AfD-Landrat in Sonneberg: das Desaster der „Einheit der Demokrat:innen“

Leo Drais, Infomail 1226, 29. Juni 2023

Zehn Jahre nach ihrer Gründung stellt die AfD zum ersten Mal einen Landrat. Im südthüringischen, historisch eigentlich fränkischen Sonneberg gewann Robert Sesselmann die Stichwahl gegen den bisherigen Amtsinhaber Jürgen Köpper (CDU) mit 52,8 Prozent. Der Sieg hat die bürgerliche Welt in einen kleinen Aufruhr versetzt, das mediale Echo erreichte sogar internationale Zeitungen.

Ampelkrise und Union

Dabei kommt der Wahlsieg der sogar vom Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextrem“ eingestuften thüringischen AfD unter Goebbels-Nachahmer Höcke eigentlich für niemanden großartig überraschend daher. Er ist Ausdruck natürlich der lokalen, aber noch mehr der bundesweiten politischen Gemengelage, auf die die AfD sich dann auch abseits fast jeglicher kommunaler Themen von Anfang an populistisch gestützt hatte: „Themenbereiche, die jetzt konkret hier vor Ort sind, die interessieren die Leute nicht“ (Sesselmann).

Das Konzept hat gezogen und in diesem Sinne muss auch der Sieg der AfD verstanden werden, als Statement der überzeugten AfD-Wähler:innenschaft, das mehr in Richtung der Regierung zielt als auf Jürgen Köpper oder andere Lokalpolitiker:innen.

Selten war das Fressen für die AfD reichhaltiger, und es gibt keine linke Kraft, die es ihr streitig macht. Zwar ist das Thema Corona weitgehend durch, und auch wenn Sesselmann fleißig einen rassistischen Wahlkampf gefahren hat, dürfte es nicht das Thema Asyl und Migration gewesen sein, was entscheidend zum Erfolg der Rechten geführt hat.

Vielmehr ist dieser Erfolg dank der Krise der Ampelregierung und der Unfähigkeit der Union, daraus zu profitieren, zu verzeichnen. Das offenbart auch der Blick auf Sonntagsfragen zu verschiedenen Wahlen. In Thüringen würde die AfD stärkste Kraft werden, bundesweit misst sie sich mit der SPD um Platz zwei hinter der Union.

Im Ukrainekrieg ist die AfD neben Sahra Wagenknecht die einzige relevante politische Kraft, die sichtbar gegen die NATO-Unterstützung Selenskyjs auftritt. Gegen Aufrüstung hat sie natürlich auch nichts, aber sie will den deutschen Imperialismus lieber an der Seite Putins sehen, dann gibt es bestimmt auch wieder günstiges Gas. Feind:innen selbst der beschränkten bürgerlichen Demokratie unter sich!

Vor allem aber ist da das Thema Wirtschaftskrise und das von Habeck und Regierung in Arbeit befindliche Gebäudeenergiegesetz („Heizungsgesetz“), womit die AfD zur Zeit mobilisieren kann.

Während ihr Rassismus und ihre völlig irrationale Coronapolitik vor allem Affekte bedient und bediente, trifft ihre Opposition gegen die ohne nennenswerte soziale Abfederung geplante „Wärmewende“, die keine ist, die Sorgen tausender kleiner Hausbesitzer:innen auf den Kopf. Es ist doch alles was sie haben, das Kleinbürger:innentum und verbürgerlichte Teile der Arbeiter:innenklasse. Der Blick nach Sonneberg bestätigt diese Analyse bis zu einem gewissen Grad auch. Sonneberg ist keine abgehängte Region. Als Zentrum der Spielwarenindustrie hat die Stadt keine massive Deindustrialisierung wie viele andere Orte in der ehemaligen DDR durchgemacht.

Eine grundlegende Analyse geht den Kommentaren in bürgerlichen Medien oft ab. Wer wählt die AfD? Es ist vor allem eine Partei der Kleinbürger:innen, der Akademiker:innen und Mittelschichtler:innen. Das heißt nicht, dass sie nicht auch von Arbeiter:innen gewählt wird, aber ihr Programm und ihre sozialen Wurzeln sind kleinbürgerlichen Ursprungs.

Ängstliche Kleinexistenzen

Trotzdem ist die soziale Lage von gehobeneren Teilen der Arbeiter:innenklasse mit der großer Teile des Kleinbürger:innentum durchaus vergleichbar.

Beide, Kleinbürger:innen und Arbeiter:innenaristokratie, machen zusammen den größten Teil der Eigenheimbesitzenden in Deutschland aus bzw. derer, die sich bis an ihr Lebensende bei der Bank verschuldet haben, um so zu tun, als gehöre ihnen ein kleiner sicherer Hort auf der Welt, die brennt. Und weil sie brennt, wird das, was man sich hart erarbeitet hat, als bedroht wahrgenommen, wobei Corona, Krieg, Klimakrise (Für die der Mensch natürlich nichts kann, und gibt es sie überhaupt?) und Inflation diese Verlustängste bestätigen und befeuern.

Wenn die Finanzierung des eigenen Lebens mit scheinbarer Unabhängigkeit wie einem Haus (das einen dann an einen Ort bindet, von dem man nur mit der angeblichen Freiheit Auto wieder wegkommt) sowieso schon auf Kante genäht ist, dann kann so eine staatlich verordnete Wärmepumpe schon mal ein Schlag ins Kontor sein.

Die AfD findet hier einen nicht zu unterschätzenden Anknüpfungspunkt realer Sorgen. Weil eine rationale Opposition gegen Krise und Ampel fehlt, kann sie sich hier aufbauen. An tatsächlichen Mitschuldigen der Misere – Habeck, Baerbock, Scholz usw. – wird eine falsche Kritik geübt, eine die darauf hinausläuft, in Verteidigung des „hart arbeitenden kleinen Mannes“ eine wütende irrationale Sündenbocksuche zu betreiben, wo Ursachen und Wirkungen gegeneinander vertauscht oder geleugnet werden oder auf die eingetreten wird, die noch unter einem/r stehen.

Die Kritik am „Genderwahn“, der Hass auf Geflüchtete und Migrant:innen findet eine unheilvolle Zusammenkunft mit der einzigen sichtbaren Opposition im Bundestag gegen die Abwälzung der Krisenkosten auf die Allgemeinheit. In dieser Lage wird die AfD für viele wählbarer, so wie es einst die NSDAP wurde. „Die machen wenigstens ihr Maul auf!“ „Die lassen nicht alles mit sich machen!“, wobei Weidel und Höcke auch der Vorteil zuteil wird, dass sie bisher in keiner Postion mit politischer Verantwortung saßen und daher bisher nicht zu den willigen Vollstrecker:innen des deutschen Kapitals wurden, das selbst bisher auch (noch) kein Interesse daran, äußert, auf sie zu setzen.

Sollten sie eines Tages in dieser Position sitzen (bequem und auskömmlich mit den Steuern des „kleinen Mannes“ bezahlt), so werden sie von den Peitschenhieben auf die, die sie wählten, mit Knüppelschlägen auf die ablenken, gegen die sie heute ihren Rassismus und Sexismus entfachen.

Robert Sesselmann sitzt in keiner solchen Position.

Er wird auf lokaler Ebene verwalten und „denen da oben“ die Schuld für alles geben können, was nicht läuft, und diese werden dazu genug Angriffsfläche bieten. Er wird einen fortgesetzten Wahlkampf für Björn oder Joseph Höcke-Goebbels fahren, nächstes Jahr sind Landtagswahlen in Thüringen.

Bauchlandung der Demokrat:innen

Was in Erfurt praktiziert wird, ist jedoch in Sonneberg gescheitert. Die „Einheit der Demokrat:innen“ ist auf dem Bauch gelandet. Im Erfurter Landtag hält die CDU de facto die Minderheitsregierung Ramelows aus. Um die nächsten Landtagswahlen steht es noch prekärer.

Für die CDU ist das in gewisser Weise alternativlos, was nicht heißt, dass sie Rot-Rot-Grün nicht auch fleißig von rechts unter Druck setzen kann. Bisher jedenfalls kann sich die Union noch kein Zusammengehen mit der AfD leisten, die in so vielen Punkten den Erfordernissen der deutschen Kapitalist:innen entgegensteht (Außenpolitik, „grüne“ Industrie …).

Für alle Linken und DIE LINKE ist eine „Einheit der Demokrat:innen“ jedoch nicht nur nicht alternativlos, sondern für sie und die Arbeiter:innenklasse (2023 in erster Linie politisch) tödlich. Die Mitverwaltung des Kapitalismus in Landesregierungen, die absolut unzureichenden Antworten auf die Krise mit dem Bestreben, vielleicht doch von SPD und Grünen auf Bundesebene zum Mitregieren eingeladen zu werden, die Unfähigkeit, eine konkrete Perspektive zu weisen und Kämpfe abseits des Parlamentarismus zu führen, bedeuten, dass die AfD kaum auf Konkurrenz trifft, wenn es um das Kanalisieren von Wut auf die Regierung geht.

Denn eigentlich liefert diese genug Vorwände, um als Linke zu wachsen. Beispiel „Heizungsgesetz“: Die Energiewende ist notwendig. Aber sie muss nicht durch die Arbeiter:innenklasse oder das Kleinbürger:innentum bezahlt werden. Statt das Land mit Millionen kleiner Privatwärmepumpen zu bestücken, sollte es pro Gemeinde ein zentrales E-Heizwerk mit Kraft-Wärme-Kopplung geben, bezahlt durch die fossilen Profite von RWE und Co. Damit ließe sich dann auch auf lokaler Ebene gegen einen Robert Sesselmann kämpfen.

Mit einer „Einheit der Demokrat:innen“ ist so eine antikapitalistische Perspektive jedoch unmöglich. Die Politik von Ampel und CDU besteht ja gerade darin, ein realpolitisch-kapitalistisches Es-geht-nicht-anders zu fahren.

Statt einer Einheit der Demokrat:innen muss die Linke auf eine Einheitsfront der organisierten Arbeiter:innenklasse hinwirken – gegen die AfD, aber eben auch gegen die Regierung. Es ist der einzige Weg, der mittelfristig der rechten Gefahr wirklich etwas entgegenstellen kann. Versagt die Linke darin, so wird die letzte Landtagswahl in Thüringen nicht die einzige Wiederholung der Geschichte gewesen sein (siehe: https://arbeiterinnenmacht.de/2020/02/10/tragoedie-und-farce-in-thueringen/).

Versagt sie darin nicht, könnte aus so einer Einheitsfront eine Partei entstehen, die eine wirkliche Alternative formuliert, eine Alternative zum Kapitalismus, der zwangsläufig zu Höckes und Sesselmännern führen muss, wenn er nicht überwunden wird.




Wahlen in der Türkei: Mücadeleye devam – Wir kämpfen weiter

Dilara Lorin, Neue Internationale 274, Juni 2023

In den letzten Monaten, vor allem, aber in den letzten Wochen war das Land politisiert und die Spannungen innerhalb der Bevölkerung wurden immer größer. Dies hat verschiedene Ursachen. Das verheerende Erbeben vom 6. Februar, welches mehr als 50 000 Menschen das Leben kostete, aber auch die Korruption und Vetternwirtschaft der Regierung aufzeigte; die Inflationsrate, die Oktober 2022 ganze 80 % erreichtet; die immer prekärer werdende Lage der Arbeiter:innenklasse, auch eine zumeist tief rassistisch geführte Debatte über die Lage und Rolle von Millionen Flüchtlingen und der Kurd:innen.

Dennoch konnte Erdogan die Präsidentschaftswahlen im zweiten Wahlgang für sich entscheiden. Zweifellos kam ihm dabei das Monopol über die staatlichen Medien wie das Fernsehen, die Kontrolle des Staatsapparates, Repression und Entschücherung der Opposition, vor allem der kurdischen HDP, die vom Verbot bedroht sind und von der hunderte Mitglieder in den Gefängnissen sitzen zugute. Aber sein Gegenkandidat, der kemalistische türkische Nationalist Kılıçdaroğlu versprach selbst eine reaktionäre, kapitalistische und rassistische Politik, die keine Alternative zu Erdogan dargestellt hätte.

Zwei Lager, aber zwei reaktionäre Lager

Zweifellos hat die Wahl die Menschen in zwei Lager gespalten, die einen, die Erdogan weiterhin unterstützen, die anderen, die sich für Kılıçdaroğlu aussprachen, weil sie diesen als Alternative zum bonapartistischen Regime Erdoğan ansahen. Dass dies jedoch eine Wahl zwischen Pest und Cholera war und Kılıçdaroğlu keine Alternative für die Arbeiter:innen, Kurd:innen, Geflüchteten und weitere Unterdrückte darstellen kann, wurde in den letzen zwei Wochen immer deutlicher.

Im ersten Wahlgang war neben den beiden Kandidaten trat noch ein dritter angetreten: Sinan Oğan, ein Rechter, der wegen nationalistischen und rassistischen, wegen sexistischen und frauenfeindlichen Äußerungen bekannt wurde, erhielt 5 %. In der Stichwahl versuchte er sich als „Königsmacher“ zu inszenieren. Jedenfalls buhlten beide Kandidaten um seine Stimmen. Auch deshalb waren die vergangen zwei Wochen geprägt von rassistischen Äußerungen und vor allem Kılıçdaroğlu fokussierte seine Wahlpropaganda darauf, innerhalb von 2 Jahren bis zu 2 Millionen Geflüchtete zu deportieren. Zugleich verlor er kaum ein Wort zur Inflation und die kapitalistische Wirtschaftspolitik Erdogans. Vielmehr würden die Geflüchteten Arbeitsplätze „klauen“ und nur deshalb ginge es der Arbeiter:innenklasse so schlecht.

Die rassistischen Äußerungen Kemal Kılıçdaroğlu erinnern an NPD und AfD. Dass dabei Erdogan keine bessere Position vertritt, ist klar. Er benutzt die Geflüchteten als Spielball gegenüber der EU. Große Teile des Geldes, welches im Zuge des reaktionären Flüchtlingsdeals in die Türkei gelangt, erreichen gar nicht erst die Lager und die Betroffenen und letztlich verfolgt auch Erdogan das Ziel, viele wieder zurückzuschicken. Jedoch behauptet er, dies erst zu tun, wenn die dafür notwendigen Bedingungen geschaffen sein würden würden. Dass bedeutet, dass Assad als Diktator wieder anerkannt wird und auch die Beziehungen nach Syrien wieder normalisiert werden – und das auf den Rücken nicht nur der Geflüchteten, sondern vor allem der Kurd:innen in Rojava. 

Parlamentswahlen

Gewonnen hat in den Parlamentswahlen letztlich wieder die AKP, welche  bei den Wahlen zur 600 Abgeordnete umfassenden großen Nationalversammlung 35,61% für sich gewinnen konnte. Dabei hat die AKP aber im Vergleich zu den Wahlen 2018 6,95% der Stimmen eingebüßt. Diese Zahlen verdeutlichen auch, dass die AKP nicht mehr jene Zustimmung in der Bevölkerung erhält wie es früher einmal der Fall war. Auch ihre Basis bröckelt, viele Anhänger:innen stehen nicht mehr hinter der Partei. Nichtsdestotrotz kann sie mit dem Wahlbündnis „Volksallianz“, mit welchen sie auch zur Wahl angetreten ist, insgesamt 49,47 % erhalten. Die AKP tritt dabei im Bündnis mit der faschistischen MHP an. Von den 318 Sitzen der Volksallianz hält die MHP immerhin 50 Sitzen.

Die CHP, welche von vielen als die Alternative zur AKP angesehen wird, kam in den Parlamentswahlen auf 25,33 % und trat ebenfalls in einem Wahlbündnis mit 5 weiteren Parteien auf, dem „Bündnis der Nation“. Dabei koaliert unter anderem mit der IYI Partei, welche islamisch, konservativ und rechts einzuordnen ist. Das „Bündnis der Nation“, das in den Medien auch „Sechsertisch“ genannt wird, kommt auf insgesamt 213 Sitze.

Dass dieses Wahlbündnis kein Interesse daran hat, wirklich demokratische Zustände in der Türkei wieder durchzusetzen, eine Verbesserung für die Arbeiter:innenklasse herbeizuführen oder für die Rechte von den unterdrückten Minderheiten einzutreten, zeigt schon der bürgerliche Charakter der CHP, deren historische Verrat an der Arbeiter:innenklasse, aber auch die Position zu den Kurd:innen  und Geflüchteten ist extrem reaktionär. 

Ergebnis von HDP und YSP

Die links-kleinbürgerliche HDP, welche für die Rechte von Frauen, LGBTI, Kurd:innen und Geflüchteten kämpft, fuhr das schlechteste Ergebnis bei den Parlamentswahlen seit ihrer Gründung ein. Sie trat aufgrund aufgrund der möglichen Illegalisierung unter dem Namen der Yeşil Sol Partei (YSP) an. Die YSP kam lediglich auf 8,82 %. Somit büßt die HPD 2,68% der Stimmen im Vergleich zu den Wahlen im Jahr 2018 ein. Mit dem Wahlbündnis „Arbeit und Freiheit“ traten im Rahmen der YSP 5 weiteren kleinere linke Parteien zu den Wahlen an, da runter die bekannteste, neu gegründete TİP (Arbeiterpartei der Türkei), welche 1,73 % mit ihren eigenen Listen erlangte, denn im Wahlbündnis selbst konnten alle Parteien auch mit ihren eigenen Namen und Listen antreten.

Dass die YSP in diesem Wahlgang an Stimmen verloren hat, zeugt auch von ihren taktischen Fehlern, welche sie schon vor der Wahl entschieden: kein gemeinsames Auftreten einer/s eigenen Präsidentschaftskandidat:in und damit die offene oder indirekte Unterstützung des CHP Kandidaten Kılıçdaroğlu und der fälschliche Glaube, man müsse sich nur auf einige Sitze im Parlament, sowie Bürgermeister und andere Posten fokussieren. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass der Wahlkampf des Bündnis für Arbeit und Freiheit unter massiver Repression stattfand, darunter der Inhaftierung sowie Einschüchterung von vielen Aktivist:innen und Wahlhelfer:innen.

Und die Kurd:innen?

Diese haben in dieser Wahl komplett verloren. Dadurch dass es keinen Präsidentschaftskandidaten von der YSP gab, konnten sie ihren Forderungen kaum öffentliches Gewicht und kein Gehör verschaffen. Dabei ist für die CHP ohnedies klar: Kurd:innen sollen allenfalls als Stimmvieh fungieren, ansonsten setzt man auf Nationalismus und Chauvinismus. So positionierte sich die CHP 2015 gegen Friedensverhandlungen und kritisierte Erdogan und die AKP von rechts. Sie unterstützte viele Angriffe der Türkei auf Rojava.

Dadurch dass die YSP und etliche revolutionäre und kommunistische Gruppen dazu aufriefen, den Präsidentschaftskandidaten der CHP zu unterstützen, verschwand die Masse der kurdischen Stimmen in denen der reaktionären, nationalistischen und bürgerlichen Masse der CHP. Die Politik des kleineren Übels ist jedoch nicht aufgegangen: Erdoğan gewinnt die Wahl am 28.5. und beginnt seine dritte Amtszeit als Präsident. Die stärkte das nationalistische Bewusstsein der AKP-Unterstützer:innen, welches sich jetzt nochmal bestätigt fühlen. Und schon in seiner ersten Ansprache als neuer Präsident hetzt Erdogan gegen den inhaftierten HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und spricht vom Großtürkischen Reich, welches er in dieser Amtsperiode weiter forcieren möchte.

In seine ersten Ansprach nach den Wahlen gibt sich Kılıçdaroğlu als „wahrer Demokrat“, hinter den vor allem Frauen und Jugendlichen zu stehen scheinen, um gleich in den nächsten Sätzen seine rassistische Haltung gegenüber den Geflüchteten noch einmal zu bekräftigen. So äußert er sich gleich am Anfang seiner Rede rassistisch und verkündet: „Als Millionen Geflüchtete kamen und ihr zum Volk zweiter Klasse wurdet, konnte ich nicht dazu schweigen“. Von den Kurd:innen war keine Rede mehr, es schien so, als seine sie vergessen, unwichtig oder nicht der Rede wert. Dabei waren es Städte vor allem die Städte aus der kurdischen Region, in denen oftmals mit einer überwältigenden Mehrheit Kılıçdaroğlu gewählt wurde. 

Kaybettik (Wir haben verloren)  oder Mücadeleye devam (Wir kämpfen weiter)?

Während viele am 28. Mai mit Türkei-Fahnen, den Wolfs- oder Rabiagrüßen den Sieg Erdoğans feierten, war ein anderer Teil der Bevölkerung niedergeschlagen. Es wurde seitens liberaler und bürgerlicher Kräfte, aber auch großer Teil der Linken für einen möglichen Sieg der „Demokratie“ unter Kılıçdaroğlu geworben. Für eine gewisse Zeit hinterließ diese bei vielen den Eindruck, dass „bessere Zeiten“ bevorstände: Erdoğan und die AKP hätten ausgesorgt, sie würden gehen. An ihre Stellt würden besser Zeiten mit mehr demokratischer Mitbestimmung, mehr Rechten für das Parlament, einer stärkeren Wirtschaft folgen.

Auch wenn es vollkommen nachvollziehbar ist, dass man sich nach besseren Zeiten sehnt, man das autoritäre Regime satt hat, so war die CHP nie eine Alternative. Denn eine bürgerlich, nationalistische Partei, welche weiterhin im Sinne der Kapitalist:innenklasse agiert, hat nicht das Interesse daran, wirkliche Verbesserungen durchzusetzen. Und alleine die weltweite wirtschaftliche Lage und tiefe ökonomische Krise in der Türkei (Inflation, Verfall der Währung) hätten gar nicht erst die Möglichkeit unter Kılıçdaroğlu geben, Reformen durchzuführen. Vielmehr hätte auch seine Regierung die Arbeiter:innenklasse massiv angegriffen, um die Profitwirtschaft wieder flott zu machen.

Wir dürfen daher auch jetzt nicht dem Modus des Verlorenen – kaybettik – verfallen, sondern unser Motto muss lauten: „Mücadelemis devam etmeli“ – Unser Kampf muss weiter gehen! Denn was notwendig gewesen wäre, und was weiterhin notwendig ist, ist die stark politisierte Lage in der Türkei zu nutzen, um die Arbeiter:innen und Unterdrückten jetzt für ihre Interessen zu mobilisieren, für den Abbau einer Massenbewegung gegen die Krise, gegen den Rassismus, gegen das Regime. Die Wahlbeteiligung lag zwar bei über 80%, aber kaum eine Organisation hat einen dritten Weg der Organisierung und Mobilisierung aufgezeigt, obwohl es die Situation dies erfordert.

Es ist notwendig, dass die türkische Linke jetzt in einer Einheitsfront tritt, in welcher sie alle kämpferischen und fortschrittlichen Teile der Gesellschaft vereint, und versucht, die Gewerkschaften, die linken Parteien, die Kurd:innen, die Umwelt- und Frauenbewegung gemeinsam zu mobilisieren. Wir brauchen Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen und einer gleitenden Skala Löhne, nach Enteignung der Großunternehmen und Banken unter Arbeiter:innenkontrolle. Nur so kann die Inflation und die damit einhergehende Wirtschaftskrise bekämpft werden.

Dafür müssen die Gewerkschaften in der Türkei anfangen ihre Mitgliedschaft und ihren Organisationsgrad auszuweiten, Aktionskomitees in Betrieben und Stadtteilen aufzubauen, um so zu Massenorganen der Arbeiter:innen zu werden. Revolutionär:innen müssen für ein  Aktionsprogramm der Arbeiter:innenklasse eintreten, das die Rechte und Forderungen aller unterdrücken Minderheiten, allen voran der Kurd:innen und Araber:innen und aller Geflüchteten vertritt! Eine solche Einheitsfront muss sich auf Massenversammlungen und Aktionskomitees in den Betrieben und Stadtteilen stützen sowie auf Selbstverteidigungseinheit gegen die Repression.

Es ist eine große Aufgabe, aber das Regime kann nicht durch einen weiteren nationalistischen und bürgerlichen Kandidaten gestürzt werden, sondern nur von der Arbeiter:innenklasse und den Unterdrückten selbst – und dazu ist der Aufbau einer neuen, revolutionären Arbeiter:innenpartei nötig, die unabhängig von allen Flügeln der herrschenden Klasse agiert.




Interview zur Lage in Kurdistan

Interview mit Gulistan, Verband von Frauen aus Kurdistan in Deutschland, Infomail 1223, 27. Mai 2023

Morgen, am 28. Mai, findet die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen in der Türkei statt. Das folgende Interview wurde bereits vor der ersten Runde gemacht. Es kann daher nicht auf den Ausgang des ersten Wahlgangs eingehen, wirft aber ein deutliches Licht auf das Erdogan-Regime, seine Verbindungen zum westlichen Imperialismus und die Lage in Kurdistan. Auch wenn wir nicht alle Positionen der Interviewten teilen, so halten wir es für notwendig, authentische Berichte auch auf dieser Seite zu verbreiten.

Wir haben Gulistan von YJK-E (Verband von Frauen aus Kurdistan in Deutschland) zu einem Gespräch getroffen. Sie ist in München geboren, aber ihre Wurzeln liegen in den von der Türkei besetzen Gebieten in Nordkurdistan.

Sie bezeichnet sich selbst als Aktivistin für Frauen- und Menschenrechte.

arbeiter:innenmacht: Was ist es für eine Struktur, in der du aktiv bist? Welchen Austausch gibt es mit Kurd:innen international?

Gulistan: Unser vollständiger Name lautet „Verband von Frauen aus Kurdistan in Deutschland e. V.“. Wir kurdischen Frauen sind bundesweit mit lokalen Vereinen in jeder größeren Stadt als YJK-E vertreten. International gehören wir der Dachorganisation „Kurdische Frauenbewegung in Europa“ an. Als Verein sind wir außerdem Teil der TJK-E.

Unsere Frauenstrukturen sind zwar größtenteils kurdisch, aber auch offen für Frauen türkischer Herkunft und alle, die sich einbringen möchten.

In München haben wir etwa 20 aktive Mitglieder, die kurdische Community ist jedoch wesentlich größer. Unser Verein ist hier gut vernetzt und beteiligt sich u. a. an Bündnissen zum 8. März oder 25. November (Tag gegen Gewalt an Frauen und Mädchen), aber auch an weiteren Aktionen mit Bezug zu frauenpolitischen Themen.

Einmal im Jahr treffen sich unsere lokalen bzw. nationalen Verbände zu einer internationalen Konferenz. Dieses Jahr fand sie in Hamburg statt und fast die ganze Welt war zugegen, was uns wegen der teils schwierigen Lage vor Ort besonders freut.

Einen weiteren Schwerpunkt bildet unsere Öffentlichkeitsarbeit mit Fokus auf Kurdistan und hier insbesondere Rojava.

arbeiter:innenmacht: Rojava ist vielen Aktivist:innen in Deutschland ein Begriff. Bitte schildere uns aus deiner Sicht, durch was es sich auszeichnet!

Gulistan: In Rojava, bestehend aus den 3 Kantonen Efrîn, Kobanê und Cizîrê, wird Basisdemokratie gelebt!

Die Schriften Abdullah Öcalans bilden die Grundlage unserer politischen Arbeit. Die von ihm formulierten Thesen zu (Basis-)Demokratie und Alternativen zum Kapitalismus, Frauenbefreiung und Ökologie bilden auch die 3 Säulen, die beim Aufbau und im Kampf um Rojava eine zentrale Rolle einnehmen.

Trotz des anhaltenden Krieges der Volksverteidigungseinheiten YPG und YPJ gegen den IS und den türkischen Staat ist eine autonome Region entstanden, die als eine Art Räterepublik konzipiert und nach dem Prinzip des demokratischen Konföderalismus aufgebaut ist. Das bedeutet, dass jede/r stimmberechtigt ist, um die jeweilige Kommune nach seinen/ihren Bedürfnissen aufzubauen, frei von jeder Machtherrschaft. Die Menschen stimmen z. B. über Wasserversorgung oder Weizenanbau ab, was in dieser Region (über)lebenswichtigen Entscheidungen gleichkommt.

Im täglichen Leben der Menschen vor Ort zeigt sich dabei auch die Verbindung politischer und ökologischer Fragestellungen. Efrîn z. B. verfügt über mediterranes Klima und ist daher besonders für den Anbau von Oliven geeignet. Deshalb wurde die Entscheidung getroffen, dort Kooperativen zu gründen. Die vorhandenen Ressourcen werden mit Rücksicht auf die Natur genutzt, nach den Bedürfnissen der Menschen anstatt wie in der kapitalistischen Verwertungslogik durch Ausbeutung von Mensch und Natur unter Profitzwang.

In Sachen Frauenbefreiung hat unsere Revolution schon früh begonnen. Bereits in den 1980er Jahren, kurz nach Gründung der PKK, haben sich Mädchen, die nicht wie vorgesehen verheiratet werden wollten, dem Kampf angeschlossen. Es entstand eine Bewegung, die wiederum eine eigene Dynamik entwickelt und Frauen dazu gebracht hat, Forderungen nach Selbstbestimmung zu formulieren. Schon Öcalan hat dazu formuliert und aufgerufen, dass Frauen sich eigenständig organisieren. Zusätzlich zu den eigenen Strukturen haben wir kurdischen Frauen uns auch in Seminaren ideologisch gebildet und führen nun seit mehr als 40 Jahren den Kampf weiter, den unsere Schwestern begonnen haben.

Uns ist es wichtig, Sichtbarkeit zu schaffen und zu verdeutlichen, warum dieser Kampf Menschen und besonders Frauen weltweit betrifft und deshalb interessieren sollte.

Im Kampf der Frauen in Iran wird deutlich, was auch Öcalan bereits formuliert hat: „Jin – Jiyan – Azadi“ ist für uns nicht nur ein Slogan, sondern eine Lebensweise, Lebenseinstellung, eine grundsätzliche Haltung.

Der Befreiungskampf in und um Rojava steht für uns deshalb stellvertretend für alle emanzipatorischen Bewegungen und soll ein Exempel statuieren, indem er Aufmerksamkeit für die gesamte Weltregion erzeugt.

arbeiter:innenmacht: Welche Auswirkungen hatte das schwere Erdbeben in der Türkei und in Syrien? Es gab eine große Welle der Solidarität und Hilfsbereitschaft, auch aus Deutschland.

Gulistan: ANF (kurdischer Nachrichtendienst) Deutsch berichtet von 250.000 Toten, die türkische Regierung hingegen gibt offizielle Zahlen um die 50.000 heraus. Dabei darf nicht vergessen werden, dass viele der nicht geretteten und gestorbenen Menschen weiterhin unter Trümmern begraben liegen und bisher keine Bergung stattgefunden hat.

Es gab zusätzlich viele Tote durch Erfrierungen. Sofern sie konnten, sind die Menschen zu Verwandten in andere Metropolen oder Nachbarstädte geflohen.

Als Sofortmaßnahmen sind zwar Zeltstädte entstanden, diese sind aber keine Dauerlösung, da es dort keinen stabilen Zugang zu Wasser, Strom, Medikamenten und Nahrung gibt.

Von der AFAD (türkische Katastrophenschutzbehörde) als zuständiger und dem Innenministerium beigeordneter Organisation kam nicht die erforderliche Hilfeleistung.

Stattdessen hat die Zivilbevölkerung Nothilfe geleistet. Auch viele Menschen aus Deutschland mit Familie oder Verbindungen vor Ort haben hier Menschen bei sich aufgenommen und eine enorme Solidarität gezeigt.

Dies ist umso wichtiger, da das AKP-Regime Konvois daran gehindert hat zu passieren und Hilfsgüter beschlagnahmt hat. Um diesen Kontrollen zu entgehen, haben einige Konvois die türkische Fahne angebracht, um auf diese Weise getarnt durchgewunken zu werden.

Mehr als eine Woche lang kam keine Hilfe an, was nur zum Teil der korrupten AKP-Regierung geschuldet ist. Seit dem letzten schweren Beben 1999 wird zwar speziell für solche Fälle eine Steuer erhoben, die Kassen sind aber leer und es wurden keine ausreichenden Vorkehrungen getroffen. Es gibt auch viel zu wenig Personal, welches schlecht geschult ist. Die Gelder sind versickert und vermutlich zu einem großen Teil in die türkische Kriegsmaschinerie sowie die Unterstützung des IS geflossen.

Aus diesem Grund hat die kurdische Community gezielte Spendenaufrufe für Medico International, Ärzte ohne Grenzen und den Kurdischen Roten Halbmond gestartet. Letzterer wurde 1993 als kurdische Nichtregierungsorganisation bewusst unabhängig vom türkischen Staat gegründet. Bisher sind weltweit allein dort rund 2 Millionen Euro an Spenden eingegangen.

Das Ausmaß an Korruption und die zynische Skrupellosigkeit der türkischen Regierung zeigen sich auch daran, dass Spenden an DITIB-Moscheen und andere türkische Institutionen bei Erdogan gelandet sind anstatt bei den Menschen, die dringend Hilfe benötigen (DITIB: Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e. V.).

Das Erdbeben am 6. Februar 2023 war eine Naturkatastrophe, aber eine korrupte Regierung ist keine Naturkatastrophe. Man kann und muss etwas gegen sie unternehmen.

arbeiter:innenmacht: Welche Rolle spielen vor diesem Hintergrund die türkischen Präsidentschaftswahlen?

Gulistan: Für mich ist klar, dass diese Wahlen weder demokratisch noch frei sind.

Interessant im Vergleich zu früheren Wahlen ist aber, dass durch das schwere Erdbeben viele Menschen die Verlogenheit und Korruption des Regimes erkannt haben. Sie haben die oben beschriebene Selektion bei der Vergabe von Hilfen bemerkt, wodurch die Spaltung zwischen Kurd:innen und Türk:innen sichtbarer denn je wurde. Die Menschen selbst waren untereinander solidarischer als die Politik, die selektiert und in großen Teilen versagt hat.

Eine wichtige Rolle spielt auch das Parteiverbot der HDP (Demokratische Partei der Völker; linksgerichtete Partei in der Türkei, die sich für Minderheitenrechte insbesondere der Kurd:innen einsetzt). Dies ist raffiniert, weil ein Vorgespräch bei Gericht und die Verhandlung erst nach den Wahlen angesetzt sind. Wegen anhaltender Repression wurde schon vor einigen Jahren die Yeşil Sol Parti (Grüne Linke Partei; YSP) als Alternative zur HDP gegründet. Diese grüne Linkspartei ist zur Wahl zugelassen und konnte antreten, unabhängig vom Ausgang des Gerichtsverfahrens gegen die HDP. Es gab daher den Aufruf an alle Kurd:innen, diese Partei zu wählen.

Aus den genannten Gründen wird dieses Mal ein knapper Wahlausgang prognostiziert. Erdogan wird aber sicher alle Hebel in Bewegung setzen, um durch Manipulationen das Ergebnis zu seinen Gunsten zu drehen. Er wird seinen Posten nicht einfach räumen.

Erwähnenswert ist noch, dass die YSP international um unabhängige Wahlbeobachter:innen gebeten hatte, dies aber vom EU-Parlament abgelehnt wurde. Leider zeigt sich auch hier der Einfluss des Erdogan-Regimes und seine Verflechtungen auf internationaler Ebene. Die Türkei wollte dies schlicht nicht. Doch auch ohne unabhängige Wahlkommission sind solidarische Menschen als Delegation ins Land gereist und haben diese Aufgabe übernommen.

arbeiter:innenmacht: Die kurdische Geschichte ist stark von Krieg und Vertreibung geprägt. Inwiefern sind auch Deutschland, die EU und die NATO daran beteiligt?

Gulistan: Man darf die Interessen der einzelnen Länder untereinander nicht vergessen. Noch im Osmanischen Reich, schon vor dem Genozid an den Armenier:innen, gab es enge Beziehung zwischen Deutschland und der Türkei. An der wirtschaftlichen Zusammenarbeit wird dies am deutlichsten: Rund 7.000 deutsche Unternehmen profitieren von Steuervorteilen in der Türkei.

Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die Zugeständnisse der Vergangenheit durch die EU als Ganzes sowie einzelne europäische Staaten Erdogan erst dazu verhalfen, der Autokrat und Diktator zu werden, der er heute ist.

Der sogenannte Flüchtlingsdeal zwischen Deutschland und der Türkei sowie der Krieg gegen kurdische Gebiete, den die Türkei mit ihren NATO-Verbündeten führt, zeigen deutlich, dass es nicht Erdogan alleine ist, der Politik gegen uns Kurd:innen und andere Gruppen oder Minderheiten betreibt. Er ist vielmehr Mittel zum Zweck: Erdogan und seine AKP sind gewissermaßen die Türsteher:innen des Nahen Ostens. Erdogan hat eine Schlüsselfunktion darin, was er zulässt und was nicht.

Daher wird der völkerrechtswidrige Krieg von Erdogan gegen kurdische Gebiete nicht von Deutschland kritisiert. Vielmehr lässt man ihn gewähren.

Wir Kurd:innen in der Diaspora merken das sehr: Angela Merkel oder Olaf Scholz z. B. können sich ja schlecht hinstellen und sagen, dass sie Blut an ihren Händen kleben haben. Trotz vermeintlichen Stopps von Waffenlieferungen gab und gibt es diese weiterhin. Dies wurde nicht zuletzt durch die Recherchearbeit kurdischer Aktivist:innen und Politiker:innen aufgedeckt.

Allgemein kommen kurdische Anliegen sehr wenig in deutschen Medienberichten vor, hauptsächlich dann, wenn es wirklich schwerwiegende Angriffe in der Region gibt. Es müsste ein wesentlich größeres Politikum sein, wenn Menschen in Iran und auch im Nordirak bei Drohnenangriffen getötet werden.

Im Schatten des Kriegs Russlands gegen die Ukraine und mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen hat Erdogans korruptes und faschistisches Regime das Gebiet um Rojava unter Beschuss genommen. Dabei kommen nachweislich auch Chemiewaffen zum Einsatz, die teilweise von Deutschland bzw. deutschen Rüstungsfirmen geliefert wurden.

Unser Anliegen ist daher auch, gezielte Kriegsgewalt gegen Zivilist:innen überall auf der Welt sichtbar zu machen und zu versuchen, sowohl Femizide als auch Ekozide, also Verbrechen an Natur und Umwelt, zu stoppen.

arbeiter:innenmacht: Wie beurteilst du die Bedingungen für eure politische Arbeit?

Gulistan: Bundesweit erleben wir Kurd:innen allgemein und wir Aktivist:innen im Besonderen eine Verstärkung von Repression. Dies ist aber nur die Fortsetzung einer anhaltend strikten Vorgehensweise gegen uns Kurd:innen.

In München gab es Probleme mit der Präsidentschaftswahl, da das türkische Konsulat uns Kurd:innen vielfach als nicht wahlberechtigt anerkannt hat. Wahllokale wurden nicht geöffnet und Menschen, die als Aktivist:innen bekannt sind, wurden aktiv am Wählen gehindert.

Wenn kurdische Personen z. B. die Versammlungsleitung bei Demonstrationen übernehmen, kommt es immer wieder vor, dass ihre Aufenthaltsgenehmigung oder der Pass nicht verlängert wird. Dadurch werden wir Kurd:innen in Deutschland illegalisiert. Das türkische Regime setzt die deutsche Regierung über seine Konsulate stark unter Druck.

Auslieferungen eben auch politischer Gefangener zwischen Deutschland und der Türkei finden regelmäßig statt. Die Zusammenarbeit deutscher mit türkischen Geheimdiensten ermöglicht erst die bundesweite Repression gegen Kurd:innen.

Menschen, die mutig sind und sich zeigen, setzen sich der Gefahr aus, dass neben dem türkischen Staat auch die Bundesrepublik mit Ablehnung und, schlimmer, Repressalien reagiert.

Dies dient eindeutig der Einschüchterung der kurdischen Bewegung als Ganzer und soll unseren Widerstand klein halten oder gar brechen.

arbeiter:innenmacht: Was sind angesichts der vielen Brandherde in der Welt eure aktuellen Schwerpunkte? Was hoffst du persönlich, mit deinem politischen Engagement zu bewirken? Was ist dein wichtigster Appell?

Gulistan: Aktuell liegt unser Fokus auf unseren gemeinsamen Kämpfen mit „Women Defend Rojava“. Wir sind außerdem Teil der Initiative „Defend Kurdistan“. Vor kurzem begann im Rahmen unserer internationalen Konferenz auch unsere Kampagne „1.000 Gründe, den Diktator anzuklagen“. Anlässlich der Wahlen in der Türkei haben wir u. a. nochmals kritisiert, dass Erdogan verfügt hat, aus der internationalen Istanbulkonvention für Frauenrechte auszutreten.

Unser Anliegen ist, die Vernetzung sowohl kurdischer Frauen untereinander als auch den gemeinsamen Kampf für unsere Ziele mit anderen Organisationen voranzutreiben. Für uns als Internationalist:innen bedeutet das, weltweit unsere Forderungen zu vertreten und ein Bewusstsein für unsere Themen zu schaffen. Ein wichtiger Schritt für uns Kurd:innen ist dabei, an politischem Einfluss zu gewinnen und dadurch die Möglichkeit zu bekommen, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Ich persönlich wünsche mir für alle Menschen ein würdevolles Leben in Freiheit, Gleichberechtigung und eine Welt ohne Kriege.

Wir haben eine einzige Welt, machen wir das Beste daraus!

arbeiter:innenmacht: Wir danken dir für das Gespräch und freuen uns über die weitere solidarische Zusammenarbeit.




Die SPD wird stärkste Kraft in Bremen??

Anne Moll/Karl-Heinz Hermann, Infomail 1222, 14. Mai 2023

Musste die SPD 2019 noch bangen, die Regierungsmehrheit zu verlieren und seit 1945  nicht mehr an der Landesregierung in Bremen beteiligt zu sein, steht sie, laut Umfragewerten, eine Woche vor der nächsten Wahl deutlich besser da.

Bremer Senatsgeschichte

Sie regiert im Zwei-Städte-Staat also ununterbrochen seit dem 2. Weltkrieg, darunter in 2 von den Alliierten ernannten Senaten vor der ersten Landtagswahl 1946 (Vagts, Kaisen I). In den ersten 3 Senaten, darunter dem ersten gewählten (Kaisen II), saß auch die KPD gemeinsam mit BDV (Bremer Demokratische Volkspartei, ab 1951 in die FDP übergegangen) und SPD.

Hat sie etwas richtig oder haben die an der Landesregierung beteiligten Parteien, die Grünen und DIE LINKE, alles falsch gemacht?

Bilanz des Senats Bovenschulte (Rot-Grün-Rot)

Wenn wir uns die Politik der letzten Jahre in Bremen anschauen, sind die Probleme alle noch da, und einige haben sich verschärft.

In der Wahrnehmung der Menschen dort gilt allerdings nicht vor allem die SPD als unfähig, sondern ihre Koalitionspartner:innen haben sehr viel mehr mit Kritik und auch mit Stimmenverlusten zu kämpfen.

Die Grünen, werden besonders über die Senatorin für Klimaschutz, Umwelt, Mobilität, Stadtentwicklung und Wohnungsbau und Stellvertreterin des Präsidenten des Senats, Bürgermeisterin Maike Schaefer, bewertet – und hier besonders negativ. Die Idee, Bremen als Fahrradstadt umzugestalten, wurde von einer großen Minderheit sehr positiv aufgenommen. Die Realisierung dieses durchaus strittigen Vorhabens – unserer Meinung nach sollte der Schwerpunkt auf dem ÖPNV, insbesondere dem schienengebundenen, liegen – erfolgte aber so chaotisch und wenig konsequent, dass auch diejenigen, die hinter der Idee stehen, es den Grünen nicht zutrauen, diese auch umzusetzen.

DIE LINKE mit der Senatorin für Gesundheit, Frauen und Verbraucherschutz, Claudia Bernhard, zeigt große Schwächen bei den Lösungsansätzen für die seit Jahrzehnten verschuldeten kommunalen Krankenhäuser. Klar: Die Probleme hat DIE LINKE nicht verschuldet, aber sie versucht, diese Lösung nun gegen die Beschäftigten durchzudrücken, was ihr einen großen Stimmenverlust einbringen wird.

Die SPD hat es geschafft, sich als stabilisierend und verlässlich darzustellen, obwohl das Wirtschaftsressort auch von der Linkspartei geführt wird und es um die Bildung in Bremen schlechter wohl nicht mehr bestellt sein kann – ein Ressort, das von der SPD bekleidet wird.

Wahlprognosen

Erklären kann dies nur die Besonderheit in Bremen, traditionell SPD zu wählen, um die CDU zu verhindern, gepaart mit einem Sympathieträger wie dem Bürgermeister und Senatspräsidenten Andreas Bovenschulte, der so bodenständig und vertrauenswürdig daherkommt im Gegensatz zu seinem Vorgänger Sieling, der als distanzierter Bürokrat wahrgenommen wurde.

Die SPD konnte sich in der Koalition der letzten Jahre damit hervortun, dass sie den Mindestlohn in Bremen und Bremerhaven eher erhöht hatte, als der Bund das vorsah. Außerdem hält sich die Meinung, dass die Bremer Regierung die Pandemie ganz gut gemanagt hat. Es gab schnell viele Testzentren, kurzfristig FFP2-Masken umsonst, die Impfungen liefen organisiert und es gab wegen der Pandemie keine Massenentlassungen.

Zusätzlich spielt natürlich die höhere Erwerbsquote eine Rolle. Besonders für Bremerhaven konnte hier gepunktet werden. Was allerdings weniger eine Bremer Leistung ist, als ein bundesweiter Trend und im Großunternehmen Daimler gibt es seit Monaten Produktionsprobleme, vor allem wegen der Zulieferung, und es wurden in diesem Jahr hunderte Leiharbeiter:innen nicht weiterbeschäftigt.

Aber auch die CDU ist politisch ideenlos, kann keine neuen Lösungsansätze bieten, kritisiert vor allem die schlechte Politik der jetzigen Regierung und das reicht in Bremen nicht, um die SPD abzulösen.

Neben der Besonderheit, dass, wie zuweilen mancherorts außerhalb des kleinsten Bundeslands gewitzelt wird, bereits Karl der Große Bremen als Lehen auf Lebenszeit an die SPD verpachtet habe, gibt es bei dieser Wahl eine weitere: Die AfD steht nicht auf dem Stimmzettel. Sie hat es geschafft, sich in Bremen und Bremerhaven so zu zerstreiten, dass sie dadurch gar nicht zugelassen wurde. Aber der rechte Flügel bleibt nicht unbesetzt: Die Wählervereinigung Bürger in Wut (BiW), ein Ableger der Schill-Partei seit 2004 und eine weitere Besonderheit des Zwei-Städte-Staats, kommt entsprechend über die 5 %-Hürde und wird statt der AfD wohl in die Bürgerschaft einziehen. Prognosen bewegen sich um die 9 %, vergleichbar wie die für DIE LINKE. Bisher profitierte die BiW von einer Besonderheit des Bremischen Wahlrechts: Die 5 % müssen nur in einer der beiden Städte erreicht werden. So reichte ihr bisher die Unterstützung aus Bremerhaven. In Bremen Stadt erzielte sie nur im abgehängten Norden ähnlich respektable Ergebnisse. Mittlerweile erhält sie im ganzen Bundesland gute Prognosen. Ursachen dafür: Sie beerbt das Wähler:innenpotenzial der AfD (2019: 9,1 % in Bremerhaven; 5,6 % in Bremen; 5 Sitze in der Bürgerschaft). Außerdem verfügt sie dank Unterstützung durch die neugegründete rechtskonservative Kleinpartei Bündnis Deutschland über ein großes Wahlkampfbudget. Manche munkeln, es stehe dem der Grünen nicht nach. Schließlich begünstigt das Wahlrecht mit der Möglichkeit, 5 Stimmen auf einzelne Kandidat:innen und Listen verteilen zu können, kleine Parteien. Diese wird einer weiteren Bremensie, der MERA25, einem Ableger der EU-weiten Bewegung DiEM25 aber laut allen Voraussagen trotzdem nicht zum Sprung in die Bürgerschaftssessel verhelfen.

Wählt DIE LINKE, aber organisiert den Kampf!

Zur Wahl rufen wir zur Stimmabgabe für DIE LINKE auf. Unsere Unterstützung ist aber eine kritische, denn wir wählen eine bürgerliche Arbeiter:innenpartei wie SPD und/oder DIE LINKE trotz ihrer Politik und nicht wegen ihr. Es ist ihre Basis, die angesprochen, in ihrer fortschrittlichen Haltung (Die Arbeiter:innenschaft braucht eine Partei, die sich allein auf sie stützt und von ihr gestützt wird) gegenüber allen offen bürgerlichen Parteien einschließlich der Grünen bei der Stimmabgabe gestärkt gehört. Das erleichtert den Dialog mit dem organisierten Teil unserer Klasse und ermöglicht uns, ein offenes Ohr für unsere Kritik an ihrer vollständig bürgerlichen Politik zu finden, die in Forderungen an diese Parteien vor den Augen ihrer Basis münden muss.

DIE LINKE ist die erste Gliederung im Westen der Republik gewesen, die den Sprung in ein Landesparlament und in die Regierung geschafft hat. Aber nicht dies ist ausschlaggebend für unsere Wahlempfehlung und es sind auch nicht ihre „Glanzlichter“ als Regierungspartei (Impfkampagne, Pilotprojekte für die Unterbringung von Obdachlosen, Drogenpolitik und Durchsetzung der Ausbildungsabgabe für nicht ausbildende Betriebe). Im Unterschied nach wie vor zur SPD wird sie von den klassenbewusstesten Elementen (Arbeitslosen-, Wohnungs- und Stadtteilinitiativen, linken Vertrauensleuten und Betriebsräten) gewählt. Das macht – einstweilen noch – den Unterschied zur größeren und rechteren Sozialdemokratie aus: dass sie die fortgeschritteneren Schichten der Arbeiter:innenklasse repräsentiert, anders als die SPD.

Kein Wunder also, dass folglich ein größerer Widerspruch zur Realpolitik der Parteimehrheit, deren traurigen Kern wir oben beschrieben haben, auch unter ihren Funktionsträger:innen wie Cornelia Barth, Mitglied im Bundessprecher:innenrat der Strömung Sozialistische Linke, und Olaf Zimmer zum Ausdruck kommt und die Linksjugend [’solid] eigene Plakate für den Nachwuchskandidaten Dariush Hassanpour kleben darf. Insbesondere Zimmer tritt verbal für eine konsequent antimilitaristische Linie der LINKEN gegen die Unterstützung der Landespartei für Waffenlieferungen an die Ukraine ein, die damit der Beschlusslage der Bundespartei Hohn spricht. Diese Kräfte in Funktionärskörper und Parteijugend sind neben der Parteibasis die ersten Adressat:innen für Vorschläge, die die Partei auf einen klassenkämpferischen Weg bringen sollen und somit den Widerspruch zwischen Arbeiter:innenbasis und Wähler:innenschaft einerseits und bürgerlicher Regierungspolitik andererseits zuzuspitzen helfen können. Der linke Flügel muss sich fraktionell organisieren und darf den Kampf für notwendige Forderungen und das Eintreten für eine Ende der bürgerlichen Koalitionspolitik nicht scheuen, um den Bruch mit der Partei zu vermeiden, denn letztlich brauchen wir etwas ganz anderes als DIE LINKE.




Wahlerfolg der KPÖ in Salzburg! Ein Rezept für den Kommunismus?

Michael Märzen, Arbeiter*innenstandpunkt, Infomail 1222, 11. Mai 2022

Es war ein riesengroßer Erfolg und noch dazu eine riesengroße Überraschung: Die KPÖ Plus erzielte bei der Landtagswahl in Salzburg 11,66 % bzw. vier Mandate. Bei der letzten Wahl 2018 waren es lediglich 0,4 % gewesen! Mit so einem Ergebnis hatte nicht einmal der Spitzenkandidat der KPÖ Plus, Kay-Michael Dankl, gerechnet. Noch bemerkenswerter ist der Stimmenanteil von Salzburg-Stadt. Dort landete sie mit 21,5 % knapp hinter der ÖVP auf Platz 2!

Diese Landtagswahl zeigt, nach der Grazer Gemeinderatswahl im letzten Jahr, ganz deutlich, dass es in Österreich Potential für linke Politik gibt, sogar wenn sie das Label „kommunistisch“ trägt. Doch diese Feststellung reicht gewiss nicht aus, das Potential für linke Politik muss auch richtig genutzt werden. Die Frage lautet, kann die KPÖ diese Aufgabe richtig leisten? Wir versuchen eine Antwort auf diese Frage zu formulieren. Doch zunächst müssen wir erst einmal ein Blick darauf werfen, wie sich dieser Wahnsinns-Wahlerfolg in Salzburg überhaupt erklären lässt!

Das Ergebnis im Detail

Der Erfolg der KPÖ Salzburg ist ohne Untertreibung historisch. Noch nie war die Kommunistische Partei in diesem Bundesland so stark. Und noch nie hatte sie vier Mandate. Allein bei der Landtagswahl 1945 konnte sie mit 3,8 % der Stimmen ein Mandat gewinnen, welches sie schon 1949 wieder verlieren sollte. Seither ist viel Wasser durch die Salzach geflossen. Und hatten die Dunkelroten selbst 2018 nur 1.000 Stimmen, sind es nun 31.000 (jede neunte Stimme!). Wer hat auf einmal die KPÖ gewählt? Und warum?

Zunächst müssen wir festhalten, dass die KPÖ in Umfragen vor der Wahl „nur“ bei fünf oder sechs Prozent lag – das allein war allerdings schon eine große Überraschung. Das ist auch ein Zeichen dafür, dass sich offenbar in den letzten Wochen vor der Wahl einiges bewegt hat. Von den befragten KPÖ-Wähler:innen sagen 33 % ihre Wahlentscheidung in den letzten zwei bis drei Wochen getroffen zu haben, 23 % in den letzten Tagen. Demgegenüber sei die Entscheidung von 43 % schon länger her – das sind bemerkenswerter Weise immer noch 13.330 von den exakt 31.383 Stimmen. 8.000 Stimmen (d.h. mehr als ein Viertel) kommen übrigens von der SPÖ und noch einmal 8.000 von den Grünen. Offenbar gibt es eine Unzufriedenheit mit den etablierten, vorgeblich linken Parteien. Das ist nicht verwunderlich, wenn man einerseits die Unterwürfigkeit der Grünen in der Regierung unter die ÖVP betrachtet, auf der anderen Seite die profillose Haltung der SPÖ in Salzburg, ihre Anbiederung nach rechts, sowie den Führungsstreit im Bund. 5.000 Stimmen kommen von Nichtwähler:innen und jeweils 3.000 von FPÖ und ÖVP. Die Zahlen bestätigen somit nicht den Mythos, wonach eine linke Alternative am meisten unter Nichtwähler:innen zu gewinnen hätte. Ein interessantes Detail am Rande ist, dass es laut Statistik im Wahlverhalten der KPÖ-Wähler:innen keinen nennenswerten Unterschied bei Alter und Geschlecht gibt, allerdings bei Bildungsabschluss, wo die Partei bei formal höher Gebildeten zunehmend besser punktet.

Gründe für den Erfolg

In den Medien, in den Worten von PolitologIinnen und selbst von Landeshauptmann Haslauer wurde betont, dass die Landtagswahl in Salzburg eine Protestwahl gewesen sei. Laut einer Umfrage hätten 80 % der Salzburger:innen Sorgen finanziell über die Runden zu kommen. Somit überrascht es nicht, dass das wichtigste Wahlmotiv das Thema Teuerung darstellte. Immer mehr Menschen können sich das Leben immer weniger leisten. ÖVP, SPÖ und Grüne haben darauf keine glaubwürdigen Antworten. Von dieser Unzufriedenheit hat aber nicht nur die KPÖ profitiert, sondern leider auch die FPÖ, mit 25,75 % zweitstärkste Kraft. Wie dem auch sei, es ist allseits bekannt, dass ein wichtiger Faktor in den Teuerungsraten das Wohnen ist. Und auf dieses Thema, das besonders in Salzburg-Stadt brisant ist, hat sich die KPÖ Plus gemäß Grazer Vorbild eingeschossen. Das hat sich bezahlt gemacht. Denn 40 % der Stimmen für „die Kommunist:innen“ stammen aus der Landeshauptstadt. Dazu kommen noch 29 % der KPÖ-Sstimmen aus Salzburg-Umgebung, was somit schon 69 % ausmacht. Hier war es sicher ein Vorteil, dass die KPÖ in Salzburg-Stadt schon seit 2019 mit ihrem Spitzenkandidat Kay-Michael Dankl im Gemeinderat vertreten ist. Dieser konnte wie schon die KPÖ in Graz einen Kautionsfonds für Mieten durchsetzen und mit Mieter:innenberatung und Hausbesuchen Vertrauen gewinnen. Noch dazu wurde er im Wahlkampf kräftig von der Jungen Linken unterstützt, aus der er ja selbst politisch stammt (und die mittlerweile auch im KPÖ-Bundesausschuss vertreten ist). Immer wieder wird aber auch erwähnt, dass Kay-Michael eine sehr authentische und glaubwürdige Person sei und eigentlich mit sozialdemokratischer Politik gepunktet hätte.

Die Politik der KPÖ Salzburg

Wohnen ist ganz klar das Steckenpferd der KPÖ Plus in Salzburg und darüber läuft ihre politische Strategie. Das sieht man auch sofort, wenn man einen Blick in das Wahlprogramm wirft. Dort steht das Thema Wohnen an erster Stelle und beinhaltet nicht weniger als 69 Forderungen. Zum Vergleich – beim Thema Arbeit sind es neun. Man sieht dabei natürlich, dass sich die KPÖ Salzburg tatsächlich mit Wohnen beschäftigt hat und es ist ohne Zweifel wichtig konkrete Forderungen zu haben, für die man auch glaubwürdig kämpfen und die man womöglich tatsächlich umsetzen kann. Durch Radikalität oder Systemkritik zeichnet sich dieses Programm jedoch nicht aus.

Ein Bekenntnis den kommunalen Wohnbau wieder aufnehmen und fördern zu wollen, der Genossenschaftsgedanke oder die Leerstandsabgabe sind nicht ausreichend, um Wohnen der Profitlogik zu entziehen, wie es Kay-Michael Dankl gerne formuliert. Hier wird man um das Kapital von Immobilien-, Baukonzernen und Banken nicht herum kommen. Und beim Mindestlohn von 1.700 netto im öffentlichen Dienst legt sich mit 2000 € netto selbst Hans-Peter Doskozil stärker mit der österreichischen Kapitalist:innenklasse an.

Zugegeben, die Möglichkeiten im Landtag sind begrenzt und Dankl ist sicher zuzustimmen, wenn er im Podcast der Jungen Linken sagt, es komme darauf an, Menschen zu überzeugen. Man muss sich aber schon fragen mit welcher gesellschaftlichen Perspektive man Politik macht und seit wann für Kommunist*innen die bürgerlichen Institutionen die zentralen Bezugspunkte für politische Veränderung sind? Kommunistische Politik muss jedenfalls in einen Rahmen eingebettet sein, der die kapitalistischen Verhältnisse benennt und kritisiert und Stoßrichtungen aufzeigen, mit denen die Lohnabhängigen für ihre eigenen Interesse organisiert und mobilisiert werden können – auch bei einer Landtagswahl. Ohne Kapitalismuskritik, der Frage von Eigentumsverhältnissen und Lohnabhängigen als politischem Subjekt kann man eindeutig Wahlerfolge erzielen. Eine kommunistische Kraft wird man dabei aber nicht aufbauen.

Schlussfolgerungen

Der Erfolg der KPÖ Plus ist beeindruckend und die Genoss:innen haben offensichtlich einiges richtig gemacht, wovon die Linke lernen kann. Die Frage ist nun, wie die KPÖ auf diesem Erfolg aufbauen kann und wie sie ihre Wahlerfolge in eine allgemeinere, antikapitalistische Strategie einordnen kann. Dabei kann man auch die SPÖ-Linke, die sich gerade rund um Andi Babler formiert, nicht außer Acht lassen, ob dieser nun die Vorsitzwahl gewinnt oder nicht. Nächstes Jahr sind Nationalratswahlen und damit besteht die Möglichkeit, dass mit der KPÖ eine Kraft links der SPÖ in den Nationalrat einzieht. Wenn sie diese Chance ergreifen möchte braucht es ein Angebot an größere Teile der österreichischen Linken für einen gemeinsamen Wahlkampf und den Aufbau einer neuen linken Partei.




Die Türkei vor den Wahlen: ein Land vor neuen Entscheidungen?

Dilara Lorin, Infomail 1222, 5. Mai 2023

Am 14. Mai stehen nun die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei an. Und sie könnten auch zu einer Entscheidung über die Zukunft des Regimes Erdogan werden.

Zweifellos spekulierten der Präsident und die regierende Koalition um die AKP beim Ansetzen des Wahltermins auf eine zumindest vorübergehende Erholung der Wirtschaft. Doch die blieb aus. Im Gegenteil: Die hohe Inflationsrate sowie eine hohe Verschuldung, aber auch die Covid-19-Pandemie haben die Ökonomie stark beeinträchtigt.

Das verheerende Erdbeben vom 6. Februar hat noch einmal für ein großes Loch bei Hunderttausenden Menschen gesorgt, aber auch die miserable Politik im Interesse des Kapitals und der Günstlinge von Erdogan hat nicht nur tiefe Spuren hinterlassen, sondern auch die über Jahre andauernde Korruption dieses Regimes aufgezeigt. Diese Politik hat nicht nur Millionen in Armut gestürzt, sondern auch Tausenden Menschen das Leben gekostet.

Leidtragende sind vor allem die Arbeiter:innenklasse sowie die unterdrückten Minderheiten des Landes, denn sie müssen die Lasten der Wirtschaftskrise schultern. Aber selbst die Mittelschichten und das Kleinbürger:innentum zweifeln mittlerweile am Regime.

Erdogans Wahlantritt

Dabei zeigt schon die Tatsache, dass Erdogan überhaupt ein weiteres Mal antreten darf, wie biegsam die türkische „Demokratie“ ist. Eigentlich darf ein Präsident gemäß der Verfassung nur zwei Amtszeiten regieren. Erdogan steht aber mittlerweile 20 Jahre an der Spitze des Staates. Wie ist das „legal“ möglich?

Mit dem Referendum 2018 wurde zugleich die bonapartistische Herrschaft, die er ausübt, verstärkt und per Plebiszit legitimiert. Die Abstimmung zog eine Verfassungsänderung nach sich, die es gestattet, dass der/die Staatspräsident:in gleichzeitig auch das Amt des/r Regierungschef:in ausübt. Das Referendum erlaubt es Erdogan außerdem, im Jahr 2023 ein weiteres Mal als Präsident zu kandidieren. So wurde per Plebiszit zwar festgelegt, dass man lediglich zwei Amtszeiten regieren darf – aber jene vor 2018 werden nicht mitgezählt.

Mit dem Vorverlegen der Wahl auf Mitte Mai kann Erdogan außerdem sogar bei der nächsten Wahl dafür plädieren, wieder kandidieren zu dürfen. Denn eigentlich darf man nur zwei Perioden als Präsident:in regieren, was bedeuten würde, dass die kommende Amtszeit seine letzte wäre. Aber Erdogan und die AKP können behaupten, dass dadurch, dass die Wahl aktuell vorgezogen wurde, die Zeit von 2018 bis 2023 nicht als komplette Amtszeit gilt.

Dennoch könnte es eng werden. Sollte kein/e Kandidat:in bei den Präsidentschaftswahlen im ersten Wahlgang eine Mehrheit erhalten (was sehr durchaus wahrscheinlich ist), so soll zwei Wochen später eine Stichwahl abgehalten werden.

Bei den Parlamentswahlen werden 600 Abgeordnete für die Große Nationalversammlung der Türkei bestimmt. Diese Sitze werden auf die 81 Provinzen des Landes aufgeteilt, wobei jede durch eine bestimmte Anzahl von Abgeordneten vertreten wird. Wie viele eine Provinz wiederum erhält, wird durch die Proportion zu ihrer Bevölkerungszahl festgelegt. Damit eine Partei ins Parlament einziehen kann, muss sie aber bei den Wahlen die undemokratische 10 %-Hürde überschreiten.

Wie sieht die aktuelle Stimmung in der Bevölkerung aus?

Die Regierung wird aktuell durch eine Koalition aus AKP und MHP gebildet. Dabei ist das Regime der AKP schon in den letzten Jahren nicht nur durch Autoritarismus, Repression, regionale Machtambitionen und einen permanenten Krieg vor allem gegen die Kurd:innen im eigenen Land und in Rojava geprägt. Die AKP ist auch immer wieder von Konflikten zerrissen, infolge derer einige Abgeordnete und Mitglieder die Partei verließen.

Gleichzeitig findet eine weitere Stärkung des autoritären, bonapartistischen, auf die Person Erdogans zugeschnittenen Regimes auch innerhalb der AKP statt. Der Präsident wurde immer mehr zur einzigen führenden Figur entwickelt, um seine Kontrolle innerhalb der Partei weiter zu stärken. Kritiker:innen wurden in gleichem Zuge ausgeschlossen oder verließen die Reihen. Damit hält die Person Erdogan faktisch immer mehr Partei wie Regime zusammen. Daher ist die Verlängerung seiner Vorherrschaft nicht nur ein Zeichen seiner Stärke, sondern unfreiwillig auch der Schwäche eines auf einen mittlerweile recht kranken „starken Mann“ zugeschnittenen Regimes.

Nach den letzten Wahlen 2018 musste die AKP eine Koalition mit der MHP eingehen, weil sie alleine nicht die absolute Mehrheit gewinnen konnte. Die MHP ist eine extrem rechtsnationale Partei, die mit den faschistischen und militant organisierten Grauen Wölfen eng verbunden ist. Sie gelten wie andere protofaschistische und extrem reaktionäre Kräfte als Reserven eines bonapartistischen Regimes, das sich aber vor allem auf die Kontrolle des Staatsapparates, der Medien, eine Wahlmaschinerie, Teile des Kapitals, große Schichten des Kleinbürger:innentums, der konservativen Mittelschichten, aber selbst rückständige, nationalistische Schichten der Lohnabhängigen und Armen stützt. Chauvinismus, Nationalismus und die ideologische Wiederbelegung des „Osmanismus“, die eine regionale Führungsrolle begründen sollen, sind ebenso ein Bindeglied dieser Allianz wie Erdogan als übergroße Führungsfigur, die die Einheit durchaus heterogenerer Kräfte repräsentiert.

Doch große Teile der Bevölkerung wenden sich auch ab. Sie wollen dem AKP- und MHP-Regime nicht mehr folgen. Die Inflation sowie der stetige Fall der Lira drücken die Mittelschicht der Türkei, die unter den Anfangsjahren der AKP-Regierung noch aufblühte, immer mehr an den Rand. Sie steht zum Teil ablehnender als vorher zur Regierung. Das Erdbeben und die damit immer deutlicher werdenden Missstände, Vetternwirtschaft sowie Korruptionsskandale haben die Regierung weiter diskreditiert.

Wachsende Teile dieser Schichten setzen nun bei der kommenden Wahl ihre Hoffnung in Kemal Kılıçdaroğlu, den Vorsitzenden der kemalistisch-sozialdemokratischen Partei CHP. In den Umfragen liegt sie oft nur einige Prozentpunkte hinter der AKP und hat im Vergleich zu den Wahlen von 2018 einen Gewinn von bis zu 5 % zu verzeichnen, wobei die AKP einen Verlust von ganzen 11,5 % erlitt. In den aktuellen Umfragen liegen je nach Meinungsforschungsinstitut der Regierungs- oder der Oppositionsblock vorne. In jedem Fall hat die CHP geführte Oppositionsallianz eine realistische Chance auf einen Wahlsieg bei den Präsidentschafts- wie Parlamentswahlen.

Die Sechser-Opposition

Die Unzufriedenheit mit dem AKP/MHP-Regime bildet auch den größten Pluspunkt der Opposition. Sie pocht darauf, dass alles besser werde, wenn Erdogan und die AKP nicht mehr an der Macht seien.

Inhaltlich und programmatisch hält sich die bürgerlich-nationalistische Oppositionsallianz allerdings bedeckt. Wie sie Inflation und Armut bekämpfen will, welche Politik sie gegenüber den unterdrückten Nationalitäten und von allem den Kurd:innen verfolgt, das lässt sie bestenfalls (!) offen. Ein Rückzug aus Syrien, eine Aufgabe der geopolitischen Ambitionen der Türkei sind natürlich auch unter der CHP nicht zu erwarten, wohl aber ist es eine zumindest verbale Verbesserung der Haltung zur NATO und zum Westen.

Um die Mehrheit der AKP und Erdogans zu brechen, hat die nationalistische CHP, die sich zwar „sozialdemokratisch“ nennt, jedoch immer eine offen bürgerliche Partei war, eine Allianz mit fünf anderen bürgerlichen Teilen der rechten bzw. extrem nationalistischen und islamistischen Oppositionsparteien gebildet – eine Allianz des Grauens, die in vielem fast schon ein Spiegelbild des AKP-MHP-Bündnisses darstellt. Dass sie von der Bevölkerung als mögliche Alternative und zumindest als kleineres Übel akzeptiert und wahrgenommen wird, zeigt deutlich, dass sich die Stimmung weit weniger stark auf Erdogan fixiert als im Jahr 2015/2016. Um wenigstens ihn loszuwerden, setzen viele – auch linke und progressive – Menschen ihre Hoffnungen auf sie. Angesichts von 20 Jahren AKP-Regime ist es sicher verständlich, dass viele Linke, Unterdrückte, Frauen und große Teile der LGBTIAQ-Community sehnsüchtig auf den Sturz eines Tyrannen hoffen. Und natürlich wollen auch alle klassenkämpferischen, ja alle demokratischen Kräfte ihn und die reaktionäre AKP fallen sehen. Aber ein Sieg der CHP-geführten Opposition wird keine echte Freiheit, Frieden oder eine Verbesserung für Unterdrückte und Lohnabhängige bringen.

Im Gegenteil: Sie würde letztlich das kapitalistische, autoritäre Regime nur unter anderen Vorzeichen weiterzuführen versuchen. Die kemalistische CHP tritt bei dieser Wahl mit einem Wahlbündnis an, welches insgesamt aus 6 Parteien besteht. Dieses Bündnis wird von den Medien auch „Altılı Masa“, Sechsertisch, genannt. Neben der CHP beteiligen sich daran İYİ Parti, Saadet Partisi, Demokratik Parti, Gelecek Partisi und die Demokrasi ve Atılım Partisi. Dabei traten vier der sechs Parteien schon 2018 als „Nationale Allianz“ an. Die İYİ-Partei, eine nationalistische Abspaltung von der MHP, ist in den letzten Jahren auf ca. 10 % bei den Wahlen gekommen und wird darum auch am Sechsertisch als zweitstärkste Kraft nach der CHP gesehen. Dass die HDP keinen Sitzplatz erhielt, liegt vor allem an der İYİ Parti, die extrem chauvinistisch ist und die Unterdrückung der HDP und andere kurdischer Organisationen als „terroristischer“ fordert. Die CHP und die anderen Parteien am „Sechsertisch“ folgten diesen Bedingungen ohne große Diskussion.

Die größten Konflikte in der instabilen Allianz gab es um die Frage des/r Spitzenkandidat:in und die Verteilung des zukünftigen Einflusses, sollten die Wahlen gewonnen werden. Wie kaum eine Regierung davor wird eine mögliche CHP-geführte von großen inneren Widersprüchen geprägt sein, wahrscheinlich von größeren als die aktuelle Regierung. Falls sie gewinnen sollte, werden früher oder später die unterschiedlichen Interessen von rechten, ultrakonservativen, nationalistischen, islamischen bis hin zu liberal-reformerischen Strömungen aufbrechen.

Keine Stimme für die CHP und Kılıçdaroğlu!

Auch wenn die CHP und der Sechsertisch vielen als geringeres Übel erscheinen mögen, so sollten ihnen Arbeiter:innen, Linke, unterdrückte Minderheiten, die Frauen- und Umweltbewegung kein Vertrauen schenken und keine Stimme geben.

In Wirklichkeit würde das nur eine kapitalistische Alternative zu Erdogan, eine alternative bürgerlich-nationalistische Koalition stärken, die in allen grundlegenden ökonomischen, geopolitischen und auch demokratischen Fragen letztlich der AKP näher steht als den Arbeiter:innen und Unterdrückten. Auch sie würde eine Wirtschaftspolitik im Interesse des türkischen Kapitals vertreten. Sie mag zwar –ähnlich wie Erdogan – ein paar Verbesserungen für die Armen versprechen, letztlich sollen aber die Massen über Preissteigerungen, Kürzungen, Angriffe auf Arbeits- und Gewerkschaftsrechte die Kosten der Krise zahlen, die sie mit einem Austeritätsprogramm und Privatisierung überwinden will. Eine Aufhebung gewerkschaftsfeindlicher Gesetze lehnt die Opposition ab. Für die unterdrückten Minderheiten, allen voran für das kurdische Volk, wird es auch unter der CHP keine Selbstbestimmung geben, ja nicht einmal die politischen Gefangenen werden freikommen. Sie wird Rojava ebenso wie die PKK weiter bekämpfen. Sie wird weiter gegen Geflüchtete vorgehen. So verspricht sie, in den nächsten zwei Jahren einen Großteil aller Geflüchteten abzuschieben. Die türkische Armee wird weiter in Syrien ihr Unwesen treiben. Das Regime wird, ebenso wie Erdogan, gegen die Geflüchteten vorgehen und seine geostrategischen Interessen verfolgen.

Angesichts der tiefen Widersprüche am Sechsertisch, der Wirtschaftskrise und der vom Standpunkt der Herrschenden notwendigen Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse wird auch ein Präsident Kılıçdaroğlu auf jene bonapartischen Machtbefugnisse zurückgreifen, die Erdogan eingeführt hat. Auch seine Herrschaft wird sich auf den bestehenden Staats- und Militärapparat stützen müssen, was ein Übereinkommen mit den Leuten beinhaltet, die von der AKP an die Spitze der Institutionen gesetzt wurden.

Würde Erdogan eine Niederlage akzeptieren?

Dies wird umso wahrscheinlicher, als es keineswegs sicher ist, dass Erdogan und die AKP eine etwaige Wahlniederlage akzeptieren würden. Schon Trump und Bolsonaro brachten es fertig, von Wahlbetrug zu sprechen, als sie selbst an der Macht waren. Erdogan und die AKP verfügen zweifellos über weit stärkere Stützen in der türkischen Gesellschaft und Elite als Trump in den USA und Bolsonaro in Brasilien. Andererseits würde ein Putschversuch das Land weiter destabilisieren. Daher ist es auch fraglich, ob die AKP insgesamt, die MHP, das Militär einen Putsch inszenieren würden.

In jedem Fall besteht die Gefahr. So sprechen einige von der Ruhe vorm Sturm, wenn es um die AKP und Erdogan geht. Dieser scheint derzeit eher ruhiger in der Politik zu agieren, wenn man seine aktuelle Wahlpropaganda mit der vor den letzten 2 Wahlen vergleicht. Viele Menschen bezeichnen den Urnengang am 14. Mai als Schicksalswahl zwischen Demokratie und Autokratie.

Die Frage „Was kommt?“ teilt sich dabei in die Phase vor und nach der Wahl. Vor der Wahl ist noch immer ungeklärt, wie die bis zu 3,7 Millionen Menschen aus den vom Erdbeben betroffenen Gebieten wählen können. Viele sind nicht in der Lage, ihre Dörfer zu verlassen, um in den Städten zu wählen, viele befinden sich außerhalb ihrer Heimatstädte und haben keine Ahnung, wie sie ihre Stimme nutzen können. Und auch die Wahlbehörde hat sich dazu bis dato nicht geäußert. Das Erdogan Wahlmanipulation und -betrug durchführt und weiter durchführen wird, ist kein Geheimnis. Beobachter:innen gehen davon aus, dass alleine im Referendum zur Verfassungsänderung bis zu 2 Millionen Stimmen gefälscht wurden.

Dass kurdische, linke Politiker:innen, kritische Journalist:innen mit Repression überschüttet werden, wundert auch nicht. Alleine bei der Eröffnung der Wahlbüros für die YSP (Yeşil Sol Parti; Grüne Linke Partei) wurden etliche Menschen, die sich in Solidarität mit ihr versammelt hatten, in mehreren Städten und Gemeinden festgenommen. Dass vor allem den Minderheiten erschwert wird, bei Wahlen anzutreten, konnten wir schon 2018 beobachten und dies scheint sich auch dieses Mal nicht zu bessern, sondern zu verschärfen.

Die Linke

Um ein durchaus mögliches Parteiverbot kurz vor den Wahlen zu umgehen, treten die Kandidat:innen der HDP diesmal in Form der Grünen Linkspartei (Yeşil Sol Parti; YSP) an. Zusammen mit anderen linken Parteien bildet sie das „Bündnis für Arbeit und Freiheit“.

In diesem Rahmen stellt die HDP (Halkların Demokratik Partisi) für viele Linke, Gewerkschafter:innen, die LGBTIAQ-Community und Teile der kurdischen Minderheit die wichtigste Kraft dar. Die Repression gegenüber den Abgeordneten und Mitgliedern der Partei ist immens. Im Mai 2016 entzog die AKP-Regierung 138 Abgeordneten ihre Immunität. Die Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ sitzen seither (!) in Untersuchungshaft und mit ihnen etliche weitere Abgeordnete.

Bei diesem schmutzigen Vorgehen spielte auch die CHP eine wichtige Schlüsselrolle, denn erst mit ihren Stimmen konnte die nötigen Zweidrittelmehrheit im Parlament erreicht und damit die Aufhebung der Immunität durchgesetzt werden. Nach den Kommunalwahlen 2019 setzte die Regierung 47 der 65 gewählten HDP-Bürgermeister:innen ab und ihre eigenen Leute als Zwangsverwalter:innen ein. Der türkische Generalstaatsanwalt Bekir Şahin reichte am 17. März 2021 einen Verbotsantrag gegen die HDP beim Verfassungsgericht ein. Dass die HDP und ihre Strukturen systematisch angegriffen und immer wieder zerschlagen werden, ist nichts Neues und die Verhaftungs- sowie Verleumdungswellen haben in den letzten Jahren nicht nachgelassen. 

Die TIP, die türkische Arbeiter:innenpartei, stellt im Bündnis die zweitstärkste Kraft dar. Außerdem sind die EMEP (Partei der Arbeit), die EHP (Partei der Arbeiter:innenbewegung), SMF (Föderation der sozialistischen Räte) und die TÖP (Soziale Freiheitspartei) beteiligt. Außerdem rufen die meisten linken Gewerkschaften für die HDP bzw. die YSP bei den Parlamentswahlen auf.

Die sechs Parteien kandidieren auf einer gemeinsamen Liste bei der Wahl, aber alle Mitgliedsparteien können auch mit ihren eigenen Namen und Listen antreten. Dies wurde als Kompromiss durchgesetzt, da zuvor vor allem die TIP darauf bestand, sich mit eigenen Kandidatenlisten und eigenem Logo zur Wahl aufzustellen an den Orten, wo sie regionale Schwerpunkte hat.

Dass die TIP und die HDP auch Menschen aus der LGBTIAQ-Community sowie aus den unterschiedlichen Minderheiten des Landes als Kandidat:innen aufstellen lassen, stellt einen Fortschritt gegenüber den anderen Parteien dar. Das Nichtaufstellen eines/r Präsidentschaftskandidat:in seitens des „Bündnisses für Arbeit und Freiheit“ ist ein großer Fehler und zeigt auch dessen politische Schwächen deutlich. Mehr oder weniger offen wird zumindest im zweiten Wahlgang für Kılıçdaroğlu aufgerufen.

Auch wenn sich die CHP auf einer Pressekonferenz unverbindlich dafür ausgesprochen hat, die Anliegen der HDP, die Frage der Kurd:innen usw. weiterzutragen, wissen wir aus der Geschichte, aber auch durch die Einschätzung des Sechsertisches, dass dies eine blanke Lüge ist.

Während der Wahl gibt es eigentlich drei bis vier Themen, bei welchen sich die Linke von den reaktionären und offen bürgerlichen Kräften für alle deutlich wahrnehmbar unterscheidet: die Frage der Geflüchteten in der Türkei, der Rechte der Kurd:innen und aller unterdrückten Minderheiten, die Aufarbeitung des Erdbebens und vpn dessen Folgen und, wie die wirtschaftliche Krise sowie die miserable Lage der Arbeiter:innenklasse verbessert werden können, ohne dies den Lohnabhängigen aufzuschultern. Und zum wiederholten Mal zeigt sich dabei die reaktionäre Ader der CHP. So stach in den letzten Jahren und Monaten immer brisanter hervor, wie ihre Abgeordneten im Parlament und in öffentlichen Reden gegen Geflüchtete hetzen.

Das „Bündnis für Arbeit und Freiheit“ stellt zwar eine linke Bündniskandidatur, aber keine revolutionäre Kraft dar, die sich auf ein klares antikapitalistisches Programm der sozialistischen Revolution beruft. Es handelt sich vielmehr um eine Allianz mit einer kleinbürgerlich-nationalistischen Kraft, der HPD, die sich vor allem auf kurdische, Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen, aber auch Kleinbürger:innen und kleine Unternehmer:innen stützt. Auch wenn sie sich in den letzten Jahren mehr in Richtung Gewerkschaften entwickelt hat und z. B. über einen wichtigen Einfluss bzw. Verbindungen zur DISK verfügt, so ist sie keine bürgerliche Arbeiter:innenpartei, sondern eher ein Hybrid aus kleinbürgerlichem Nationalismus, Stalinismus, Populismus und Linksreformismus.

Die anderen Parteien in der Koalition sind durchweg reformistische Arbeiter:innenparteien, oft mit stalinistischer Ausrichtung oder solchen Wurzeln, die jedoch in einzelnen Regionen und Sektoren eine gewisse Verankerung in der Arbeiter:innenklasse aufweisen.

Bei den Parlamentswahlen rufen wir zur kritischen Unterstützung des „Bündnisses für Arbeit und Freiheit“ auf.

Es handelt sich dabei um die einzige Kraft mit einer Massenunterstützung aus der Arbeiter:innenklasse und seitens der unterdrückten Kurd:innen, die eine fortschrittliche Alternative gegenüber beiden bürgerlich-reaktionären Blöcken aus AKP/MHP einerseits und CHP/Sechsertisch andererseits verkörpert.

Zugleich kritisieren wir jedoch das Programm des Wahlblocks. Auch wenn viele der sozialen und demokratischen Versprechungen selbst unterstützenswert sind wie, sich für die Arbeitenden, die Gewerkschaften, die demokratischen Rechte der Kurd:innen und anderer nationaler Minderheiten einzusetzen, so geht es über demokratisch-reformistische Reformversprechungen nicht hinaus. Allenfalls wird es mit dem Gedanken an eine sozialistischen Zukunft verknüpft, aber ohne die aktuellen Reformforderungen mit konkreten Übergangslosungen zu verbinden.

Zweitens verhält sich das Bündnis gegenüber der CHP, dem Sechsertisch und Kılıçdaroğlu opportunistisch. Ihre Politik wird nicht offen als bürgerlich und arbeiter:innenfeindlich kritisiert, sondern als kleineres Übel gegenüber Erdogan beschönigt. Damit unterlässt es, die Arbeiter:innen, die städtische Armut und die Unterdrückten auf die Angriffe einer möglichen CHP-geführten Regierung schon jetzt vorzubereiten und den Widerstand gegen jede kommende aufzubauen. Natürlich würde das auch einschließen, gegen einen möglichen Putschversuch Erdogans auf die Straße zu gehen, sollte er die Wahl verlieren. Aber es bedeutet vor allem auch, die Massen auf jede Form des Kampfes gegen die nächste Regierung vorzubereiten.

Dennoch wäre es ein wichtiges Zeichen für alle Unterdrückten, Arbeiter:innen und Armen, wenn die Liste über die 10 %-Hürde käme. Aber zugleich müssen Revolutionär:innen in der Türkei in diese Wahlen mit zwei zentralen Stoßrichtungen eingreifen. Erstens müssen sie von allen Kräfte des „Bündnisses für Arbeit und Freiheit“ fordern, eine Einheitsfront aller Arbeiter:innenorganisationen, der HPD, der Gewerkschaften, der Umwelt-, der Frauenbewegung gegen die Angriffe der nächsten Regierung aufzubauen. Das 10-jährige Jubiläum der Gezi-Proteste am 24. Mai könnte dazu einen wichtigen ersten Mobilisierungschwerpunkt bilden und damit auch soziale Sprengkraft entfalten.

Zweitens müssen Revolutionär:innen dafür eintreten, dass im Bündnis selbst offen die Frage diskutiert wird, welche Partei die Arbeiter:innenklasse und Unterdrückten in der Türkei brauchen. Eine wirkliche, revolutionären Arbeiter:innenpartei ist unserer Meinung nach nötig – und das erfordert, mit dem Schwanken zwischen linkem kleinbürgerlichen Nationalismus und „linken“ Parteiprojekten ohne klare klassenpolitische Ausrichtung ebenso zu brechen wie mit stalinistischen und linksreformistischen Traditionen.

Eine solche Partei kann entstehen, aber nur, wenn der gemeinsame Kampf verbunden wird mit einem politisch-programmatischen Bruch hin zu eine Arbeiter:innenpartei, das sich auf ein Program von Übergangsforderungen stützt, um die Lohnabhängigen und Unterdrückten zur sozialistischen Revolution zu führen. Dies ist keine Frage einer fernen Zukunft, sondern stellt sich im Klassenkampf. Die wirtschaftliche Lage lässt sich nicht mit einigen Reformen wieder geradebiegen. Dies kann alleine die Arbeiter:innenklasse, indem sie für die Enteignung der Betriebe und Konzerne unter ihrer Kontrolle, für ein Notprogramm für die Opfer der Erdbebenkatastrophe eintritt, dafür, die Wirtschaft gemäß einem demokratischen Plan im Interesse der Massen neu zu organisieren.

Drittens müssen wir die Möglichkeit ernst nehmen, dass Erdogan und die AKP entweder versuchen könnten, die Wahl offenkundig zu stehlen oder sich an der Macht zu halten, indem sie sich auf Wahlbetrug berufen. Obwohl die Arbeiterklasse und alle fortschrittlichen Kräfte keine Illusionen in die CHP-Opposition haben sollten, sollten sie sofort die Gewerkschaften, die fortschrittlichen Parteien, die Frauenbewegungen und die national Unterdrückten zu einem Generalstreik mobilisieren, um Erdogans Festhalten an der Macht zu stoppen. Sollte dieser haben, wäre Erdogans Unterdrückung wahrscheinlich noch schlimmer als nach dem gescheiterten Putsch vom 16. Juli 2016.

Aber das Ziel, ihn zu besiegen, sollte mehr als ein negatives sein. Die Bewegung sollte die Wahl einer souveränen verfassungsgebenden Versammlung fordern, um das gesamte bonapartistische System hinwegzufegen und die sozialen und politischen Forderungen der Arbeiter, der städtischen und ländlichen Bevölkerung, der unterdrückten Nationalitäten, insbesondere des kurdischen Volkes, zu erfüllen.

Solche und andere grundlegende Maßnahmen können nicht mit dem bestehenden kapitalistischen Staatsapparat umgesetzt werden. Sie können nur durch eine Bewegung der Arbeiter:innen und Unterdrückten, durch landesweite Massenstreiks, durch Besetzungen der Betriebe, durch die Errichtung von Räten und Selbstverteidigungsorgane der Massen in allen Regionen durchgesetzt werden, durch eine Kraft, die den bonapartistischen, autoritären Staatsapparat hinwegfegen und eine Regierung der Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen stattdessen an die Macht bringen kann.




Nein zur Berliner GroKo! Gemeinsamen Widerstand organisieren!

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 272, April 2023

Nach einer Panne mit Wahlwiederholung inmitten der Zeitenwende ist das politische Berlin erschüttert. Das erste Mal in über 20 Jahren ist die CDU die stärkste Kraft. Alle Parteien der rot-grün-roten Koalition haben an Stimmen verloren. Und nun? Nach Sondierungen zwischen CDU-Grünen, CDU-SPD und SPD-Grünen-Linken hat die SPD die Bombe platzen lassen. Ihr Berliner Parteivorstand ist gegen eine Fortsetzung der bisherigen Regierungskoalition. Die Partei befindet sich zurzeit in Unterredungen für eine Berliner Große Koalition. Auch wenn es sich mit den Grünen und der CDU in allen Varianten um Koalitionen mit offen bürgerlichen Parteien handelt und wir sowohl eine GroKo als auch RGR ablehnen, so handelt es sich nicht um gleiche Qualitäten von Angriffen auf soziale Errungenschaften in der Bundeshauptstadt.

Eine CDU-geführte Regierung bedeutet den finalen Todesstoß für den Enteignungsvolksentscheid in seiner aktuellen Form, führt zu einer „Mobilitätswende“, die auf Autos setzt, einer Ausweitung des Polizeiapparates, mehr rassistischen Polizeikontrollen, einer offeneren Zusammenarbeit mit dem Kapital und vielem mehr.

Konturen eines drohenden Regierungsprogramms

Mit dem Sondierungspapier beider Parteien wird erkennbar, was uns erwarten könnte. Franziska Giffey hatte alle Brücken für die Wiederaufnahme der RGR-Koalition damit eingerissen. Sie sagte gegenüber der Presse, die Grüne wollen nur ihre eigenen Themen durchsetzen und DIE LINKE sei zu zerstritten. Auch wenn es in Teilen nur Schlagworte sind, wollen wir hier eine erste Skizze der drohenden GroKo aufzeichnen.

Wohnen: Dass auf dem Mietenmarkt seit Jahren soziale Verdrängung stattfindet, ist bekannt. In den letzten fünf Jahren ist der Neuvermietungspreis um 48,2 % gestiegen – im letzten Quartal 2022 allein auf durchschnittlich 15,95 Euro pro Quadratmeter nettokalt. Unter den Großstädten ist nur noch München teurer. Die Mär der niedrigen Ausgangspreise ist also schon lange erzählt. Nur die Löhne sind weiterhin geringer als in vielen anderen Großstädten (etwa 10.000 Euro weniger verfügbares durchschnittliches Einkommen pro Jahr im Vergleich zu München). Trotzdem lautet der Lösungsansatz der drohenden GroKo Entlastung durch (v. a.) privaten Neubau. Das Ziel sind 20.000 Wohnungen pro Jahr (Leerstand etwa 0,9 %). Der Perspektive der Enteignung und Verstaatlichung großer privater Immobilienkonzerne wird ein erneuter Riegel vorgeschoben. Sollte (!) die sogenannte Expert:innenkommission zum Volksentscheid von „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ ein positives Votum abgeben, soll ein Vergesellschaftungsrahmengesetz diskutiert werden. Ein solcher Rahmen war bereits seit Tag eins die legale Basis des Volksentscheids und nennt sich Grundgesetz.

Verkehr: Nicht erst seit den Aktionen der Letzten Generation bildet Verkehr in Berlin ein Streitthema. Die Grünen haben mit ihren sogenannten Popup-Radwegen eine Reihe von Straßen in der Stadt entschleunigt. Bei weitem decken diese nicht den Bedarf ab, stellen jedoch – neben der A100 – das bedeutendste Symbol der „Verkehrswende“. Jedoch fällt das Wort „Fahrradverkehr“ mit keinem Wort im Papier. Aber die Stadtautobahn soll vom Treptower Park bis zur Storkower Straße weitergebaut werden. Für 13 Berliner Clubs und zehntausende Berliner Mieter:innen bedeutet das das Ende.

Klima: Dieser Punkt schließt hier nahtlos an. Angesichts des Volksentscheids für ein klimaneutrales Berlin 2030 (26. März) sind hier mehr als warme Worte gefragt. So soll ein 5-Milliarden-Euro-Sondervermögen für den Klimaschutz aufgesetzt werden. Die Hälfte davon soll durch die Streichung der Coronarücklagen (2,6 Mrd. Euro) beglichen werden. Damit abgedeckt werden sollen Gebäudesanierungen, Mobilität und Energiegewinnung. Es ist unklar, inwiefern der Kauf von 51 % der Unternehmensanteile der GASAG davon beglichen werden soll. Die GASAG AG ist der größte lokale Energieversorger, ein Tochterunternehmen von Vattenfall und soll auf Initiative des Mutterkonzerns rekommunalisiert werden – zu überhöhten Preisen.

Innenpolitik und Migration: Einig ist man sich außerdem, dass ein Einbürgerungszentrum eingerichtet werden soll, dass das Antidiskriminierungsgesetz und der Mindestlohn nicht angetastet werden, dass die Polizei sogenannte Bodycams bekommt und dass Videoüberwachung in Modellprojekten getestet werden soll.

Die innere Sicherheit müsse man „ganzheitlich vom Senat aus angehen“, meint Marcel Kuhlmey von der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin und zuvor 25 Jahre bei der Polizei tätig. Er rechnet damit, dass der neue Senat Tasern und Bodycams gegenüber aufgeschlossen ist.

Law and Order ist also angesagt bei Aufstockung und weiteren Befugnissen der Repressionskräfte und zügiger Abwicklung von Asylanträgen, Einbürgerung und Abschiebung. Migrant:innen und Linke stehen vor schweren Zeiten. Diese Reaktion auf die Silvesterkrawalle war zu erwarten, schlug doch schon bei der Wiederholungswahl das Pendel zugunsten der CDU aus.

Weiteres: Bis 2026 soll es eine Verwaltungsreform geben. Die Polizei und Rettungsdienste sollen personell und materiell aufgestockt werden. Dabei sollen „Sicherheit und Sauberkeit“ zusammen gedacht werden – was wirklich nicht gesund klingt. Doch trotzdem hat die SPD Kleinigkeiten als Gewinne darzustellen. Das 29-Euro-Ticket (Tarifbereich AB) bleibt erhalten. Die CDU wollte noch den Berliner Mindestlohn und das Antidiskriminierungsgesetz abschaffen. Und auch in diesem Koalitionsvertrag steht erneut (!), dass die Tochterunternehmen der Berliner Krankenhäuser wieder eingegliedert werden sollen.

Koalitionsverhandlungen und Widerstand

Bis Anfang April soll ein Koalitionsvertrag vorgelegt werden. In 13 Fachgruppen wird verhandelt. Und diese haben es in sich, denn Lobbyist:innen sind hier fast überall dabei. Nachdem bekannt wurde, dass Tanja Böhm, die Leiterin von Microsoft Berlin, aus der Fachgruppe zur Digitalisierung ausgestiegen ist, wurde die Büchse der Pandora geöffnet. So ist beispielsweise in der Gruppe zu Gesundheit und Pflege Delia Strunz, ihres Zeichens Cheflobbyistin vom Pharmariesen Johnson & Johnson (Coronaimpfstoff). Daneben sitzt der Vorstand der Barmer Krankenkasse im Gremium. In der Verkehrs-AG sitzt der Bevollmächtigte für die Bundesländer Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern der DB-AG, Alexander Kaczmarek, ein Anhänger der S-Bahnzerschlagung.

Doch hiergegen regt sich Widerstand. Am Samstag, dem 18. März, fand eine Demonstration unter dem Titel „Rückschrittskoalition stoppen“ statt. Laut Veranstalter:innen nahmen etwa 2000 Menschen teil. Das Bündnis hatte sich in Reaktion auf die Sondierungsergebnisse gegründet und umfasst neben Einzelpersonen stadtpolitische, klimapolitische, antirassistische und migrantische Organisationen sowie die Jugendorganisationen von LINKEN und Grünen. Auch die Berliner Jusos haben sich gegen eine Beteiligung an Schwarz-Rot ausgesprochen und organisieren eine NoGroKo-Kampagne.

Die Aktionen richten sich vor allem an die 19.000 Berliner SPD-Mitglieder. Diese sollen Anfang April per Briefwahl über die Senatsbeteiligung abstimmen können – etwa 25 % davon sind Teil der Jusos, also unter 35 Jahren. Eine Auszählung der Stimmen wird am 23. April stattfinden. Bis 20. März hatten bereits drei der zwölf Kreisverbände sich gegen eine Beteiligung an der Koalition ausgesprochen (Neukölln, Tempelhof-Schöneberg und Steglitz-Zehlendorf (!)). Im Parteivorstand sprachen sich 25 Personen für und 12 gegen Koalitionsverhandlungen mit der Union aus. Sollte die Parteimehrheit für Beteiligung stimmen, so könnte Kai Wegner am 27. April Berlins Regierender Bürgermeister werden. Die CDU will über die Frage der Koalition auf einem Landesparteitag entscheiden.

GroKo bekämpfen, aber wie?

Es ist ein Fortschritt, dass sich Widerstand formiert. Aber auch 2017 gab es den in der SPD gegen die Regierungsbeteiligung (auf Bundesebene). Auch beim Volksentscheid von DWE waren es die Jusos Pankow, die für eine Enteignung ab 20 Wohnungen eintraten! Doch weiterhin sind sie die Parteijugend der Sozialdemokratie. Der Kampf muss auch außerhalb der Urabstimmung geführt werden. Andererseits hat der Protest einen faden Beigeschmack, denn bereits Rot-Grün-Rot hat die Polizei ausgebaut, die Bahn zerschlagen, runde Tische mit der Immobilienlobby initiiert, Obdachlosencamps geräumt, abgeschoben, Demonstrationen zusammenknüppeln lassen und so vieles mehr. Rot-Grün-Rot hat sich als unfähig erwiesen, die sozialen Probleme der Berliner:innen zu lösen. Und schlussendlich schafft der Widerstand in der LINKEN eine gemeinsame Gegnerin, die „Giffey-SPD“, wie sie Katina Schubert nennt (LINKE-Landesvorsitzende). Jene Kräfte, die also den Kampf der Regierungsbeteiligung untergeordnet haben, sind nun verwundert, dass die SPD sich dadurch nicht nach links bewegt hat. Ein solcher falscher Frieden ist ein weiterer Fallstrick im Niedergang der LINKEN und eine Nebelkerze, die den Aufbau einer Fraktion der Linken in der LINKEN zu verhindern droht.




USA: Zwischenwahlen zeigen Notwendigkeit einer unabhängigen Arbeiter:innenpartei

Andy Yorke, Infomail 1205, 1. Dezember 2022

Die Zwischenwahlen in den USA am 8. November waren ein Schock für die Kommentator:innen, die Präsident Biden und der Demokratischen Partei eine Katastrophe voraussagten. Tatsächlich war der Umschwung gegen die etablierte Partei so gering wie seit vielen Jahren nicht mehr, obwohl Biden in den Meinungsumfragen rekordverdächtig unbeliebt ist.

Die von Ex-Präsident Trump vorhergesagte „rote Welle“ zugunsten der Republikanischen Partei blieb aus. In der Tat haben viele der von ihm unterstützten MAGA-Kandidat:innen (Make America Great Again) verloren oder deutlich unterdurchschnittliche Ergebnisse erzielt. Vielmehr kam es in beiden Parteien zu einer Verschiebung in Richtung „Mitte“. Biden ist sicherlich in seiner Fähigkeit geschwächt, den Großteil seiner innenpolitischen Agenda durch das Repräsentantenhaus zu bringen, aber die Zwischenwahlen waren eine weitaus schwerwiegendere Niederlage für Donald Trump und den von ihm unterstützten rechtspopulistischen Flügel.

Seine Erklärung über seine Kandidatur für 2024 war dementsprechend schwach und schlecht gelaunt. Er drohte seinem republikanischen Mitstreiter Ron DeSantis, der einen Erdrutschsieg bei der Wahl zum Gouverneur von Florida erzielte, mit Enthüllungen, die seine Chancen irreparabel beeinträchtigen würden.

In der Republikanischen Partei zeichnet sich nun ein wahrer Bürger:innenkrieg ab. DeSantis lehnt Trump als Person ab, nicht aber seinen Rechtspopulismus, wie seine Reden zeigen. Dies wird durch sein Eintreten für ein Anti-Woke-Gesetz (soll Gutheißen oder Billigung bestimmter Unterrichtsinhalte durch staatliche Lehrkräfte verhindern) untermauert. Mit dem reaktionären Vorstoß soll das Gutheißen oder die Billigung bestimmter Unterrichtsinhalte durch staatliche Lehrkräfte verhindert werden, so zum Beispiel das Aufgreifen von Lehren der „Critical Race Theory“. Jedes Eingeständnis der rassistischen Vergangenheit und Gegenwart Amerikas soll faktisch aus dem Unterricht verbannt werden.

Auf der anderen Seite gingen Biden und die rechte und mittlere Seite der Demokrat:innen gestärkt aus der Wahl hervor und konnten sich gegen jede ernsthafte Herausforderung von links um Sanders oder Alexandria Ocasio-Cortez und neben dieser den anderen 3 Mitgliedern der „Squad“ (Truppe) – Ilhan Omar, Ayanna Pressley, Rashida Tlaib – behaupten. Sicherlich spielte das Thema Abtreibung der Demokratischen Partei in die Hände und ermöglichte es ihnen, den Vorteil zu überwinden, den die Republikanische Partei in Bezug auf die sich verschlechternde Wirtschaftslage (8 – 9 % Inflation) zu besitzen glaubte.

Jacobin, die Website der Demokratischen Sozialist:innen Amerikas (DSA), lobt in den höchsten Tönen den Sieg von John Fetterman in Pennsylvania als Ergebnis einer starken Wahlkampfunterstützung durch den Gewerkschaftsverband Change to Win und die Aktivist:innen der Lehrer:innengewerkschaft von Pennsylvania; ein Beweis für die immer noch aktiven Verbindungen zwischen den Gewerkschaften und der Demokratischen Partei. Fetterman vertritt in der Tat relativ progressive Ansichten zu Themen wie der Legalisierung von Cannabis, Abtreibung und einem Mindestlohn von 15 US-Dollar. Aber er prangerte auch den Slogan „Defund the police“ (Keine Finanzierung der Polizei) als „absurd“ an, er erklärte, er werde „hart gegen China“ vorgehen, und er sprach sich für Fracking aus. Er ist bestenfalls ein Mitte-Links-Populist.

Zwischen den kapitalistischen Parteien

Trotz alledem bleiben die amerikanischen Arbeiter:innen, insbesondere diejenigen, die sich an der anhaltenden Streikwelle und den gewerkschaftlichen Organisierungsbestrebungen beteiligen, in dem nicht enden wollenden Wahlzyklus zwischen den beiden kapitalistischen Parteien gefangen, mit einem weiteren zweijährigen Kampf, um Trump oder DeSantis aus dem Weißen Haus und die Konzerndemokrat:innen an der Macht zu halten. Sie können die Ausrede eines festgefahrenen republikanischen Repräsentantenhauses und rechter Demokrat:innen wie Joe Manchin im Senat nutzen, um all die eher arbeiter:innenfreundlichen Versprechen aus Bidens Manifest für 2020 über Bord zu werfen.

Sanders und der linkspopulistische/demokratische sozialistische Flügel drängten auf mehr „wirtschaftliche Botschaften“, die für die Arbeiter:innen attraktiv sein sollten, um die Wahlkampfspots zu ergänzen, die sich auf die Abtreibung konzentrierten – eine versteckte Kritik, dass Biden nicht radikal genug sei. Aber in Wirklichkeit wird die Wirtschaftspolitik der Demokratischen Partei immer die Interessen der Hochfinanz und des Großkapitals in den Vordergrund stellen. Das hat sie schon immer getan, selbst unter der stark mythologisierten Roosevelt-New-Deal-„Koalition“ mit Gewerkschaftsbürokrat:innen und Bürgerrechtsführer:innen. Nur ein unabhängiger Klassenkampf, das Gespenst der Revolution, könnten der herrschenden Klasse radikale Reformen abtrotzen, nicht das fein austarierte politische System und die Hoffnung auf kleine Fortschritte.

Doch die Mehrheit der reformistischen Linken in den USA, allen voran die DSA und die Zeitschrift Jacobin, wollen Arbeiter:innen, Frauen, ethnische Minderheiten und Jugendliche in der Tretmühle der Wahlpolitik halten, indem sie für die Demokratische Partei stimmen und in vielen Fällen auch für sie kandidieren, die zweite Partei des US-Kapitalismus, in der die Spenden der Unternehmen diejenigen der Gewerkschaften in den Schatten stellen, die nur einen weiteren Minderheitenstatus bekleiden.

Das Sanders-Experiment – das zweimal, 2016 und 2020, durchgeführt wurde – hat bewiesen, dass eine „politische Revolution gegen die Milliardär:innenklasse“ nicht durch die Demokratische Partei stattfinden kann, obwohl das Organisationsgremium, das Demokratische Nationalkomitee, die mächtigste und am besten platzierte Herausforderung für ihre Autorität seit Jahrzehnten enthält.

Ein Teil der Jakobiner:innen und einige kleine linke Fraktionen sagen, sie wollen einen „schmutzigen Bruch“ mit der Demokratischen Partei und schließlich eine Arbeiter:innenpartei aufbauen. Wahl für Wahl verzögern sie jedoch die tatsächliche Umsetzung dieser Strategie. Ihr jüngster Vorschlag besteht darin, Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez aufzurufen, diesen Bruch anzuführen, trotz der offensichtlichen Tatsache, dass sie jetzt mehr denn je in der DP integriert sind.

Eine Strategie des „sauberen“ Bruchs bedeutet andererseits, alle Befürworter:innen einer wirklichen Unabhängigkeit zugunsten der Arbeiter:innenklasse zu vereinen, um bei den kommenden Bundesstaats- oder Kommunalwahlen und im Jahr 2024 Arbeiter:innen- und/oder sozialistische Kandidat:innen zu unterstützen. Dies sollte innerhalb der DSA und in den Gewerkschaften verfolgt werden, aber auch die radikalen Aktivist:innen unter den Kämpfer:innen für die Rechte von Frauen, Farbigen, Klimagerechtigkeit usw. einbeziehen.

Es bedeutet, dies auf der Grundlage eines kämpferischen Aktionsprogramms zu tun, um eine unabhängige Arbeiter:innenpartei mit allen laufenden Auseinandersetzungen zu verbinden, einschließlich der Kämpfe gegen Rassismus und die populistische Rechte und ihre faschistischen Ränder. Das Ziel sollte sein, entweder einen DSA-Konvent 2023 zu gewinnen, um ein solches Programm zu verabschieden und einen sofortigen Bruch mit der Demokratischen Partei zu beschließen, oder einen Kongress all derer einzuberufen, die dazu bereit sind.




Wahlen in Brasilien – der Kampf geht in eine neue Etappe

Markus Lehner, Neue Internationale 268, Oktober 2022

Seit fast einem Jahrzehnt befindet sich die brasilianische Wirtschaft in der Krise. Das einstige „Schwellenland“ wird von Stagnation, Inflation und Arbeitslosigkeit gebeutelt. Weit über die offiziellen Zahlen hinaus sind über 50 Millionen Brasilianer:innen ohne Arbeit, weitere mehr als 30 Millionen prekär beschäftigt – für einen großen Teil der brasilianischen Bevölkerung ist das tägliche Überleben damit zur Hölle geworden.

Diese Situation hat sich durch den teilweisen Zusammenbruch des Gesundheitssystems während der Pandemie noch verschärft. Nicht nur, dass über 700.000 Menschen im Gefolge von Corona gestorben sind, haben sich durch die praktisch nicht vorhandene Pandemiepolitik die Arbeitsausfälle so gehäuft, dass auch wirtschaftlich ein schwerer Einbruch erfolgte. Zu dieser ökonomischen, sozialen und gesundheitspolitischen Krise kommt die Verschärfung der ökologischen, die neben der wahnwitzigen Abholzung im Amazonas-Regenwald auch vermehrt zu durch den Klimawandel bedingten Katastrophen führt. Die soziale Spaltung in Brasilien betrifft auch verstärkt Indigene, Nicht-Weiße, Frauen und LGTBIAQ+-Menschen, die nicht erst seit der Bolsonaro-Regierung unter verstärkten Angriffen auf ihre Rechte leiden.

Politische Dauerkrise

Zu dieser Gemengelage gesellt sich seit dem Sturz der letzten PT-Regierung (Partido dos Trabalhadores; Partei der Arbeiter:innen) die politische Krise. Das mit dem „Übergang“ von der Militärdiktatur in den 1980er Jahren geschaffene politische System funktioniert nur durch ein komplexes Geflecht an politischen Parteien, die über mehr oder weniger offene Korruption mit den unterschiedlichen Kapitalgruppen verbunden sind. Über diese Form der „Kooperation“ wird ihre Unterstützung für Regierungen vermittelt.

Während des Wirtschaftsaufschwungs der frühen 2000er Jahre war die PT unter Lula in der Lage, für eine gewisse Zeit die Arbeiter:innenklasse in dieses System einzubinden und somit die sozialen, ökologischen und politischen Konflikte zu kanalisieren. Weil sie im Gegensatz zu den meisten offen bürgerlichen Parteien über eine Massenorganisation verfügte, war sie unter Kontrolle einer reformistischen Führung sogar eine gewisse Stabilitätsgarantin für den brasilianischen Kapitalismus.

Mit Beginn der Krise zwischen 2012 und 2015 setzte die Bourgeoisie jedoch zunehmend auf den Bruch mit der PT und eine neoliberale Radikalkur. Der Putsch gegen Dilma ermöglichte unter Temer „Reformen“ der Arbeitsbeziehungen (weitgehende Informalisierung der Arbeitsverträge), Austrocknung der öffentlichen Haushalte (Verankerung von Schuldenbremsen in der Verfassung) und eine Beschleunigung von Privatisierungen. Die Unbeliebtheit Temers und die wachsende Protestbewegung drohten, 2018 die PT wieder an die Macht zu bringen – worauf die Bourgeoisie auf die Karte des Rechtspopulismus in Gestalt des bis dahin unbedeutenden Rechtsaußen Jair Bolsonaro setzte.

Bolsonaro und die Bourgeoisie

Auch wenn die Ideologie Bolsonaros und seine Rhetorik Anklänge an den Faschismus aufweisen, so hatte er bei der Wahl keine Massenbewegung und faschistische Milizen in einer Zahl hinter sich, die notwendig gewesen wäre, um tatsächlich ein faschistisches Regime zu errichten. Auch wenn Kräfte im bewaffneten Staatsapparat seine rechte Politik unterstützen und auch in der Regierung die Zahl der Militärs anstieg, so wurde doch in Brasilien keine faschistische Diktatur errichtet, die die Arbeiter:innenbewegung insgesamt zerschlägt und atomisiert, auch wenn die wachsende Zahl an repressiven Aktionen und politischen Morden nicht verharmlost werden darf.

Die Regierung Bolsonaro war zudem durch große Widersprüche zwischen den verschiedenen bürgerlichen Kräften geprägt, die dieses Regime unterstützen. Der Rechtsaußen war nie in der Lage, diese divergierenden Interessen und Machtzentren zu einer einheitlichen Politik zu formen. Das Ergebnis war ein absurdes Chaos von halbherzigen Maßnahmen, die ihren Gipfel in der völlig wirren Coronapolitik fanden. Es ist kein Wunder, dass auch große Teile der Bourgeoisie inzwischen Bolsonaro nicht mehr als Präsidenten haben wollen. Im Vorlauf zur Präsidentenwahl kam es bei einschlägigen Meetings von Unternehmer:innen und Vertreter:innen der US-Administration zu eindeutigen Stellungnahmen gegen eine erneute Präsidentschaft Bolsonaros, die zunächst in der Suche nach einem/r „dritten“ Kandidat:in mündeten. Als dies scheiterte, kam die PT wieder ins Spiel.

Nach dem Dilma-Putsch wurde versucht, die PT auszugrenzen, wenn nicht gar zu zerschlagen. Zentral dabei waren der Prozess und die Inhaftierung von Lula. Als wenn die Korruption nicht im Zentrum des politischen Systems des Kapitalismus in Brasilien stünde, wurden die PT und allen voran Lula zu ihrem Zentrum erklärt und ihr dafür stellvertretend der Prozess gemacht („Lava Jato“-Prozesse, benannt nach der sog. Autowaschaffäre). Doch die PT überlebte und blieb sogar Kern von Protesten gegen die Temer-Reformen und ihre Fortsetzung unter Bolsonaro.

PT, Lula und Alckmin

Die PT und der von ihr geführte Gewerkschaftsdachverband CUT erwiesen sich auch als wichtig, um die wachsenden Massenproteste zu kanalisieren und wieder in Richtung Alternativen bei Wahlen zu lenken. Die Angst vor weiteren Protesten und die Unzufriedenheit mit Bolsonaro führten die Bourgeoisie wohl dazu, die PT wieder als Teil der Lösung ihrer Probleme zu sehen. Plötzlich wurde „entdeckt“, dass bei den Prozessen gegen Lula Unregelmäßigkeiten passiert waren. Das oberste Gericht annullierte seine Verurteilung und stellte seine vollen politischen Rechte wieder her.

Lula begann danach, sofort die Karte des „Anti-Bolsonaro“ zu spielen. Unter dem Motto, dass es vor allem darauf ankomme, eine weitere Präsidentschaft Bolsonaros zu verhindern, sollte es oberstes Ziel der PT und ihrer Unterstützer:innen sein, nicht auf die Straße zu gehen, sondern ein „breites Bündnis“ für die kommende Präsidentschaftswahl zu schmieden. Für dieses fand sich denn auch einer der wichtigsten Vertreter der brasilianischen Bourgeiosie, Geraldo Alckmin, als „running mate“ für die Kandidatur zur Präsidentschaft (für die nun die Liste Lula-Alckmin von der PT unterstützt wird).

Alckmin ist nicht nur einer der prominentesten Politiker der wichtigsten Partei der brasilianischen Bourgeoisie, der PSDB (auch wenn er formell für die Wahl zu einer kleineren bürgerlichen Partei übergetreten ist). Er war für diese nicht nur 2006 Präsidentschaftskandidat gegen Lula, sondern auch langjähriger Gouverneur der wichtigsten Region Brasiliens, Sao Paulo. In Sao Paulo unterdrückte er nicht nur auf brutale Weise Streiks (wie den großen Lehrerstreik) und Demonstrationen (wie die gegen Preiserhöhungen im öffentlichen Verkehr), er war auch Mitverantwortlicher für das „Pinheirinho-Massaker“ bei der Zwangsräumung einer der größten Favelas in der Region. Alckmin ist nicht nur als Wirtschaftsliberaler bekannt, er bringt auch eine entsprechende Koalition von Parteien (oder besser gesagt Abgeordneten) in das „breite Bündnis“ ein, die letztlich bei einer Regierung Lula-Alckmin die wesentlichen politischen Linien vorgeben werden (d. h. ohne die die PT nicht die Spur einer Mehrheit im Kongress haben würde). Zudem verkörpert Alckmin als Vizepräsident wieder die Möglichkeit, im Ernstfall den Dilma-Putsch diesmal gegen Lula durchzuführen.

Polarisierung und Putschgefahr

Die Wahl ist klar zwischen Lula/Alckmin und Bolsonaro polarisiert. Andere Kandidat:innen werden es nicht in den zweiten Wahlgang schaffen, sollte Lula nicht sowieso schon im ersten Wahlgang gewinnen. Natürlich stellt eine zweite Amtszeit von Bolsonaro eine große Bedrohung dar, da er inzwischen beachtliches repressives Potenzial angesammelt hat. Er hat seine Stellung im Staatsapparat und gegenüber den bewaffneten Organen genutzt, um nicht nur dort seine Anhängerschaft auszubauen, sondern auch große bewaffnete Unterstützerorganisationen aufzubauen (von pensionierten Militärpolizist:innen, über Jägervereine, bis zu Biker:innen und bewaffneten Milizen der Agrobosse). Ein Sieg Bolsonaros würde daher sicherlich eine Steigerung der Repression bedeuten.

Für den wahrscheinlichen Fall einer Wahlniederlage wird jetzt von immer abenteuerlicheren Putschdrohungen aus dem Bolsonaro-Lager berichtet. Ein solcher Putsch wäre angesichts der mangelnden Unterstützung durch große Teile der Bourgeoisie und der US-Administration zwar tatsächlich reines Abenteurertum – ist aber deswegen nicht ausgeschlossen. Gegen diese rechte Gefahr muss die Arbeiter:innenklasse ihre Einheitsfront aufbauen und sie mit ihren Mitteln bekämpfen (inklusive dem Aufbau von Selbstverteidigungskräften und eigenen Milizen). Sollte es tatsächlich zu einem Putsch und einer folgenden Repressionswelle kommen, müsste sofort eine Massenbewegung bis hin zum Generalstreik diesen sofort zu Fall bringen. Es wäre hier fahrlässig, auf die „demokratischen“ Teile in Armee, Parteien, Gerichten und Staatsapparat zu setzen (wie jetzt in den verschiedenen offenen Briefen suggeriert wird). Die Gefahr eines solchen halbfaschistischen Putsches könnte nur durch entschlossene Massenaktion gestoppt werden. Diese würde zugleich die Allianz von PT und CUT mit der Bourgeoise massiv unter Druck bringen, weil Alckmin ganz sicher keine bewaffneten Selbstverteidigungseinheiten der Arbeiter:innenklasse auf der Straße sehen will.

Volksfront und Wahltaktik

Eine Lula/Alckmin-Regierung dagegen würde tatsächlich eine Fortsetzung der Temer’schen „Reformen“ bedeuten. Auch wenn Lula eine Revision der Arbeitsmarkt- und Haushaltsdekrete verspricht, ist angesichts seines Bündnisses klar, dass dies höchstens Kosmetik bleiben wird. Dies betrifft auch die Fortsetzung der Privatisierungspolitik und lässt angesichts der Haushaltslage auch keine wesentliche Verbesserung der Sozialleistungen für die Millionen von notleidenden Brasilianer:innen erwarten. Angesichts der zu erwartenden weiteren Verschlimmerung der wirtschaftlichen und ökologischen Krise wird somit die Enttäuschung über die nächste Lula-Präsidentschaft sehr schnell einsetzen.

Mit Lula als Präsident werden zugleich die PT und die CUT wachsende Massenproteste noch weiter zurückzuhalten versuchen. Wenn es dann der Linken nicht gelingt, eine alternative Führung zu PT/PCdoB aufzubauen, wird der Massenunmut notwendigerweise wiederum den rechtsextremen Rattenfänger:innen in die Hände spielen (ob mit Bolsonaro, seinen Söhnen oder welchem Clown auch immer an der Spitze).

Wie Trotzki schon an Hand der Volksfront in Frankreich in den 1930er Jahren nachgewiesen hat, stellen diese und ihr Elektoralismus samt bürgerlicher Koalitionspolitik die beste Vorbereitung für die nächste Welle der rechten Mobilisierung bis hin zum Faschismus dar. Für Volksfronten als solche kann es daher niemals auch nur eine kritische Wahlunterstützung geben. Das trifft aber wie in Frankreich in den 1930er Jahren natürlich nicht für die Kandidat:innen der reformistischen Parteien in der Volksfront zu, sofern deren Wahl möglich ist, ohne die offen bürgerlichen gleich mitzuwählen. Revolutionär:innen können daher nicht für die Liste Lula/Alckmin bei den Präsidentschaftswahlen stimmen, weil diese nur im Paket ankreuzbar ist. Eine Stimme für Lula/Alckmin kommt daher unwillkürlich nicht nur einer für Lula, sondern auch für den bürgerlichen Kandidaten, also die gesamte bürgerliche Koalition, gleich.

Anders verhält es sich mit einzelne Kandidat:innen der PT, aber auch der mit ihr verbündeten PCdoB oder der PSOL für Sitze im Kongress. Für die Wahl dieser Kandidat:innen fordern wir ihre Wähler:innen jedoch auf, sie zum Bruch mit der bürgerlichen Koalition, zum Widerstand gegen die neoliberale Regierungspolitik unter welcher Führung auch immer und zur Unterstützung der Massenproteste gegen Krise und rechte Gefahr zu zwingen. Wir fordern von PT, PCdoB, PSOL und CUT, eine Minderheitsregierung gestützt auf die Mobilisierung ihrer Anhänger:innen zu bilden.

Brasilianische Linke

Die brasilianische Linke hat eine intensive Auseinandersetzung mit der Kandidatur Lulas hinter sich. Ausgehend von den Kampagnen zu seiner Befreiung haben sich nach seiner Entlassung bald Initiativen zu „Lula Presidente“ gebildet, die das mit Massenprotesten und einer reinen PT-Kandidatur verbinden wollten (z. B. so die PCO). Tatsächlich war dies auch geeignet, um dann gegen die sich abzeichnende Lula/Alckmin-Liste Widerstand in der PT und den anderen Parteien (insbesondere der PSOL) zu entfalten. Dieser fand tatsächlich breite Resonanz, wurde jedoch letztlich durch die undemokratischen Manöver von Parteiapparat und Lula selbst umgangen und kaltgestellt.

In der PSOL trat deren bekannteste Führungsfigur, Guilherme Boulos (ihr letzter Präsidentschaftskandidat und Kandidat als Gouverneur für Sao Paulo), sofort mit Begeisterung für die Unterstützung der Lula/Alckmin-Koalition ein. Doch in der Partei gab es beträchtlichen Widerstand, der auch in der Frage der Aufstellung einer eigenen Kandidatur kumulierte. So argumentierte eine der 25 Tendenzen innerhalb der PSOL, die „Esquerda Marxista“ (in der die Sektion der IMT aktiv ist), dass es gegen die Volksfront notwendig sei, im ersten Wahlgang eine/n eigene/n Kandidat:in aufzustellen – um dann im zweiten Wahlgang notwendigerweise gegen Bolsonaro für Lula/Alckmin, also auch für den offen bürgerlichen Kanidaten, zu stimmen. Die MAIS (aus der PSTU 2016 wegen deren Weigerung, gegen den Temer-Putsch zu mobilisieren, ausgeschlossen und heute eine PSOL-Tendenz) argumentierte dagegen, dass die Massenmobilisierungen zu schwach seien, und daher Lula/Alckmin zu wählen, zur Abwehr der faschistischen Gefahr nötig wäre. Letztlich wurde der Disput undemokratisch auf einer dazu eigentlich nicht legitimierten „Delegiertensitzung“ mit 35:25 Stimmen für die Lula-Unterstützung entschieden.

Als „linke Alternative“ zu Lula/Alckmin kandidiert jetzt vor allem (wie immer) die PSTU im Zusammenhang des „Revolutionär Sozialistischen Pols“. Die Kandidatinnen für die Liste (darunter mit Raquel Temembé die einzige indigene Vizepräsidentschaftskandidatin) haben im brasilianischen Wahlsystem keine Chance. Parteien, die nicht im Kongress vertreten sind, verfügen außerdem über keinen Zugang zu Medien und TV-Debatten. PCB und PU werden auch unter einem Prozent der Stimmen bleiben. Doch sind diese Parteien nicht nur ungenügend in der Klasse verankert (auch wenn die PSTU eine Rolle in den Gewerkschaften spielt), sie sind auch gegenüber den großen Illusionen der Massen in Lula und PT blind.

Dabei spielt die PT auch aufgrund ihrer Rolle in der CUT eine entscheidende Rolle in der Organisierung und Kanalisierung aller klassenbasierten Proteste in Brasilien. Damit werden bestimmte Teile der PT natürlich auch bei Protesten gegen eine Lula/Alckmin-Regierung dabei sein. Es kann daher nicht nur darum gehen, eine eigenständige, neue Partei aufzubauen (oder wie die PSTU sich als solche zu präsentieren), sondern man muss auch Taktiken entwickeln, die Massen von ihrer bisherigen Führung zu brechen. Daher ist es ein Fehler, solche schlecht verankerten Eigenkandidaturen (auf letztlich linksreformistischen Programmen) auch noch mit einer sektiererischen Position gegenüber der Wahl einzelner PT/TCdoB/PSOL-Kandidat:innen für die Kongresswahlen zu verbinden. Dies trifft auch auf die MRT (brasilianische Sektion der FT) zu, die zwar eine richtige Kritik an der Lula/Alckmin-Liste (und auch an der falschen „Faschismus“-Analyse eines großen Teils der linken Lula-Untersützer:innen) übt, aber als Wahlposition nur die Option der Unterstützung der PSTU sieht – und natürlich der Vorbereitung der Kämpfe nach der Wahl. Die MRT-Vision der Verbindung aller gegenüber Lula kritischen Kräfte von MRT, PSTU, PCB, PU ist in diesem Zusammenhang nicht nur unrealistisch, sondern verkennt auch, dass beträchtliche Teile der Aktivist:innen und Avantgardeelemente, die jetzt mit Bauchschmerzen Lula wählen, entscheidend sein werden für den Kampf um den Aufbau der Protestbewegung nach der Wahl.

Letzteres mussten wir auch in der Diskussion mit unserer eigenen Sektion erkennen. Auch wenn wir programmatisch bezüglich der zentralen Forderungen eines revolutionären Aktionsprogramms mit ihr vollkommen übereinstimmen, gibt es taktische Differenzen. Nachdem der Kampf gegen die Unterstützung der Lula/Alckmin-Liste in der PT und PSOL verloren war, stellte sie fest, dass ein überwältigender Teil der Arbeiter:innenavantgarde und der Vertreter:innen sozial Unterdrückter nunmehr trotz aller Bedenken zur Wahl von Lula/Alckmin entschlossen ist, um Bolsonaro zu verhindern. Hinzu kommt, dass in der polarisierten Situation die Gefahr eines „faschistischen Putsches“ in der Linken (vor allem durch die PT) so überzeichnet wird, dass alle, die nicht für Lula/Alckmin stimmen wollen, sofort als indirekte Unterstützer:innen von Bolsonaro gebrandmarkt werden.

So richtig die Erkenntnis ist, dass die aktuelle Polarisierung massenhafte Illusionen in die PT befördert hat und diese große Teile der Klasse wie der Avantgarde organisiert, so begingen unsere Genoss:innen den Fehler, für eine kritische Unterstützung von Lula-Alckmin einzutreten, auch wenn sie gleichzeitig vor dem sicheren Verrat einer solchen Regierung warnen und zum Kampf dagegen aufrufen. Aus den oben genannten Gründen halten wir eine kritische Wahlunterstützung für eine Volksfront für einen schweren taktischen Fehler. Nachdem sich diese Differenz nicht lösen ließ, legte die Liga Socialista ihre Mitgliedschaft in der Liga für die Fünfte Internationale als Sektion nieder. Wir hoffen allerdings, dass sich im Zuge der Auseinandersetzungen nach der Wahl diese Differenzen wieder lösen lassen, und wir unterhalten weiter geschwisterliche Beziehungen zu den Genoss:innen. Ungeachtet dieser Differenz unterstützen wir sie jedoch im Kampf gegen rechts und die schweren Auswirkungen der Krisen in Brasilien. Wir rufen dazu auf, den Kampf der brasilianischen Arbeiter:innen und Unterdrückten gegen Verelendung und faschistische Gewalt weltweit vor und nach der Wahl zu unterstützen.




USA: „Unsere“ Demokratie retten!??

Christian Gebhardt, Infomail 1199, 20. September 2022

Die Republikanische Partei ist darauf aus, „unsere“ Demokratie zu stürzen. Die bevorstehenden midterm elections (Zwischenwahlen) werden eine Wahl zwischen einer extremistischen Autokratie und der „besten Demokratie“ sein, die wir je auf Erden gesehen haben. Zumindest versucht die Demokratische Partei, uns das drei Monate vor den Zwischenwahlen im November weiszumachen. Aus Angst, ihre hauchdünne Mehrheit zu verlieren, verweisen die Demokrat:innen auf die Tatsache, dass immer mehr republikanische Vorwahlen auf den von Trump unterstützten und nicht auf den „gemäßigten“ Kandidaten hinauslaufen. Diese radikalen Anhänger:innen Trumps würden nicht nur eine Bedrohung für die demokratischen Rechte (z. B. Abtreibungsrechte oder die Homo-Ehe), sondern auch für die Demokratie als Ganzes darstellen.

Und da ist ein Körnchen Wahrheit dran. Die Ergebnisse der Vorwahlen zugunsten der Hardcore-Trumpanhänger:innen bei den kommenden Zwischenwahlen sind nicht nur ein Zeichen für den anhaltenden Einfluss des Trumpismus innerhalb der Republikanischen Partei, sondern auch ein Zeichen für einen anhaltenden Einfluss auf Politik und Gesellschaft, selbst nachdem Trump sein Amt niedergelegt hat. Die Republikanische Partei befindet sich mitten in einem Rechtsruck, der von einer Basis von Wähler:innen angeheizt wird, die an die „große Lüge“ des Wahlbetrugs glauben und Druck auf „gemäßigte“ Republikaner:innen ausüben, damit diese sich entweder vorerst zurückhalten oder ihre Politik ändern. In jedem Fall spricht dies für einen Rechtsruck der Republikanischen Partei, der für Revolutionär:innen nicht allzu überraschend kommt. Unabhängig davon, ob dieser Rechtsruck aus echter Überzeugung oder Opportunismus erfolgt, stellt er dennoch eine reale Bedrohung für viele demokratische Rechte der US-Arbeiter:innenklasse insgesamt dar: z. B. Angriffe auf Abtreibungsrechte, die Homo-Ehe, das Wahlrecht usw.

Insgesamt lässt sich die derzeitige Situation in den USA als eine Polarisierung charakterisieren, in der die extreme Rechte in Zusammenarbeit mit der christlichen Rechten immer mehr Einfluss gewinnt und bestimmte Punkte ihrer Agenda durchsetzen kann.

Aber wer sind diese „Gemäßigten“?

Die Demokratische Partei fordert die gemäßigten republikanischen Teile auf, zur Vernunft zu kommen und die Realität der derzeitigen Republikanischen Partei zu erkennen. Eine Person, die in diesem so genannten moderaten Haufen am beliebtesten ist, ist Liz Cheney, eine Politikerin, die in 93 % der Fälle für die Politik von Donald Trump gestimmt hat und nicht als Teil des „progressiven Flügels“, was immer dieser Begriff auch bedeuten mag, innerhalb der Republikanischen Partei bekannt war. Mit ihrer Verteidigung der härtesten Formen des wirtschaftlichen Neoliberalismus gegen die Arbeiter:innenklasse und von Waterboarding (Kopf unter Wasser Drücken) und anderer Folter als legitime außenpolitische Optionen hätte sie noch vor zwei Jahren von keinem Mitglied der Demokratischen Partei als „gemäßigt“ bezeichnet werden können.

Was hat sich also geändert? Cheney hat sich in die Herzen der Demokrat:innen gespielt, indem sie gegen Trumps Verwicklung in den Angriff auf den Kongress am 6. Januar Stellung bezog, ihre Rolle im Ausschuss „6. Januar“ übernahm und für Trumps zweites Amtsenthebungsverfahren stimmte. Obwohl dies wichtige politische Positionen gegen Trumps Form des Autoritarismus waren, können sie ihr früheres politisches Leben als Hardcorepolitikerin des rechten Flügels, die politisch genauso ruchlos war wie ihr berüchtigter Vater, der ehemalige republikanische Vizepräsident Dick Cheney, nicht vergessen machen.

Wahlstrategie der Demokratischen Partei für die Zwischenwahlen

Es stellt sich also die Frage: Warum loben die Demokrat:innen jetzt Cheney? Zwar könnten wir ihnen zugute halten, dass sie glauben, Liz Cheneys Politik hätte sich grundlegend geändert und sie sei nun eine respektvolle Verbündete. Doch selbst wenn die Demokrat:innen dumm genug sind, das zu glauben, deutet das eher auf ihre übergreifende, fehlgeleitete Strategie für die Zwischenwahlen hin, ein Thema, das viel wichtiger ist.

Cheney als gemäßigt darzustellen und sie und ihre Anhänger:innen aufzufordern, nach Gemeinsamkeiten zu suchen und diese zu stärken, bedeutet, dass die Demokrat:innen einerseits versuchen, Druck auf republikanische Gesetzgeber:innen auszuüben, damit diese entweder in bestimmten Fragen mit ihnen stimmen oder aus der Reihe tanzen und die Partei ganz wechseln. Andererseits beschwören sie diese republikanischen „Gemäßigten“ sowie Unabhängige und unentschlossene Wähler:innen, für die Demokratie, und das bedeutet genauer gesagt, für die Demokratische Partei zu stimmen.

Für uns Revolutionär:innen ist es wichtig festzustellen, dass die Arbeiter:innenklasse – wenig überraschend – in dieser Strategie keine Rolle spielt. Statt sich an der Arbeiter:innenklasse zu orientieren, um den Aufstieg der extremen Rechten und des Trumpismus in den USA zu bekämpfen, versuchen die Demokrat:innen, uns davon zu überzeugen, sich mit Leuten zusammenzutun, die für den politischen Rechtsruck, mit dem wir es zu tun haben, mitverantwortlich sind. Das demokratische Establishment nimmt zudem eine Haltung ein, die den Interessen der Arbeiter:innenklasse zuwiderläuft, indem es diese Debatte derzeit nutzt, um den progressiven Flügel innerhalb der Demokratischen Partei anzugreifen, weil er „zu radikal“ und in Wirklichkeit nicht besser als die radikalen Republikaner:innen sei – eine widerliche Form der Gleichsetzung „beider Seiten“. Auch wenn wir die politische Strategie dieses progressiven Flügels ebenfalls grundlegend ablehnen, sehen wir es als notwendig an, auf diesen Angriff hinzuweisen und die Mitglieder dieses Flügels aufzufordern, die richtigen Schlüsse zu ziehen und mit der Demokratischen Partei zu brechen!

Die bürgerliche Demokratie – der Klebstoff, der sie zusammenhält

Die DemokratIsche Partei verkündet natürlich nicht offen, dass ihre Strategie eigentlich nicht darin besteht, den Trumpismus im Namen der Arbeiter:innen zu bekämpfen. Sie behauptet, dass der Kampf für Demokratie der wichtigste sei und sich alle um ihn scharen sollten. Wer sich gegen die Demokratische Partei stellt, auch wenn er/sie von links kommt, gehört zum falschen Lager und ist es daher nicht wert, mit jenen Kräften zusammenzuarbeiten. Dieser Aufruf, „unsere Demokratie“ zu verteidigen, ist der Klebstoff, der diese Strategie zusammenhalten und die Aktivist:innen der Arbeiter:innenbewegung an die Demokratische Partei binden soll, auch wenn  diese nicht auf der Seite der Arbeiter:innenklasse steht.

Doch niemand erwähnt den Charakter dieser „Demokratie“. Sie wird als abstraktes, natürliches Gesetz dargestellt statt als das, was sie wirklich ist: ein Form der Demokratie, die der herrschende Klasse, der Bourgeoisie nützt! Eine gesellschaftliche Struktur, die dazu da ist, den Kapitalismus und seine zerstörerischen Kräfte zu beherrschen und zu verteidigen. Eine „Demokratie“, die die Krisenlast auf die Schultern der Arbeiter:innenklasse legt, während sie dafür sorgt, dass die Profite für die Kapitalist:innen weiter fließen. Kurz gesagt, eine Demokratie, die wir als Revolutionär:innen überwinden und durch eine Arbeiter:innendemokratie und einen Arbeiter:innenstaat ersetzen wollen! Einen Staat, der wirklich vom Volk und für das Volk geführt wird und nicht durch ein Marionettenspiel, das die Kapitalist:innen vollständig begünstigt.

Wir brauchen eine Arbeiter:innenpartei!

Der Kampf für eine abstrakte Demokratie, in Wirklichkeit einer für eine bürgerliche Herrschaftsform, liefert keine Option für US-Arbeiter:innen. Anstatt innerhalb der Demokratischen Partei zu arbeiten und versuchen, für fortschrittlichere Positionen und Einfluss innerhalb einer Partei zu kämpfen, die sie nicht will – wie Bernie Sanders, die DSA oder Vertreter:innen wie die Squad uns glauben machen wollen –, brauchen wir einen offenen und sauberen Bruch mit der Demokratischen Partei. Dieser sollte zu einer Arbeiter:innenpartei führen, einer Partei, die wirklich die Perspektive der Arbeiter:innenklasse und ihre Kämpfe in den Vordergrund stellt, nicht nur, wenn es darum geht, mehr Einfluss oder Stimmen bei Wahlen zu gewinnen, sondern die auch die täglichen Kämpfe der arbeitenden Menschen in den USA führen kann. Eine Partei, die sich mit den laufenden Streikwellen, den Kämpfen gegen die Abschaffung der reproduktiven Rechte, der Wahlrechtsbeschränkungen, der Homo-Ehe und all den anderen Angriffen auf die demokratischen Rechte, die derzeit stattfinden, befasst. Eine Partei, die eine Koalition aus Vertreter:innen all unserer aktuellen Kämpfe für einen vereinten Gegenschlag bilden wird. Eine Partei, die den Arbeiter:innen endlich die Möglichkeit gibt, über ihre Politik und ihr politisches Programm selbst zu entscheiden.

Organisationen wie die Demokratischen Sozialist:innen Amerikas oder das Arbeiter:innennetzwerk Labor Notes sollten eine solche Initiative anführen und lokale Zweigstellen bilden, um eine Struktur für eine politische Debatte zu schaffen, die sich auf die Ausarbeitung eines Programms und eines Kampagnenplans konzentrieren sollte. Diese Debatten sollten nicht nur die Basisorganisationen der Arbeiter:innenklasse einbeziehen, sondern auch die Gewerkschaften auffordern, sich zu beteiligen, ihre Verbindungen zu der Demokratischen Partei zu lösen und sich einer solchen Initiative mit voller Kraft anzuschließen. Auch wenn wir wissen, dass sich die Gewerkschaftsführung nicht freiwillig an einer solchen Initiative beteiligen oder sie gegebenenfalls sabotieren wird, sollten wir zu ihrer Beteiligung aufrufen. Auf diese Weise wird  der Mitgliedschaft der faule Kern der Gewerkschaftsführung vor Augen geführt und liefert uns die perfekten Argumente, um mit ihr zu brechen und sich unserer Sache anzuschließen.

Wir Revolutionär:innen müssen uns in einer solchen Initiative engagieren und für eine revolutionäre Perspektive kämpfen. Wir sollten uns als revolutionäre Strömung innerhalb einer solchen Initiative organisieren, basierend auf einem revolutionären Aktionsprogramm. Wir argumentieren für dieses Programm und versuchen, so viele Mitglieder wie möglich zu sammeln, um für dieses Programm sowohl innerhalb als auch außerhalb der Partei zu kämpfen. Eine solche Taktik würde unweigerlich zu zwei möglichen Ergebnissen führen: Entweder wir gewinnen am Ende die Mehrheit der Partei für unser revolutionäres Programm und schaffen so eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei, oder sie führt zu einer offenen Spaltung innerhalb der Initiative mit reformistischen und zentristischen Kräften. Eine Spaltung, die jedoch eine stärkere und gezieltere revolutionäre Organisation in den USA hervorbringen würde. Eine Organisation, die es uns Revolutionär:innen ermöglichen würde, in den aktuellen Kämpfen der Arbeiter:innenklasse mit einer stärkeren Stimme für unsere revolutionären Ideen zu streiten, z. B.: die Notwendigkeit der Überwindung der bürgerlichen Demokratie durch die Einführung der Arbeiter:innendemokratie und Bildung eines Arbeiter:innenstaates!