die Unterstützung, die Autowerke von den Bundesländern erhalten. Hinzu kommt Subvention durch Kurzarbeit in einem Umfang, der die Erwerbslosenversicherung schon bis 2022 über 30 Milliarden Euro gekostet hat.

Der VDA sorgt für eine ökologisch unsinnige Klimapolitik der EU, die aber maßgeschneidert für große Oberklassen-Pkw  ist: Beurteilt wird der Flottenverbrauch, das heißt durchschnittliche CO2-Ausstoß aller neuverkauften Fahrzeuge eines Herstellers, berechnet aus dem Spritverbrauch entsprechend den Angaben eben dieses Herstellers. Für E-Autos gibt’s „Supercredits“, diese senken diesen völlig fiktiven Flottendurchschnitt überproportional.

Die Logik dieses Systems, das so offensichtlich die Böcke/Ziegen zu Gärtner:innen macht, bewirkt auch, dass der Kauf jedes Kleinwagens oder E-Mobils dem jeweiligen Hersteller den Verkauf weiterer fetter SUVs erlaubt und so umgekehrt der möglicherweise gute Wille der Käufer:in konterkariert wird.

Die Autoindustrie, die dicke staatliche Subventionen kassiert, zeigt keine, Scham zugleich ein massives Arbeitsplatzvernichtungsprogramm durchzuziehen. Der Personalabbau ist im vollen Gange: Von 850.000 Beschäftigten im Jahr 2019 sind es noch 760.000 im Jahr 2022. Fast 100.000 weniger. Der Geschäftsführer des VDA, Jürgen Mindel, spricht jetzt anlässlich der IAA von „über 600.000 Beschäftigten“ der Autoindustrie.

Dieser Personalabbau spielt sich vor allem in der Autozulieferindustrie ab. Kleinere Unternehmen werden verkauft oder schließen Standorte. Größere Unternehmen wie Opel, MAN, Bosch, Conti und Mahle haben Personal in Tausendergrößenordnung abgebaut und Standorte geschlossen.

Der VDA wäscht seine Hände in Unschuld. „Die Transformation der deutschen Automobilbranche hin zu E-Mobilität kann mehr Arbeitsplätze kosten, als Beschäftigte in den kommenden Jahren in den Ruhestand gehen – und dies schon, ohne die Folgen der überstürzten aktuellen Diskussion um ein neues Klimaschutzgesetz absehen zu können. Bis zum Jahr 2025 sind mindestens 178.000 Beschäftigte betroffen, bis 2030 mindestens 215.000 Arbeitsplätze – und dies schon auf der Basis der bisherigen Klimaschutzgesetze“, ließ er per Pressemitteilung am 5.6.21 wissen. Also: Die Klimagesetze, die gerade den CO2-Ausstoß beim Verkehr mitnichten eingedämmt haben, sind schuld daran, dass schon Hunderttausende ihre Arbeit verloren haben.

Dieser Personalabbau hat überhaupt nichts damit zu tun, dass es den großen Unternehmen der Branche schlechtginge. VW zum Beispiel hat seinen Profit von gut 7 Milliarden Euro im Jahr 2016 auf über 22 Milliarden fast kontinuierlich gesteigert.

Es ist vielmehr so, dass er diese Gewinne generiert. Die Großkonzerne zwingen die Zulieferer, ihre Teileproduktion ins Ausland zu verlagern. Teile für Verbrenner werden nicht weiterentwickelt. Wenn sie auslaufen, erfolgt der Neustart in „Low Cost Countries“. Die Teile für E-Mobility werden schon lange dort gefertigt. Die Klagelieder über die „Deindustrialisierung“ Deutschlands stammen also von den Verursacher:innen derselben.

Als Internationalist:innen geht es uns nicht darum, „Arbeitsplätze in Deutschland“ zu verteidigen. Aber diese Betriebe können auch die Fahrzeuge bauen und die nötigen Technologien entwickeln, die für eine klimagerechte Mobilität nötig sind. Ihre Belegschaften können die Kraft sein, die der Klimabewegung bislang fehlt, um andere Entscheidungen durchzusetzen.

Strategie

Auf diese Kraft der ganzen Arbeiter:innenklasse müssen wir setzen. Die Rezepte der Klimabewegung waren bislang hilflos:

  • Die individuelle Kaufentscheidung beeinflusst nicht, welche Autos gebaut werden, und schon gar nicht, welche Verkehrssysteme zur Verfügung stehen. Der Bau und Betrieb von öffentlichen Alternativen muss politisch durchgesetzt werden gegen die Interessen der Autoindustrie.

  • Staatliche Richtlinien und Vorgaben bei Subventionsvergabe werden die Autokonzerne zu nichts zwingen können, sondern umgekehrt: Die stärkste Fraktion des deutschen Exportkapitals setzt in „ihrem Staat“ ihren Willen durch.

  • Straßen zu blockieren, ist mutig, aber es trifft nicht den eigentlichen Gegner. Der VDA und seine politischen Gehilfen rufen nach Polizei und Staatsanwalt. Die kommen auch und schlagen zu. Abgasbetrug aber bleibt straflos.

Das entscheidende Problem für die Verbindung von Umweltbewegung und Lohnabhängigen stellen jedoch die Führungen der Arbeiter:innenklasse, vor allem die Bürokratie und Apparate in den Gewerkschaften und Großkonzernbetriebsräten dar, die letztlich „ihre“ Autoindustrie über die Interessen der Gesellschaft stellen. Schlagwörter wie Transformation und ökologischer Umbau sind für sie Phrasen, die der Zusammenarbeit mit Kapital und Regierung mehr Glanz verleihen sollen.

Es reicht daher nicht, die Lügen der Autoindustrie offenzulegen und die Schwächen der Umweltbewegung zu kritisieren. Vor allem müssen wir für einen Kurswechsel Richtung Klassenkampf in den Betrieben und Gewerkschaften und der gesamten Arbeiter:innenbewegung kämpfen.

Die Autoindustrie kann nicht ökologisch „transformiert“ werden, ohne die Macht des Kapitals anzugreifen, ja zu brechen. Andernfalls bleibt es bestenfalls bei Stückwerk. Die Enteignung der Autoindustrie – ohne Entschädigung und unter Arbeiter:innenkontrolle – bildet daher eine Schlüsselforderung. Nur so kann ein planmäßiger Umbau im Interesse der Lohnabhängigen und ökologischer Nachhaltigkeit angegangen werden. Diese Perspektive muss sich auch die Bewegung gegen die IAA zu eigen machen.




Droht eine neue Bankenkrise?

Markus Lehner, Neue Internationale 272, April 2023

Am 8. März verkündete die Silicon Valley Bank (SVB), dass sie 2 Milliarden US-Dollar über eine Kapitalerhöhung einholen wolle, um Verluste in ihren Vermögenswerten auszugleichen. Nachdem dadurch bekannt wurde, dass die Bank mehr als die Hälfte ihres Vermögens in langfristige Staatsanleihen angelegt hatte, die massiv an Wert verloren haben, brach unter den Kontoinhaber:innen Panik aus. Die 16.-größte US-Bank, die vor allem für viele Kund:innen aus dem Technologiebereich eine wichtige Dienstleisterin war, verzeichnete massiv Einlagen oberhalb der staatlichen Garantie von 250.000 US-Dollar. Jede/r davon wollte so schnell wie möglich ihre/seine Werte sichern. Innerhalb von nur 40 Stunden verschwanden so 42 Milliarden US-Dollar aus den Büchern der Bank – eine Hightechvariante des „Bankenruns“ über Twitter und Onlinetransfers, der innerhalb von wenigen Stunden ein Viertel der Bilanzsumme der Bank in Luft auflöste. Schon am 10. März erklärte die US-Finanzaufsicht die Bank für zahlungsunfähig.

Ausbreitung der Bankenkrise

Anfänglich wirkte dies wie ein lokales Ereignis, das sich auf Managementfehler einer einzelnen Bank zurückführen ließe. Doch schnell wurde klar, dass auch andere Banken in den USA zu schwanken begannen. Insbesondere solche mit Transfergeschäften in Kryptowährungen gerieten ebenso in Schieflage wie einige mittelgroße, die ähnliche Probleme mit ihren Vermögenswerten hatten wie die SVB, z. B. die First Republic. Dies schlug sich schnell in weiterem Kapitalabfluss und sinkenden Börsenkursen für Bankaktien nieder. Innerhalb nur einer Woche nach der SVB-Pleite verloren die US-Banken 229 Milliarden US-Dollar an Marktwert (– 17 %). Immer noch verkündeten die politischen Führungen in den USA und der EU, dass es sich um nichts mit 2008 Vergleichbares handle, dass die Regularien, die nach 2008 eingeführt wurden, wirken würden und sich alles schnell wieder entspannen werde.

Dann kamen schlechte Nachrichten aus dem Paradeplatz in Zürich, dem Sitz einer der beiden Großbanken der Schweiz, der Credit Suisse (CS). Angesichts ihrer nicht gerade rosigen Ertragslage (4 Verlustquartale in Folge) suchte auch sie angesichts der Erschütterungen des Bankensektors, sich durch eine Kapitalerhöhung abzusichern. Am 15. März wurde jedoch bekannt, dass einer der Hauptinvestoren in die Bank aus Saudi-Arabien nicht bereit war, ihr beizustehen. Prompt wurde Kapital in großen Mengen von der Bank abgezogen. Auch die Aussagen der Regulator:innen, der Bank beizustehen, bzw. die Bereitstellung eines 54 Milliarden US-Dollar-Kredits durch die Zentralbank führten nicht zu einer Beruhigung der Lage. Eine drohende Pleite der CS hätte nicht mehr wie bei der SVB durch die Finanzbehörden eingedämmt werden können.

Die CS gehört zu den 30 globalen Großbanken, die als „too big to fail“ eingestuft werden – die also mit so vielen Firmen und anderen Großbanken durch wechselseitige Verbindlichkeiten verbunden ist, dass es zu einem Systemcrash wie 2008 nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers gekommen wäre. Innerhalb von nur 4 Tagen wurde daher durch Bundesregierung und Schweizerische Nationalbank eine Notübernahme durch die andere Schweizer Großbank, die UBS, vermittelt. Eine Fusion, die sonst Jahre an Vorbereitung erfordert, wurde in wenigen Tagen so durchgeführt, dass für einen Zusammenbruch der CS keine Zeit mehr da war und die Anleger:innen erstmal beruhigt werden konnten. Die Verschiebung des Problems auf die UBS, die jetzt wider Willen mit den gigantischen Risiken der CS zurechtkommen muss, zeigt, welche Nervosität an den Schaltzentralen des großen Kapitals vor einer erneuten Erschütterung der Weltwirtschaft wie 2008 herrschte – und das angesichts der schon sowieso angespannten Weltlage nach der Pandemiekrise, dem Ukrainekrieg, den wachsenden Spannungen mit China, der fortdauernden Inflation und den Folgen der Klimakrise bzw. der damit verbundenen Energiekrise.

Von den Regierungen und Zentralbanken wird immer wieder betont, wie anders die Situation sei als 2008. Damals war die Krise durch den Totalverlust von in Wertpapiere verbrieften privaten Schulden und die mangelnde Eigenkapitalabsicherung insbesondere bei Investmentbanken zustande gekommen. Seitdem habe man Regulierungen eingeführt (Basel III), die solche Produkte und solch riskantes Kapital/Risiko-Verhältnis im Bankengeschäft unterbinden würden. Die jetzige Krise sei durch einzelne Verfehlungen, Rückschritte bei den Regulierungen etwa unter Trump bzw. durch ein zu spätes Reagieren auf die Zinswende der Zentralbanken zustande gekommen. Alles Faktoren, die durch entsprechende Maßnahmen der Finanzbehörden und der Zentralbanken rasch in den Griff zu bekommen seien.

Gründe für die gegenwärtige Krise

Bekanntlich hatte Marx in seiner Analyse der Finanzkrisen 1847 und 1857 festgestellt, dass jede solcher Krisen immer ihre ganz eigene Geschichte und Erscheinungsform hat, die immer ganz anders auszufallen scheint – um letztlich doch auf dieselben Probleme in der realen Akkumulation des Kapitals zurückzuführen zu sein. Gehen wir also zunächst auf die Gründe für die gegenwärtige Krise in ihrer unmittelbaren Form ein, um dann auf die Zusammenhänge mit der allgemeinen Krisentendenz zu kommen.

Nach der Finanzkrise 2008 betrieben die Zentralbanken eine Politik des „billigen Geldes“ (QE, Quantitative Easing) – sowohl durch niedrige Zinsen, Aufkäufe von Anleihen und anderen Wertpapieren als auch durch Expansion von niedrig verzinsten Staatsanleihen. Banken konnten dadurch ihr stockendes Kreditgeschäft weder in Gang bringen und somit das Wachstum der westlichen Wirtschaften, wenn auch auf historisch sehr niedrigem Niveau, über das 2010er Jahrzehnt aufrechterhalten. Im Allgemeinen stand damit den Einlagen und dem Kapital einer Bank gegenüber ein Mix aus „superstabilen“ Staatsanleihen, Immobilienkrediten (abgesichert durch wieder steigende Immobilienpreise) und den Krediten in anderen Bereichen. Die zum Teil riskanten Kredite (z. B. in die „Zombiefirmen“) schienen mehr als abgesichert durch den höheren Anteil an „sicheren Vermögenswerten“.

Mit der Coronakrise, der Lieferketten- und Kapazitätsausfälle, der nochmals gestiegenen Schuldenprobleme und der  wieder enorm zunehmenden Inflation kam es seit 2022 zur Abkehr von QE und einer Politik des „Quantitative Tightening“ (QT). Die Anleihekäufe wurden gestoppt, die Zinsen für Zentralbankkredite schrittweise erhöht und die Ausgabe von Staatsanleihen wieder mit Zinserträgen verbunden. In der Folge steigen Kreditkosten wieder, Immobilienpreise beginnen zu sinken und Anleihekurse, insbesondere für langfristige Staatsanleihen fallen (der „Wert“ eines Anleihepapiers berechnet sich aus der Abzinsung des Rückzahlungsbetrags zum jeweils gegenwärtigen Zinssatz). Alle diese Faktoren bedeuten, dass Vermögenswerte der Banken eigentlich neu berechnet werden müssten – bei den Anleihewerten ganz offensichtlich (teilweise auf 20 % gefallen), ebenso aufgrund der höheren Ausfallwahrscheinlichkeit von Firmenkrediten angesichts erhöhter Insolvenzgefahren und von Immobilienkrediten aufgrund der sinkenden Erträge aus dem Immobiliengeschäft.

Tatsächlich verhielt sich die Mehrheit der Banken aber so, als ob sie weiterhin in einem Umfeld wachsender Liquidität arbeiten würden und setzten ihre Anlagepolitik fast unverändert fort – mit ein Grund, warum die Wende zu QT wenig Wirkung auf das Inflationsgeschehen hatte. Um die Dimension des Problems aufzuzeigen, hier die konkreten Zahlen zur Bilanz des US-Bankensektors:

Den Einlagen der US-Bankkund:innen von 19 Billionen US-Dollar und dem Eigenkapital von 2 Billionen stehen als Vermögenswerte (nach nomineller Berechnung) 3,4 Billionen in Cash, 6 Billionen in Staatsanleihen und Immobilienkrediten sowie 11 Billionen in anderen Krediten gegenüber (noch ergänzt um etwa 3 Billionen in anderen Vermögenswerten bzw. Verbindlichkeiten auf beiden Seiten). Allein der Wertverlust der Anleihepapiere bedeutet, dass der Wert derselben bei Verkauf um 620 Milliarden niedriger ist als ihr nomineller – was bei einem Bankenrun, der die Cashreserven übersteigt, durch Notverkäufe von Anleihepapieren sofort wirksam wird. Eine Studie von Finanzwissenschaftler:innen der University of Southern California (die The Economist vom 18.3. zitiert) kommt zu dem Schluss, dass die Bewertung der Vermögenswerte der US-Banken tatsächlich um 2 Billionen nach unten berichtigt werden muss. D. h., im Fall eines Bankenruns würde die Eigenkapitaldecke der US-Banken nach Auflösung der Vermögenswerte praktisch ausgelöscht werden. Im Unterschied zum Tenor der allgemeinen Beruhigung stellt The Economist daher zu Recht fest: „time to fix the system – again“. Der SVB-Crash hat daher offensichtlich gemacht, dass das Geschäftsmodell der Banken aus der QE-Zeit heute zu einer Berichtigung ihrer Vermögenswerte führen muss, die unmittelbar eine Überprüfung der bestehenden Schulden wie auch der Risiken zukünftiger Kreditvergaben verlangt. Mit Verspätung setzt also auch bei den Banken die „Verknappung des Geldes“ ein. Tatsächlich erinnert die Krise 2023 daher eher an diejenige, die in der ersten Hälfte der 1980er Jahre nach der radikalen Zinswende der Reaganregierung („Volckerschock“) stattfand.

Falsche Fixierung und ihre Ursachen

Es wäre auch eine falsche Fixierung, die Schwere der Krise an den Ereignissen von 2008 festzumachen. Die Grundlage der wiederholten Bankenkrisen im Kapitalismus findet sich in der von Marx analysierten Verdoppelung der Ware in Ware und Geld und damit der Notwendigkeit, dass sich ihre Einheit immer wieder in der Metamorphose des Geld-Ware-Kreislaufes herstellen muss. Damit einher geht die Loslösung des realen Werts, der in tatsächlichen Arbeitsprozessen begründet ist, von der Wertform, den verschiedenen Preisausdrücken von allem Möglichen, das die Form einer Ware annehmen kann.

Die Verselbstständigung der Wertform, die im zinstragenden Kapital, im „Kapital als Kapital“ seinen Höhepunkt erreicht, ist jedoch immer rückgekoppelt an die Realisierung des realen Werts im Ware-Geldkreislauf. Während sich die Tendenz zur Ausgleichung der Profitrate nur als langfristiger Durchschnitt, aber kaum je aktuell konkret realisiert, erscheinen Zinsen, Kurse, Preise auf Terminbörsen, etc. als täglich/stündlich sich darstellende „konkrete“ Werte, um die sich das Wirtschaftsgeschehen zu drehen scheint – in Umkehrung der tatsächlichen Verhältnisse!

Nachdem sich die Übereinstimmung von Wert und Wertform nur zufällig, im Durchschnitt und über mehr oder weniger lange Zeiträume ergibt, wird das Gleichgewicht der (Kapital-)Märkte immer wieder in unvorhersehbarer (zufälliger, katastrophischer) Weise durchbrochen, um eine Berichtigung der Wert/Wertform-Widersprüche auszulösen. Diese abstrakte Tendenz zur Finanzmarktkrise bekommt ihre allgemeine Form durch folgenden Zusammenhang: Grundlegend wird die Dynamik der Kapitalakkumulation durch den tendenziellen Fall der Durchschnittsprofitrate und den damit verbundenen Zwang zur ständigen Ausdehnung der Kapitalverwertung bestimmt – eine Bewegung die langfristig zu Überakkumulation (Überkapazitäten, einbrechender Nachfrage, Investitionsrückgang … führt. Dieser Tendenz wiederum wirkt das scheinbar davon unabhängige beständige Wachstum aller möglichen Formen des zinstragenden Kapitals entgegen, die weiterhin Verwertung des Kapitals zu ermöglichen scheinen, wenn die realen Profite dies auch gar nicht mehr tragen können. Wertform und Wert spiegeln vor, sich vollständig zu entkoppeln, und die Akkumulation kann fortgesetzt werden, solange sich noch „Kreditgeber:innen“ finden.

Sobald aber an wichtigen Stellen ein:e Akteur:in den „Kredit“ verspielt und sich dies dominoartig auf andere Bereiche ausdehnt, beginnt das Kartenhaus einzustürzen. Während es 2008 das Sinken von Immobilienpreisen und damit einhergehend der Zusammenbruch der Subprimewertpapiere war, so ist es paradoxer Weise 2023 der Wertverlust der scheinbar so sicheren Staatsanleihepapiere, der zu einer Wertberichtigung der Bankvermögen führte. Was auch immer der Anlass einer Finanzkrise ist – es geht immer darum, dass das Hinauszögern einer in der Realwirtschaft begründeten Krise durch die Finanzmärkte letztlich zu einer Berichtigung führen muss, um dann umgekehrt zum Verstärker der realwirtschaftlichen Krise zu werden.

Welche Auswirkungen wird die Bankenkrise zeitigen?

Zunächst einmal müssen hierzu die unmittelbaren Maßnahmen betrachtet werden, mit denen Regierungen und Zentralbanken die Bankenkrise eingedämmt haben. Im Fall der SVB und vergleichbarer Banken hat die US-Zentralbank zunächst die Einlagensicherung über die üblichen 250.000 US-Dollar erhöht – die von der SVB verspekulierten Gelder wurden also über Steuerzahlungen den Einlegern:innen erstattet. Darüber hinaus hat die US-Zentralbank für die betroffenen Banken ein Programm eingerichtet (Bank Term Funding Program), über das sie den Wertverlust der Staatsanleihen bis zum Nominalwert durch einen Kredit ersetzen können. Letzteres ist auf 1 Jahr begrenzt und soll somit den US-Banken die Möglichkeit geben, sich in einer Übergangsfrist an die Hochzinsumgebung anzupassen. Trotzdem bedeutet dies, dass diese Banken zwar ihr Vermögen berichtigen können, aber zusätzliche Zinslasten bekommen, die insgesamt auf ihre Fähigkeit zu Kreditvergaben wirken werden. Diese Maßnahme wird zwar zur Rettung vieler Banken führen – aber zur Verstärkung der Probleme der sowieso schon schwierigen Finanzierung von Neuinvestitionen beitragen (höhere Kreditzinsen, restriktivere Kreditbedingungen). Dies wird zum schon in den letzten Quartalen feststellbaren deutlichen Rückgang in der Investitionstätigkeit in der US-Privatwirtschaft nochmals hinzukommen. In der EU und in UK sind ähnliche Programme zu erwarten und werden daher auch dort die Stagnationstendenz verschärfen.

Die Maßnahmen in Verbindung mit der CS-Krise waren teilweise noch radikaler. Bei der Übernahme durch die UBS wurde nicht nur die CS weit unter Marktwert verscherbelt (um 3,2 Milliarden US-Dollar Kaufpreis für eine Bank, die noch zur letzten Finanzkrise über 100 Milliarden Marktwert auswies), es wurden auch hohe Staatsgarantien zur Risikoabsicherung bereitgestellt. Für die unmittelbar zu befürchtenden Ausfälle wurden fast 10 Milliarden von der Schweizer Regierung versprochen und für längerfristige Risiken weitere 100 Milliarden. Während hier also die Schweizer Steuerzahler:innen zur Kasse gebeten werden, wurde immerhin auch den Investor:innen in die CS etwas abverlangt: die Tier-1-Bonds (spezielle Form der Wandelanleihen) der CS wurden nicht mit dem Eigenkapital in die UBS überführt, so dass hier einige Premiuminvestor:innen (z. B. aus Saudi-Arabien) zusammen ungefähr 17 Milliarden verloren haben. Insgesamt ist mit der UBS+ aber eine Monsterbank entstanden, deren Bilanzsumme etwa doppelt so groß ist wie das Bruttonationalprodukt der Schweiz. Sollte also die UBS scheitern (wie schon mal 2008), könnte die „Rettung der globalen Märkte“ wohl nicht mehr von der Schweiz allein gestemmt werden. Auch wenn der Zusammenbruch einer Großbank damit erst mal verhindert wurde, wird die UBS schwer an der Abarbeitung der Probleme zu leiden haben und mit den Herkulesaufgaben einer solchen Großfusion (z. B. in der ganzen IT-Infrastruktur) noch lange beschäftigt sein. Jedenfalls ist mit der CS eine der wichtigen Investitionsbanken für Restrukturierungs- und Großinvestitionsvorhaben in Europa und den USA weggefallen bzw. nur teilweise durch die UBS+ ersetzt worden. Die CS-Krisenbewältigung verschärft damit nicht nur die Verschuldungsprobleme, sondern wird ebenfalls negative Folgen auf die Finanzierung von Investitionen haben.

Wie auch immer es mit der Bankenkrise weitergeht (nicht abschätzbar sind noch die Risiken im sogenannten Schattenbankensektor), jedenfalls wird die Krisenbewältigung die sowieso schon bestehenden Tendenzen zur Stagnation verstärken. Auch wenn eine synchronisierte Rezession in der EU und den USA dieses Jahr ausbleiben mag, so sind Wachstumsraten unter ein Prozent für die Kapitalverwertung katastrophal. Mit der Bankenkrise wird zur schwachen Investitionsnachfrage jetzt auch eine Welle von Insolvenzen folgen, die aus „Risikoberichtigungen“ und „Abschreibungen“ im Rahmen der Bankenstabilisierung resultieren. Mit der hartnäckigen Inflation um 5 – 10 % kombiniert sich diese Entwicklung zu einer chronischen Stagflation. Sinkende Reallohneinkommen, Austeritätsprogramme, drohender Arbeitsplatzverlust bei Pleiteunternehmen usw. werden auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Masse der Lohnabhängigen immer schlimmer einwirken – und zu einer Verstärkung der Abwehrkämpfe führen müssen!

Was tun gegen die Bankenkrise?

Neoliberale Kampfblätter wie The Economist oder die Financial Times streiten durchaus über den richtigen Umgang mit der erneuten Bankenkrise. Letztere befürchtet durch die neuerlichen Rettungsmaßnahmen einen „moral hazard“ (moralisches Risiko), eine Bestärkung von Fehlverhalten auf den Finanzmärkten und tendiert dazu, dass man der Krise endlich freien Lauf lassen müsse, um die „schlechten“ Finanzakteur:innen aus dem Markt zu drängen. The Economist neigt eher zum Vertrauen in die „Regulierer:innen“ und meint, dass man Extreme wie die SVB oder CS zwar tatsächlich „bestrafen“ muss, aber die Auswirkungen dann durch das Wirken der Regulierer:innen eingedämmt werden müssen. Dabei wird behauptet, dass dies von Krise zu Krise immer besser gelernt wird und das System so auch diesmal wieder gestärkt aus den Turbulenzen herauskommen würde. Liberale Ökonom:innen wie z. B. Joseph E. Stiglitz sehen dagegen das Problem, dass bestimmte Finanzmarktakteur:innen jede Regulierung umgehen würden und immer wieder das Gleichgewicht des Gesamtsystems ins Wanken bringen. Er fordert daher weitergehende „wissenschaftliche“ Kontrolle über Bankengeschäft und ihr Risikomanagement, wobei z. B. die Fehler bei der Bewertung der gegenwärtigen Bankvermögen in den USA vermieden werden hätten können.

Offensichtlich gehen alle diese Ansätze insofern in die Irre, als sie das Problem an der „Irrationalität“ einzelner Finanzakteur:innen und dem Mehr oder Weniger der Regulierung von Finanzmärkten festmachen. Tatsächlich liegt der Ursprung der Krise aber gar nicht in den Finanzmärkten. Diese sind nur ein Element und Symptom der Gesamtkrise der Kapitalverwertung und können auch nur dort in den Griff bekommen werden. Eine linke Antwort darauf gibt z. B. Michael Roberts in seinem Blogbeitrag „Bank Busts and Regulation“ (21.3.), wo  er die Frage der Verstaatlichung des Bankensektors konkret aufwirft. Er entwickelt dabei ein Modell der „demokratischen Kontrolle“ der Banken und ihrer Finanzierungsgeschäfte sowie ihrer Einbettung in einen nationalen ökonomischen Entwicklungsplan.

So sehr die Bankenverstaatlichung natürlich im Zentrum eines Aktionsprogramms im Rahmen der kapitalistischen Gesamtkrise steht, so sehr kann diese Forderung nicht isoliert von der Frage des Gesamtkampfes gegen die Krise aufgestellt werden. Ein staatliches Bankensystem im Rahmen einer „Selbstverwaltung“ führte z. B. im früheren Jugoslawien zu einer de facto wirtschaftlichen Diktatur der Republiksbanken, die über ihre Kreditvergabe letztlich alle Ebenen der betrieblichen Selbstverwaltung und „Demokratie“ aushebeln konnten – und erst recht zu einer Finanzkrise führten.

Die Arbeiter:innenkontrolle über einen staatlicher Bankensektor kann letztlich keinen Dauerzustand bilden, sondern nur einen Hebel auf dem Weg zur Überwindung des Kapitalismus selbst liefern. Dieser Kampf muss daher mit dem um Vergesellschaftung aller zentralen Produktionssektoren und für einen demokratisch bestimmten Plan entwickelt werden, in dessen Rahmen dann Banken reine Vermittlungsorgane für die gesellschaftliche Gesamtrechnung sind. Erst dann ist gewährleistet, dass die Verselbständigung der Wertform gegenüber den eigentlichen Gebrauchswert produzierenden Bereichen nicht wieder zu deren Diktatur über den Menschen wird und sich die Vermittlung von gesellschaftlichem Bedarf und produktiven Kapazitäten aus bewusster menschlicher Kooperation und Kommunikation herstellt. Eine solche, qualitativ andere Form der Vergesellschaftung erfordert eine Zerschlagung der alten Staatsmacht und die Errichtung einer rätedemokratischen neuen – kurz, eine proletarische Revolution.




Auf in ein revolutionäres Kampfjahr 2023!

Neujahrserklärung der Liga für die 5. Internationale, Infomail 1208, 1. Januar 2023

2022 wurde die Welt von einer Reihe miteinander verbundener Krisen heimgesucht. Da waren die Kriege in der Ukraine, in Tigray, im Jemen und in Myanmar sowie ein „Kalter Krieg“, den die Nato begonnen hatte. Hinzu kommen wirtschaftliche Verwerfungen und eine galoppierende Inflation, das eskalierende Ausmaß von Klimakatastrophen und eine immer noch andauernde Pandemie. Das Jahr war auch geprägt von einer großen Zahl von Flüchtlingen aufgrund dieser Katastrophen und den Maßnahmen der reichsten Staaten zur Abriegelung ihrer Grenzen und Küsten.

Krise der kapitalistischen Globalisierung

Hinter all diesen Ereignissen steht die Krise der kapitalistischen Globalisierung und die sich verschärfende Rivalität zwischen den imperialistischen Lagern USA-EU und China-Russland. Das Ergebnis wird nicht nur von den objektiven wirtschaftlichen Entwicklungen abhängen, sondern vor allem von den politischen Konflikten, die sie hervorrufen, d. h. von den Kämpfen um die Kontrolle und die Nutzung der Produktionskapazitäten der Gesellschaft. Die grundlegendste dieser Auseinandersetzungen ist der Klassenkampf zwischen Kapital und Arbeit, aber sie umfassen auch Konflikte zwischen und innerhalb der großen kapitalistischen Mächte.

Am intensivsten und bedrohlichsten ist der Krieg, der durch den Einmarsch und die versuchte Besetzung der Ukraine durch Russland ausgelöst wurde, der am 24. Februar begann und dessen unmittelbares Ende noch immer nicht abzusehen ist. Die massiven Waffenlieferungen an die Ukraine und die beispiellosen Wirtschaftssanktionen der G7 haben zu einem nationalen Verteidigungskampf hinzugefügt, dass die NATO versucht, Putins Großmachtambitionen zu vereiteln, wobei die USA und das Vereinigte Königreich von Großbritannien hoffen, in diesem Rahmen auch die eigenständigen Bestrebungen der EU zu blockieren.

Putins Blockade der Schwarzmeerhäfen und die westlichen Sanktionen haben einen starken Druck auf die Öl- und Gaspreise sowie auf die Versorgung mit Getreide und Düngemitteln erzeugt. Die Folgen sind wachsender Hunger und sinkende Reallöhne. Die Reaktion der Arbeiter:innenschaft und der armen Menschen in den Städten und auf dem Land steht erst am Anfang, ist aber unvermeidlich: Die Frage ist, ob der Kampf siegreich sein kann.

Diese neuen zwischenimperialistischen Konflikte kommen zu denen hinzu, die durch ihre frühere Politik verursacht wurden. Die Abstimmung der UN-Vollversammlung, die israelische Besetzung palästinensischer Gebiete vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu bringen, und zwar genau an dem Tag, an dem Netanjahus äußerst rechte und rassistische Regierung ihr Amt antrat, ist vielleicht das beste Beispiel dafür.

Vor einer globalen Rezession

Wir stehen am Beginn einer weiteren globalen Rezession, die mindestens so schwerwiegend ist wie die der großen Finanzkrise von 2008, aber dieses Mal mit China als Hauptleidtragendem und nicht als Lokomotive des Aufschwungs. Anders als damals ist eine koordinierte Strategie der führenden imperialistischen Mächte als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise praktisch ausgeschlossen.

Dies verschärft nicht nur die zyklische Wirtschaftskrise in einzelnen Staaten, sondern auch die zwischenimperialistischen Antagonismen, die Tendenzen zur „Deglobalisierung“, die Fragmentierung des Weltmarktes, die Blockbildung und die Abwälzung der Krisenkosten auf die halbkoloniale Welt. Der Krieg um die Ukraine und die gegenseitigen Sanktionen, die beide Seiten massiv treffen, wirken krisenverschärfend, ebenso wie die Krise die gegenseitige Konkurrenz und die Kriegsgefahr erhöht.

All dies treibt die Eskalation anderer grundlegender Probleme der Menschheit voran, darunter der Klimawandel, das Artensterben, die Zerstörung der Ozeane und Pandemien, die ohne ein wirksames globales Gesundheitssystem endemisch werden können. Die zunehmende Häufigkeit extremer Wetterereignisse, die von Klimawissenschaftler:innen seit langem vorhergesagt wird, war im vergangenen Jahr weltweit zu beobachten: Dürren, Waldbrände und Ernteausfälle in der Sahelzone und am Horn von Afrika, Überschwemmungen in Pakistan, Wirbelstürme und noch nie dagewesene Winterstürme in den USA, Trockenheit in Europa.

Die Pandemie, die Millionen von Menschenleben gefordert hat, die drohende Hungersnot und die Vertreibung von einer Milliarde Klimaflüchtlingen in den nächsten 30 Jahren sind Ausdruck dieser Entwicklung. Die Kombination aus Wirtschaftskrise und dem zwischenimperialistischen Kampf um die Neuaufteilung der Welt wird die Krise des Verhältnisses zwischen Mensch und Umwelt erheblich verschärfen.

Die Krise wird zwangsläufig von Angriffen auf die Arbeiter;innenklasse, die Bauern- und Bäuerinnenschaft sowie die unteren Schichten des Kleinbürger:innentums begleitet. Heute steht die Inflation im Mittelpunkt der Angriffe auf die Einkommen und Lebensbedingungen der Massen. Mit der Entwicklung der Krise könnte es jedoch zu einer Deflation kommen, die mit Massenentlassungen, Betriebsschließungen, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung einhergeht, wie es bereits in großen Teilen der Halbkolonien der Fall ist.

Die imperialistische Bourgeoisie konnte sich durch eine Politik des billigen Geldes („Quantitative Easing“) von der großen Rezession und der globalen Krise von 2008 – 2010 „erholen“. Dadurch wurde die Vernichtung von Überschusskapital in den imperialistischen Zentren begrenzt und vor allem das Finanzkapital gerettet. Die der Krise zugrundeliegenden Ursachen – sinkende Profitraten und Überakkumulation des Kapitals – erforderten jedoch eine solche Vernichtung, und ohne sie wurden sie auf einem höheren Niveau in einem Aufschwung reproduziert, der durch die Expansion des fiktiven Kapitals stark unterstützt wurde.

Schon vor 2020 zeichnete sich eine neue Krise ab. Ihre Entwicklung wurde jedoch von der Coronapandemie überholt, die dazu diente, einen gewaltigen Einbruch der Weltproduktion zu synchronisieren – wenn auch unter anderen Umständen als 2008. Die Struktur der Weltwirtschaft hatte sich weiter verschoben und die globale Konkurrenz zwischen den imperialistischen Mächten zugespitzt. Das Ausmaß der Pandemie, die 2020 alle Länder mit voller Wucht traf, führte zu einem weitaus stärkeren Produktionseinbruch als 2008 – 2010, von dem sich die Weltwirtschaft bis heute nicht erholt hat.

Schließlich ist die Fähigkeit, der Krise mit denselben Mitteln wie nach 2010 entgegenzuwirken, stark eingeschränkt (für die Halbkolonien lange vor 2020). Die inneren Widersprüche der kapitalistischen Weltordnung, die wirtschaftlichen, politischen und ökologischen, haben sich so sehr verschärft, dass sie sich gegenseitig verstärken und die Instabilität und Konflikte schaffen, mit denen die Menschheit jetzt konfrontiert ist.

Kampf

Die sich entfaltende Weltkrise markiert den Beginn eines neuen Kapitels im Klassenkampf, in dem sich die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten weltweit in einer schwierigeren Lage befinden als nach der Krise 2008 – 2010. Nach der großen Rezession befand sich die Bourgeoisie ideologisch in der Defensive. Die Arabischen Revolutionen und die vorrevolutionäre Eskalation in Griechenland haben das Potenzial für einen großen Aufschwung des Klassenkampfes aufgezeigt und die Arbeiter:innenklasse und die Massen weltweit mehrere Jahre lang inspiriert. Ihre Fortschritte verdeutlichten das spontane revolutionäre Potenzial der Arbeiter:innenklasse – aber auch seine Grenzen.

Die schließlichen Niederlagen dieser Bewegungen, die auf die tiefe Krise der Führung des Proletariats zurückzuführen sind, hatten auch nachhaltige globale Auswirkungen auf die Moral, die Kampfbereitschaft und das Bewusstsein der Arbeiter:innenklasse. Die Verschiebung des Kräfteverhältnisses hatte reaktionäre Folgen: die Zersetzung der traditionellen Arbeiter:innenorganisationen und der Aufstieg des Rechtspopulismus, einschließlich faschistischer und halbfaschistischer Kräfte, der sich als reaktionäre, aber gegen die „Elite“ gerichtete pseudoradikale Lösung präsentierte.

Selbst fortschrittliche Massenbewegungen wie der Frauenstreik, Ni Una Menos oder Black Lives Matter und der kämpferische Flügel der Arbeiter:innenklasse selbst sind sehr stark von kleinbürgerlichen und neoreformistischen Ideen (Identitätspolitik, Individualismus, Linkspopulismus, Transformationsstrategie) beeinflusst. Der Populismus wird in Frankreich von Jean Luc Mélenchon und La France Insoumise, in Spanien von Podemos und anderen vertreten. Sein Narrativ „das Volk gegen die Elite oder die Kaste“ und seine Beschränkung auf demokratische und reformistisch-utopische Forderungen können nur dazu führen, dass die Klassenidentität und die Unabhängigkeit geschwächt werden und zu Niederlagen beitragen, was wiederum der Rechten in die Hände spielt.

Kräfteverhältnis

Diese globale Verschiebung des politischen und ideologischen Kräfteverhältnisses drückt sich auch in einer Schwäche der subjektiv revolutionären (zentristischen) Linken auf dem Globus und in ihrer Anpassung an solche Ideologien aus. Die endgültige Zersplitterung der Neuen Antikapitalistischen Partei in Frankreich markiert das Ende einer 2009 eröffneten Möglichkeit, in den Wellen des Kampfes, die Frankreich regelmäßig erschütterten, eine Kaderpartei aufzubauen, die ein Programm für die Arbeiter:innenmacht entwickeln könnte.

Zweifellos haben die Kämpfe der letzten Jahre wichtige Gelegenheiten für die Wiedergeburt einer militanten Bewegung der Arbeiter:innenklasse und der sozial Unterdrückten geschaffen und werden dies auch weiterhin tun. Dazu gehörten große aufstandsähnliche Revolten wie in Sri Lanka, die mutigen Proteste gegen die Unterdrückung der Frauen durch die iranische Klerikaldiktatur, die Massenproteste in China gegen Xi Jinpings harte Abriegelung der Städte im Gefolge des Covidlockdowns, die seinen raschen Rückzug erzwangen, und die sich entwickelnde Streikwelle in Großbritannien.

In einigen Ländern könnten reformistische Arbeiter:innenparteien wie die PT in Brasilien trotz ihrer verräterischen Politik erneut die Hoffnungen und Illusionen der Arbeiter:innenklasse auf sich lenken. Solche Hoffnungen werden bald enttäuscht werden, aber wenn die Massen sich dem Verrat „ihrer“ Regierungen widersetzen und dabei kämpferische Organisationen aufbauen, kann dies eine Lösung der Führungskrise einleiten, einleiten, aber nicht vollenden.

Revolutionäre Intervention erforderlich

Dies erfordert eine gezielte revolutionäre Intervention auf der Grundlage eines klaren, globalen Programms, dessen zentrales Thema die Notwendigkeit ist, unabhängige Arbeiter:innenparteien mit einem kämpferischen antikapitalistischen Programm aufzubauen. Im Widerstand gegen die Inflation und die Angriffe auf die sozialen Errungenschaften der Klasse können Aktionsräte, Organisationen der Arbeiter:innenkontrolle nicht nur diese unmittelbaren Fragen aufgreifen, sondern auch zum Mittel werden, um den Kapitalismus zu stürzen und die Grundlage für Arbeiter:innenstaaten zu bilden.

Parteien, die sich auf ein solches Programm stützen, müssen es in Form von nationalen oder sektionsspezifischen Aktionsprogrammen konkretisieren und ständig aktualisieren. Sie müssen auch wissen, wie sie prinzipielle Taktiken beim Parteiaufbau anwenden können, z. B. Umgruppierung, Eintritt oder Bildung einer Arbeiter:innenpartei, die national und international die Sache einer neuen Fünften Internationale voranbringen kann.

Wir, die Liga für die Fünfte Internationale, laden die Kräfte, die diese Herausforderungen und die Notwendigkeit, ein gemeinsames Programm für eine Organisation von Revolutionär:innen zu entwickeln, um sie in die Mitte des Klassenkampfes zu bringen, erkennen, dazu ein, gemeinsam mit uns nationale und internationale Foren einzuberufen, um dies im Jahr 2023 zu diskutieren.




Erklärung des Kongresses der Liga für die 5. Internationale 2022

Internationales Sekretariat der Liga für die 5. Internationale, Infomail 1207, 17. Dezember 2022

Die Welt steht vor einer Krise, die noch schwerwiegender ist als die Große Rezession von 2008 – 2010. Der Ukrainekrieg hat eine neue Phase eingeleitet, in der Wirtschaftskriege, zahlreiche durch den Klimawandel verursachte Katastrophen, ein sich beschleunigendes Wettrüsten und die Auswirkungen der Pandemie die Weltwirtschaft massiv erschüttern. Hunger, Arbeitslosigkeit und massenhafte Flüchtlingsströme, die vor Krieg und Armut fliehen, bringen die Ressourcen der Staaten, der Vereinten Nationen und der Nichtregierungsorganisationen an ihre Grenzen.

Krise, Krieg, Ursachen

Von Wirtschaftswissenschaftler:innen und Politiker:innen sind bereits die Stimmen für Sparmaßnahmen und Haushaltskürzungen zu hören. Die Inflation senkt die Löhne und Gehälter, aber auch die notwendigen Ausgaben für das Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen, ganz zu schweigen von den Zusagen der Weltgipfel zur Bekämpfung des Klimawandels.

Der Krieg, den der russische Imperialismus im Februar 2022 gegen die Ukraine begonnen hat, die Reaktion der NATO und der G7-Imperialist:innen, Waffenlieferungen in noch nie dagewesenem Umfang und weitreichende Wirtschaftssanktionen haben zusammen die weltweite Versorgung mit Nahrungsmitteln und Treibstoffen destabilisiert und bedrohen Millionen Menschen mit dem Zusammenbruch ihres ohnehin schon geringen Lebensstandards.

Die Ukraine, die im Jahr 2020 das niedrigste Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt in Europa aufwies, wird nach Angaben der Weltbank voraussichtlich einen Rückgang ihrer Wirtschaft um 35 Prozent erleben. 14 Millionen Menschen sind aus ihren Häusern vertrieben worden, 7,6 Millionen aus dem Land geflohen.

Es wird Jahre dauern, bis die zerstörten Wohngebäude, Fabriken, Krankenhäuser, Verkehrsverbindungen, Kraftwerke und das Stromnetz wieder aufgebaut sind. Obwohl der Krieg unmittelbar vom russischen Präsidenten Wladimir Putin und seinem diktatorischen Regime zu verantworten ist, um ihren Großmachtstatus zu behaupten, versuchen die NATO-Mächte seit langem, die Ukraine in ihre Einflusssphäre zu ziehen, indem sie sie mit einem EU- und NATO-Beitritt locken. Die Ukraine ist das Opfer dieser zwischenimperialistischen Rivalität.

Da die Ukraine einen Großteil der weltweiten Weizen-, Mais- und Gersteproduktion und einen noch größeren Teil der weltweiten Düngemittelversorgung abdeckt, haben der Krieg und die Unterbrechung der Lieferungen aus Russland sowie der Öl- und Gasversorgung der weltweiten Inflation einen enormen Auftrieb verliehen. Die Ukraine ist auch eine wichtige Weizenquelle für das Welternährungsprogramm, das 115,5 Millionen Menschen in mehr als 120 Ländern mit Nahrungsmitteln versorgt, wodurch in Teilen Afrikas, die bereits von der durch den Klimawandel bedingten Dürre betroffen sind, eine Hungersnot verursacht zu werden droht.

Hunger war schon oft der Auslöser für Revolten und Revolutionen. Lebensmittelunruhen haben zu Streikwellen und dem Zusammenbruch von Regierungen geführt, wie in Sri Lanka und Haiti.

Der Krieg und die weltweiten Sanktionen lenken auch Ressourcen ab, die für die Bewältigung der wachsenden Klimakrise benötigt werden, die sich am deutlichsten in den katastrophalen Überschwemmungen in Pakistan, in Dürren und Hungersnöten in ganz Afrika und in zunehmend störenden Wetterereignissen in Europa, Asien, Australien und Nordamerika äußert. Hinzu kommt der enorme Druck, den die immer noch nicht erloschene Covid-Pandemie auf die Gesundheitsdienste und die Volkswirtschaften ausübt, einschließlich China, dessen jährliches Bruttoinlandsproduktwachstum Prognosen zufolge 2022 auf 3,2 Prozent fallen wird.

Die tiefen Wurzeln der heutigen, miteinander verknüpften Krisen sind in den Grundgesetzen der kapitalistischen Wirtschaft zu finden. Die Fabriken, ihre qualifizierten Arbeitskräfte, die neuen und alten Produktions-, Logistik- und Kommunikationsmittel sind in Hülle und Fülle vorhanden, ebenso wie die wissenschaftlichen und technologischen Mittel zur Bekämpfung von Pandemien und Klimawandel. Die Instrumente für die globale Planung, die zu ihrer Bekämpfung erforderlich sind, stünden ebenfalls zur Verfügung, und zwar in den multinationalen Konzernen und den riesigen Banken, aber sie sind durch Privateigentum und eine erbitterte Konkurrenz voneinander getrennt. Dieser Widerspruch hat sich während der Pandemie gezeigt: einerseits die rasche Entwicklung von Impfstoffen, andererseits deren ungleiche Verteilung an die Bevölkerungen unseres Planeten. Im Herbst 2022 haben 31 Prozent der Bevölkerung noch keine einzige Impfung erhalten.

Die grundlegende Ursache für die Krise des Systems liegt in der massiven Überakkumulation von Kapital und sinkenden Profitraten in allen imperialistischen Zentren der Weltwirtschaft. Da der Kapitalismus nicht in der Lage ist, die Profite aus der Produktion in gleichem oder höherem Maße zu realisieren als in der Boomphase der Globalisierung, könnte er seine Krise nur durch eine massive Vernichtung dieses überschüssigen Kapitals lösen. Alle großen imperialistischen Akteur:innen, die USA, China, die europäischen Mächte und Japan, haben jedoch eine solche Vernichtung vermieden, indem sie ihr Kapital und dessen Position auf dem Weltmarkt verteidigt haben. Dies führt nicht nur zu Protektionismus und einer Zersplitterung des Weltmarktes, sondern wirft auch die Frage auf, wessen Kapital vernichtet werden soll, welche untrennbar mit dem Kampf um die Neuaufteilung der Welt verbunden ist.

Der Kapitalismus hat sich zu einem globalen System des Umweltimperialismus entwickelt. Die Ausbeutung der halbkolonialen Länder wird systematisch und ohne Rücksicht auf die ökologischen und sozialen Folgen verschärft, um die Profite in den imperialistischen Zentren zu steigern.

Klimawandel und Umweltzerstörung können nur eingedämmt und umgekehrt werden, wenn die Kontrolle über die Produktion aus den Händen der großen Kapitalformationen genommen wird, die die Menschheit an den Rand der Katastrophe gebracht haben. Die vielen „Umweltbewegungen“, die entstanden sind, müssen über den Protest hinausgehen, über den Versuch, kapitalistische Regierungen zu überzeugen oder gar zu zwingen, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Diese Regierungen werden niemals das Kapital in dem Umfang enteignen, der notwendig wäre, um die rasante Entwicklung hin zur Klimakatastrophe umzukehren. Das ist eine Aufgabe, die das Handeln der Arbeiter:innenklasse aller Länder erfordert, die Übernahme der politischen Macht durch die Arbeiter:innenmassen.

Zwischenimperialistische Rivalität

Die Liga für die Fünfte Internationale hat davor gewarnt, dass eine neue Periode der Rivalität zwischen den alten imperialistischen Mächten und den Neuankömmlingen auf der Bühne, die nun ihren Platz an der Sonne beanspruchen, in einen offenen Konflikt münden könnte. Die Ära der wohlwollenden Synergie zwischen den USA und China, die die 1990er und frühen 2000er Jahre kennzeichnete und den Anspruch Washingtons untermauerte, eine neue Weltordnung geschaffen zu haben, ist längst vorbei. Jetzt erleben wir nicht nur einen Verdrängungswettbewerb, sondern auch Handelskriege, einen kalten Krieg und stellvertretende „heiße“ Kriege.

Darüber hinaus droht jedoch ein Krieg zwischen den Großmächten, wobei die „Pulverfässer“ in Osteuropa, im Nahen und Fernen Osten liegen. Neue Bündnisse werden ins Leben gerufen (AUKUS) und alte aufgewertet (NATO, die Quad; Quadrilateraler Sicherheitsdialog zwischen den USA, Australien, Indien und Japan). Riesige Waffenlieferungen an die Ukraine haben das offene Ziel, Putin zu demütigen und stürzen, während die Demonstration der Seemacht in den Meeren um China dessen Staatschef Xi Jinping davor warnt, sich Taiwan gewaltsam einzuverleiben.

Die Machthaber:innen in Washington, Berlin, Paris und London, aber auch in Peking und Moskau, spielen mit dem Feuer. Die Rolle der USA als Polizistin einer „Weltordnung“ verkehrt sich in ihr Gegenteil, in die einer Brandstifterin.

Der US- und der russische Präsident, Biden und Putin, die beide beweisen wollen, dass ihre Staaten wieder „Großmächte“ sind, haben kein Recht, sich zu beschweren, wenn sie von „starken Männern“ in Delhi, Ankara, Brasilia, Jerusalem oder Riad nachgeahmt werden. Der Nahe Osten ist seit langem ein Pulverfass, im Irak, in Syrien, im Jemen. Kriege haben sich bis zum Horn von Afrika ausgebreitet, wo 2022 in Tigray (Nordäthiopien) ein brutaler Krieg wütet. Saudi-Arabien führt einen mörderischen Krieg im Jemen, Israel einen Dauerkrieg gegen die Palästinenser:innen und die Türkei hat freie Hand, die kurdische Region Rojava zu bombardieren oder gar eine Invasion und Besetzung vorzubereiten. In Russlands vermeintlicher Einflusssphäre sind im Kaukasus Kämpfe zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach und in Zentralasien zwischen Kirgisistan und Tadschikistan ausgebrochen.

Die despotischen Herrscher:innen dieser Gebiete versuchen, den inneren Druck durch Kriege und ethnische Säuberungen zu lösen, wie sie Jugoslawien in den 1990er Jahren zerrissen haben. Potenzielle „Friedensstörer:innen“ tauchen auch in Europa auf, mit rechtsgerichteten Parteien an der Macht in Ungarn, Polen und möglicherweise in Schweden, Italien oder Spanien. Auch weltweit wird die Liste immer länger.

Ein großer Erfolg der extremen Rechten ist die Eroberung der Republikanischen Partei durch Donald Trump und ihre Umwandlung in eine rechtspopulistische Partei. Schon jetzt setzt sein Oberster Gerichtshof eine reaktionäre Agenda gegen Frauen um (Aufhebung des Urteils Roe gegen Wade) und wird über kurz oder lang Farbige ihrer hart erkämpften Bürger:innenrechte berauben.

Hinter diesen autoritären Führer:innen wuchsen im letzten Jahrzehnt reaktionäre, oft rassistische Massenbewegungen, die sich gegen Minderheiten richten und sich unter den Bedingungen einer tiefen und lang anhaltenden sozialen Krise zu ausgewachsenen faschistischen Bewegungen entwickeln können.

Amerikas strategischer Rivale ist, trotz des Konflikts mit Russland über die Ukraine, China. Sein wirtschaftlicher Aufstieg und sein Auftauchen als neue imperialistische Macht im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends führten unweigerlich dazu, dass es die „einseitige“ globale Hegemonie der Vereinigten Staaten in Frage stellte und unter Xi Jinping offen Anspruch auf seine eigene Einflusssphäre erhob. Dies brachte ihm die Sympathie von Staaten ein, die unter der Hegmonie der USA durch den Internationalen Währungsfonds und andere Instrumente ihrer finanziellen Vorherrschaft gelitten hatten, ganz zu schweigen von Sanktionen und Blockaden.

Um die Errichtung einer chinesischen Vorherrschaft über die pazifischen Staaten zu verhindern, die an die Stelle der von den USA nach dem Zweiten Weltkrieg errichteten Hegemonie tritt, versuchen die USA und ihre britischen, kanadischen, australischen und neuseeländischen Verbündeten, eine NATO für den Pazifik zu schaffen, indem sie unter den südostasiatischen Staaten Verbündete suchen, die sie ihren japanischen, südkoreanischen und taiwanesischen „geschützten“ Verbündeten hinzufügen. Der „Ozean des Friedens“ könnte in den nächsten zehn Jahren durchaus zu einem Kriegsschauplatz ausarten.

Im Inland ist Xis raue Behandlung von Teilen der Bourgeoisie (wie Jack Ma, dem Gründer des Technologieriesen Alibaba) ein Zeichen dafür, dass Teile der Großbourgeoisie gegen seine restriktive Innenpolitik resistent werden. Auf globaler Ebene hat seine aggressivere Haltung eine Gegenreaktion aus den USA und Europa hervorgerufen, die deren Ambitionen ebenfalls bremst. So tut sich ein großer Widerspruch auf zwischen der durch die KP China gestellten Staatsbürokratie, die im staatskapitalistischen Sektor sowie in der Volksbefreiungsarmee noch immer über große wirtschaftliche Macht verfügt, und der von Milliardär:innen geführten Klasse des Privatkapitals. Dieser Widerspruch kann sich zu einem offenen Konflikt ausweiten, der eine Komponente einer revolutionären Situation darstellt – eine herrschende Klasse, die nicht mehr auf die alte Art und Weise regieren kann. Auch im Bankensystem gibt es Anzeichen für Unzufriedenheit.

Wenn die arbeitenden Massen nicht bereit sind, in der alten Weise weiterzumachen, wenn das System nicht in der Lage ist, den verbesserten Lebensstandard der 1980er bis in die 2010er Jahre hinein weiter zu gewährleisten, könnte dies dazu führen, dass Chinas „großer Führer“ mit seinem eigenen „perfekten Sturm“ innerhalb des riesigen Landes konfrontiert wird. Das kapitalistische Wachstum der letzten Jahrzehnte bringt zwangsläufig kapitalistische Krisen hervor. Der Rückgang der Durchschnittsprofitrate und die Überakkumulation von Kapital treiben China auf eine Explosion zu. Hinzu kommen die wirtschaftlichen und sozialen Kosten der Null-Covid-Politik, die weite Teile des Landes geschwächt hat, sowie die Krise des Finanzsektors und eine Spekulationsblase in dem so wichtigen Bausektor.

Seit einigen Jahren erschüttern Konflikte und Kämpfe die Arbeitsplätze und haben immer wieder zur Bildung kleinerer Netzwerke von Arbeiteraktivist:innen geführt. Die massiven und weit verbreiteten Proteste gegen Xis harte Null-Covid-Politik haben nur etwa einen Monat nach seiner Krönung auf dem Kongress der KP Chinas einen demütigenden Rückzieher erzwungen. Das Ausmaß der Proteste in Chinas Städten und die Anti-Xi- und Anti-KP-Slogans zeigen, dass die vermeintliche Allmacht des Überwachungsregimes in den kommenden Jahren erheblichen Erschütterungen ausgesetzt sein wird.

Dies kann den Raum für die Schaffung einer neuen revolutionären Arbeiter:innenbewegung, ja einer Partei schaffen, die ihren Hauptfeind im chinesischen Imperialismus erkennt und für eine sozialistische Revolution auf der Grundlage eines Programms der permanenten Revolution kämpft.

Der Widerstand und seine Führung

Die Große Rezession von 2008 löste im Nahen Osten eine Welle „demokratischer Revolutionen“ aus, bei denen Arbeiter:innenstreiks wie in Ägypten und Tunesien eine entscheidende Rolle beim Sturz der alten Diktatoren spielten. Da diese jedoch nicht „dauerhaft“ in dem Sinne wurden, dass die politische Führung der Arbeiter:innenklasse in Arbeiter:innenregierungen mündete, scheiterten sie selbst als demokratische Revolutionen, so dass islamistische oder militärische Kräfte an die Macht kommen konnten. Die lange US-geführte Besatzung Afghanistans endete mit einer Saigon-ähnlichen „panikartigen Flucht“ durch die westlichen Streitkräfte und diejenigen, die Vergeltung durch die siegreichen Taliban befürchteten. Die wahren Opfer waren die Frauen des Landes, die ihre Bürger:innenrechte und ihren Zugang zu Bildung erneut eingeschränkt oder abgeschafft sahen.

Die Lehre für alle fortschrittlichen Kräfte im so genannten globalen Süden lautet einmal mehr, ihr Vertrauen, ihre Menschenrechte und ihr Leben nicht in die Hände der „demokratischen Imperialismen“ zu legen. Ebenso ist es eine Illusion zu glauben, dass Xi Jinping und Wladimir Putin und ihre Nachahmer:innen an der Spitze der Regionalmächte den Antiimperialismus verkörpern. Die Investitionen in die Neue Seidenstraße („Road and Belt“; „Gürtel- und Wege“) des ersteren sowie die Söldner:innen der russischen Wagnergruppe zeigen, dass sie nicht an der Entwicklung der Souveränität derjenigen interessiert sind, denen sie helfen.

Dennoch hat es im letzten halben Jahrzehnt eine Wiederbelebung der Kämpfe der Arbeiter:innenklasse und der rassistisch und sexuell Unterdrückten gegeben. In den USA hat die „Back Lives Matter“-Bewegung mehrere Wellen erlebt, ausgelöst durch die Gräueltaten durch Mörder:innen in Polizeiuniform, insbesondere die Ermordung von George Floyd im Jahr 2020. Außerdem gab es die Bewegungen „#Me Too“ und „Ni Una Menos“ gegen Vergewaltigung und sexuelle Belästigung.

Das inspirierendste Beispiel für den Widerstand der Frauen sind die monatelangen Massenproteste im Iran, die auf die Ermordung der 22-jährigen Jina Mahsa Amini durch die berüchtigte Sittenpolizei folgten, die die Kleiderordnung durchsetzt. Das Durchschnittsalter der Demonstrant:innen lag bei sechzehn Jahren. Als sich die Proteste ausbreiteten, rissen sich junge Frauen ihre Schleier vom Leib und riefen „Jin, Jiyan, Azadi“ (Frau, Leben, Freiheit!) und „Tod dem Diktator!“ Trotz brutaler Unterdrückung und Hunderten von Toten, wobei die Basidsch-Schläger:innen der Polizei (paramilitärische Milizen) scharfe Munition einsetzten, hielt die Bewegung im Oktober, November und Dezember an. Um die Massen zu beschwichtigen, kündigte Generalstaatsanwalt Montazeri an, die Sittenpolizei abzuschaffen und das Gesetz über das obligatorische Tragen des Hidschab zu überprüfen. Über die staatlichen Medien dementierte das Innenministerium diese Ankündigung, was auf Uneinigkeit innerhalb des Regimes hindeutet.

Wie die Demonstrationen in China gegen die Covid-Lockdownregeln, die das Regime dazu veranlasst haben, diese zu lockern, zeigt dies, dass selbst die totalitärsten Regierungen durch Massenproteste der Bevölkerung erschüttert werden können. Um diese Regime zu stürzen, bedarf es jedoch einer anhaltenden Massenaktion der Arbeiter:innen, d. h. eines Generalstreiks, des Überlaufens der Mannschaftsränge der Repressionskräfte in Verbindung mit der Bildung einer alternativen Staatsmacht, von Machtorganen der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten.

In Indien traten am 2. September 2016 schätzungsweise 150 bis 180 Millionen Beschäftigte des öffentlichen Dienstes in einen 24-stündigen landesweiten Generalstreik. An einem weiteren Streik am 26. November 2020, der von zehn Gewerkschaften organisiert wurde, beteiligten sich 250 Millionen Arbeiter:innen.

Seit etwa einem Jahr gibt es auch in den alten imperialistischen Kernländern, in Europa und Nordamerika, wieder Anzeichen für eine Wiederbelebung des Widerstands im Bildungs- und Gesundheitswesen sowie Proteste gegen gewerkschafts- und streikfeindliche Gesetze, wie sie in diesem Jahr in Ontario, Kanada, drohten. Insbesondere in den Vereinigten Staaten gab es eine Welle von Streiks in Fabriken, Schulen und in der Logistik sowie gewerkschaftliche Kampagnen in den neuen Onlinedienstleistungsunternehmen wie Amazon und der so genannten Gig Economy (kurze, befristete Auftragsvergabe).

Lehrer:innenstreiks sind zu einem wichtigen Merkmal der US-Arbeitswelt geworden. 2018 und 2019 gab es Mobilisierungswellen, mit denen höhere Gehälter oder andere Verbesserungen für Lehrkräfte in Arizona, Colorado, Kentucky, North Carolina, Oklahoma und West Virginia erreicht wurden. Dann kam der berühmte Bildungspersonalstreik in Chicago im März 2022.

Im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland hat der Inflationsanstieg, der im Jahr 2022 so richtig losging, zu einer Reihe von Streiks bei Bahn und Post geführt. Die Gewerkschaften des Gesundheitswesens drohen mit dem ersten landesweiten Ausstand des Krankenpflege- und Ambulanzpersonals seit den 1980er Jahren. Auch in Frankreich kündigen eine Reihe von Protesten der französischen Gewerkschaften gegen die Lebenshaltungskosten und die laufenden Aktionen der Eisenbahner:innen eine verstärkte Reaktion auf die Inflation und den Versuch der Bosse und Regierungen an, die Arbeiter:innenklasse und Armen den Preis für die zunehmende Krise des Systems zahlen zu lassen.

Im August und September desselben Jahres zwangen Massenaktionen, die von den argentinischen Gewerkschaften der CGT und linken politischen Parteien organisiert wurden, Regierung und Arbeit„geber“:innen, Löhne und Arbeitslosenunterstützung zu erhöhen, nachdem die Preise um 70 Prozent pro Jahr und allein im Juli um 7,4 Prozent gestiegen waren und ein Währungsverfall die Löhne weiter abgewertet hatte.

In all diesen Auseinandersetzungen kam es nach einem jahrzehntelangen Abschwung der Arbeitskämpfe zu einem Wiederaufleben der Militanz der Arbeiter:innenschaft. Nach den Niederlagen, Enttäuschungen und dem Verrat durch neue oder erneuerte sozialdemokratische oder linkspopulistische Parteien wie Syriza, Podemos, Jeremy Corbyns Labour und DIE LINKE stimuliert eine bevorstehende schwere Wirtschaftskrise einen gewerkschaftlichen Kampf auf der ganzen Welt. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Rolle, die eine wirklich klassenkämpferische Gewerkschaftsbewegung spielen kann.

Die Frage ist, ob sie zu einer entscheidenden Kraft werden kann, um die Masse der Arbeiter:innen zu klassenkämpferischer Politik, zu neuen Arbeiter:innenparteien zu bewegen, wie es die Power Loom Workers‘ Union in Faisalabad in Pakistan versucht. Politische Projekte, die Idee, laute und stolze Klassenparteien zu gründen, unabhängig von allen bürgerlichen Kräften, bewaffnet mit einem revolutionären Programm, können zu einer mächtigen Ergänzung der Effektivität auf der gesamten Kampffront der Arbeiter:innen und der Kämpfe der national, rassisch und geschlechtlich Unterdrückten werden.

Aus diesem Grund ist es die Aufgabe der revolutionären Avantgarde, sowohl in den Gewerkschaften als auch in den revolutionären Organisationen, die Idee der Gründung unabhängiger Arbeiter:innenparteien voranzutreiben. Dazu gehört auch die Abspaltung der Gewerkschaften von Bündnissen mit bürgerlichen Parteien, wie z. B. zwischen der Demokratischen Partei und den AFL-CIO/Change to Win-Verbänden in den USA oder in Argentinien die Notwendigkeit, die CGT und andere Gewerkschaften aus ihrer langen Unterordnung unter die peronistische Partei zu lösen.

An allen Fronten des Kampfes werden wir jedoch immer wieder durch die Unzulänglichkeiten und den Verrat der alten Führungen in den Gewerkschaften und Parteien und sogar der „spontanen“ Bewegungen gebremst. Sozialdemokratie, Labourismus, Stalinismus, aber auch die neuen Linkspopulist:innen und Anarchist:innen führen die Kämpfe weiterhin in die Niederlage. Wir müssen für eine klare revolutionäre Strategie und Organisation streiten, für Parteien und klassenkämpferische Gewerkschaften und, in Zeiten verschärfter wirtschaftlicher oder politischer Kämpfe, für in den Betrieben und Gemeinden gewählte Delegiertenräte. Auch in diesen Gremien ist eine revolutionäre Partei für den Sieg unerlässlich.

Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse, kämpferische Aktion und Basisdemokratie sind in der kommenden Periode unverzichtbar. Sie können der Entwicklung von revolutionären Parteien auf internationaler Ebene und einer Fünften Internationale enorm helfen.

Nein zum imperialistischen Krieg!

Der Krieg in der Ukraine ist der dramatischste Ausdruck des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt. Revolutionär:innen verurteilen den reaktionären Angriff und die Invasion des Landes durch den russischen Imperialismus. Wir unterstützen die Verteidigung des Landes gegen eine Machtübernahme durch Putins Kräfte, das ursprüngliche Ziel, das er erklärt hat, indem er das Recht des Landes auf unabhängige Staatlichkeit und sogar seine nationale Existenz ablehnte, sowie gegen das weniger wichtige Ziel der Teilung des Landes. Aber die imperialistischen Freund:innen der Ukraine liefern keine beispiellosen Mengen an Waffen sowie Zuschüsse und Kredite für solch elementare demokratische Ziele. Während Putin die Ukraine oder einen Teil davon in eine russische Kolonie verwandeln will, versuchen Biden und die europäischen Staats- und Regierungschefs und -chefinnen, sie in eine Halbkolonie des Westens zu verwandeln, in eine Vorhut der NATO. Putin will EU und NATO schwächen und spalten, während Biden und Co. die Russische Föderation als Großmacht lahmlegen und ihre Rolle als Spielverderberin für ihre Pläne in Ländern wie Syrien oder Afrikas südlich der Sahara beenden wollen.

In der Ukraine findet nicht nur ein nationaler Verteidigungskrieg gegen den Imperialismus statt, sondern das Land steht auch im Mittelpunkt des aktuellen Kampfes um die Neuaufteilung der Welt. Obwohl die NATO nicht offiziell in den Krieg verwickelt ist, ist der zwischenimperialistische Konflikt zwischen Russland und den westlichen Mächten ein entscheidender Faktor in diesem Krieg, wobei die westlichen Imperialist:innen Wirtschaftssanktionen von historischem Ausmaß gegen Russland verhängen und die Ukraine bewaffnen und ausbilden, damit sie als ihre Stellvertreterin agiert.

Deshalb müssen sich Revolutionär:innen gegen die Kriegsziele der NATO, ihre Sanktionen, ihre Aufrüstungsbemühungen und ihre Ausdehnung auf bisher offiziell neutrale Staaten wie Schweden und Finnland wenden. Auch wenn wir den Kampf der Ukrainer:innen gegen die russische Invasion unterstützen, bedeutet dies keineswegs, dass wir die prowestliche Selenskyj-Regierung oder ihr Bestreben, der NATO beizutreten bzw. ihre Wirtschaft der EU unterzuordnen, unterstützen, ebenso wenig wie ihren Kampf, ihr Regime auf der Krim, in Luhansk oder Donezk durchzusetzen, die nicht demokratisch den Wunsch geäußert haben, Teil der Ukraine (oder Russlands) zu sein. Die Menschen in diesen Regionen müssen das Recht auf Selbstbestimmung haben, ohne dass russische oder westukrainische Besatzer:innen sie zwingen oder die Ergebnisse von Referenden oder Wahlen verfälschen.

Ebenso müssen wir uns der Politik der Konfrontation des westlichen imperialistischen Blocks mit dem russischen und chinesischen Imperialismus widersetzen, die unter der falschen Flagge von Demokratie gegen Autokratie geführt wird. Dieser Beginn eines neuen Kalten Krieges wird die Menschheit immer näher an einen Dritten Weltkrieg heranführen, der leicht ihr letzter sein könnte. Die gleichen Prinzipien würden gelten, wenn China in Taiwan einmarschieren würde. Sowohl Xi Jinping als auch die Kräfte im US-Kongress bewegen sich in diese Richtung. Es ist von entscheidender Bedeutung zu verfechten, dass die Arbeiter:innenbewegungen und antiimperialistischen Kräfte auf der ganzen Welt sich nicht dem einen oder anderen imperialistischen Lager anschließen. Vielmehr müssen wir die Verbindung zu den Arbeiter:innen Russlands und Chinas sowie zu den Arbeiter:innen und Streiter:innen für Demokratie in den vielen Diktaturen suchen, die mit dem westlichen Lager verbündet sind.

Gegen Inflation, Hunger und Armut!

Schon jetzt hat die globale Rezession, die durch die Pandemie synchronisiert wurde, in den Jahren 2020 und 2021 zu einer massiven Verarmung der Arbeiter:innenklasse und der Armen geführt, insbesondere in der halbkolonialen Welt. Schon vor dem Krieg in der Ukraine litten 800 Millionen Menschen an Hunger, Millionen sind vom Hungertod bedroht.

Und es wird noch mehr kommen. Die Inflation, die im globalen Süden nie „verschwunden“ war, ist in den imperialistischen Kernländern zurück. Die nächste globale Rezession steht bereits vor der Tür.

Milliarden von Arbeiter:innen, Bauern und Bäuerinnen sowie Armen auf dem Land und in der Stadt wurden auf schmale Rationen gesetzt. In den Halbkolonien genossen die meisten von ihnen während der Pandemie kaum Gesundheitsschutz oder staatliche Unterstützung und waren gezwungen, unter unsicheren und äußerst prekären Bedingungen zu arbeiten oder zu hungern. Auch in den imperialistischen Ländern mussten die Massen trotz Kurzarbeiter:innengeld oder anderer staatlicher Schutzmaßnahmen erhebliche Einkommenseinbußen hinnehmen. Gleichzeitig wurden die Großkonzerne und andere Sektoren des Kapitals während der Pandemie und jetzt des Krieges und der Sanktionen mit Milliardenbeträgen entschädigt.

Während die westlichen Regierungen Unterstützung für die Hungernden versprechen, zwingen sie den halbkolonialen Ländern, die bereits mit Hyperinflation, Währungskrisen und einer immer größeren Schuldenlast zu kämpfen haben, drastische neoliberale Bedingungen auf.

Wir brauchen eine globale Bewegung der Arbeiter:innenklasse und der Armen, um für ein Notprogramm für Millionen von Menschen zu kämpfen, um Einkommen, Lebensmittel, Wohnraum, Strom und Gesundheitsversorgung für alle zu garantieren. Wir setzen uns für die Aufhebung der vom Internationalen Währungsfonds oder von den alten und neuen imperialistischen Mächten auferlegten Schulden und Sparprogramme ein.

Wir müssen die Kämpfe für Löhne, die die Preissteigerungen ausgleichen, unterstützen und verallgemeinern. Die Durchsetzung einer gleitende Skala der Löhne, Sozialleistungen und Renten wird entscheidend sein. Dies muss mit der Forderung nach Kontrolle der Preise und Löhne durch die Arbeiter:innenklasse verbunden sein.

In Ländern, in denen der Preisanstieg die Form einer Hyperinflation annimmt, die die Lohnerhöhungen fast täglich oder wöchentlich auffrisst, und in denen das Geld selbst so schnell an Wert verliert, dass es seine Funktion als Zahlungsmittel nicht mehr erfüllen kann, reicht der Kampf um Lohnanpassungen nicht aus. Notwendig sind nicht nur Preiskontrollausschüsse, sondern direkte Eingriffe der Arbeiter:innenschaft und Verbraucher:innen in die Verteilung der lebensnotwendigen Güter für die Bevölkerung.

Angesichts der globalen Krise, der Inflation und der Angriffe auf die Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen, mit denen wir in der kommenden Krise konfrontiert sein werden, dürfen wir es nicht versäumen, die grundlegende Ursache der Krise anzugehen: das in den Händen der Kapitalist:innen konzentrierte Privateigentum. Wenn wir die Arbeitslosigkeit, den sozialen Rückschritt, Mangel und Hunger bekämpfen, die Gesellschaft entsprechend den menschlichen Bedürfnissen umgestalten und gesellschaftlich nützliche Arbeit für alle schaffen wollen, müssen wir die Eigentümer:innen des Großkapitals, ihre Fabriken, großen Dienstleistungsunternehmen, Banken und Finanzhäuser entschädigungslos enteignen. Nur auf einer solchen Grundlage können wir die Mittel freisetzen, die für einen Notfallplan benötigt werden, um die Bedürfnisse der Millionen von Menschen zu befriedigen, die von Hunger und extremer Armut bedroht sind.

Kampf gegen Umweltkatastrophe und Umweltimperialismus

Die Verschlechterung und Zerstörung der Umwelt und natürlichen Ressourcen geht ungebremst weiter und wird immer bedrohlicher. Die Zunahme extremer Wetterereignisse, nie dagewesene zerstörerische und häufige Stürme, Überschwemmungen und Waldbrände, die Zunahme von Dürren, das Schmelzen der Eiskappen und Gletscher, das zu einem Anstieg des Meeresspiegels führen und viele Regionen oder ganze Länder mit Überschwemmung bedrohen wird, all dies sind Anzeichen für den fortschreitenden Klimawandel auf der Erde.

Gleichzeitig erweisen sich die herrschenden Klassen aller Länder als völlig unfähig, auch nur die brennendsten und unmittelbarsten Fragen anzugehen, wie die Weltklimakonferenz COP27 einmal mehr bewiesen hat. Dies ist nicht überraschend. Die derzeitige Verschärfung der globalen Konkurrenz und der Kampf um die Neuaufteilung der Welt beschleunigen die Tendenz des Kapitalismus, die natürlichen Grundlagen des menschlichen Lebens zu zerstören. Die Ausbeutung in den halbkolonialen Ländern wird systematisch verschärft, ohne Rücksicht auf die ökologischen und sozialen Folgen, um die Profite in den imperialistischen Zentren zu steigern. Alle Merkmale des Umweltimperialismus als globales System stellen die Menschheit als Ganzes vor unaufschiebbare Aufgaben.

Die globalen Umweltbewegungen, die in den letzten Jahren entstanden sind, haben immer wieder den Zynismus und die Heuchelei der führenden Politiker:innen der Welt entlarvt. Millionen folgten den Aufrufen zu weltweiten Klimastreiks und -märschen, bei denen mutige Aktivist:innen durch radikale direkte Aktionen einen Wandel erzwingen wollten.

Revolutionär:innen müssen sich mit diesen Bewegungen solidarisieren, aber gleichzeitig die reformistischen, kleinbürgerlichen und anarchistischen Ideen, die sie prägen, in Frage stellen. Proteste, wie militant oder störend sie auch sein mögen, werden unsere Herrscher:innen nicht davon überzeugen, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, wenn sie ihre Profite oder ihre Vorherrschaft über ihre Länder bedrohen oder sie gegen wirtschaftliche oder militärische Konkurrenz schwächen. Wir müssen die Jugend für eine Antwort der Arbeiter:innenklasse auf die Umweltkrise, für Arbeiter:innenmacht und eine Planwirtschaft gewinnen. Die Jugend muss die Selbstgefälligkeit und Passivität der bürokratischen Führungen der Gewerkschaften und reformistischen Parteien sowie die Unterordnung der notwendigen Maßnahmen zur Lösung der Umweltfrage unter die Interessen des Kapitals in Frage stellen.

Klimawandel und Umweltschäden können nur eingedämmt und rückgängig gemacht werden, wenn die Kontrolle über die Produktion den großen Kapitalformationen entzogen wird, die die Menschheit an den Rand der Katastrophe gebracht haben. Es müssen demokratische Kontrollgremien aus Beschäftigten, Verbraucher:innen, Betroffenen von Großprojekten, um ihre Zukunft kämpfenden Jugendlichen usw. gebildet und ermächtigt werden, über Vorhaben, Risikostufen, Grenzwerte, ökologische Maßnahmen usw. zu entscheiden. Das Kapital muss systematisch mit einer sozialen Kontrolle hinsichtlich der sozioökologischen Auswirkungen seines Handelns konfrontiert werden. Letztlich wird nur die sozialistische Revolution das System des Umweltimperialismus überwinden und eine geplante optimale Ressourcennutzung unter Kontrolle der Mehrheit weltweit ermöglichen.

Zusammenfassung

Die sich verschärfende Wirtschaftskrise, die Klimakatastrophe und die Gefahr eines globalen Krieges zeigen, dass der Kapitalismus ein sterbendes System ist. Die entscheidende Frage ist, ob er rechtzeitig durch eine revolutionäre Umwälzung überwunden wird oder die Menschheit den Weg in Barbarei und sozialen Rückschritt beschreitet.

Schon jetzt sind die Stimmen von Wirtschaftswissenschaftler:innen und Politiker:innen zu hören, die von Sparmaßnahmen und Haushaltskürzungen sprechen. Durch die Inflation werden nicht nur die Löhne gekürzt, sondern auch die notwendigen Ausgaben für Gesundheit, Sozialfürsorge und Bildung, ganz zu schweigen von den Zusagen der Weltgipfel zur Bekämpfung des Klimawandels.

Während Milliarden von Menschen in Armut leben, schwelgt eine winzige Minderheit in unvorstellbarem Luxus. Zwischen 2016 und 2021 ist die Zahl der Milliardär:innen von 1.810 auf 2.755 gestiegen. Die Investitionsentscheidungen dieser Finanziers und Industriellen können ganze Länder in die Knie zwingen. Gleich unter den Milliardär:innen leben Hunderttausende von Multimillionär:innen in schamlosem Saus und Braus auf unsere Kosten, während 852 Millionen Menschen hungern und täglich mehr als 1.000 Kinder an den Folgen des Hungers sterben.

In den entstehenden globalen Bewegungen der Unterdrückten wie auch in nationalen Aufständen müssen Revolutionär:innen stets die Notwendigkeit einer neuen Internationale betonen. Dabei treten wir von Anfang an für ein revolutionäres Programm ein, ohne dies jedoch zur Vorbedingung für echte Schritte zur Vereinigung und zum Widerstand gegen Krisen und Kriege im Hier und Jetzt zu machen.

Wir rufen alle, die gegen Krise, Krieg und Unterdrückung kämpfen, dazu auf, auf die Verabschiedung eines gemeinsamen Aktionsprogramms mit dringenden Sofort- und Übergangsforderungen hinzuarbeiten, das in Richtung einer sozialistischen Weltrevolution führt. Wir rufen alle sozialistischen, kommunistischen und trotzkistischen Strömungen, die mit dieser Perspektive übereinstimmen, dazu auf, gemeinsam ein internationales Programm für eine revolutionäre Antwort auf die bevorstehenden Angriffe zu erarbeiten und sich darauf zu vereinigen.

In einem Land nach dem anderen, das von der historischen Krise des Systems erschüttert wird, müssen wir uns organisieren, um den Kapitalismus in den Abgrund zu stürzen. Unsere Prinzipien sind Unabhängigkeit der Arbeiter:innenkasse, internationale Solidarität und Aktion, Antikapitalismus, Antiimperialismus, Antirassismus und Widerstand gegen alle Formen der sozialen Unterdrückung. Sie müssen in einer Weltpartei der sozialen Revolution verkörpert werden, die das gesamte Erbe der vorangegangenen vier Internationalen vereinigt.

Weltrevolution, und nichts weniger, das muss die Aufgabe einer Fünften Internationale sein!




Sanktionen gegen Russland: Friedlich getarnte Kriegsmittel

Leo Drais, Neue Internationale 263, April 2022

Russlands niederträchtiger Überfall auf die Ukraine hat die Angst vor dem Krieg in unser mitteleuropäisches Leben zurückgebracht. Er ist allgegenwärtig, ohne, dass wir ihn hier selbst erleiden. Aber wir sehen ihn im Internet, im Fernsehen, in den Zeitungen, jeden Tag. In Bahnhöfen begegnen wir Geflüchteten, spenden, helfen. Und wir fühlen – die Sprengköpfe sind auch auf uns gerichtet. Der Dritte Weltkrieg, das nukleare Ende sind Möglichkeiten, die in den Alpträumen, Fantasien und Vorstellungen vieler, nicht nur sensibler Menschen bereits ausbrechen.

Eine große Mehrheit betrachtet daher vor allem die Sanktionen gegen Russland als gerechtfertigt. Einerseits, weil Russland hier als der eindeutige Aggressor dasteht, als die Macht, die zuerst gefeuert hat. Andererseits, weil es die verbreitete und ignorante, da Afghanistan, Irak und Kosovo vergessende, Illusion über den Westen als demokratischen Verteidiger der Menschenrechte gibt, der nun der Ukraine unter die Arme greift – ganz selbstlos anscheinend. Diese Faktoren, gepaart mit friedliebender Hoffnung, angstgetriebener Wut und gefühlter Machtlosigkeit haben innerhalb der deutschen Bevölkerung für eine Stimmung gesorgt, die die Sanktionen bejaht und begrüßt.

Verständlich, aber nur auf den ersten Blick: Russland würde für seinen Krieg gerecht bestraft und das auch noch mit friedlichen Mitteln. Aber so einfach ist die Sache leider nicht, denn:

1) Sanktionen sind für sich genommen ein diplomatisches, wirtschaftliches oder politisches Zwangsmittel. Aber ein Mittel ist nichts ohne seinen Zweck, und den bestimmt, wer sanktioniert.

2) Sanktionen treffen vor allem die einfache Bevölkerung und die Arbeiter:innenklasse.

3) Wer Sanktionen ausspricht, muss sie auch durchsetzen können – notfalls militärisch.

Mittel und Zweck

Zum ersten Aspekt. Sanktionen sind hier nur ein anderes Mittel für denselben Zweck. Viele, sehr viele glauben, ein Sieg der Ukraine wäre ein Sieg der Demokratie, Souveränität und Unabhängigkeit gegen den Despotismus.

Aber ist dem wirklich so? Wenn Kiew den Krieg gewinnen sollte – und nichts anderes sollen die Sanktionen bewirken – würde die Ukraine wesentlich eine Halbkolonie der EU und der USA bleiben, weiterhin abhängig von der NATO, westlichem Kapital und unter Peitsche des Internationalen Währungsfonds IWF – soviel zur realen Souveränität.

Was die Demokratie angeht, ist die Ukraine nach wie vor ein Staat mit einer mächtigen Oligarchie an der Spitze, die sich eine enge Bindung an die EU und die USA wünscht. Auch fragt sich mindestens, was die Krim und den Donbass angeht, ob – selbst bei lupenreinen Wahlen – die ukrainische Regierung ein Selbstbestimmungsrecht einschließlich Loslösungsmöglichkeit dieser Gebiete anerkennen würde. Wohl eher nicht.

Damit sollen weder Putins Regime noch das Selbstbestimmungsrecht einer Nation relativiert werden. Es soll bloß heißen, dass die bürgerliche Demokratie selbst nur sehr begrenzten Einfluss für die Bevölkerung bedeutet und im Großen und Ganzen immer noch eine verschleierte Klassenherrschaft der Kapitalist:innen ist. Das trifft auch auf die BRD zu. Oder haben wir etwa irgendeine demokratische Kontrolle darüber, ob die Regierung 100 Milliarden für Rüstung rausballert oder nach zwei Jahren Corona endlich mal das Gesundheitssystem verbessert? Auch nicht.

Im Namen der Demokratie haben NATO-Staaten viel Leid produziert und glorreiche Demokratien wie in Afghanistan oder den Irak geschaffen. Das Ding mit der Demokratie ist mehr Ideologie zu unserer Einbindung in Staatspolitik der BRD, als dass es wirklich darum ginge, in der Ukraine eine lupenreine Demokratie zu schaffen.

Deutschland, die EU und die USA sind auch in der Ukraine keine selbstlosen Helfer:innen, die Russland nur für den Krieg bestrafen wollen. Es geht darum, dass alle kriegerisch oder nicht unmittelbar kriegerisch beteiligten kapitalistischen Großmächte in Konkurrenz zueinander stehen und keinen uneigennützigen Gefallen kennen. Für die westlichen Unterstützer:innen der Ukraine geht es nicht um deren Selbstbestimmung, sondern um das genaue Gegenteil – die Kontrolle ihrer Ressourcen, ihre Einbindung in den westlichen Block.

Vor allem die USA, aber auch die EU sehen in Moskaus Krieg die Chance, Russland als Konkurrenten zu schwächen, wenn nicht aus dem Weg zu räumen. Es geht um die Neuaufteilung der Welt und um die der Ukraine – zwischen der NATO einerseits und Russland (und in gewisser Weise China) andererseits.

Am Ende dienen die Sanktionen also nicht der Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine, sondern der Ausweitung des wirtschaftlichen und politischen Herrschaftsbereichs der EU-Mächte und der USA. Dass sich die ukrainischen Arbeiter:innen gegen die russische Okkupation zur Wehr setzen, ist zweifellos unterstützenswert. Das darf aber nicht mit einer Unterstützung des Regimes Selenskyj verwechselt werden, das selbst die Lohnabhängigen unterdrückt und erst vor kurzem reihenweise politisch oppositionelle Parteien und Organisationen verbot, weil sie angeblich „prorussisch“ wären. Schon gar nicht darf es mit einer Unterstützung der westlichen imperialistischen Kriegsziele und deren Mittel wie wirtschaftlicher Kriegsführung gleichgesetzt werden.

Die falschen Ziele

Zum zweiten Aspekt. Sanktionen sind nicht nur abzulehnen, weil sie diesem reaktionären Ziel dienen, sondern auch, weil sie schlicht die Falschen treffen. Während russische Reiche und die Putinclique weiterhin aus vollen Tellern tafeln und, sofern sie nicht mit persönlichen Sanktionen belegt sind, über Dubai oder Katar auch weiterhin in die Welt fliegen können, stehen russische Arbeiter:innen vor leeren Supermarktregalen und explodierten Preisen. Als Internationalist:innen, die in ihnen mögliche Verbündete im Kampf gegen den Krieg sehen, lehnen wir daher auch aus diesem Grund Sanktionen ab. Egal, ob sich IKEA aus Russland zurückzieht und die Beschäftigten auf die Straße setzt oder die Lohnabhängigen wegen des SWIFT-Ausschlusses Russlands Geldprobleme bekommen – die Sanktionen treffen vor allem die Massen.

Und noch was. Angeblich sollen sie ja auch bewirken, die russische Bevölkerung gegen Putin aufzubringen. Möglich ist aber auch das Gegenteil: Putins Propagandahoheit findet nun reichlich Futter, um antiwestliche Stimmung zu verbreiten und den Krieg umso mehr zu rechtfertigen. Alle, die auf den Aufstand der russischen Zivilbevölkerung gegen Putin warten, sollten sich darüber klar werden, dass ein/e äußere/r Gegner:in ein Land im Inneren auch zusammenschweißen kann.

Krieg und Frieden

Zum dritten Aspekt. Sanktionen eskalieren bis hin zum Krieg. Das Mittel, das erstmal so friedlich erscheint, ist in Wirklichkeit ein Teil der Konfrontation, die die Gefahr eines direkten Krieges zwischen der NATO und Russland erhöht, wobei es vermutlich das atomare Potential beider ist, das diesen großen Knall derzeit verhindert.

Wer „Sanktionen“ sagt, muss in gewisser Weise auch „Krieg“ sagen. Denn nicht alle Sanktionen sind nur wirtschaftlich, diplomatisch oder politisch durchsetzbar. Mindestens die Drohkulisse von Waffengewalt ist nötig, um Russland davon abzuhalten, diverse Sanktionen zu brechen oder militärisch auf sie zu antworten. Die Diskussion um eine Flugverbotszone über der Ukraine, an die sich Putin wahrscheinlich nicht halten würde, verdeutlicht genau das.

Darüber hinaus müssen die Sanktionen nicht nur gegenüber Russland durchgesetzt werden, sondern auch anderen Staaten, die sich nicht daran halten, also z. B. russisches Öl und Gas kaufen würden.

Sanktionen funktionieren auch dort nur in Verbindung mit ökonomischen Drohungen und potentieller militärischer Gewalt. Manche würden hier in Anlehnung an das Gleichgewicht des Schreckens vielleicht sagen: „Na klar, wer Frieden will, der rüste zum Krieg!“ Schade nur, dass weder die Geschichte noch die Dynamik einer kapitalistischen Welt das bestätigen. Im Lostreten eines Krieges regiert und konzentriert sich das ganze Irrationale dieser Gesellschaft. Daher gilt, dass alle, die den Dritten Weltkrieg verhindern wollen und Angst vor ihm haben, in Sanktionen eine gefährliche, eine falsche Hoffnung setzen!




Die türkische Wirtschaft am Abgrund

Dilara Lorin, Neue Internationale 262, Februar 2022

Das Jahr 2021 war für die Bevölkerung in der Türkei eines, in welchem sie am eigenen Leib erfuhr, wie wertlos ihr Geldbeutel ist im Gegensatz zu dem der FabrikbesitzerInnen, der Herrschenden, derjenigen, die ganz oben an der Seite Erdogans stehen. Nach Angaben des türkischen Statistikamts betrug die Inflationsrate 36 %. Unabhängige ExpertInnen schätzen, dass der reale Fall der Währung gar 60 – 80 % betrug.

Dabei steht das Schlimmste wohl noch bevor. Im Gegenteil, die türkische Wirtschaft scheint sich nicht, auch wenn es zu Weinachten kurzzeitig so wirkte, zu erholen. Der Wechselkurs der türkischen Lira beträgt (Stand 26. Januar) 15,23 TL für 1 Euro. Die ArbeiterInnenklasse, aber auch die unteren Schichten des KleinbürgerInnentums und selbst die Mittelschichten treibt die wirtschaftliche Lage um. Dabei sind es vor allem die Lohnabhängigen, auf deren Schultern die Krise lastet. Millionen stehen jeden Morgen auf und wissen nicht, wie sie ihre Familie die kommenden Tage ernähren können oder wo sie sich noch für einen Hungerlohn verkaufen sollten, um sich einigermaßen über Wasser zu halten. Waren es 2021 vor allem die Preise für Lebensmittel, die noch mehr als die Inflation anstiegen, so treffen nun auch die Energiepreise und das Ausbleiben von Gaslieferungen die Massen. Innerhalb der ArbeiterInnenklasse leidet auch die Jugend besonders unter der aktuellen Krise von Corona und Wirtschaft, denn für sie gibt es kaum Perspektiven. Viele wollen auswandern und mit ihren Qualifikationen anderswo Arbeit finden. Als „Antwort“ werden sie von „ihrem“ Präsidenten dafür kollektiv als „undankbar und wurzellos“ beschimpft.

Wie konnte die Wirtschaft überhaupt so schnell abstürzen?

Zweifellos tragen die Regierung Erdogan sowie die Profitgier jener UnternehmerInnen und StaatsdienerInnen, die er vertritt, selbst zur Verschlimmerung der Lage bei. Doch um die Tiefe und die Ursachen der aktuellen Krise zu verstehen, müssen wir die globale Lage betrachten. Die Türkei versucht zwar durchaus mit Erfolg, eine geostrategische Machtposition in der Region einzunehmen, und hat im letzten Jahrzehnt ihre Positionen in Syrien, im Irak, in Aserbaidschan oder Libyen ausgebaut. Aber dies ändert nichts daran, dass sie in der imperialistischen Weltordnung noch immer eine Halbkolonie darstellt, ihr Platz hier letztlich von anderen bestimmt wird. Und hier sind zuerst die globalen Kapitalströme zu betrachten.

Ähnlich wie viele weitere Staaten ist die Türkei abhängig von externer Finanzierung. Der Anteil des jährlichen Devisenbedarfs am Volkseinkommen ist über die Jahre kontinuierlich gestiegen und erreichte aktuell bis zu 30 % des Volkseinkommens. In Zahlen einfacher ausgedrückt: Die Außenfinanzierung der Türkei belief sich 2021 auf rund 220 Milliarden US-Dollar. Dabei hat sie es zunehmend schwerer, Kapital anzuziehen. Das hängt zwar auch mit der immer aggressiver werdenden Politik Erdogans und der politischen Instabilität zusammen. Vor allem aber ist das Folge davon, dass aufgrund der Krisenpolitik der USA und der EU das Anlagekapital in die Metropolen gezogen wird und aus den Halbkolonien, insbesondere aus den Schwellenländern, abfließt. Das trifft nicht nur die Türkei, sondern auch Ökonomien wie Argentinien oder Südafrika, die alle vor einer massiven Finanzkrise, einem Verfall ihre nationalen Währung, massiver Inflation (bis hin zur Drohung einer Hyperinflation) stehen.

InvestorInnen und PolitikerInnen aus den USA oder Deutschland betrachten diese Entwicklung mit großer Sorge – und tun so, als wäre alles nur von unfähigen, d. h. zu wenig willfährigen PolitikerInnen wie Erdogan verursacht, und blenden dabei die systemischen Ursachen der Krise aus. Nicht am kapitalistischen Imperialismus liegt es, sondern an der „Inkompetenz“ der türkischen Regierung! Dabei will das deutsche Kapital natürlich nicht grundsätzlich Investitionen abziehen. Es will aber, dass auch zukünftig gigantische Profite fließen, ja die Investitionsbedingungen noch einmal verbessert werden. Es will seinen Geldhahn nutzen, ihn vor allem für die eigenen Interessen in der Türkei einsetzen. GroßinvestorInnen entscheiden sich schließlich, in diesem Land zu produzieren, vor allem aufgrund der niedrigen Löhne für die ArbeiterInnen und der nicht so strengen Regularien – nicht, weil sie dem Land etwas „Gutes“ tun, sondern die Ausbeutungsverhältnisse für sich nutzen möchten. Wobei hier deutsche Konzerne an vorderster Front stehen. Doch die instabile Lage und die Währungskrise führen dazu, dass einige GroßinvestorInnen wie zum Beispiel VW Pläne für weitere Fabriken zurückgezogen haben.

Aufgrund der Schwankungen auf dem Weltmarkt und der Abschwächung der Kapitalzuflüsse sucht das türkische Regime nach Ersatz für knappe Devisen.

Erdogans Geldpolitik, den Leitzins niedrig zu lassen, zielt darauf ab, Exporte, Kredite und damit das Wachstum anzukurbeln, vor allem in Anbetracht der kommenden Wahlen, die 2023 stattfinden sollen, eventuell aber vorgezogen werden. Mit dieser Politik wird zwar Inflation in Kauf genommen, längerfristig, so das Versprechen des Bonaparten Erdogan, soll so aber die Wirtschaft angekurbelt werden. Das mag zwar die Taschen einiger ExporteurInnen und SpekulantInnen füllen, das Land treibt ein solches Strohfeuer wohl aber noch mehr in den Ruin. Erdogan verhinderte also eine Erhöhung des Leitzinses. Er wurde im vergangenen Jahr vielmehr bis zu vier Mal gesenkt, was wiederum Importe teurer machte, weil sie in Devisen wie Dollar oder Euro bezahlt werden müssen.

Inflation und die Talfahrt der Lira

Ein Jahr lang befand sich die Lira immer wieder auf Talfahrt. Am 20.12.21 befand sie sich auf einem historischen Tiefstand und „erholte“ sich danach, weil Erdogan Maßnahmen ankündigte. Zu diesen gehörte: Einlagen in Lira sollen gegen Verluste aus Wechselkursschwankungen geschützt werden. Sollten die Verluste größer ausfallen als die von Banken versprochenen Zinsen auf die jeweiligen Einlagen, würden sie ersetzt.

Außerdem erließ die Regierung Anfang Januar ein Gesetz, demzufolge in der Türkei ansässige Firmen 25 Prozent ihrer Exporterlöse in Euro, US-Dollar oder Pfund an eine Privatbank verkaufen müssen und dafür türkische Lira zum tagesaktuellen Wechselkurs erhalten. Diese Maßnahme rief die imperialistischen Länder auf den Plan, die mit Investitionsstopp und weiteren Rückflüssen von Kapital drohen.

Außerdem soll aber auch die Bevölkerung ermutigt werden, ihr Geld in Lira anzulegen oder gar bestehende US-Dollar- und Euro-Reserven aufzulösen und in Lira umzutauschen. Dieses vollkommen utopische Projekt soll die sog. Dollarisierung in der Türkei stoppen, also die Flucht in den US-Dollar als Ersatz für die nationale Währung. Schon 2013 wurden rund 25 % aller Transaktionen zwischen Unternehmen in dieser Währung vollzogen. 2021 stieg der Anteil auf 69 %!

Die für die ArbeiterInnenklasse wohl verlockendste Maßnahme war die Erhöhung des Mindestlohns um bis zu 50 % auf 4250 Lira (rund 275,51 Euro). Doch angesichts der weiter grassierenden Inflation dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis die nominelle Lohnerhöhung von der realen Preissteigerung wieder aufgefressen sein wird.

Kurzfristig vermochte sich zwar zum Jahreswechsel, die Lira zu stabilisieren. Doch das Strohfeuer ist mittlerweile erloschen. Im Gegenteil, aufgrund der Versorgungsengpässe mit Gas, fehlender Energiereserven und auch von Zahlungsschwierigkeiten mussten ganze Branchen in der Türkei in den letzten Tagen des Januar ihre Produktion einstellen.

Die Wirtschaft am Boden – wie kann sich die ArbeiterInnenklasse erheben?

In der aktuellen Lage drohen den Lohnabhängigen gleich mehrere Gefahren. Vor allem zwei stehen unmittelbar an. Erstens die massive Preissteigerung, die sich bis zu einer Hyperinflation entwickeln kann, was faktisch dazu führen würde, dass die Lira nicht mehr als Zahlungsmittel fungieren könnte und die Einlagen praktisch entwertet wären (während die Privatschulden weiter drücken würden). Zweitens eine Schließungs- und Entlassungswelle aufgrund von Überschuldung, Zahlungsausfällen, Bankrotten wie auch einer Rezession in jenen Branchen, die lange die türkische Ökonomie getragen haben (z. B. Bauwirtschaft).

Ein ermutigendes Zeichen besteht darin, dass es in den letzten Wochen auch wichtige Kämpfe der ArbeiterInnenklasse gab, um reale Lohnsteigerungen durchzusetzen, die der Preissteigerung entsprechen. So traten Beschäftigte bei Trendyol Express, dem größten Online-Shopping-Unternehmen der Türkei, in den Streik. Das Unternehmen bot ursprünglich eine Inflationsanpassung von 11 % an, obwohl sich diese offiziell bei 36 % bewegte. Am 24. Januar traten zuerst hunderte FahrerInnen bei diesem Unternehmen in den Ausstand, hielten Massenversammlungen ab und verlangten 50 % Lohnerhöhung. Nach drei Tagen stimmten die EigentümerInnen einer Erhöhung von 38 % zu. Diesem Beispiel folgten Beschäftigte im Kurierdienst bei HepsiJET, Aras Kargo und Sürat Kargo.

Vielleicht noch wichtiger sind die Kämpfe in der Autoindustrie. Dort hatten die Gewerkschaften Türk Metal, Birleşik Metal-İş und Özçelik-İş eine Lohnerhöhung für das Jahr 2021 ausverhandelt, die unter der realen Preissteigerung blieb. Das wurde jedoch von den Beschäftigten der Çimsataş-Werke in Mersin nicht akzeptiert. Sie kritisierten den Ausverkauf der Bürokratie, setzten den Arbeitskampf fort, besetzten den Betrieb und wurden am 13. Januar gewaltsam von der Polizei geräumt. Während sich die Gewerkschaftsführungen ausschweigen, verdeutlicht dieses Beispiel wie auch jenes der AutokurierInnen, dass die Krise die ArbeiterInnenklasse zu kämpfen geradezu zwingt.

Angesichts der akuten Einkommensverluste und drohenden Massenarmut braucht es ein Kampfprogramm gegen die Inflation wie auch gegen drohende Schließungen um Forderungen wie:

  • Automatische Anpassung der Löhne und Einkommen an die Preissteigerung – und zwar um die Erhöhung der realen Lebenshaltungskosten, wie sie von betrieblichen Streik- und Aktionskomitees in den Wohnvierteln festgelegt werden.
  • Einführung eines Mindestlohns und Renten und Arbeitslosenunterstützung in dieser Höhe, um die Armut zu bekämpfen.
  • Preiskontrollkomitees, um sicherzustellen, dass die Preise für Lebensmittel, Wohnungen, Strom und Heizung nicht aufgrund des Mangels künstlich in die Höhe getrieben werden. Direkte Verbindung mit Ausschüssen von Bauern/BäuerInnen und LandarbeiterInnen, um die Versorgung der Bevölkerung zu sichern und Preise zu kontrollieren.
  • Entschädigungslose Verstaatlichung aller Unternehmen, die schließen oder mit Entlassungen drohen, unter Kontrolle der Lohnabhängigen; Enteignung aller Unternehmen, die für die Grundversorgung der Bevölkerung zentral sind und Erstellen eines Notplans zur Versorgung der Bevölkerung unter ArbeiterInnenkontrolle.

Diese und weitere wirtschaftliche und soziale Forderungen können jedoch nur durchgesetzt werden durch Massenaktionen – durch Demonstrationen, Besetzungen und einen politischen Massenstreik, der die Lohnabhängigen verschiedener Branchen einbezieht. Dazu braucht es die Bildung von Aktionsausschüssen in den Betrieben und den Kampf für die Erneuerung und Vereinigung der Gewerkschaften auf einer demokratischen, antibürokratischen und klassenkämpferischen Grundlage sowie die Organisation von Selbstverteidigungskomitees gegen Übergriffe von Rechten oder der Polizei. Um rassistischer und nationalistischer Spaltung entgegenzuwirken, muss eine solche Streikbewegung zugleich den Schulterschluss mit allen Unterdrückten, insbesondere den MigrantInnen und dem kurdischen Volk suchen.

Um eine solche Perspektive in die Bewegung zu tragen, braucht es freilich auch eine politische Kraft – eine neue, revolutionäre ArbeiterInnenpartei!




Rückkehr der Inflation?

Markus Lehner, Infomail 1176, 19. Januar 2022

Inflationsraten Ende 2021 von 5,3 % in Deutschland oder 7 % in den USA – so etwas kannten viele BewohnerInnen der imperialistischen Zentren nur noch aus Erzählungen „aus grauer Vorzeit“ oder von Ländern des „globalen Südens“. Seit einigen Monaten sind Inflationsraten über 2 % üblich geworden. Zunächst erklärten WirtschaftsforscherInnen und ZentralbänkerInnen, dass es sich um Sondereffekte handeln würde: kurzfristige Lieferengpässe aufgrund der wirtschaftlichen Folgen von Corona oder Spezialeffekte, wie die Rücknahme der Mehrwertsteuerermäßigung.

Inzwischen sind die meisten dieser ExpertInnen sehr viel vorsichtiger geworden – insbesondere nachdem der Vorsitzende der FED, der US-Zentralbank, erklärte: „Inflation is here to stay“. Die Frage ist also: Stehen wir am Beginn einer neuen Ära der Inflation – und wenn ja, aus welchem Grund? Insbesondere stellt sich die Frage nach den Auswirkungen auf die ArbeiterInnenklasse und die notwendige Reaktion darauf.

Zunächst einmal: Was ist überhaupt Inflation?

Einfach gesagt geht es um eine allgemeine und längerfristige Steigerung der Preise, die nicht nur einen bestimmten Sektor, sondern wesentliche Bereiche sowohl für den Massenkonsum als auch für Investitionsgüter betrifft. Das Schwierige dabei ist, dass eine solche übergreifende Preissteigerungstendenz sehr verschiedene Ursachen haben kann. Da es sich bei Preisen um ein quantitatives Verhältnis von Geld und Waren handelt, in dem sich letztlich ein Wertverhältnis widerspiegeln muss, kann die Ursache sowohl auf der Geld- wie auf der Warenseite liegen.

Geld dient einerseits als Zirkulationsmittel, um den Tausch von Waren zu ermöglichen, und andererseits als Wertmaßstab im Tauschverhältnis (tritt uns also z. B. als Preis einer Ware entgegen). Daher können sowohl Schwankungen in der Geldmenge als auch im Wert des Geldes das allgemeine Preisniveau beeinflussen. Der klassische Fall in der Geldtheorie waren die massiven Zuflüsse von Silber in der frühen Neuzeit aus den spanischen Kolonien. Herrschte zuvor trotz Ausdehnung von der Arbeitsproduktivität in Europa Geldknappheit und damit eine Tendenz zu fallenden Preisen, so führte die Ausdehnung der Geldmenge vor allem in Spanien zu einer massiven Inflation (samt Abfluss des Silbers in die produktiveren Sektoren Europas). War dies zunächst der erhöhten Nachfrage geschuldet, so wurde es noch verstärkt, indem die Silbermünzen immer mehr „gestreckt“ wurden (d. h. ihr nomineller und realer Wert auseinanderfielen).

Zusätzlich ist Geld nicht nur Zirkulationsmittel und Maßstab der Werte – es ist durch Kredit- und Wechselgeschäfte immer auch Zahlungsmittel für Tauschvorgänge, bei denen Kauf dem Verkauf vorgezogen wird (nachträgliche Zahlung mit entsprechender Verzinsung). Auch durch Schwankungen der Masse an Zahlungsmitteln und deren Werte (sowie der Zinsen) können Preiseffekte entstehen. Dies betrifft Phasen der Ausdehnung der „Liquidität“ (Vertrauen in die Zahlungsfähigkeit einer wachsenden Zahl von GläubigerInnen) wie ihres Schrumpfens. Ein hohes Ausmaß an Zahlungsausfällen und Zurückhalten von kurzfristiger Vorfinanzierung – wie z. B. nach der Finanzkrise 2008 – führt zu Marktstockungen und damit kurzfristig zu raschem Preisverfall für plötzlich schwer verkäufliche Waren. Langfristig wirkt hingegen die Ausdehnung der Geldmenge als Zahlungsmittel auch inflationär – wenn der so zum Anwachsen gebrachten Nachfrage (Kauf) langfristig nicht auch die entsprechenden Gegenleistung entspricht (Verkauf). Moderne Inflationen entspringen zumeist Ungleichgewichten in diesen Kreditgeldsphären und weniger dem klassischen Geldumlaufbereich.

Weltmarktstellung, Finanzsystem und Inflation

Von Seite der Ware her gesehen ist das Phänomen der Inflation vor allem eines des Verhältnisses von Wert und Preis. Der Wert wird wesentlich bestimmt durch die gesellschaftliche Arbeitszeit, die für die Produktion der Ware unter den vorherrschenden durchschnittlichen Arbeitsbedingungen notwendig ist. D. h. längerfristige Veränderungen der Arbeitsproduktivität, vor allem sektoral oder regional, führen zu Ausgleichsbewegungen, die sich durch Veränderungen der Preise vermitteln. So hat die „billige Industrieware“ des britischen Kapitals im 19. Jahrhundert auf dem vom Britannien dominierten Weltmarkt zu einer Ära fallender Preise geführt. D. h. obwohl Britannien praktisch das ganze 19. Jahrhundert eine nachhaltig steigende Staatsverschuldung erlebte, führte dies nicht zu Inflation, da dies mehr als wettgemacht wurde durch den deflationären Effekt der Weltmarktstellung des britischen Kapitals. Ein Produktivitätsvorteil, der lange von KonkurrentInnen nicht eingeholt werden kann, kann durch Verkauf über Wert zu einem Werttransfer führen. Trotz Ausdehnung der Geldmenge (dargestellt noch in Gold bzw. damit gedeckten Äquivalenten) wurde dies durch den Zufluss an ausländischen Werten (Gold oder Anleihen) mehr als wettgemacht.

Der Zusammenbruch der Goldwährungssysteme (British Empire, Bretton Woods) hatte jeweils die Gefahr von inflationären Krisenphasen zur Folge gehabt. Um das Beispiel der 1970er Jahre heranzuziehen: Der lange Boom der Nachkriegsperiode endete in Profitabilitätsproblemen, Stockungen der Investitionstätigkeit und Stagnation der Arbeitsproduktivität. Gleichzeitig war der Welthandel stark von nationalstaatlichen Beschränkungen und Monopolpreisen bestimmt. Die Überschuldung der USA, die zur Aufkündigung der Währungsregulierung von Bretton Woods 1973 führte, überschwemmte den Weltfinanzmarkt mit Dollars, die per Schuldenfinanzierung zur Ankurbelung der stockenden Wirtschaften dienen sollten. Tatsächlich kamen letztere jedoch nicht vom Fleck, weshalb sich im Verlauf der späten 1970er Jahre auch in den reichen Industrieländern die Inflationsraten auf die 10 % zubewegten. Stagnation, Verschuldung und Inflation wurden zum Teufelskreis der „Stagflation“ – bis die US-Zentralbank 1982 mit massiven Zinserhöhungen („Volcker-Schock“), teilweise bis zu 20 %, den großen „Dollar-Staubsauger“ anwarf. Die danach einsetzende massive Schuldenkrise war einer der entscheidenden Hebel für die Durchsetzung der neoliberalen Angriffe und der Durchsetzung des „Washington Consensus“ während der 1980er Jahre.

Die darauffolgende Globalisierungsperiode führte zu zwei Jahrzehnten von globalem Wachstum, gestützt auf den Zusammenbruch der degenerierten ArbeiterInnenstaaten, massiver Deregulierung und Privatisierung, Abbau von Handelsschranken und nationalen Schutzbestimmungen – und damit der Ankurbelung von Arbeitsproduktivität und Investitionstätigkeit aufgrund entsprechender Profitraten. Die Deregulierung der globalen Finanzmärkte führte zu einer Ära der scheinbar unbegrenzt wachsenden Liquidität, der Zahlungsmittel für einen in neuer Qualität wachsenden Weltmarkt. Insbesondere die Verbilligung von Waren und Dienstleistungen durch globales Outsourcing, Steigerungen von Produktivität und Ausbeutungsraten zeitigte durch das Sinken der Herstellungspreise einen deflationären Effekt. Die scheinbar explodierenden Geldmengen führten unter diesen spezifischen Bedingungen nicht zur Inflation. Außerdem wuchs die Massenkaufkraft in Folge der neoliberalen Lohn- und Haushaltspolitik auch in den imperialistischen Ländern nicht in entsprechendem Ausmaß, so dass der Geldüberhang eher wiederum in neue Finanzmarktprodukte floss und das Kreditgeldsystem stabilisierte. In den imperialisierten Ländern dagegen wurden diejenigen, die den „Washington Consensus“ verließen, ganz automatisch durch Schrumpfen der Dollarreserven oder Abwertung ihrer Währung mit Inflation gestraft. Die Inflation war also nicht verschwunden – nur dass sie in den imperialistischen Ländern als solche der Finanzwerte, in den imperialisierten Ländern als Zwangsmittel zur Aufrechterhaltung neoliberaler Politik auftrat.

Globale Krise

Mit dem Sinken der Profitraten in den frühen 2000er Jahren kehrte die Realwirtschaft zur Stagnation zurück, während der spekulative Boom durch das Aufblasen der Finanzmärkte weitergetrieben wurde – bis zur Finanzmarktkrise 2008. Die vorläufige Rettung des globalen Kapitals wurde paradoxerweise 2009/2010 mit der Politik des „Quantitative Easing“, also der extremen weiteren Ausdehnung der Zahlungsmittelmengen erzielt. Damit wurde die Liquidität wiederhergestellt und gleichzeitig ein großer Teil der imperialistischen Kapitale gerettet. Da die 2010er Jahre in den alten imperialistischen Ländern aber gleichzeitig weiterhin durch sehr geringe Wachstums- und Profitraten in der Realwirtschaft gekennzeichnet waren, stellt sich die Frage, warum sich das dort nicht als Inflation ausgewirkt hat. Hier wirkten folgende drei Faktoren: (1) Die Gewichte im Welthandel hatten sich stark zu Gunsten von China verschoben, das als Lokomotive der Weltwirtschaft mit seinen Produktionsketten den Weltmarkt weiterhin mit billigen Herstellerpreisen bedienen konnte; (2) die Antikrisenpolitik in den imperialistischen Ländern fußte weiterhin auf Stagnation der Löhne und Massenkaufkraft; (3) trotz der Politik des billigen Geldes vertraute das globale Kapital aus Angst vor schlimmeren Verlusten in sogar gesteigertem Maße ihr Geld den klassischen imperialistischen Anlagemärkten an. In Folge wurden viele der angeblich aufsteigenden Schwellenländer (z. B. Brasilien, Türkei) durch Kapitalmangel und schrumpfende Weltmarktchancen gebeutelt. In vielen dieser Länder breitete sich bereits Stagflation aus.

Die Corona-Krise traf dieses sowieso schon krisenhafte Weltsystem. Mit dem Wachstumseinbruch der ersten Corona-Welle und den folgenden Einschränkungen, was Welthandel, Transport und Zulieferindustrien betraf, kam es zu schweren Rezessionen in fast allen Ländern des Globus. Wiederum wurden in den imperialistischen Ländern massive Geldmittel zur „Überbrückung“ bis zum erneuten Anlaufen der Weltwirtschaft bereitgestellt. Dies betraf sowohl große staatliche Ausgabenprogramme wie auch weitere Ausweitung der Zahlungsmittelmengen (z. B. durch Übernahme gefährdeter Finanzierungen). Anders, als sich Regierungen und Zentralbanken es vorstellten, ging die Krise aber nicht so rasch vorbei. Insbesondere führten das Prinzip „so wenig Lockdown in den Betrieben wie möglich“ ebenso wie der Mangel an Unterstützung der Impfkampagnen in der imperialisierten Welt dazu, dass die Pandemie unvermindert weitergeht, von Mutationswelle zu Mutationswelle.

Außerdem wächst das Gewicht der schon seit der letzten Krise immer zahlreicher werdenden „Zombiekapitale“ (Betriebe, die abseits der bestehenden Geldpolitik längst zahlungsunfähig wären). Dies drückt die gesamtwirtschaftliche Produktivität, bindet Kapital für neue Investitionen und drückt die Durchschnittsprofitrate. Die Wachstumsraten, die sich bisher für das neue Jahrzehnt andeuten, sind daher ebenso stagnativ wie im letzten Jahrzehnt. Dazu kommt, dass diesmal auch China in einer real- und finanzwirtschaftlichen Krise steckt (Stichwort: Evergrande). Während es diesmal nicht die dynamische Rolle auf dem Weltmarkt spielen kann, kommt auch noch dazu, dass nicht erst seit Trumps US-Präsidentschaft der Welthandel wieder deutlich protektionistischer organisiert wird. In wachsender Weise werden auch Produktionsketten wieder in die imperialistischen Kernländer zurückverlegt (Schlagwort „Deglobalisierung“).

Inflation ist zurück

All dies bedeutet, dass derzeit die gewachsene Geldmenge durch sehr viel weniger deflationäre Gegengewichte gebremst wird. Die Stimuluspakete z. B. von Bundesregierung oder USA waren stärker als 2009 auf Belebung von Massenkonsum und Investitionen ausgerichtet (in der Annahme, dass dies der kurzfristigen Überbrückung dient). Doch trafen sie auf einen weiterhin stagnierenden bzw. sogar schrumpfenden Weltmarkt. Geringere Kapazitäten in der Öllieferung führten zu steigenden Preisen mit einem Anstieg der Gaspreise in Folge. Mit den CO2-Zertifikaten führt dies insbesondere bei den Energiepreisen zu einem enormen Anstieg. Ähnliche Preisauftriebe gibt es für Baumaterialien und -maschinerie. Der Rückbau von Produktionsketten ebenso wie pandemiebedingte Ausfälle bringen auch einen Nachfrageüberhang nach Arbeitskräften mit sich, was zu einer Lohnsteigerungstendenz führt. Letztlich mündet die Finanzmarktentwicklung auch weiterhin in hohen Investitionsraten in Immobilien und damit auch zu weiter steigenden Mieten.

All das bedeutet heute, dass sich die Politik des billigen Geldes derzeit auch tatsächlich in steigenden Preisen auswirkt. Sollte es nicht zu einem raschen und starken Wachstum, fußend vor allem auf steigenden Investitionen, kommen, droht tatsächlich auch in den imperialistischen Zentren die Rückkehr der Stagflation (Kombination von Stagnation und Inflation, die einander wechselseitig verstärken). Da ein realer, von Investitionen getragener anhaltender Aufschwung nicht zu erwarten ist, müssen wir uns auch wieder auf die Schockmaßnahmen vorbereiten, die das Kapital für so einen Fall parat hält.

Zunächst einmal muss uns als Lohnabhängigen klar sein, dass eine längerfristige Phase der Inflation eine starke Bedrohung für unsere Lebensverhältnisse darstellt. Schon jetzt sind gerade NiedrigverdienerInnen und Hartz-IV-EmpfängerInnen massiv von den Preiserhöhungen betroffen. Aber auch „Normalverdienende“ werden diese zu spüren bekommen, wenn die Inflation nicht vollumfänglich in die Lohnforderungen eingeht. Alle Behauptungen von einem „vorübergehenden Phänomen“ müssen entschieden zurückgewiesen werden.

Tatsächlich kann sich das Problem von Erhöhungen von Strom- und Wohnkosten in nächster Zeit sogar extrem zuspitzen. Dies muss insbesondere bei Fragen der Enteignung von Wohnungsgesellschaften und Energiekonzernen mit eingebracht werden. Insgesamt kann die ArbeiterInnenklasse den Auswirkungen einer Stagflationskrise nur durch einen konsequenten Kampf für eine gleitende Skala von Löhnen und Arbeitszeiten unter ArbeiterInnenkontrolle begegnen, also eine unmittelbare Anpassung der Einkommen an Preiserhöhungen. Da die offizielle Inflation die Preissteigerungen der Lohnabhängigen oft nur unzureichend widerspiegelt, muss diese Erhöhung von Löhnen, Arbeitslosengeld, Renten usw. die Preisentwicklung jener Waren widerspiegeln, die vor allem von den Lohnabhängigen konsumiert werden, um sich zu reproduzieren.

Doch die Auswirkungen einer Inflation und möglicher „Schocktherapien“ der Herrschenden wie eine Rückkehr zu einer Hochzinspolitik treffen nicht nur die Preise. Ein mögliche drohende „Schocktherapie“ muss ihrerseits zwangsläufig zu einer massiven Welle von Betriebsschließungen führen – was nur mit einer koordinierten Welle von Betriebsbesetzungen beantwortet werden kann.

Viel spricht dafür, dass die zu erwartende Stagflationskrise die der 1970er Jahre global um einiges übersteigen wird. Daher können die genannten Abwehrmaßnahmen der ArbeiterInnenklasse nur die Vorbereitung auf die notwendige Offensive für den Angriff auf die Wurzel des Problems sein: das Privateigentum an den Produktionsmitteln und eine Neuaufteilung der gesellschaftlichen Arbeit unter Kontrolle der Lohnabhängigen. Die ökonomische und ökologische Krise, auf die wir zusteuern, erfordert lebensnotwendig den Kampf um eine sozialistische Gesellschaft.




Die Weltlage und Aufgaben der ArbeiterInnenklasse

Jaqueline Katherina Singh, Neue Internationale, Dezember 2020/Janaur 2021

In den vergangenen zwei Jahren sah sich die Welt mit einer Reihe von miteinander verknüpften Krisen konfrontiert. An erster Stelle steht eine weltweite Gesundheitskrise. Covid-19 hat die Regierungen und Gesundheitssysteme überrascht, obwohl EpidemiologInnen und die WHO vor einer wahrscheinlichen zweiten SARS-Epidemie gewarnt und die Gewerkschaften des Gesundheitspersonals darauf hingewiesen hatten, dass ihre Krankenhäuser und Kliniken für eine solche nicht gerüstet sind. Covid-19 hat weltweit mehr als fünf Millionen Todesopfer gefordert, wütet mit seinen Delta- und Omikron-Varianten immer noch – und bricht in Ländern wieder aus, die überzeugt waren, die Krankheit unter Kontrolle zu haben und ihre Wirtschaft wieder in Gang zu bringen.

Die Schlagzeilen der letzten beiden Jahre beherrschten aber auch die sich häufenden extremen Wetterereignisse – Überschwemmungen, Waldbrände, Dürren -, die rund um den Globus wüten und die Aussicht auf einen katastrophalen Klimawandel unbestreitbar machen. Im krassen Gegensatz zu den Gefahren endete der Weltklimagipfel einmal mehr im – Nichts. Die wichtigsten Staaten blockierten jede feste Verpflichtung zur Reduzierung von CO2-Emissionen. Wieder einmal wurden die halbkolonialen Länder, vor allem in den bereits stark geschädigten Tropenzonen, um die Milliarden betrogen, die sie zur Bekämpfung der Auswirkungen benötigen. Stattdessen wurden ihnen weitere Kredite angeboten.

Im Jahr 2020 verursachte Covid den stärksten Einbruch der Weltwirtschaft seit den 1930er Jahren. Auch wenn die globale Ökonomie schon davor im Niedergang war, so synchronisiert die Pandemie die Rezession und diese prägt auch den Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung und die Maßnahmen der Regierungen. Die Lockdowns zwangen die großen imperialistischen Staaten, mit den neoliberalen Dogmen über die Staatsausgaben zu brechen. Die Zinssätze, die jahrelang bei null lagen, um die zur Stagnation neigenden Volkswirtschaften anzukurbeln, erlaubten es den Staaten nun, Billionen zu leihen und in den imperialistischen Kernländern die Auswirkungen der Krise auf die Massen abzumildern. Die Unterbrechung der Versorgungsketten, der Weltmärkte und die wiederholten Aussperrungen haben enorme Verluste verursacht, auch wenn deren volles Ausmaß erst nach Beendigung der Pandemie deutlich werden wird. Auch wenn in einigen Ländern ein kurzfristiger Konsumboom möglich sein mag, wenn sich die Wirtschaften etwas erholen, so wird dieser eher einem Strohfeuer denn einer ernsten Erholung gleichkommen.

Ökonomische Auswirkungen

Mit Beginn der Pandemie stand ab Ende Februar 2020 die Wirtschaft still und internationale Produktionsketten lagen brach. Viele bürgerliche Forschungsinstitute und Konjunkturprognosen übten sich trotzdem in den letzten beiden Jahren in Sachen Optimismus. In Vorhersagen wurde  festgehalten, dass die Erholung schnell erfolgen und munter weitergehen wird – schließlich sei die Pandemie nur ein externer Faktor.

Die ganze Realität bildet das allerdings nicht ab. Nach dem Einbruch der weltweiten Wirtschaftsleistung 2020 um 3,2 % folgte in diesem Jahr zwar eine Erholung. In seinem vierteljährlichen Bericht ging der IWF im April 2021 noch von einer Steigerung der globalen Wirtschaftsleistung von 6,4 % aus – und musste diese Prognose nur um 0,4 % nach unten korrigieren. Begründet wurden die optimistischen Prognosen mit dem Beginn der Impfungen, der damit verbundenen Erwartung eines Endes der Pandemie sowie den Konjunkturpaketen.

So ist es auch kein Wunder, dass vor allem die imperialistischen Zentren Erholung verzeichnen, während die Länder, die sich weder Impfstoff noch Konjunkturpakete leisten können, zurückbleiben. Genauer betrachtet ist das Wachstum in den imperialistischen Zentren jedoch langsamer als erhofft und begleitet von Inflation. Die Gründe dafür sind vielfältig: Der Stillstand der Handels- und Produktionsketten hat einen länger anhaltenden Einfluss, wie man beispielsweise an der Halbleiterproduktion betrachten kann. Hinzu kommen gestiegene Energie- und Rohstoffpreise. So meldete das deutsche statistische Bundesamt, dass die Erzeugerpreise im September 2021 um 14,2 % im Vergleich zum Vorjahr nach oben gingen – die stärkste Steigerung seit der Ölkrise 1974. Die Energiekosten sind laut Bundesamt zusätzlich um 20,4 % teurer geworden. Auch Arbeitskräftemangel in bestimmten Sektoren sowie Inflation verlangsamen das Wachstum. Zentral sind aber niedrige Investitionsraten, die zwar durch die massiven Konjunkturpakete angekurbelt werden, aber vor allem im privaten Sektor gering ausfallen.

Ebenso darf bei der Betrachtung nicht vergessen werden, dass die Folgen der Finanzkrise 2007/08 noch längst nicht ausgelöffelt sind. Vielmehr hat sich die internationale Schuldenlast massiv erhöht und auch die Niedrigzinspolitik lief die letzte Dekade munter weiter.

Letztlich erfordern kapitalistische Krisen eine Vernichtung überschüssigen Kapitals. In der Rezession 2009 fand diese jedoch nicht annähernd in dem Maße statt, das notwendig gewesen wäre, um einen neuen Aufschwung der Weltökonomie zu ermöglichen. Staatdessen war das letzte Jahrzehnt weitgehend eines der Stagnation.

Die Politik des billigen Geldes in den imperialistischen Zentren verhinderte dabei nicht nur die Vernichtung überschüssigen Kapitals, sondern führte auch zu einem massiven Anstieg der öffentlichen wie privaten Schuldenlast; neue spekulative Blasen bildeten sich. Die Coronamaßnahmen vieler imperialistischer Regierungen haben diese Lage noch einmal befeuert. So wurden zwar befürchtete große Pleiten vorerst verhindert – gleichzeitig gilt ein bedeutender Teil der Unternehmen mittlerweile als „Zombiefirmen“, also Betriebe, die selbst wenn sie Gewinn machen, ihre Schulden nicht mehr decken können und eigentlich nur künstlich am Leben erhalten werden.

Hinzu kommen weitere Faktoren, die deutlich machen, dass in den kommenden Jahren mit keiner Erholung der Weltwirtschaft, sondern allenfalls mit konjunkturellen Strohfeuern zu rechnen ist. Erstens fällt China anders als nach 2008 als Motor der Weltwirtschaft aus. Zweitens verschärfen zunehmende Blockbildung wie auch Fortdauer der Pandemie die wirtschaftliche Lage selbst und können nicht nur als vorübergehende Faktoren betrachtet werden. Drittens reißt die aktuelle Lage schon jetzt wichtige Halbkolonien in die Krise. Ländern wie Argentinien, der Türkei oder Südafrika drohen Insolvenz und Zusammenbruch ihre Währungen. Indien und Pakistan befinden sich ebenfalls ganz oben auf der Liste von Ländern, die IWF und Weltbank als extrem krisengefährdet betrachten.

Zusammengefasst heißt das: Die Folgen der Finanzkrise 2007/08 wurden noch abgefedert. Jetzt erleben wir eine erneute Krise von größerem Ausmaß, die diesmal fast alle Länder gleichzeitig erfasst. Doch der Spielraum der herrschenden Klasse ist dieses Mal geringer.

Auswirkungen auf das Weltgefüge

Somit ist klar, dass die Coronapandemie und ihre Folgen die Welt noch für einige Zeit in Schach halten werden. Nicht nur, weil wir mit Mutationen rechnen müssen, gegen die die Impfstoffe unwirksamer sind, sondern die Pandemie ist längst kein „externer“ Faktor mehr, sondern ihrerseits eng mit den globalen wirtschaftlichen Entwicklungen und deren politischen Folgen verwoben. Ein einfaches Zurück zur „Vor Corona“-Zeit ist somit nicht möglich.

Bereits vorher war die internationale Lage zwischen den imperialistischen Kräften angespannt. Der  Handelskrieg zwischen USA und China bestimmt zwar nicht mehr die Schlagzeilen in den Zeitungen, aber die aktuelle Krise verschärft die innerimperialistische Konkurrenz erneut auf allen Ebenen. Die massive Überakkumulation an Kapital spitzt nicht nur die ökonomische Konkurrenz zu, sondern  wird auch das Feuer der innerimperialistischen politischen Querelen weiter anfachen. Schließlich will niemand die Kraft sein, auf deren Kosten die anderen ihr Kapital retten. Praktisch bedeutet das: weitere harte Handels- und Wirtschaftskonflikte, zunehmende ökonomische Tendenz zur Blockbildung und Kampf um die Kontrolle etablierter oder neuer halbkolonialer Wirtschaftsräume. Die USA und China, aber auch Deutschland und die EU verfolgen dies mit zunehmender Konsequenz.

Dies hat nicht nur ökonomische, sondern auch politische Folgen, darunter die zunehmende Militarisierung sowie eine weitere Eskalation kriegerischer Auseinandersetzungen. Hinzu kommt, dass die Pandemie den Trend zum Nationalprotektionismus verschärft hat und ein widersprüchliches Moment in sich trägt. Wie wir an Lieferengpässen sehen, sind die Produktionsketten mittlerweile extrem verschränkt. Ein einfaches Entflechten gemäß dem Ideal, „alles was man braucht“, im eigenen Staat zu produzieren, ist schlichtweg nicht möglich. Dennoch kann es infolge von vermehrten ökonomischen und politischen Konflikten zur Erhebung weiterer Zölle, wechselseitigen Sanktionen etc. kommen. Auch wenn dies die Weltwirtschaft selbst in Mitleidenschaft ziehen wird, so werden solche Konflikte zunehmen. Das Kräftemessen kann zugleich auch deutlich machen, welche Länder das schwächste Glied in der imperialistischen Kette bilden, und seinerseits innere Konflikte zuspitzen und ganze Staaten destabilisieren.

Die Aussichten sind also nicht besonders rosig. Schon das letzte Jahrzehnt war von einer Zunahme autoritärer, rechtspopulistischer und bonapartistischer Tendenzen geprägt, die sich unter dem gesellschaftlichen Ausnahmezustand der Pandemie verschärft haben. Um in kommenden Auseinandersetzungen mögliche Proteste in Schach zu halten, ist damit zu rechnen, dass wir eine Verstärkung von Rechtspopulismus, Autoritarismus, Bonapartismus erleben werden.

Angesichts diese krisenhaften Lage erheben sich zentrale Fragen: Wer wird zur Kasse gebeten, um die Rettungs- und Konjunkturpakete zu finanzieren? Wer wird die Kosten der Krise zahlen? Welche Klasse prägt die zukünftige Entwicklung?

Bedeutung für die ArbeiterInnenklasse

Die Antwort auf diese Frage ist eindeutig. Nicht die Herrschenden wollen den Kopf hinhalten und so werden die bürgerlichen Regierungen natürlich versuchen, die Last vor allem auf die ArbeiterInnenklasse, die Bauern-/Bäuerinnenschaft und die Mittelschichten abzuwälzen, wie dies im Grunde schon während der Coronakrise der Fall war. Fast überall arbeiteten die jeweiligen Gesundheitssysteme an ihren Grenzen und Gewalt, insbesondere gegen Frauen, hat gesamtgesellschaftlich stark zugenommen. Allein die unmittelbaren Folgen des Stillstands wie Massenentlassungen, Verelendung und massiver Zuwachs an Armut sind global schnell sichtbar geworden. So erwartet der Internationale Währungsfonds, dass die Pandemie den Fortschritt in der Bekämpfung der globalen Armut seit den 1990er Jahren annulliert sowie die Ungleichheit weiter verstärkt.

Die größten Auswirkungen sind in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen zu verzeichnen. Dort beträgt deren Verlust mehr als 15 Prozent. Genau diese Länder haben zudem die schwächsten Sozialsysteme. Hinzu kommt die steigende Inflation, die die Lebenshaltungskosten in Ländern wie der Türkei oder dem Libanon und vielen anderen in die Höhe treibt. Das Festhalten der imperialistischen Länder an den Patenten zugunsten der Profite sorgt dafür, dass die Lage sich nicht in absehbarer Zeit verbessern wird.

Nicht allzu viel besser sieht die Situation in den imperialistischen Zentren aus. Auch hier gab es zahlreiche Entlassungen. So hatten die USA 2020 ihr historisches Hoch. Die Konjunkturpakete oder Hilfen wie das KurzarbeiterInnengeld in Deutschland federn zwar die Auswirkungen der Krise ab, aber auch hier ist die Inflation deutlich in der Tasche zu spüren.

Was kommt?

Aufgrund des konjunkturellen Aufschwungs in den USA und in etlichen europäischen Staaten werden die kurzfristigen Auswirkungen hier andere sein als für große Teile der Massen in den Halbkolonien. Letztere werden von einer Dauerkrise der Wirtschaft, der Pandemie und auch ökologischen Katastrophen geprägt sein. Das heißt, dass in den halbkolonialen Ländern der Kampf für ein Sofortprogramm gegen die akute Krise und Pandemie eine zentrale Rolle spielen wird, das die verschiedenen ökonomischen und sozialen Aspekte umfasst. Grundsätzlich können wir davon ausgehen, dass der Klassenkampf in diesen Ländern aufgrund der zugespitzten sozialen und politischen Lage eine weit explosivere Form annehmen wird.

Die Extraprofite des imperialistischen Kapitals in den Metropolen sowie der aktuelle konjunkturelle Aufschwung in etlichen Ländern erlauben in diesen Staaten mehr Spielraum für gewerkschaftliche und soziale Umverteilungskämpfe. Ebenso kann es sein, dass teilweise reformistische oder linkspopulistische Kräfte an Aufwind gewinnen. Schließlich hat die Gesundheitskrise in den Augen von Millionen verdeutlicht, dass massive Investitionen, Verstaatlichungen und Neueinstellungen in diesem Bereich wie auch in anderen Sektoren nötig sind (Wohnung, Verkehr … ). Bürgerliche wie reformistische Kräfte versuchen, dem verbal entgegenzukommen und die Spitze zu nehmen. So beinhalten das Programm Bidens wie auch der Green Deal der EU Versprechen, die ökologischen Probleme zu lösen und soziale Ungleichheit zu reduzieren. In der Realität werden sich diese Reformversprechen als Quadratur des Kreises entpuppen.

In Wirklichkeit sind es Programme zur Erneuerung des Kapitals, nicht der Gesellschaft. Der ArbeiterInnenklasse und den Unterdrückten wird nichts geschenkt, schon gar nicht in der Situation zunehmenden Wettbewerbs. Während die wirtschaftliche Lage in den imperialistischen Ländern jedoch kurzfristig einen gewissen Verteilungsspielraum eröffnen kann, der von der ArbeiterInnenklasse genutzt werden muss, besteht dieser in den halbkolonialen Ländern praktisch nicht. Dort können und werden sich selbst Kämpfe um soziale, ökonomische und demokratische Verbesserungen viel rascher zum Kampf um die politische Macht zuspitzen, wie z. B. der Sudan zeigt.

Auch wenn die Situation in imperialistischen Ländern und Halbkolonien bedeutende Unterschiede birgt, so sind alle wichtigen Auseinandersetzungen unserer Zeit – der Kampf gegen die Pandemie, die drohende ökologische Katastrophe,  die Folgen der Wirtschaftskrise und die zunehmende Kriegsgefahr – Fragen des internationalen Klassenkampfes. Sie können auf nationaler Ebene letztlich nicht gelöst werden.

Wo aber beginnen?

Zuerst ist es wichtig zu verstehen, dass die verschlechterte Situation der arbeitenden Klasse nicht automatisch Proteste mit sich bringt. Diese gibt es zwar, ebenso wie Streiks und Aufstände, jedoch sind sie erstmal nur Ausdruck der spontanen Unzufriedenheit der Massen. Zu glauben, dass aus ihnen mehr erwachsen muss oder sie von alleine zu einer grundlegenden Lösung führen werden, ist falsch, ein passiver Automatismus. Streiks befördern natürlich das Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse, dass sie sich kollektiv zusammenschließen muss, um höhere Löhne zu erkämpfen. Nicht mehr und nicht weniger. Ihr spontanes Bewusstsein im ökonomischen Kampf ist jedoch selbst noch eine Form bürgerlichen Bewusstseins, weil es auf dem Boden des Lohnarbeitsverhältnisses steht. Es stellt insbesondere in Friedenszeiten nicht das kapitalistische System in Frage, sondern fordert erstmal nur mehr Lohn ein. Ähnliches gilt für Proteste beispielsweise aufgrund von Hunger. Beide – Streiks und spontane Proteste – tragen jedoch in sich das Potenzial, zu mehr zu werden. Allerdings nur, wenn es geschafft werden kann, die Grundlage der Misere aufzuzeigen, zu vermitteln, dass die Spontaneität der Proteste noch nicht automatisch die Lösung bringt, sondern es einen organisierten Umsturz braucht, um dieses System erfolgreich zu zerschlagen. Es ist Aufgabe von RevolutionärInnen, dieses Verständnis, dieses Bewusstsein in die Klasse zu tragen und die dazu notwendigen Schritte zu vermitteln. Dies ist jedoch leichter geschrieben als getan, denn ein Blick auf die aktuelle Lage zeigt, dass es viele Widerstände gibt, die man zu überwinden wissen muss.

Kämpfe und Kontrolle

Das heißt, dass man in die existierenden Kämpfe intervenieren und diese zuspitzen muss. Beispielsweise durch Forderungen, die weiter gehen als jene, die bereits aufgeworfen werden. Es reicht nicht, nur kommende Angriffe abzuwehren, vielmehr müssen die Abwehrkämpfe mit dem Ziel geführt werden, konkrete Verbesserungen zu erkämpfen, und dabei aufzeigen, was für eine andere Welt möglich wäre. Denn der Illusion anzuhängen, dass es irgendwann genauso wie vor der Pandemie werden kann, ist eine Illusion, wie die obige Diskussion der Weltlage aufzeigt. Zudem war dieser Zustand eh nur für einen sehr geringen Teil der Weltbevölkerung annehmbar. Beispielsweise kann das dafür notwendige Bewusstsein folgendermaßen vermittelt werden:

In Zeiten permanenter Preissteigerungen geraten selbst erfolgreiche Lohnkämpfe an ihre Grenzen. Die Forderung nach höheren Löhnen muss daher mit der nach automatischer Anpassung an die Preissteigerung verbunden werden. Da zur Zeit die Preise für die Konsumgüter der ArbeiterInnenklasse (Mieten, Heizung, Lebensmittel) stärker steigen, als es die statistische Inflationsrate zum Ausdruck bringt, sollte durch die Gewerkschaften und VerbraucherInnenkomitees ein Index für die reale Steigerung der Lebenshaltungskosten erstellt und immer wieder aktualisiert werden. An diesen sollten die Löhne und Gehälter angeglichen werden. Damit dies auch wirklich passiert, sollten wir uns nicht auf den Staat (und schon gar nicht auf die Ehrlichkeit der Unternehmen) verlassen, sondern müssen dazu betriebliche Kontrollkomitees – also Formen der ArbeiterInnenkontrolle – etablieren.

So kann ein konkretes Problem – die Steigerung der Lebenshaltungskosten – für die gesamt Klasse angegangen und mit dem Aufbau von Organen der ArbeiterInnenkontrolle, also der betrieblichen Gegenmacht, verbunden werden.

Ähnliches lässt sich auch für andere Bereiche zeigen. Die Forderung nach massiven Investitionen in den Gesundheitssektor stellt sich weltweit. Dies muss durch Besteuerung der Reichen passieren unter Kontrolle der ArbeiterInnen selber. Hier bedarf es neben einer Erhöhung der Löhne auch einer enormen Aufstockung des Personals, um Entlastung zu schaffen.

Hinzu kommt, dass die Arbeit im gesamten Care-Sektor oftmals geringer vergütet wird, da dieser nicht im gleichen Maße Mehrwert produziert – und somit nicht auf gleicher Ebene rentabel ist. Das ist nur einer der Gründe, warum es entscheidend ist, dass die Investitionen unter Kontrolle der Beschäftigten stattfinden. Sie können aufgrund ihrer Berufsqualifikation und -erfahrung wesentlich besser entscheiden, wo Mängel im Joballtag bestehen, und hegen zeitgleich kein materielles Interesse daran, dass der Gesundheitssektor so strukturiert ist, dass er Profite abwirft. Zentral ist allerdings beim Punkt Kontrolle, dass sie nicht einfach so herbeigeführt werden kann. Damit dies nicht nur schöne Worte auf Papier bleiben, sondern sie Realität werden kann, bedarf es Auseinandersetzungen innerhalb der Betriebe, bei denen sich Streik- und Aktionskomitees gründen. Diese stellen Keimformen von Doppelmachtorganen dar, die den Weg zur ArbeiterInnenkontrolle ebnen. Nur so kann die nötige Erfahrung gesammelt werden sowie sich das Bewusstsein entwickeln, dass die existierende Arbeit kollektiv auf die Arbeitenden aufgeteilt werden kann.

Ebenso müssen wir dafür einstehen, dass die Patente für die Impfstoffe abgeschafft werden. Es wird deutlich, dass das Vorenthalten nicht nur aktiv dafür sorgt, dass Menschen in Halbkolonien an dem Coronavirus sterben, sondern auch durch die Auswirkungen auf die Wirtschaft stärker verarmen. Ausreichend allein ist dies natürlich nicht. Die Freigabe der Patente muss mit der kostenlosen Übergabe von Wissen und den nötigen technischen Ressourcen verbunden werden – ein kleiner Schritt, der dafür sorgt, dass die stetige Abhängigkeit von den imperialistischen Ländern sich an diesem Punkt nicht weiter verfestigt. Nur so kann die Grundlage geschaffen werden, etwaige Mutationen des Virus zu verringern. Falls diese doch entstehen, erlaubt es schnelles Handeln bei der Produktion notwendiger neuer Impfstoffe. Auch dies kann nur geschehen, wenn nicht die Profitinteressen der imperialistischen Länder und Pharmaindustrie vorrangig bedient werden. Deswegen müssen auch hier die Konzerne enteignet und unter ArbeiterInnenkontrolle gestellt werden.

Doch so einfach ist es nicht …

Dies sind Forderungen, die weltweit ihre Relevanz haben und die Grundlage für eine internationale Antikrisenbewegung legen können. Doch einfacher geschrieben als durchgesetzt. Denn wie bereits zuvor geschrieben: Es gibt Widerstände, auch innerhalb der Klasse.

Niederlagen in den Klassenkämpfen des letzten Jahrzehntes, vor allem des Arabischen Frühlings, aber auch von Syriza in Griechenland trugen eine tiefe, desillusionierende und demoralisierende Auswirkung auf die Massen mit sich. Nicht die Linke, sondern die populistische Rechte präsentierte sich in den letzten fünf Jahren immer wieder als pseudoradikale Alternative zur Herrschaft der tradierten „Eliten“. Diese konnte sich aufgrund der Passivität der Linken innerhalb der Coronakrise profilieren. So kann die Zunahme eines gewissen Irrationalismus‘ in Teilen des KleinbürgerInnentums, aber auch der ArbeiterInnenklasse beobachtet werden. Rechte schaffen es, die Bewegung für sich zu vereinnahmen und dort als stärkste Kraft aufzutreten – was Grundlage für ihr Wachstum ist, aber auch ihre Radikalisierung mit sich bringt.

Die Dominanz von ReformistInnen und LinkspopulistInnen drückt sich in einer Führungskrise der gesamten ArbeiterInnenklasse aus. Zwar werden Kämpfe geführt, wenn es sein muss – also wenn es Angriffe gibt. Letztlich läuft die Politik der Gewerkschaftsbürokratien und der Sozialdemokratie – aber schließlich auch der Linksparteien – auf eine Politik der nationalen Einheit mit dem Kapital, auf Koalitionsregierungen und SozialpartnerInnenschaft in den Betrieben hinaus. Die Politik des Burgfriedens sorgt dafür, dass Proteste im Zaum gehalten werden oder erst gar nicht aufkommen. Somit besteht eine der zentralen Aufgaben von RevolutionärInnen darin, den Einfluss dieser Kräfte auf die Masse der ArbeiterInnenklasse zu brechen.

Internationalismus

Dies geschieht jedoch nicht durch alleiniges Kundtun, dass Bürokratie & Co üble VerräterInnen sind. Sonst wäre es schon längst im Laufe der Geschichte passiert, dass die Massen sich von diesen Kräften abwenden und automatisch zu RevolutionärInnen werden. Deswegen bedarf es hier der Taktik der Einheitsfront, des Aufbaus von Bündnissen der ArbeiterInnenklasse für Mobilisierungen um konkrete Forderungen. Aufgabe ist, möglichst große Einheit der Klasse im Kampf gegen Kapital und Staat herzustellen und im Zuge der Auseinandersetzung aufzuzeigen, dass die Gewerkschaftsbürokratie oder reformistische Parteien sich selbst für solche Forderungen nicht konsequent ins Zeug legen.

Entscheidend ist es also, bestehende Kämpfe und Bewegungen zusammenzuführen, die existierende Führung dieser sowie der etablierten Organisationen der ArbeiterInnenklasse herauszufordern. Dies kann beispielsweise dadurch geschehen, dass es eine Wiederbelebung der Sozialforen gibt – diesmal jedoch nicht nur als Versammlungen zur unverbindlichen Diskussion, sondern zur beschlussfähigen Koordinierung des gemeinsames Kampfes. Doch ein alleiniges Zusammenführen von ganz vielen verschiedenen Bewegungen reicht nicht. Unterschiedliche Positionierungen, Eigeninteressen und fehlende oder falsche Analysen können zu Stagnation und letztendlich zum Niedergang dieser führen. Es braucht einen gemeinsamen Plan, ein gemeinsames – revolutionäres – Programm, für das die revolutionäre Organisation eintreten muss. Eine solche müssen wir aufbauen – in Deutschland und international.