Russische Föderation: Bonapartistische Wahlfarce

Frederik Haber, Infomail 1250, 8. April 2024

Wenn es eine Steigerung des alten Witzes „Wenn Wahlen etwas bewirken würden, wären sie verboten“ gäbe, dann „Dieses Jahr stellte sich Putin zur Wiederwahl als Präsident der Russischen Föderation“.

Natürlich wurde der Präsident wiedergewählt, alles war dafür getan worden. Ob es 88,5 % sind, mehr oder weniger ändert für die meisten Betrachter:innen nichts, ebenso wenig die Zahlen für die Mitbewerber:innen. Aber die Wahlen verraten etwas über das System Putin und das ist interessant für alle, die auf Veränderungen in der Russischen Föderation hoffen oder dafür arbeiten. Das sind sehr unterschiedliche Kräfte mit sehr verschiedenen Zielen. Wir gehören dazu, aber auch die Führer:innen der westlichen Imperialistischen Staaten, unsere stärksten Feind:innen also.

Das „System Putin“

Anders als für die meisten Beobachter:innen ist für Putin eine hohe Zustimmung bei der Wahl sehr wichtig. Auch wenn er gerne und oft als „Diktator“ bezeichnet wird – er macht es nicht so wie Selenskyj und setzt einfach die Wahlen aus, nein, er zeigt, dass er sich im Unterschied zu Letzterem solche leisten kann.

Putin hat seine Herrschaft, anders als viele Diktator:innen, auch nicht durch einen Militärputsch oder etwas Ähnliches erlangt, sondern er hat Wahlen gewonnen. Das Regierungssystem mit einem starken Präsidenten hat nicht er erfunden, sondern das geht vor allem auf Jelzin zurück, der als Präsident vor dreißig Jahren sogar das Militär einsetzte gegen den damals noch existierenden, (bereits unter Gorbatschow) demokratisch gewählten Volkdeputiertenkongress und den von ihm gewählten Obersten Rat, ihn beschießen ließ und mit Kanonen zur Kapitulation zwang.

Putins etablierte seine Macht in einer sehr prekären Konstellation am Ende der neunziger Jahre, als der jahrelange Präsident Jelzin und die radikalen Liberalisierer:innen mit aller Macht alles, was irgendwie an Sowjetunion, Planwirtschaft oder kollektives Eigentum erinnerte, zerschlagen hatten und mit den Reichtümern des Landes die neu entstandene Bourgeoisie fütterten. Das Land steckte Ende der 1990er Jahre in einer tiefen Wirtschaftskrise, es gab massenhafte Armut und Hunger. Die Arbeiter:innenklasse begann, sich mit großen Streiks zu wehren, während die neue Bourgeoisie ihre frisch gerafften Milliarden aus dem Land abzog.

In dieser Situation konnte eine einzelne Person sich über die kämpfenden Klassen und ihre Fraktionen erheben und unter der Parole „Einheit des Landes“ einen Weg weisen, der scheinbar allen dienen würde. Putin war der, der diese Rolle am besten ausfüllen konnte und dem es gelang, in der Russischen Föderation ein System zu etablieren, das nach dem berühmten napoleonischen Vorbild Bonapartismus genannt wird. Es war die historische Situation mit schwankenden, unsicheren Kräfteverhältnissen, die für die Herrschenden nach Putin verlangte. Hinzu kommt, dass Gorbatschow, Jelzin und die ganze neue Bourgeoisie zwar den degenerierten  Arbeiter:innenstaat der UdSSR zerschlagen (auf der Grundlange einer stalinistischen Bürokratie, die schon ab den 1920er Jahren begonnen hatte, die Arbeiter:innenklasse zu entmachten und die Bolschewistische Partei zu zerstören) und den Kapitalismus restauriert – aber das Problem nicht angegangen hatten, an welcher Stelle denn sich dieses Land wieder im imperialistischen Weltsystem einordnen würde.

Weichenstellung

In den ersten 10 – 15 Jahren seiner Herrschaft stellte Putin die Weichen dafür, dass Russland nicht wie von den westlichen Imperialist:innen vorgesehen eine letztlich untergeordnete Macht wurde, auch nicht nur – wie zur Zarenzeit – ein schwacher imperialistischer Staat, stark abhängig von Krediten und Technik europäischer Länder, sondern ein Staat wurde, der dank der wirtschaftlichen Entwicklung der Sowjetunion und seiner begehrten Bodenschätze zumindest über so viel wirtschaftliche und technische Ressourcen verfügt, dass er im Kampf um die Neuaufteilung der Welt dem weiterhin tonangebenden Welthegemon USA ganz schön in die Quere kommen kann.

Der Versuch Putins, Russland einen Platz unter den führenden imperialistischen Nationen zu verschaffen, war durchaus erfolgreich. Aber diese Politik fordert auch Opfer, um Militär und Interventionen zu finanzieren. Und in einem bürgerlichen Staat werden diese Kosten immer auf die arbeitenden Klassen abgewälzt – so wie dies (in sogar sehr viel geringerem Ausmaß im Vergleich zu ihren Leidensgenoss:innen in der RF) momentan auch die Arbeiter.innen und Bauern/Bäuerinnen in Deutschland zu spüren bekommen.

Die Kräftekonstellation, die Putin einst seinen Aufstieg erlaubte, besteht nicht mehr in derselben Form. Die Arbeiter:innenklasse hat ihre Kampfkraft verloren und die Bourgeoisie ist nicht mehr der kopf-und konzeptlose Haufen der 1990er Jahre, sondern hat ihre Herrschaft konsolidiert – nicht durch mehr oder weniger offenes Auskämpfen der Interessen der verschiedenen Fraktionen der Kapitalist:innen (was eine wesentlich Funktion der bürgerlichen Demokratie ist) , sondern durch die ordnende Hand des Staates, personifiziert durch Bonaparte Putin.

In den letzten Jahren konnte dieser immer weniger für das „ganze Volk“ handeln, weil er immer deutlicher für die Bourgeoisie steht. Je mehr Opfer er von der arbeitenden Bevölkerung fordert, Privatisierung und Verschlechterung von Bildung, Gesundheit, Renten usw. durchsetzte, umso  deutlicher muss seine Popularität jetzt inszeniert werden. Denn Bonapartismus erfordert Populismus, auch wenn Putin mit Privilegien für Kriegsveteran:innen und hohen Soldzahlungen an Kämpfer:innen sowie Steuererhöhungen für Reiche im Krieg auch wieder seine „soziale“ Seite aufpoliert. Natürlich aber erlaubt vor allem der zunehmende kalte und heiße Krieg eine zusätzliche Neubegründung der „Einheit der Nation“. Aber das ist ein riskantes Spiel: Verlorene Kriege sind wohl das Allerunpopulärste für jede Regierung.

Die Wahl

Von daher sollten die Wahlen in Russland ein riesiges Plebiszit abliefern. Putin trat bei der Wahl an als „unabhängiger“ Kandidat, nicht für seine Partei „Einiges Russland“. Er sammelte, (besser ließ sammeln) deshalb auch Unterstützer:innenunterschriften, was er als Kandidat seiner Partei nicht hätte zu tun brauchen. Aber auch ein Plebiszit sieht besser aus, wenn es Gegenkandidat:innen gibt, sofern garantiert ist, dass sie chancenlos sind. Die Gefährlichen werden nicht zugelassen, wie Nadeschdin oder beseitigt wie Nawalny. Insgesamt hatten 11 weitere Personen angekündigt zu kandidieren, zogen dann „freiwillig“ ihre Bewerbung teilweise selbst aber wieder zurück. Zugelassen wurden der „liberale“ Wladislaw Dawankow, Nikolai Charitonow für die KPRF und Leonid Sluzki für die rechtsnationalistische LDPR. LDPR und KPRF sind die Parteien, die seit Jahrzehnten verlässlich die Politik des Kreml unterstützen, vor allem seine Außen-und Kriegspolitik, aber auch seine Repression im Inneren.

Die KPRF geht dabei soweit, einerseits bekannte linke Personen auf ihren Listen kandidieren zu lassen wie die Dumaabgeordnete Udalzowa, dann aber nicht den kleinsten Protest zu erheben, wenn deren Mann Sergei Udalzow, wie vor kurzem geschehen, verhaftet wird. Kein Wort der Solidarität mit dem verurteilten Boris Kargalizki, der früher oft auch bei KPRF-Veranstaltungen als Redner geladen war, sondern die Rechtfertiung seiner Verhaftung damit, dass er ja „Trotzkist“ sei und vom Ausland finanziert werde (er hatte Honorare für Artikel in linken Zeitungen erhalten).

Dritter „Gegenkandidat“ für Putin war der ziemlich neu aufgetauchte Wladislaw Dawankow, der die Rolle des „Liberalen“ verkörpern sollte, mit der ebenfalls ziemlich sichtbar „von oben“ gegründeten Partei „Neue Leute“ (auch: „Neue Menschen“). Sie alle konnten und sollten nur dazu dienen, die Verhinderung gefährlicher Gegenkandidat:innen zu kaschieren und Putins Sieg zu dekorieren.

Das Ergebnis

  • Wladimir Putin (Parteilos): 88,5 %;

  • Nikolai Charitonow (KPRF): 4,4 %;

  • Wladislaw Dawankow (Neue Leute): 3,9 %;

  • Leonid Sluzki (LDPR): 3,2 %.

Über die Vorauswahl der Kandidat:innen durch die Zentrale Wahlkommission hinaus gibt es noch andere Gestaltungsmöglichkeiten. Wohl spezifisch für die Russische Föderation ist die Mobilisierung durch die staatliche Bürokratie: Staatliche Angestellte werden von ihren Vorgesetzten aufgefordert zu wählen, gegebenenfalls gemeinsam. Diese Vorgesetzten werden ihrerseits für eine hohe Wahlbeteiligung und die Zahl der Putinstimmen verantwortlich gemacht – vergleichbar vielleicht mit dem früher z. B. in Bayern geübten Brauch, nach dem Gottesdienst mit entsprechender priesterlicher Empfehlung gemeinsam zur Wahl der CSU zu gehen.

Das interessanteste Ergebnis bleibt unter diesen Wahlbedingungen noch die Anzahl der ungültigen Stimmen. Das Wahlgesetz der Russischen Föderation ignoriert Bemerkungen, Beleidigungen oder die Nennung anderer Namen. Ungültig ist eine Stimmeabgabe genau dann, wenn mehr als 1 Kästchen angekreuzt ist. Und genau das haben 1,37 Millionen mehr oder weniger bewusst getan. Die Oppositionskoalition „Sprawedliwyj mir“ (deutsch: „Mach die Welt“) hatte auch dazu aufgerufen.

Westliche Demokratie

Als revolutionäre Kommunist:innen kritisieren wir die Wahlen und das dahintersteckende bonapartistische System, weil nach unserer Analyse klar ist, worauf Putins Autokratie politisch beruht und wie er sie institutionell absichert.

Das hat nichts mit der Polemik der westlichen demokatischen Demagog:innen zu tun, deren Ziel es ist, für ihren kalten Krieg gegen Russland, dessen Upgrade zu einem heißen sie derzeit  erwägen, eine ideologische Rechtfertigung zu suchen: Demokratie versus Diktatur; freie Wahlen gegen Scheinwahlen. Diese Demagogie dient – entsprechend der Putins – auch in erster Linie dazu, die eigene Bevölkerung und vielleicht noch die jeweiligen Verbündeten bei der Stange zu halten.

Bei objektiver Betrachtung des US-amerikanischen Präsidentschaftswahlsystems ist klar, dass dieses auch nur einen Schein von Demokratie trägt: ein Wahlsystem, das die Selbstregistrierung der Wähler:innen erfordert, eine willkürliche Streichung aus dem Register durch lokale Wahlkommissionen erlaubt und so schon 20 – 30 % der Wahlberechtigten – vor allem aus den sozialen Unterschichten und Unterdrückten – ausschließt; ein Wahlsystem, das den Einsatz von hunderten Millionen US-Dollar für eine Kandidatur erfordert und so die Kandidat:innen auf Personen beschränkt, die mindestens einen bedeutenden Teil der Kapitalist:innen hinter sich haben; ein Wahlmodus, bei dem man mit einer geringeren Stimmenzahl als die Konkurrenz gewinnen kann – all dies drückt mitnichten den Willen der Mehrheit aus (ein bisschen Fälschung an entscheidenden Punkten ist auch noch drin.) Der amerikanische Präsident legitimiert sich durch eine Konkurrenz, die zwar eine reale unter Fraktionen des Großkapitals darstellt, aber gegenüber dem Wahlvolk als Inszenierung von „Werten“ und „Lifestyle“ abläuft, gerade auch weil dieser Präsident immer ein Kandidat des Großkapitals – also einer winzigen Minderheit der Bevölkerung – ist.

Die Art und Weise, wie die Wahlen in der Russischen Föderation abgehalten wurden, und der Charakter des Putin’schen Bonapartismus zeigen einerseits auf, dass er noch den Staatsapparat so beherrscht, dass Wahlen nicht das Mittel sein werden, durch das sich dieses System verändern kann. Anderserseits belegt die notwendige Inszenierung der Popularität Putins, dass dieser Bonapartismus ausgehöhlt ist, wenn er sich auf eine solche offensichtliche Farce einlassen muss. Das Potential für eine Opposition von links, die sich auf die Arbeiter:innenklasse stützen könnte, ist aus diesen Wahlen schwer zu ersehen. Ein kleiner Hinweis steckt zum einen in Teilen der 4,4 %  für den Kandiaten der KPRF, vor allem aber in den 1,37 Millionen ungültigen Stimmen. Eine Ablehnung des Krieges könnte auch bei einem Teil der 3,8 % Stimmen für Dawankow eine Rolle spielen.

Auch wenn wir über die Größe dieser Potentiale nur spekulieren können, sie sind definitiv größer als das, was eine Antikriegsbewegung derzeit auf die Straße bringen kann, die sowieso härteste Repression erleidet, und mehr als das, was linke Gruppen derzeit organisieren können. Aber politische Aktivist:innen können und müssen sich heute darauf vorbereiten, dass das System spätestens dann zusammenbricht, wenn der Bonaparte (aus)fällt. Selbst ein/e designierte/r Nachfolger:in wäre eben nie durch den tatsächlichen oder vermeintlichen „Willen des Volkes“ an die Macht gekommen, sondern müsste sich noch stärker vor allem auf staatliche Repression stützen. Die Situation könnte dann schnell krisenhafte Entwicklungen annehmen und ein offeneres Auftreten der Arbeiter:innenklasse, der national, rassistisch oder sexistisch Unterdrückten, der Linken und der Kriegsgegner:innen erlauben. Aber auch rechte, nationalistische bis hin zu faschistischen Kräften werden das Feld betreten.

Aufgaben für die Linke

Natürlich darf die Repression nicht einfach hingenommen und ihre Opfer müssen verteidigt werden. Momentan werden wieder besonders Frauen- und LGBTIA-Strukturen angegriffen, darüber hinaus jede sexuelle Äußerung jenseits der Heteronorm. Rassismus gegen Muslim:innen sowie gegen alle Arbeitsmigrant:innen nimmt zu.

Natürlich gibt es weiterhin Widerstand von unten, der unterstützt und ausgeweitet werden muss, ob es sich um gewerkschaftlichen Aktivitäten handelt oder Antikriegsproteste, wie z. B. in der Bewegung der „Frauen der Mobilisierten“.

Aber die wichtigste Aufgabe der organisierten Linken der Russischen Föderation besteht derzeit darin, ein marxistisches Verständnis für die Verhältnisse zu entwickeln und darauf aufbauend eine Programmatik, die revolutionäre Antworten auf die bestehenden und kommenden Konflikte liefert.

Sowohl Emigrant:innen wie auch die internationale Linke können dabei helfen. Je mehr die politischen und militärischen Spannungen zwischen Russland, China und den anderen Imperialist:innen zunehmen, desto wichtiger werden solche Verbindungen zum politischen Austausch und praktischen Handeln.




Kommunalwahlen  in der Türkei – Erdoğan wird abgestraft

Dilara Lorin, Infomail 1250, 5. April 2024

Die Kommunalwahlen in der Türkei vom 31. März endeten mit einem Sieg der CHP als stärkste Kraft, während die AKP eine Niederlage hinnehmen musste. Von insgesamt 81 Bürgermeisterämtern errangen die CHP 31 und die AKP 24. Die CHP gewann auch in den fünf größten Städten des Landes, darunter Istanbul, Ankara und Izmir. Nach Wahlerfolgen in diesen Städten äußerte Erdoğan einst: „Wer Istanbul und Ankara gewinnt, hat das Land in der Hand.“ Heute, einige Kommunalwahlperioden später, hat sich die Situation jedoch geändert und der „Große Mann am Bosporus“ hat an Macht verloren. Dabei kommt der Erfolg der CHP für viele Menschen unerwartet.

Nur wenige Monate, nachdem Erdoğan am 28. Mai zum Präsidenten des Landes gewählt wurde, scheint seine Popularität zu schwanken und das Volk scheint ihn und die aktuelle Politik abzustrafen. Insbesondere der wiederholte Erfolg von Ekrem İmamoğlu (CHP) in Istanbul, mit einem größeren prozentualen Abstand als davor, hat die Unbesiegbarkeit der AKP erschüttert.

Unmut in der Bevölkerung

Die wirtschaftliche Lage hat sich in den letzten Jahren kaum erholt. Die Coronapandemie, das Erdbeben vom 6. Februar im letzten Jahr, die globale Wirtschaftskrise und der Einbruch der Baubranche in der Türkei sowie die fatale Wirtschaftspolitik und Instabilität Erdoğans haben dazu beigetragen. Im Februar belief sich die Inflationsrate auf 67 %. Grundnahrungsmittel sind für einen Großteil der Arbeiter:innen kaum noch erschwinglich.

Die anhaltend schlechte Wirtschaftslage in der Türkei trifft insbesondere die Mittelschicht und führt zu einer verstärkten Prekarisierung von Arbeiter:innen und Arbeitslosen. Während des Wahlkampfes spricht Erdoğan in seinen Reden von einer starken Wirtschaft und einer positiven Zukunftsaussicht. Allerdings wird bei genauerer Betrachtung der Zahlen eine Tendenz immer deutlicher: Die Armut nimmt mit jedem Monat zu. Der aktuelle Mindestlohn von 17.000 TL (487 Euro) liegt bereits unter der Armutsgrenze von 20.098 TL für eine vierköpfige Familie. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass ein/e Alleinverdiener:in aufgrund der seit fünf Jahren steigenden Kosten für Nahrungsmittel nicht mehr in der Lage ist, eine Familie zu ernähren.

Der Anteil der Menschen, die unter der Hungers- und Armutsschwelle leben müssen, ist im März, im Monat der Kommunalwahlen, um 5,9 % bzw. 11 % angestiegen. Dabei stellt die Hungerschwelle die Minimumausgaben für Lebensmittel einer vierköpfigen Familie dar, wenn diese sich ausgewogen ernähren soll; die Armutsschwelle ist eine Kennzahl, welche die Minimalausgaben einer vierköpfigen Familie beschreibt. Diese alarmierende Nachricht wurde im März von der Konföderation der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes Birlesik Kamu-is Konfederasyonu veröffentlicht. Eine wichtige Wählerbasis für Erdoğan und die AKP waren unter anderem auch Rentner:innen, deren Lage sich ebenfalls verschlechtert hat. Laut der Gewerkschaft DISK liegt die Durchschnittsrente bei einem Sechstel im Vergleich zu den Renten in den zentraleuropäischen Ländern. Im Vergleich zum Mindestlohn war die Rente in der Türkei im Jahr 2002 noch um 22 % höher. Im Jahr 2023 lag sie jedoch etwa 26 % darunter.

Aber auch die Konkurrenz von rechtskonservativer Seite führte zur Niederlage der AKP. Die Yeniden Refah Partisi (Neue Wohlfahrtspartei), die in der Vergangenheit vor allem den religiösen Teil der Bevölkerung, der sich aufgrund der wirtschaftlichen Misere zunehmend von der AKP abwandte, für sich gewinnen konnte, erhielt 6 % der Stimmen und gewann die Wahlen in den Städten Yozgat und Sanliurfa. Dabei war die Yeniden Refah Partisi bei den Präsidentschaftswahlen noch Teil von Erdoğans „Volksallianz“, entschied sich bei diesen Wahlen jedoch, eigene Kandidat:innen aufzustellen, nachdem in Gesprächen mit der AKP anscheinend keine Kompromisse gefunden wurden. Auch Kandidat:innen, die aus der AKP ausgetreten sind oder auf deren Listen keinen Platz erhalten haben, lassen sich auf denen der YRP wiederfinden. Somit ist es nicht verwunderlich, dass enttäuschte Wähler:innen der AKP zur YRP übergehen, wenn sie nicht die CHP wählen. Dabei ist es auch die YRP gewesen, die unter anderem im Parlament die AKP und ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu Israel anprangerte und dadurch auch viele Stimmen gewann, die sich aus islamischer Hinsicht mit dem palästinensischen Volk solidarisieren.

DEM – ein Jubelschrei der Kurd:innen wird laut

Die DEM-Partei (Die Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie), welche vor Dezember 2023 noch HEDEP (Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker), davor HDP (Demokratische Partei der Völker) hieß, gewann vor allem in den kurdischen Provinzen. Dabei konnten in 10 Bezirken Bürgermeisterämter geholt werden, wobei sie dadurch zur viertstärksten Kraft des Landes wurde. In über 65 Landkreisen, Bezirken und Gemeinden konnte sich DEM als die stärkste Kraft etablieren. Eine große Freude breitete sich vor allem in den kurdischen Gebieten über den Sieg aus, der trotz erzwungener Umbenennung der Partei, starker Repressionen, Haftstrafen, Einschüchterungen und Verbotsverfahren zu einer Stärkung und Ausweitung der Stimmen für sie geführt hat.

In Manisa, Mersin und Izmir sowie in vielen Bezirken Istanbuls und anderen Orten hat die DEM-Partei keine Kandidat:innen aufgestellt, nachdem Gespräche mit der CHP bezüglich der Wahl geführt wurden. Diese Orte sind vor allem diejenigen, in denen die CHP stärker vertreten ist. Die Politik der „kleinen Helferin“ ist für die DEM-Partei fatal, da sie der CHP in diesen Gebieten ihre Wähler:innenschaft überlässt. Es war schließlich auch die CHP, die die AKP bei der Aufhebung der Immunität der HDP-Abgeordneten unterstützte, um viele von ihnen, einschließlich des Co-Parteivorsitzenden Selahattin Demirtas, ins Gefängnis zu brachte.

Ein Wolf im Schafspelz: CHP

Die Liste der Unterstützung der Unterdrückung des kurdischen Volkes seitens der CHP ist lang und geht weit in die Geschichte der Türkei zurück. Aufgrund ihrer nationalistischen und bürgerlichen Ausrichtung kann diese Partei keineswegs als progressiv eingestuft werden.

Obwohl es verständlich ist, dass viele Menschen und Arbeiter:innen in der Nacht vom 31.03. auf den 01.04.2024 auf den Straßen waren und die Niederlage der AKP gefeiert haben, so sollte der Sieg der CHP für linke und revolutionäre Kräfte kein Grund zur Freude sein. Die CHP ist bereits bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 durch rassistische und hetzerische Kommentare und Forderungen gegenüber geflüchteten Menschen und Asylbewerber:innen aufgefallen, wobei sie Erdoğan mit der Forderung nach sofortiger Ausweisung von drei Millionen Menschen sogar rechts zu überholen versucht hat.

Im Wahlprogramm für die Kommunalwahlen 2024 wird unter anderem festgehalten, dass Maßnahmen zur Förderung der Rückkehr von Geflüchteten und Asylbewerber:innen in enger Zusammenarbeit mit „zuverlässigen“ NGOs vorangetrieben werden sollen. Die Stimmungsmache zeigt Folgen: Täglich werden Geflüchtete auf der Straße angegriffen, und diese Taten enden tragischerweise oft in Mord. Die indirekte Wahlunterstützung in einigen Orten, welche die DEM-Partei als linke Opposition der CHP geleistet hat, indem sie keine eigenen Kandidat:innen aufstellen ließ, ist zu kritisieren und zeigt selbst den kleinbürgerlichen Charakter der Politik der DEM.

Aktuelle Erhebungen in Wan und anderen Städten – ein erster Erfolg

Im Vergleich zu den Kommunalwahlen 2019, bei denen die HDP 65 Kommunen gewinnen konnte, konnte sich die DEM behaupten. Nach den Erfolgen vor 5 Jahren wurden jedoch in 48 Kommunen die Bürgermeister:innen von der Regierung abgesetzt und durch AKP-nahe Verwalter:innen ersetzt und dadurch staatlich zwangsverwaltet.

Auch in diesem Jahr wurde der Erfolg der DEM-Partei in den kurdischen Provinzen schon am 2. April seitens der Regierung in Frage gestellt. Schon während der Wahl wurden Wahlbetrug und Wahlfälschung angewandt. Dabei berichtete die DEM noch am selben Tag, dass bis zu 46.000 Staatbedienstete – darunter vor allem Polizist:innen und Soldat:innen – in den kurdischen Gebieten ihre Stimme abgegeben hatten, obwohl diese nicht aus diesen Orten stammen, sondern dahin transferiert wurden, um die Stimmabgabe zu Gunsten der Regierung zu beeinflussen.

Am Morgen des 2. April folgte dann der erste Schlag der Regierung gegen die DEM. In Wan (türkisch: Van) wurde nicht dem gewählten DEM-Politiker Abdullah Zeydan (55 %), sondern dem AKP-Kandidaten Abdulahat Arvas, welcher lediglich 25 % der Stimmen für sich gewinnen konnte, die Ernennungsurkunde überreicht. Zeydan wurden auf Anordnung der türkischen Regierung die Bürgerrechte entzogen, die er erst im vergangenen Jahr wiedererlangt hatte, nachdem er 2016 als HDP-Abgeordneter verhaftet worden war und fünf Jahre im Gefängnis verbracht hatte. Wan ist die Provinz, in der die DEM in allen Bezirken die Mehrheit errungen hat, was noch deutlicher macht, dass seit diesem bürokratischen und undemokratischen Akt der AKP die Menschen auf die Straße gehen, um dagegen zu protestieren.

Die DEM-Partei rief richtigerweise kurzerhand zu Protesten auf und erklärte in ihrer Pressemitteilung, dass Respekt vor den Wähler:innen eingefordert werden soll. Der Co-Vorsitzende der DEM-Partei erklärte in einer Ansprache in Wan: „Wan ist das Herz Kurdistans und die Menschen in Wan haben zu Newroz, bei den Wahlen und heute hier auf diesem Platz deutlich gemacht, dass die Forderung der Kurdinnen und Kurden nach Freiheit und Demokratie nicht mit Gewalt und Zwangsverwaltung unterdrückt werden kann. Seit zwei Wahlperioden werden unsere Rathäuser von Treuhänder:innen zwangsverwaltet und jetzt soll ein weiteres Mal der Willen der Bevölkerung mit einem politischen und juristischen Komplott ausgeschaltet werden. Das werden wir nicht zulassen. Dieser Putsch wird keinen Erfolg haben, wenn wir trotz Repression, Knüppeln und Tränengas weiter zusammenhalten. Wir werden die von uns gewonnenen 14 Rathäuser in der Provinz Wan verteidigen.“ Am selben Tag fand eine Sondersitzung des Vorstands der Partei statt, welcher auch der CHP-Abgeordnete Sezgin Tanrıkulu beiwohnte. Straßenbarrikaden wurden errichtet und Tausende Menschen folgten diesem Aufruf. Die Geschäfte in Wan blieben größtenteils geschlossen. Der Staat reagiert mit massiver Gewalt und Repression und stürmt das Parteigebäude der DEM. Doch der Protest weitete sich rasch aus: Weitere Städte, darunter Colemêrg (türkisch: Hakkari), Gever (Yüksekova) und Amed (Diyarbakir) schlossen sich dem Ausstand an.

Die Ausweitung der Proteste und der Druck, den sie auf die Regierung ausübten, hatten Erfolg: Noch am Mittwoch, dem 3. April, entschied der Hohe Wahlausschuss, welche zuvor den Kandidaten der AKP zugelassen hatte, über den Einspruch der Partei DEM und beschloss, den Wahlsieger Zeydan anzuerkennen.

Ein Funke ist entfacht

Die Proteste zeigen, dass sich das kurdische Volk seiner Stärke in diesem Land bewusst ist. Sie zeigen aber auch die Schwäche der AKP und ihren mangelnden Rückhalt in der Bevölkerung. Denn als die Regierung 2016 nach den Kommunalwahlen in den mehrheitlich kurdischen Kommunen die Bürgermeister:innen absetzte und durch eigene Kandidat:innen zwangsverwalten ließ, brachen ebenfalls starke Proteste aus, die jedoch blutig niedergeschlagen wurden. Über die Städte des stärksten Widerstandes wurden Ausgangssperren verhängt, Journalist:innen der Zutritt verweigert und mehr als 200 Menschen ermordet. Der Versuch, den gewählten Bürgermeister der DEM in Wan abzusetzen, ist daher ein Versuch der Demonstration der Unterdrückung und Repressionsmaschinerie. Dass dies innerhalb eines Tages wieder zurückgenommen wurde, zeigt aber auch die Angst vor einer Ausweitung der Proteste und davor, dass der Funke des Aufbegehrens weitere Gebiete erfassen und sich auch über ganz Kurdistan ausbreiten könnte. Dabei sollten die Proteste nicht stehenbleiben, denn die nächsten Wahlen sind erst in 4 Jahren. In der Zwischenzeit kann der Staat trotzdem seine repressiven und unterdrückerischen Handlungen ausüben. Denn eines muss klar sein: kein Vertrauen in staatliche Strukturen!

Die DEM-Partei kann dabei eine tragende Rolle einnehmen und hat als Massenpartei auch die Aufgabe, die aktuellen Proteste auszuweiten. Aufgabe von reformistischen, aber auch radikalen kleinbürgerlichen Parteien ist es dabei nicht, lediglich in Parlamenten und anderen Gremien Sitzplätze zu gewinnen, sondern den Raum der Wahl zu nutzen, um Bewegungen und Forderungen publik zu machen. Sie muss Vorreiterin der aktuellen Proteste sein und diese weiter über das ganze Land ausweiten.

Dabei muss sie aber vor allem versuchen, die Unterstützung der türkischen, progressiven Teile der Arbeiter:innenklasse wieder für sich zu gewinnen, denn die Unterstützung der kurdischen Bevölkerung hat in den letzten Wahlen stagniert. Gegen die Krisen, die Armut und Unterdrückung müssen Gewerkschaften unter Druck gesetzt werden, um landesweit für ein Sofortprogramm gegen die Preissteigerungen, für einen Mindestlohn und Mindestrenten, die die Lebenshaltung decken, und für eine automatische Anpassung dieser an die Inflation zu kämpfen. Dies muss von Ausschüssen der Gewerkschaften und Lohnabhängigen kontrolliert werden.

Um dieses Ziel umzusetzen, sind politische Massenstreiks (bis hin zum Generalstreik) sowie massive Demonstrationen notwendig, die von lokalen Aktionskomitees organisiert und kontrolliert werden. Gegen die Repression und Provokationen durch Staat und Rechte müssen Selbstverteidigungsorgane gebildet werden.

Es kann letztendlich nur eine starke Bewegung der Unterdrückten und Arbeiter:innen gegen die zukünftigen  Komplotte der Regierung, die Wirtschaftskrise, Unterdrückung und Armut vorgehen. Um solch eine Bewegung aufzubauen, welche auch in den wirtschaftlich stärkeren Städten im Westen des Landes die Arbeiter:innen und Unterdrückten für sich gewinnt, müssen die DEM und andere linke Parteien und Organisationen anfangen, vermehrt Basisstrukturen in den Städten, an Unis und in Betrieben aufzubauen. Auch die Basis der CHP muss angesprochen werden, um die Politik der Partei zu entlarven, welche mittels Rassismus versucht, die Bevölkerung zu spalten, und deren nationalistische Ausrichtung keine Lösungen bieten kann. Vor allem aber müssen die Gewerkschaften in den Kampf gezogen werden – ihnen kommt eine Schlüsselrolle bei einer wirklichen Konfrontation mit der Regierung zu.

Es braucht außerdem Selbstverteidigungseinheiten der Unterdrückten- und Arbeiter:innen, die die Parteigebäude, Rathäuser etc., die von der DEM gewonnen wurden, gegen Repression verteidigen. Die Türkei sitzt schon lange auf einem absteigenden Ast und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Bevölkerung den Druck von Armut, Hunger und Rassismus nicht mehr aushalten kann. Aufflammende Bewegungen gegen die Regierung dürfen aber keine Hoffnung in die CHP vorheucheln und müssen die Unterdrückten des Landes mit den Arbeiter:innen vereinen. Dies kann letztlich nur eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei auf Grundlage eines revolutionären Programms vorantreiben.




Portugal: Rechtsruck bei Wahlen

Dara O’Cogaidhin, Infomail 1250, 4. April 2024

Die nicht eindeutigen Ergebnisse der portugiesischen Parlamentswahlen vom 10. März führten zu einem knappen Sieg der Mitte-Rechts-Koalition Demokratische Allianz (AD) über die Mitte-Links-Partei Sozialistische Partei (PS). Zum ersten Mal seit 40 Jahren erreichte der prozentuale Stimmenanteil des so genannten „centrão“ einen Tiefstand von 60 %. Da es keinen eindeutigen Sieger gab, war die rechtsextreme Chega („Genug“) die eigentliche Nutznießerin der Wahl, denn sie vervierfachte ihre Sitze von 12 Sitzen im 230 Sitze zählenden Parlament im Jahr 2022 auf heute 48. Sie ist nun die drittstärkste Partei im Parlament und hält faktisch das Gleichgewicht der Macht.

Der AD-Vorsitzende Luis Montenegro sagte, er werde an seinem Wahlversprechen festhalten, keine Regierungskoalition mit Chega zu bilden, obwohl deren Chef André Ventura erklärte, er sei bereit, einige seiner umstritteneren Maßnahmen wie die chemische Kastration von Sexualstraftätern und die Einführung lebenslanger Haftstrafen fallen zu lassen, wenn dies die Einbeziehung in ein mögliches Regierungsbündnis ermögliche. Die Aussicht auf eine große Koalition zwischen der AD und der PS wurde ausgeschlossen, obwohl die PS angedeutet hat, dass sie die Bildung einer Minderheitsregierung der AD ermöglichen würde, indem sie sich bei wichtigen Abstimmungen im Parlament der Stimme enthält, um Chega in Schach zu halten.

Bedeutende Gewinne für Chega

Das Ergebnis unterstreicht den politischen Rechtsruck in ganz Europa. Portugal, das erst nach der Nelkenrevolution vor 50 Jahren zur Demokratie zurückkehrte, galt als immun gegen den Aufstieg des Rechtspopulismus auf dem gesamten Kontinent. Die Chega, die vor fünf Jahren gegründet wurde, trat mit einem Antiestablishmentprogramm an und versprach, mit der Korruption aufzuräumen. Ihre Kampagne enthielt auch einwanderungsfeindliche und Anti-LGBTQ+-Rhetorik, wobei Ventura eine Wehmut für die als Estado Novo bekannte Diktatur und deren Verteidigung traditioneller katholischer Werte zum Ausdruck brachte. Ventura ist ein ehemaliger Priesteranwärter, der sich als Fußballkommentator im Fernsehen einen Namen gemacht hat.

Die Korruption wird von vielen als typisch für die beiden großen Parteien in Westeuropas ärmstem Land angesehen. Die Chega, deren wichtigster Wahlkampfslogan „Portugal säubern“ lautete, konnte aus einer öffentlichkeitswirksamen Korruptionsuntersuchung im Zusammenhang mit staatlich beauftragten Energieprojekten Kapital schlagen, die im vergangenen Jahr zum Rücktritt des PS-Ministerpräsidenten Antonio führte.

Trotz eines Haushaltsüberschusses und jährlicher Wachstumsraten von über 2 % hat die PS-Regierung eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der Arbeiter:innen zugelassen. Aufgrund der hohen Mietpreise herrscht eine Wohnungskrise, und Lissabon ist eine der teuersten Städte Europas, was die Miete angeht. Der durchschnittliche Monatslohn vor Steuern liegt bei etwa 1.500 Euro, was kaum ausreicht, um eine Einzimmerwohnung in der Hauptstadt zu mieten. Die PS-Regierung sah sich im vergangenen Jahr auch mit einer Streikwelle für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen konfrontiert.

Rückschläge für die Linke

Neben der PS waren die größten Verlierer:innen der Wahlnacht der Linksblock (Bloco Ezquierda, BE) und die Portugiesische Kommunistische Partei (PCP). Der BE konnte die 5 Parlamentssitze, die er 2022 gewonnen hatte, halten, vermochte jedoch nicht von der Desillusionierung der Arbeiter:innenklasse in die PS zu profitieren und erhielt den schlechtesten Stimmenanteil seit 20 Jahren. Im Jahr 2015 gewann der BE 18 Parlamentssitze und unterstützte zusammen mit der PCP, die 17 Sitze gewann, eine Minderheitsregierung der PS in einem Pakt, der als geringonça („improvisierte Lösung“) bekannt wurde.

Die Unterstützung der PS-Regierung war sowohl für den BE als auch für die PCP eine Katastrophe. Statt  sich von den Intrigen der Regierung, die ihre Aktivist:innenkapazitäten absorbierten, zu befreien, weigerten sich sowohl der BE als auch die PCP, eine Führungsrolle zu übernehmen und die Kämpfe zu verallgemeinern, als es im Herbst 2021 zu einer Streikwelle kam. Sie unterstützten auch weiterhin die Regierung, als diese das Militär mobilisierte, um einen landesweiten LKW-Fahrer:innenstreik im Jahr 2019 zu brechen.

Indem sie einer wirtschaftsfreundlichen PS-Regierung eine linke Deckung boten, schufen sie den Raum für Chega, sich als „antisystemische“ Protestpartei zu präsentieren. Anstatt die PS für die akute Lebenshaltungskostenkrise verantwortlich zu machen, kritisierte die BE-Vorsitzende Mariana Mortágua stattdessen deren absolute Mehrheit und forderte die Parteien der Linken (einschließlich der PS) auf, vor den Wahlen im März „eine Mehrheitsvereinbarung für ein linkes Regierungsprogramm auszuhandeln“. Anstatt eine sozialistische Alternative zu präsentieren, nährte der BE die Illusion, dass eine fortschrittliche Linksregierung durch die PS möglich sei.

Der BE hat auch eine neuen politische Konkurrentin namens LIVRE („Frei“), eine Pro-EU-Partei mit grün-linker Ausrichtung. Ihr Vorsitzender Rui Tavares spaltete sich 2014 vom BE ab. Sie hat ihre Vertretung im Parlament von einem Sitz im Jahr 2022 auf heute vier Sitze erhöht. Anders als der BE und die PCP war sie nicht damit belastet, eine PS-Regierung zu stützen, und profitierte am meisten vom Zusammenbruch deren absoluter Mehrheit. LIVRE gewann auch ihre Sitze in den traditionellen Bastionen des BE, darunter Lissabon und Setúbal.

Der langsame Niedergang der PCP bei den Wahlen setzt sich fort. Die Zahl ihrer Sitze ging von 6 auf 4 zurück, was zum Teil auf die Überalterung ihrer Wähler:innenschaft zurückzuführen ist, die tief in den Kämpfen gegen die Diktatur verwurzelt ist. Ihr 76-jähriger langjähriger Vorsitzender, Jerónimo de Sousa, wurde wiederholt kritisiert, weil er sich weigerte, die imperialistische Invasion Russlands in der Ukraine zu verurteilen. Die PCP behält immer noch die Kontrolle über den größten portugiesischen Gewerkschaftsbund CGTP, der im vergangenen Jahr Teilstreiks organisierte, um gegen Sparmaßnahmen und die steigende Inflation zu protestieren, es aber versäumte, einen Generalstreik als nächsten Schritt in einem nachhaltigen Aktionsplan gegen die PS-Regierung zu organisieren.

Instabile Regierung: Widerstand aufbauen!

Im vergangenen Jahr kam es zu einer Eskalation des Klassenkampfes gegen die PS-Regierung. Das Fehlen einer koordinierten industriellen Offensive bedeutete jedoch, dass die PS-Regierung mit ihrer absoluten Mehrheit die Schläge auffangen konnte. Niedrige Löhne und hohe Lebenshaltungskosten, die im letzten Jahr durch einen Anstieg der Inflation und der Zinssätze noch verschlimmert wurden, bedeuten, dass eine konservative Minderheitsregierung der AD von Anfang an verwundbar sein wird. Sie muss nicht nur mit anderen Parteien verhandeln, um Gesetze von Fall zu Fall zu verabschieden, sondern es ist auch mit Neuwahlen zu rechnen, wenn die AD ihren Haushalt für 2025 nicht verabschieden kann.

Die Demonstrationen zum 50. Jahrestag der Nelkenrevolution sollten die Gelegenheit bieten, in jedem Betrieb Arbeiter:innenversammlungen zu organisieren, um den Kampf zu planen, die verschiedenen Sektoren zu vereinen und die rechte AD-Regierung zu stürzen. Auf der Grundlage ihrer reichen revolutionären Traditionen müssen die Arbeiter:innen und Jugendlichen eine kämpferische Partei aufbauen, die mit einem sozialistischen Programm ausgestattet ist, um dem neoliberalen Angriff der AD zu widerstehen, bevor sie in der Lage sind, die Aufgaben zu erfüllen, die von der Revolution von 1974 – 1975 übrig geblieben sind.




Pakistan: Nach Wahlbetrug drohen IWF-Knechtschaft und Instabilität

Minerwa Tahir und Shehzad Arshad, Infomail 1245, 19. Januar 2024

Die Wahlen in Pakistan am 8. Februar ergaben ein geteiltes Mandat. Trotz schwerer Repressionen vor der Wahl und Manipulationen am Wahltag gewannen „unabhängige“ Kandidat:innen, die von Imran Khans Partei Pakistan Tehreek-e-Insaf (PTI; Pakistanische Bewegung für Gerechtigkeit) unterstützt wurden, 92 der 266 direkt gewählten Sitze. Nawaz Sharifs Pakistan Muslim League – Nawaz (PML-N) erhielt trotz der Unterstützung durch das militärische Establishment nur 75 Sitze. Die Pakistanische Volkspartei (PPP) der Bhutto-Dynastie kam mit 54 Sitzen auf den dritten Platz.

Daneben werden den Parteien weitere Mandate aus den 70 für Frauen und religiöse Minderheiten reservierten Sitzen zugewiesen. Da diese Plätze unabhängigen Kandidat:innen nicht zur Verfügung stehen, haben sich Khans „Unabhängige“ mit der Majlis Wahdat-i-Muslimeen (MWM) zusammengeschlossen, einer religiösen Partei der schiitischen Sekte, die einen Sitz in der Nationalversammlung von Khyber Pakhtunkhwa gewonnen hat. Die von der PTI unterstützten Unabhängigen haben eine ähnliche Koalition mit der Jamaat-e-Islami (Islamische Gemeinschaft) in der Provinzversammlung von Khyber Pakhtunkhwa vorgeschlagen, doch wurde dieses Angebot bisher nicht angenommen.

In anderen Provinzparlamenten wie im Punjab behielt die PML-N ihre Mehrheit, während die PPP in Sindh die Mehrheit bewahren konnte. Die PPP wird wahrscheinlich auch in Belutschistan ein Bündnis mit den nationalistischen Parteien eingehen. In Khyber Pakhtunkhwa dominierten die „Unabhängigen“.

Stimmen und Mandate

In der Zwischenzeit haben die PML-N und die PPP ihr eigenes Bündnis mit vier anderen Parteien geschlossen, nämlich der Muttahida Qaumi Movement – Pakistan (MQM-P; Vereinigte Volksbewegung), der Pakistan Muslim League – Quaid (PML-Q), der Istehkam Pakistan Party (IPP; Pakistanische Partei für Stabilität) und der Belutschistan Awami Party (BAP; Belutschische Volkspartei). Damit kommen sie auf 152 Sitze, was sie zusammen mit den reservierten Mandaten über die für eine Regierungsbildung erforderlichen 169 Stimmen bringt. In dieser Koalition fehlt Maulana Fazal-ur-Rehman von der Jamiat Ulema-e-Islam (Fazl), JUI (F) (Versammlung Islamischer Kleriker [Fazl]). Er war Vorsitzender der Pakistanischen Demokratischen Bewegung (PDM), die 2020 als Bewegung gegen die angebliche Manipulation der Wahlen von 2018 gegründet wurde, die Imran Khan an die Macht brachten, und eine wichtige Kraft hinter Khans Sturz 2022. Die anderen Mitglieder der PDM haben sich der Regierungskoalition angeschlossen. Die JUI (F) fällt unter das parlamentarische Dach der Jamiat Ulema-e-Islam Pakistan, die nur vier Sitze in der Nationalversammlung erreichte. Die Partei hat die „manipulierten“ Ergebnisse zurückgewiesen.

Der PPP-Vorsitzende Asif Ali Zardari erklärte, dass seine Partei und die PML-N zwar getrennt zu den Wahlen angetreten seien, sich nun aber im „Interesse der Nation“ zusammengeschlossen hätten. Nawaz Sharifs Tochter Maryam Nawaz ist für das Amt der Ministerpräsidentin in der Pandschab-Provinz vorgesehen, während ihr Bruder Shehbaz Sharif als Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten auserkoren wurde. Es gibt Andeutungen, dass Zardari Staatspräsident werden soll.

Die Wahlergebnisse zeigten auch eine massive Ablehnung der religiösen Parteien. Die JUI (F) verlor Sitze. Die klerikalfaschistische Tehreek Labbaik Pakistan (Bewegung „Hier bin ich!“ Pakistan) erhielt in keinem einzigen Wahlkreis mehr als fünf Prozent der Stimmen. Die Jamaat-e-Islami versuchte, in Städten wie Karatschi von der Antimanipulationskampagne der PTI zu profitieren, jedoch ohne Erfolg. Ihr Chef in Karatschi gewann zwar ein Mandat in der Provinzversammlung, gab es aber mit der Begründung wieder auf, dass in Wirklichkeit der von der PTI unterstützte Kandidat gewonnen habe. In Khyber Pakhtunkhwa hatte diese islamistische Partei drei Sitze errungen, doch kurz nachdem Nachrichten über eine Regierungskoalition mit der PTI in der Provinz aufgetaucht waren, führte eine Neuauszählung dazu, dass die Kandidat:innen der Partei ihre Sitze an Unabhängige verloren.

„Gestohlenes Mandat“

Das harte Vorgehen gegen die PTI vor den Wahlen war so heftig, dass man davon ausging, dass die PML-N bei den Wahlen einen klaren Sieg davontragen würde. Khan und andere führende Politiker:innen wurden disqualifiziert, nach Verurteilungen ins Gefängnis gesteckt und/oder von der Kandidatur ausgeschlossen. Einige Parteiführer:innen liefen über. Die PTI wurde ihres Wahlsymbols beraubt und ihre Bewerber:innen mussten als Unabhängige antreten und durften keinen Wahlkampf führen. Das Internet wurde am Tag der Wahl abgeschaltet.

Doch trotz dieser weit verbreiteten Repression konnten die von der PTI unterstützten Kandidat:innen am Wahltag Siege verbuchen. Die Ergebnisse der Wahllokale werden förmlich auf dem „Formular 45“ festgehalten, das die Grundlage für die spätere Zusammenstellung der Ergebnisse in den Wahlkreisen bildet. Es wird nicht nur vom Vorsitzenden des Wahllokals unterzeichnet, sondern auch von Vertretungen der anwesenden Kandidat:innen, die als Zeug:innen des Vorgangs fungieren. Die Wahllokale sind gesetzlich verpflichtet, Kopien des Formulars öffentlich auszuhängen, um die Rechenschaftspflicht und Transparenz der Wahlen zu gewährleisten. Die Formulare werden dann dem/r Leiter:in des Wahlkreises vorgelegt, der/die die Ergebnisse aller Wahllokale zusammenzählt, die Endergebnisse zusammenstellt und diese auf dem „Formular 47“ vermerkt. Die beiden Formulare standen im Mittelpunkt der Kontroverse um die Wahlergebnisse in Pakistan.

Laut den Formularen 45 erklärte die PTI 170 Sitze als gewonnen. Auf den Formblättern 47 wurden jedoch nur 93 Sitze für die von der PTI unterstützten Unabhängigen ausgewiesen. Die Partei hat die Ergebnisse gerichtlich angefochten und behauptet, dass die auf den Formblättern 47 ausgewiesenen Ergebnisse erheblich von den Angaben auf den Formblättern 45 abweichen. In anderen Fällen berichteten die Kandidat:innen, dass ihren Wahlhelfer:innen das Formular 45 von den Wahlleiter:innen verweigert wurde, obwohl mehrere Stunden nach Wahlschluss vergangen waren. Die PTI behauptet, dies sei geschehen, um die Wahlergebnisse zu manipulieren.

Inoffizielle Wahlergebnisse, die von den Medien auf Grundlage der Formulare 45 und 47 gemeldet wurden, zeigten eine Reihe von Siegen für die PTI. Die Medien wurden jedoch an der Ausstrahlung der Wahlergebnisse gehindert, die sich um Stunden verzögerte. Nach 12 Stunden wurden die Ergebnisse bekanntgegeben, die einen Sieg der PML-N, der PPP und der MQM in vielen Sitzen zeigten, die die PTI nach den Formblättern 45 und 47 gewonnen hatte.

Bei Bekanntgabe der vorläufigen Wahlresultate lag Nawaz Sharif, der ursprünglich als Kandidat für das Amt des Premierministers vorgesehen war, mit einem Abstand von 13.000 Stimmen hinter der von der PTI unterstützten Yasmin Rashid. Nach 12 Stunden wurden die Ergebnisse zugunsten von Nawaz Sharif bekannt gegeben.

Die Massen haben gesprochen

Die Wahlbeteiligung hat überdeutlich gezeigt, dass die Massen das harte Vorgehen gegen die PTI ablehnen. So sehr der Staat mit Verurteilungen, Inhaftierungen und Verleumdungen auch zeigen wollte, dass die Ära der PTI vorbei ist, die Wähler:innen machten sie dennoch zur größten Partei, was die Zahl der Sitze angeht.

Die PTI hat behauptet, sie habe vor der Manipulation der Ergebnisse 170 Sitze errungen. Selbst wenn man Übertreibungen zulässt, ist es ziemlich offensichtlich, dass die Ergebnisse in mindestens 10 Bezirken in Karatschi und rund 30 Sitzen in der Provinz Punjab und anderen Gebieten zugunsten der PML-N und PPP verändert wurden.

Die hohe Wahlbeteiligung war nicht nur Ausdruck der Wut über Wahlmanipulationen, sondern auch über die steigenden Lebenshaltungskosten und das unerträgliche Elend, das der Internationale Währungsfonds (IWF) auferlegt hat. Die PTI ist keine Anti-IWF-Partei, vielmehr hat Khan das jüngste Hilfspaket eingebracht. Dadurch verlor er zwar an Unterstützung, doch nachdem er sich mit dem militärischen Establishment überworfen hatte, lehnte er einige der IWF-Bedingungen ab, die dann von der nachfolgenden geschäftsführenden Regierung umgesetzt wurden, so dass die PTI als Gegnerin des IWF auftreten konnte. Das harte Vorgehen des militärischen Establishments gegen die PTI stärkte dann ihren Status als wichtigste Oppositionspartei.

Eine neoliberale Regierung

Die PTI hat die Wahlergebnisse rechtlich angefochten. Das Ergebnis bleibt abzuwarten, aber es ist offensichtlich, dass den pakistanischen Massen im Hinblick auf die Wirtschaftspolitik der kommenden Regierung dunkle Zeiten bevorstehen.

Abgesehen von den Lippenbekenntnissen zur Schaffung von Arbeitsplätzen und Entwicklung ist die PML-N eine Partei des Großkapitals und eine Sklavin ihrer Herr:innen in den USA, China und den Golfstaaten. Die Auflagen des IWF-Programms werden nur noch strenger werden. Sobald eine neue Regierung an der Macht ist, wird sie das Diktat des IWF umsetzen müssen. Angesichts der Opposition der PTI ist es unwahrscheinlich, dass die nächste Regierung stark sein wird. Gleichzeitig wird die Regierung auch die wirtschaftliche Agenda des militärischen Establishments durchsetzen müssen. Obwohl die PPP in einer Koalition sitzt, wird sie die Unzufriedenheit, mit der die neue Regierung wahrscheinlich schon bald konfrontiert sein wird, mit Sicherheit ausnutzen, weshalb sie sich als volksnahe Alternative präsentiert. Die vermeintliche Ablehnung der IWF-Bedingungen durch die PTI wird ihre Unterstützung in der Bevölkerung wahrscheinlich noch verstärken, auch wenn dies ein Irrtum sein mag.

Unterdessen ist der erwartete massive Sieg von Nawaz Sharif nicht eingetreten. Meinungsumfragen hatten darauf hingedeutet, dass die PML-N in ihrer Hochburg Punjab immer noch vor der PTI liegen würde. Er war so zuversichtlich, dass er nur wenige Stunden nach Schließung der Wahllokale eine Siegesrede hielt. Diese Träume zerschlugen sich, als die Ergebnisse bekanntgegeben wurden. Seine Partei konnte kaum die Hälfte der Sitze im Punjab gewinnen, und fast alle übrigen gingen an die von der PTI unterstützten „Unabhängigen“ verloren. Die Niederlage kann mit Sicherheit auf die jahrzehntelange Korruption der Partei zurückgeführt werden. An der Regierung konzentrierte sich Shehbaz Sharif darauf, die Anklagen gegen seinen Bruder fallen zu lassen und gleichzeitig die Politik des IWF durchzusetzen. Die massive Inflation und die weit verbreitete Arbeitslosigkeit haben die Basis der Partei erschüttert.

Heute ist sich Sharif wahrscheinlich bewusst, dass, selbst wenn seine Partei vorerst die Regierung bilden mag, das geteilte Mandat immer Raum für ein Manöver gegen ihn lässt, sobald er in der Gunst des Militärs zurückfällt. Die Kombination aus der Tatsache, dass die PTI eine wichtige Partei des Großkapitals ist, und Khans narzisstischer Persönlichkeit wird dazu führen, dass die PTI-Führung immer bereit sein wird, ihre Wähler:innenschaft zu verraten, wann immer sich die Gelegenheit bietet.

Kurzum, es ist sicher, dass eine schwache und instabile Regierung einer frustrierten Opposition gegenüberstehen wird.

Kandidat:innen der Arbeiter:innenklasse

Die meisten Stimmen bei der Wahl waren entweder für oder gegen Khan. Diese Polarisierung ließ wenig Raum für Vertreter:innen der Arbeiterklasse. Abgesehen von einem Kandidaten der kommunistischen Mazdoor Kissan Party (Kommunistische Arbeiter:innen- und Bäuer:innenpartei), der in Charsadda, Khyber Pakhtunkhwa, 10.000 Stimmen erhielt, konnte keiner der anderen Bewerber:innen linker Parteien und Organisationen die 1.500-Stimmen-Marke deutlich überschreiten.

Linke Kandidat:innen wie Ammar Ali Jan von der Haqooq-e-Khalq-Partei (HKP) erklärten, dass ihre Wahlniederlage unter anderem darauf zurückzuführen sei, dass die Menschen über nationale Themen und damit für Parteien mit nationaler Präsenz abgestimmt hätten. Er schrieb, dass wir den Klassenkampf verschärfen und die Themen, mit denen die Massen konfrontiert sind, im nächsten Fünfjahreszeitraum in den nationalen Mainstream einbringen müssen.

Der Weg nach vorn

Auch wenn Ammar Ali Jan damit recht hat, möchten wir hinzufügen, dass dies einen zweigleisigen Ansatz erfordert. Erstens, der Aufbau einer Einheitsfront der Arbeiter:innen und Unterdrückten, um die Angriffe des IWF und seiner unterwürfigen Regierung zu bekämpfen. Zweitens, der Aufbau einer Arbeiter:innenpartei auf Grundlage eines revolutionären Aktionsprogramms.

Erstgenanntes wird der Linken in Pakistan helfen, eine ernstzunehmende Kraft zu werden. Keine der kleinen, isolierten Gruppen mit Hunderten von Mitgliedern kann allein eine wirksame Verteidigung auf die Beine stellen. Wir müssen uns für ein gemeinsames Vorgehen gegen den IWF zusammenschließen. Wir rufen alle Gewerkschaften und Arbeiter:innen- sowie feministische und fortschrittliche Organisationen auf, sich an einer solchen antikapitalistischen, gegen den IWF gerichteten Einheitsfront zu beteiligen.

Das Zweite, die Schaffung einer revolutionären Arbeiter:innenpartei, ist entscheidend für die Gewährleistung selbst aller grundlegenden demokratischen Forderungen. Wie die Erfahrung dieses und aller vergangenen sozialen Kämpfe gezeigt hat, werden die Grenzen der bürgerlichen Demokratie in dem Moment deutlich, in dem der Kampf beginnt, eine echte Dynamik zu entwickeln. Wir brauchen eine Partei der Arbeiter:innenklasse, die nicht nur für grundlegende demokratische und wirtschaftliche Rechte kämpfen kann, sondern auch in der Lage ist, einen Kampf zum Aufbau von Arbeiter:innenorganisationen zu führen, die diese Rechte tatsächlich garantieren können. Das ist die Lehre, die wir aus den arabischen Revolutionen oder dem jüngsten Aufstand im Iran ziehen müssen. Ohne Organisationen wie demokratische Gewerkschaften, Arbeiter:innenräte und die Mittel, sie zu verteidigen, ist die Gefahr groß, dass durch den Kampf errungene Rechte verlorengehen. Jedes Eintreten für Demokratie oder soziale Fragen muss mit dem Bestreben für den Aufbau von Organisationen und Strukturen verbunden sein, die die Macht übernehmen und halten können. Dafür brauchen wir eine Partei der Arbeiter:innenklasse, die eine solche Revolution anführen und eine auf diesen Strukturen basierende Arbeiter:innenregierung bilden kann, um den bestehenden kapitalistischen Staat zu ersetzen, das Kapital zu enteignen, eine Sofortprogramm im Interesse der Arbeiter:innen und Bäuer:innen umzusetzen und die Wirtschaft auf der Grundlage demokratischer Planung zu reorganisieren.




Niederlande: Extreme Rechte gewinnt Wahlen

Fabian Johan, Infomail 1244, 7. Februar 2024

Bei den jüngsten Wahlen in den Niederlanden am 22. November 2023 erhielt die rechtsextreme Partei für die Freiheit (PVV) von Geert Wilders 2.450.878 Stimmen und bekam 37 Sitze im 150-köpfigen Parlament. Für viele war dies eine Überraschung, da die bürgerlichen Medien und Umfragen einen Sieg der Mitte-Rechts-Parteien NSC (Nieuw Sociaal Contract; Neuer Gesellschaftsvertrag) und VVD (Volkspartij voor Vrijheid en Democratie; Volkspartei für Freiheit und Demokratie) vorausgesagt hatten. Auch wenn diese beiden Parteien viele Sitze errungen haben (20 für die NSC und 24 für die VVD), ist dies das erste Mal, dass eine rechtsextreme Partei die niederländischen Wahlen gewonnen hat. Was bedeutet dieses Wahlergebnis für den Klassenkampf in den Niederlanden und Europa? Wie ist es dazu gekommen und wie sollten Revolutionär:innen darauf reagieren? Wie sollten wir die kommende Periode angehen und wie können sich die arbeitenden Menschen in den Niederlanden gegen die kommende Regierung wehren?

Wie haben die Rechtsextremen die Wahlen gewonnen?

Dreizehn Jahre Regierungszeit des Ministerpräsidenten Mark Rutte und der VVD haben zu einer sehr unsicheren Situation für die Mehrheit der arbeitenden Menschen in den Niederlanden geführt. Rutte verkaufte riesige Mengen an öffentlichem Wohnungsbestand an Immobilienunternehmen, was zu extrem teuren Mieten und einem Mangel an bezahlbarem Wohnraum führte. Seit Ruttes Amtsantritt im Jahr 2010 sind die Gesundheitskosten für die arbeitende Bevölkerung in den Niederlanden jedes Jahr gestiegen, es wurde weniger in Kultur und Freizeit investiert, und der Arbeitsmarkt ist sehr instabil. Die Beschäftigten in den Niederlanden sind an schlecht bezahlte, flexible Verträge gewöhnt, die keine Arbeitsplatzsicherheit bieten. Das Sozialversicherungssystem wurde vollständig abgebaut, und diejenigen, die Leistungen beantragen, werden wie Kriminelle behandelt. Jemand, die/der eine „bijstandsuitkering“ (Beistandszuwendung; ähnlich wie Universal Credit im Vereinigten Königreich) beantragt, muss sich regelmäßig mit seinem/r Fallmanager:in treffen, jede noch so schlechte Arbeit annehmen, die ihm/r angeboten wird, und sogar umsonst arbeiten, wenn die Gemeinde es verlangt. Rutte hat auch Studiengebühren eingeführt, die das Studium sehr teuer machen und viele Student:innen mit hohen Schulden zurücklassen. Ruttes VVD brachte den organisierten Krieg gegen die Arbeiter:innenklasse durch eine neoliberale Umgestaltung des Staates zum Ausdruck.

Bei den Wahlen kämpften die Parteien vor allem um die Themen Migration, soziale Sicherheit, Wohnungsbau und Transparenz der Regierung. Die vorgezogenen Wahlen waren das Ergebnis des Scheiterns der von der VVD dominierten Koalition, die aufgrund großer Differenzen über die Einwanderungspolitik zerbrach. Mark Rutte und die VVD befürworteten einen zweistufigen Ansatz für Asylbewerber:innen, der sie in zwei Kategorien einteilte: diejenigen, die vor einem Krieg, und diejenigen, die aufgrund von Diskriminierung oder Unterdrückung fliehen. Erstere sollten ihre Aufenthaltsgenehmigung verlieren, sobald sich die Lage in ihrem Land verbessert, während Letztere weiterhin in den Niederlanden leben dürften. Darüber hinaus befürwortete die VVD einen strengeren Umgang mit der Familienzusammenführung und plädierte für ein Quotensystem, das die monatliche Aufnahme von Flüchtlingsfamilien begrenzen würde. Die anderen Parteien in der Koalition, wie D66 (Democraten 66) und CU (ChristenUnie; ChristenUnion), waren gegen eine solch harte Einwanderungspolitik, lösten die Regierung auf und es kam zu Neuwahlen.

Geschwächte Arbeiter:innenbewegung

Ein wichtiger Grund für den Wahlsieg der PVV war die geschwächte Gewerkschaftsbewegung. In den Niederlanden sind nur 16 % der Erwerbstätigen Mitglied einer Gewerkschaft, und sie sind nur in einigen wenigen großen Branchen wie dem Bildungswesen, dem Transportwesen und der Logistik gut organisiert. Die bedeutendste Gewerkschaft, die FNV (Federatie Nederlandse Vakbeweging; Niederländischer Gewerkschaftsbund), führt zwar regelmäßig Streiks im Verkehrssektor durch und konnte bessere Arbeitsbedingungen für ihre Mitglieder durchsetzen. Die Gewerkschaft ist jedoch sehr bürokratisch organisiert. Obwohl sie soziale Veranstaltungen für ihre Mitglieder, eine jährliche Maiaktion und Konferenzen zu wichtigen Themen organisiert, unternimmt die FNV keine nennenswerten Anstrengungen, um die Organisation der Basis zu stärken. Es gibt keine regelmäßigen Gewerkschaftssitzungen, auf denen die Mitglieder ihre Anliegen vorbringen, die Gewerkschaftspolitik beeinflussen und eine aktive Rolle in der Gewerkschaft spielen können. Stattdessen liegt die Macht der Organisation zentral in den Händen von Kadern, die alle wichtigen Entscheidungen treffen und die Gewerkschaft leiten. Sie reichen von Berater:innen in den Gewerkschaftshäusern, die die Mitglieder rechtlich beraten, über Organisator:innen, die neue Mitglieder anwerben, bis hin zu Streikunterhändler:innen.

Bei Streiks gibt es nur selten eine Streikpostenkette. Stattdessen werden die Mitglieder lediglich gebeten, zu Hause zu bleiben. Wenn Eisenbahner:innen streiken, versucht die Gewerkschaft nicht, die lohnabhängigen Nutzer:innen einzubeziehen, um zu erklären, warum gestreikt wird, und Solidaritätsausschüsse zu organisieren. Außerdem entscheiden oft die Gewerkschaftsbürokrat:innen darüber, wann gestreikt wird, und nicht die Beschäftigten. Dies hat zur Folge, dass viele Menschen in den Niederlanden die Streiks als lästig empfinden und den Arbeiter:innen gegenüber feindselig eingestellt sind. Eine solche bürokratische Organisation hat dazu geführt, dass die arbeitenden Menschen in den Niederlanden keine starke Gewerkschaft haben, über die sie für ihre Interessen jenseits der unmittelbaren wirtschaftlichen und sektoralen Fragen kämpfen können. Obwohl sich Schichten aktiver Gewerkschaftsmitglieder an politischen Aktionen oder internationaler Solidarität beteiligen, gibt es nur sehr wenige politische Massenkampagnen und Aktivitäten der Gewerkschaften und kaum Streiks oder andere Aktionen, die über wirtschaftliche Fragen hinausgehen. Da sie keinen Nutzen in einer Gewerkschaft sehen, haben sich viele Lohnabhängige in den Niederlanden rechtsextremen Parteien zugewandt. Andere gehen überhaupt nicht wählen, weil sie sich völlig machtlos fühlen und zynisch werden.

Neben einer sehr schwachen Gewerkschaftsbewegung ist auch die niederländische Linke im Laufe der Jahre deutlich geschrumpft. Wie in vielen vom Reformismus beherrschten Arbeiter:innenklassen ist auch in der niederländischen Arbeiter:innenbewegung der Kampf um Löhne und Arbeitsbedingungen historisch gesehen die Domäne der Gewerkschaften, die den politischen Kampf – der seinerseits auf Wahlen ausgerichtet ist – den reformistischen Parteien überlassen. Mit dem Niedergang und der Rechtsverschiebung der Sozialdemokratie und der eher linksgerichteten Sozialistischen Partei ist die Arbeiter:innenklasse auf dem Gebiet der Politik massiv ins Hintertreffen geraten.

Sozialistische Partei

So wie die Gewerkschaften nur in einigen wenigen Sektoren organisiert sind, ist die Sozialistische Partei (SP) nur in einigen wenigen Städten populär. Nachdem sie in den 2000er Jahren gewachsen war und bei den Wahlen 2006 26 Sitze errungen hatte, wandte sich die SP zunehmend gegen den Marxismus und versuchte, sich als gemäßigte, sozialdemokratische Partei zu präsentieren. Zwischen 2015 und 2020 gab es eine linke Opposition in der SP, die von der der CPGB-PCC (Kommunistische Partei Großbritanniens-Provisorisches Zentralkomitee) angeschlossenen Kommunistischen Plattform (KP) angeführt wurde. Die KP betätigte sich in tiefem, strategischen Entrismus in dem Glauben, dass sie die SP durch Radikalisierung umgestalten könnte. Sie übernahm den Vorsitz in vielen Ortsverbänden der SP und hatte Mitglieder, die in die Führung der SP-Jugendorganisation ROOD (Dtsch.: ROT) gewählt wurden.

Unter dem Namen „Marxistisches Forum“ organisierten die KP-Mitglieder interne Diskussionen über marxistische Theorie und waren recht erfolgreich bei der Kontaktaufnahme mit jungen, linken SP-Mitgliedern. Auf der jährlichen SP-Konferenz stellte die KP Anträge und argumentierte für ihre Standpunkte. Es ist ihnen hoch anzurechnen, dass sie einige ernsthafte Probleme in der Sozialistischen Partei ansprachen, wie Islamophobie, migrant:innenfeindliche Einstellungen und Nationalismus. Außerdem sprachen sie sich gegen die Beteiligung an einer Koalition mit einer der bürgerlichen Parteien aus und versuchten, auf einigen Kampagnen der SP aufzubauen, z. B. der Organisierung von Mieter:innengewerkschaften.

Im Jahr 2020 griff die SP-Führung die Mitglieder der Kommunistischen Plattform mit den übelsten antikommunistischen und bürokratischen Methoden an. Anfänglich schloss die SP-Führung nur KP-Mitglieder und Teilnehmer:innen des Marxistischen Forums aus. Als jedoch ein KP-Mitglied in die Führung von ROOD gewählt wurde, lösten die SP-Bürokrat:innen ROOD auf und gründeten eine neue Jugendorganisation namens Junge in der SP. Auch die niederländische Sektion des Vereinigten Sekretariats der IV. Internationale (Grenzeloos; Grenzenlos, Zeitung der Socialistische Alternatieve Politiek, Sozialistische Alternative Politik, SAP, Sektion der IV. Internationale) hatte einige Mitglieder in der SP, die bei den Kommunalwahlen kandidierten und bei den Mitgliedern beliebt waren. Die SP-Führung schloss auch sie aus, ebenso wie jede/n, der/die auch nur am Rande mit der KP in Verbindung gebracht wurde. Nachdem der gesamte linke Flügel der Sozialistischen Partei gesäubert worden war, verlor die SP an Popularität und Tausende ihrer engagiertesten Aktivist:innen.

Die aus der SP ausgeschlossenen Linken bildeten rasch eine neue Gruppe, die sich Sozialist:innen nannte und einem ähnlichen Modell wie die brasilianische PSOL (Partido Socialismo e Liberdade; Partei für Freiheit und Sozialismus) folgte. ROOD arbeitete weiterhin als sozialistische Jugendorganisation, organisierte gelegentlich marxistische Seminare und nahm an Demonstrationen teil. Leider sind weder die Sozialist:innen noch ROOD effektive Organisationen. Ihr Ausschluss aus der SP hat dazu geführt, dass sie sehr nach innen gerichtet sind und sich nicht wirklich mit der Arbeiter:innenklasse und den Volksmassen auseinandersetzen können. Sie haben zwei Kongresse abgehalten, aus denen einige programmatische Dokumente und eine Verfassung hervorgingen, aber kein wirkliches Publikum für ihre Politik, außer sich selbst. Diejenigen, die sich nicht den Sozialist:innen anschlossen, traten der BIJ1 (niederländisches Kürzel für Bijeen; Zusammen) bei, einer kleinbürgerlichen radikalen Partei, die sich vor allem für den Kampf gegen Rassismus und trans Rechte einsetzt. Das Programm von BIJ1 enthält zwar viele fortschrittliche Reformen, doch die Notwendigkeit einer sozialistischen Revolution wird darin nie erwähnt. Ihre theoretische Grundlage bilden Intersektionalität und Postmodernismus, auch wenn sie einige Ideen aus dem Marxismus aufgegriffen hat. Jeder persönliche Konflikt in BIJ1 führt zu einer Krise, und es gab regelmäßig Vorwürfe über ein toxisches Umfeld. Bei den Wahlen im November büßte BIJ1 ihren einzigen Parlamentssitz ein und hat seitdem an Bedeutung verloren.

In Ermangelung einer starken Linken und einer geschwächten Gewerkschaftsbewegung verfügte die Arbeiter:innenklasse weder über eine Führung noch ein Mittel, um sich zu wehren. Viele Werktätige, die für die PVV stimmten, verstanden, dass Rutte und die VVD Teil des Problems waren. Sie spürten es in ihrem Portemonnaie, sahen es in ihren Renten und erlebten während der vier Kabinette Ruttes eine deutlich geringere Lebensqualität. Leider hatte die Mehrheit der arbeitenden Menschen keine Gewerkschaft, die gegen die Sparmaßnahmen ankämpfte, und auch keine sozialistische Bewegung, die ihnen die Ursachen ihrer Probleme erklären konnte. Da sie weder der VVD noch einer der Parteien der Mitte (NSC, D66 usw.) vertrauten, wandten sich viele an Geert Wilders, der versprach, sofort zu handeln und ihre Situation zu verbessern.

Rassistische Wahlkampagnen

In den Debatten vor den Wahlen und über die Programme der bürgerlichen Parteien machten die rechtsextremen Parteien die Migrant:innen für alle von Rutte und der VVD verursachten Probleme verantwortlich. Sie nutzten das fremdenfeindliche Klima, um Arbeitsmigrant:innen, Asylbewerber:innen, internationale Student:innen und sogar Staatenlose für die Wohnungskrise verantwortlich zu machen. Parteien wie die PVV, die FvD (Forum voor Democratie; Forum für Demokratie) und der BBB (BoerBurgerBeweging; Bauer-Bürger-Bewegung) argumentierten, dass die Niederländer:innen keinen bezahlbaren Wohnraum finden, weil alle bezahlbaren Wohnungen von Migrant:innen besetzt sind. Sogar das Wahlbündnis aus Grünen und Arbeiter:innenpartei (GroenLinks-PvdA), das auch eine gemeinsame Fraktion in der Ersten und Zweiten Kammer der Generalstaaten (niederländisches Parlament) bildet, sprang auf den Zug auf. Obwohl sie keine so harte Haltung gegenüber Migrant:innen einnehmen, haben sie es wie die übrigen Parteien versäumt, den Mangel an bezahlbarem Wohnraum in den Kontext neoliberaler Reformen zu stellen.

Die einzige Partei, die dies tat, war die Sozialistische Partei (SP), die immer wieder darauf hinwies, dass die Wohnungsknappheit das Ergebnis von 13 Jahren Rutte sei, die zu einer massiven Privatisierung des sozialen Wohnungsbaus geführt hätten. Anstatt Migrant:innen für die Wohnungskrise verantwortlich zu machen, plädierte die SP für einen massiven sozialen Investitionsplan, um den öffentlichen Wohnungsbau auszubauen, Mietkontrollen auf dem privaten Wohnungsmarkt einzuführen und bezahlbaren Wohnraum für alle zu gewährleisten. Leider hat die SP nur eine sehr schwache Unterstützungsbasis und ist nur in einigen wenigen Teilen des Landes sowie bei Gewerkschaftsmitgliedern und progressiven Aktivist:innen beliebt.

Weitere Themen, die häufig genannt wurden, waren bessere Arbeitsplätze, Renten und soziale Sicherheit. Genau wie beim Wohnungsbau argumentierten rechte Parteien wie die PVV, die VVD und die BBB, dass Migrant:innen alle Arbeitsplätze besetzen und es notwendig ist, die Migration zu begrenzen, um den Niederländer:innen eine sicherere Existenz zu gewährleisten. Wilders behauptete, dass seine Partei durch die Begrenzung der Zuwanderung das Rentenalter der Niederländer:innen senken, den Mindestlohn anheben und die soziale Sicherheit erhöhen würde. Keine der rechtsbürgerlichen Parteien hat gezeigt, dass die wirkliche Ursache für niedrige Löhne, teure Bildung und Gesundheitsversorgung, die Zerstörung des Sozialstaats und eine unsichere Existenz das Ergebnis des Neoliberalismus ist. 

Die Partei der Arbeit (PvdA) versprach zwar, Bildung wieder erschwinglich zu machen, die Gesundheitskosten zu senken und den Mindestlohn auf 16 Euro pro Stunde zu erhöhen, kritisierte aber nie öffentlich die Rolle, die sie bei der Umsetzung der schlimmsten Elemente von Ruttes Neoliberalismus spielte. Während Ruttes zweitem Kabinett war die PvdA in einer Koalition mit der VVD und besetzte viele Minister:innenposten. Als enge Verbündete der niederländischen Bourgeoisie trug die PvdA-Minister:innenriege zur Umsetzung der Sparpolitik bei, stimmte für die von der VVD vorgeschlagenen neoliberalen Reformen, stellte sich gegen die Gewerkschaften und verriet ihre Arbeiter:innenbasis vollständig. Aus diesem Grund haben viele Arbeiter:innen in den Niederlanden das Vertrauen in die PvdA verloren und suchten bei den letzten Wahlen bei den rechten Parteien nach Antworten.

Eine Rechts- oder eine Mitte-Links-Regierung?

Obwohl die PVV 37 Parlamentssitze gewonnen hat, stellt Wilders fest, dass die Bildung einer Koalition keine leichte Aufgabe sein wird. Nach seinem Wahlsieg wurde dem Parteiführer schnell klar, dass er nur mit Unterstützung der VVD und des NSC eine Regierung bilden kann. Ob diese gelingt steht in den Sternen, nachdem die NCS die Koalitionsverhandlungen verlassen hat.

Um die Unterstützung von NSC und vor allem der VVD zu erhalten, müsste Wilders einige der wichtigsten Versprechen, die er den PVV-Wähler:innen gemacht hatte, opfern. Obwohl sich VVD und NSC für eine strenge Migrationspolitik einsetzen, werden sie sich nicht an einer Koalition beteiligen, die die Grenzen schließt und Tausende von Flüchtlingen abschiebt. Außerdem will die VVD das Renteneintrittsalter auf 69 Jahre anheben und wird keiner Koalition beitreten, die sich nicht dafür einsetzt. Wilders müsste also diejenigen verraten, die ihn als Verfechter ihrer Renten wahrgenommen haben. Die VVD ist einer der eifrigsten Verteidigerinnen des ukrainischen Regierungschefs Selenskyj und liefert Waffen an die ukrainische Armee, was im Widerspruch zu Wilders‘ prorussischer Haltung und seiner Forderung nach einer geringeren Unterstützung für die Ukraine steht.

Dies offenbart eine grundlegende Tatsache: Die VVD bleibt, obwohl sie weniger Sitze als zuvor hat, das politische Instrument, mit dem die niederländische Bourgeoisie den kapitalistischen Staat regiert. Sie nutzt alle Täuschungen und Manipulationen der bürgerlichen Demokratie, um ein rechtes Kabinett mit der PVV zu organisieren. Die VVD hat nach wie vor das Sagen und ist in der Lage, die Zusammensetzung der nächsten Regierung zu bestimmen. Obwohl die PVV eine bürgerliche Partei ist und sich voll und ganz dem Kapitalismus verschrieben hat, wird sie nur von einzelnen Teilen der niederländischen Bourgeoisie unterstützt. Die VVD hat einen Rechtsruck vollzogen, weil die geschwächte Gewerkschaftsbewegung und eine desorganisierte Linke viele Werktätige (und viele Teile des Kleinbürger:innentums) nach rechts gedrängt haben.

Bei den Gesprächen zur Kabinettsbildung kündigte Wilders an, dass er bereit sei, bei den meisten seiner Versprechen Kompromisse einzugehen, z. B. bei der Schließung der Grenzen, der Abschiebung von Zuwandernden, der Senkung des Rentenalters und der Gesundheitskosten. Daher wird die PVV trotz ihrer 37 Sitze ihr Programm so anpassen müssen, dass es mit der VVD und der NSC übereinstimmt. Ein Kabinett, das sich aus PVV, VVD und NSC zusammensetzt oder eine Minderheitsregierung, die von VVD und NSC geduldet wird, wird sicherlich rechter und rassistischer sein als alle anderen, aber es stellt keine grundlegend neue Situation dar. Die Hauptleidtragenden werden die Asylbewerber:innen sein, denn die kommende Regierung wird die 

Einrichtungen nicht verbessern, die Familienzusammenführung von Flüchtlingen erschweren und ein schwierigeres Umfeld für sie schaffen. Da sie die neoliberalen Sparmaßnahmen von Rutte fortsetzen wird, kann sie die Krise nicht lösen. Daher wird sie wahrscheinlich instabil und unpopulär sein und ein Umfeld mit verschärften Kämpfen schaffen.

Faschismus?

Einige haben behauptet, der Sieg der PVV und anderer rechter Parteien bedeute, dass in den Niederlanden eine faschistische Gefahr bestehe. Aber im Allgemeinen kommt ein faschistisches Regime nur als Ergebnis einer langen Periode an die Macht, die durch eine intensive Krise und eine Verschärfung des Klassenkampfes gekennzeichnet ist, eine Situation, in der die herrschende Klasse darauf zurückgreifen muss, die politische Exekutive an Parteien zu übergeben, die ihren Ursprung in einer faschistischen Massenbewegung haben, einer Bewegung von wütenden Kleinbürger:innen, die als militarisierte Kraft (mit Milizen, Banden) eingesetzt wurden, um die Arbeiter:innenbewegung, ihre Gewerkschaften und politischen Parteien, seien sie revolutionär oder reformistisch, zu zerschlagen.

In den Niederlanden haben weder politische noch wirtschaftliche Krise solche Siedepunkte erreicht. Das heißt jedoch nicht, dass die kommenden Jahre nicht doch zu einer Formierung größerer faschistischer Organisationen – außerhalb oder innerhalb der PVV – führen könnten. Bereits jetzt fühlt das Kleinbürger:innentum die Auswirkungen der Wirtschaftskrise am schmerzhaftesten. Faschismus beginnt in den kleinbürgerlichen, unorganisierten proletarischen und Sektoren der kapitalistischen Klasse, die eine Massenbewegung mit arbeiter:innenfeindlichen reaktionären Forderungen und Antikommunismus erzeugen. Mit extremem Rassismus, Nationalismus rufen faschistische Bewegungen nach einem starken Nationalstaat, gewöhnlich mit einem/r Führer:in im Mittelpunkt, und verteufeln eine bestimmte Gruppe für die Probleme, die der Kapitalismus verursacht. Wenn die fortdauernde Existenz des Kapitalismus in ernsthafte Gefahr gerät, unterstützt die Bourgeoisie faschistische Bewegungen, um die Arbeiter:innenorganisationen komplett zu zerschlagen. Eine Einheitsfront aller Arbeiter:innenorganisationen wird dann zum Schlüssel zur Bekämpfung des Faschismus und zur Umwandlung in einen Kampf für den Sozialismus.

Die Bedingungen für den Faschismus sind in den Niederlanden (noch) nicht vorhanden, und der Sieg von Geert Wilders’ PVV wird nicht zu einer faschistischen Regierung führen, wenngleich er ein rechter rassistischer Politiker ist. Damit sollen nicht die gegenwärtigen Gefahren heruntergespielt werden. Die PVV wird fraglos von faschistischen Ideen beeinflusst und teilt einige Forderungen des Rechtspopulismus und Faschismus wie den Ruf nach Abschiebung aller Syrer:innen aus den Niederlanden, die Opposition gegen „die Elite“ sowie den extremen Nationalismus.

Anders als der Faschismus haben die PVV und andere rechte bürgerliche niederländische Parteien nicht zu außerparlamentarischen Kampf- und Organisationsmitteln gegriffen. Sie wollen vielmehr einer noch rechteren, reaktionären und autoritären Regierungsform im Rahmen der niederländischen bürgerlichen Herrschaft den Weg ebnen. Trotz Hochinflation und Wirtschaftskrise nach der Pandemie muss die herrschende Klasse der Niederlande keine Bedrohung durch soziale Unruhen oder die Arbeiter:innenbewegung befürchten. Sie hat die Situation sogar noch zur Rechtfertigung von Sozialabbau und Stärkung ihrer Position genutzt. Wilders’ Erfolg wird also nicht mehr als Melonis Italien zu einem faschistischen Staat führen.

Was tun?

Das heißt wiederum nicht, dass wir nicht faschistische Ideen, die sich regelmäßig in rechten Parteien breitmachen, wie den Identitarismus, die Theorie des „großen Bevölkerungsaustauschs“ oder den weißen Nationalismus denunzieren sollen. Rassismus und Nationalchauvinismus sind extrem schädlich für die Arbeiter:innenklasse, und Kommunist:innen haben die Pflicht, dieses Gift, wo es auch auftritt, auszumerzen. Kapitalist:innen verbreiten Rassismus, um die Arbeiter:innenklasse zu spalten und die eigene Macht zu stärken. Durch Gegenüberstellung von weißen niederländischen Arbeiter:innen mit Arbeitskräften anderer Herkunft – Syrien, Türkei, Marokko, Polen oder Ukraine – lähmt die niederländische Kapitalist:innenklasse die Kampfkraft der Arbeiter:innenklasse. Der Rassismus von PVV und ihren verbündeten Parteien ermöglichte der niederländischen Bourgeoisie, von den wahren Ursachen der Krise im Land abzulenken und die Schuld dafür den Einwandernden aufzubürden.

Obwohl die PVV für die herrschende Klasse nicht die erste Wahl unter den politischen Parteien darstellt, hält sie die Kapitalist:innenklasse an der Macht, bar jeder wirklichen Opposition. Deswegen ist es grundlegend, dass wir eine klare Kante gegen Rassismus und verderbliche Spaltungen, die er in der Arbeiter:innenklasse hervorruft, zeigen. Unsere Losung sollte lauten: „Schwarz, braun, asiatisch, weiß, Zusammenschluss aller Arbeiter:innen!“ und unter dieser gilt es, einen harten Kampf gegen die rassistische, chauvinistische Politik der kommenden Regierung führen.

Für eine starke Arbeiter:innenbewegung in den Niederlanden!

Gegen Rassismus, Nationalchauvinismus und alle zersetzenden Ideologien, die die Arbeiter:innenklasse spalten!

Aufbau militanter Basisgewerkschaften als Instrument zur Gegenwehr gegen die kommende Regierung!

Für einen sozialistischen niederländischen Staat als Teil der Vereinigten Sozialistischen Föderation von Europa!




Taiwan als Spielball der Mächte

Urs Hecker, REVOLUTION, Infomail 1243, 28. Januar 2024

Die globale Entwicklung der letzten Jahre ist geprägt durch eine immer stärkere Konfrontation Chinas mit den USA und dem restlichen westlichen Block. Auf einer bereits aufgeteilten Welt will die neue und wachsende imperialistische Macht China ihr eigenes Stück vom Kuchen der globalen Ausbeutung, während die bisher dominierende Supermacht USA ihre Stellung und Beute sichern will. Vorangetrieben wird diese Konfrontation durch die sich immer weiter verschärfende globale kapitalistische Krise, welche die imperialistischen Staaten dazu zwingt, neue Absatzmärkte zu erobern. Taiwan liegt genau an der Frontlinie dieser Konfrontation und ist eine der am heißesten umkämpften Stellungen. Jetzt hat Taiwan den Präsidenten gewählt: Der „chinakritische“ Kandidat der liberalen DPP (Demokratische Fortschrittspartei) Lai Ching-te hat gewonnen. Doch es stellt sich die Frage, ob Taiwan sich in diesem Weltsystem überhaupt seinen eigenen Weg aussuchen kann.

Kurzer Abriss der Geschichte Taiwans

Die frühesten Besiedelungen Taiwans durch den Homo sapiens lassen sich bis auf ungefähr 20.000 vor unserer Zeit zurückdatieren, als während der Kaltzeit eine Landbrücke die Insel mit dem heutigen China verband. Auch wenn es in der frühen chinesischen Geschichte immer wieder Migrationswellen vom Festland nach Taiwan gab, so setzte erst in der ersten Hälfe des 1. Jahrtausends eine erste Sinisierung unter der Han-Dynastie ein. Danach brachen jedoch die Verbindungen zum Festland weitgehend ab und blieben bis zum 15. Jahrhundert peripher.

Mit dem Beginn des Zeitalters des Kolonialismus breiteten sich ab 1517 europäische Handelsmächte in Taiwan aus, vor allem die Niederlande und später Spanien. Ab diesem Zeitraum rückte Taiwan auch stärker ins Blickfeld Chinas oder genauer: konkurrierender Dynastien in China. Aufgrund des Vordringens der Mandschu versuchten loyale Unterstützer:innen der Ming-Dynastie, in Taiwan eine neue Basis für die Rückeroberung Chinas auszubauen. 1661 erobert eine 35.000 Mann starke Armee unter dem Ming-Loyalisten Zheng Chenggong Taiwan und 1662 auch die niederländischen Besitzungen.

Doch diese Herrschaft endete rasch, als die Insel 1682 von der chinesischen Qing-Dynastie erobert wurde und Taiwan erstmals zu einem Teil des chinesischen Kaiserreichs geriet, das bis 1912 bestand. Zum Zeitpunkt der Eroberung basierte der Staat auf einer vorkapitalistischen Produktionsweise, die Marx als asiatische charakterisierte, die man also nicht mit bürgerlichen Nationalstaaten samt nationaler/m Identität und Anspruch vergleichen kann. 1895 verlor die Qing-Dynastie die Insel an Japan. Taiwan blieb bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs japanische Kolonie.

Nach dem Zweiten Weltkrieg brach erneut ein Bürgerkrieg in Festlandchina zwischen der nationalistischen Kuomintang (KMT) und der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) aus. Als sich der Sieg der stalinistischen KPCh abzeichnete, floh die KMT zusammen mit Teilen der festlandchinesischen Bourgeoisie und Verwaltung nach Taiwan. Sie errichtete dort eine bonapartistische Diktatur mit Unterstützung der USA. Sie gab sich weiter als legitime Regierung ganz Chinas aus, obwohl sie keinen Teil des Festlandes mehr kontrollierte. Die KMT vertrat das Interesse der vom Festland geflohen Bourgeoisie und gab als Parole seine Rückeroberung aus. Sie selbst verdankte ihr Überleben aber nur dem US-Imperialismus, der sie vor einer Invasion der Volksrepublik schützte. In den 1970er und 1980er Jahren erlebte Taiwan ein starkes Wirtschaftswachstum und es entwickelte sich taiwanesisches Kapital, was sich auf die Tradition und Nachkommen der Menschen bezieht, die schon vor 1945 dort lebten. Diese gründeten nun ihre eigene Partei, die DPP, und forderten politische Unabhängigkeit, vor allem von der Volksrepublik. Dies gelang und Ende der 1980er Jahre wandelte Taiwan sich langsam in eine bürgerliche Demokratie. Die KMT regierte trotz Endes der Diktatur jedoch erstmal weiter und begann, sich nach der kapitalistischen Restauration auf dem Festland diesem anzunähern. Zentral ist dafür die 1992 mit der Volksrepublik getroffene Vereinbarung zum „Ein-China-Prinzip“, gemäß dem beide Länder anerkennen, dass es nur ein China gibt, sodass nur sehr wenige Länder eigenständige Diplomatie mit Taiwan führen. Die DPP gewann erstmals 2013 die Wahlen zur Präsidentschaft und zum Parlament und stellt seitdem die Regierung. Sie lehnt das „Ein-China-Prinzip“ ab und steht für die Unabhängigkeit Taiwans.

Wirtschaftsaufschwung gebremst

Taiwans Wirtschaftsaufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg basierte auf riesigen US-Investitionen ähnlich wie im Fall der Republik (Süd-)Korea. Das Militärregime sorgte für billige Arbeitskräfte. Das Kriegsrecht endete erst 1987 und 1996 fanden die ersten Wahlen statt.

Doch Taiwans Volkswirtschaft steht vor massiven Problemen. Außerhalb des Halbleitertechnologiesektors stagniert seine Position in der globalen Wertschöpfungskette. Branchen mit niedriger Kapitalproduktivität wie Textil, Chemie und Rohmetalle tragen zur Hälfte seiner Industrieproduktion bei. Seine Stellung innerhalb der internationalen Wertschöpfungsstufenleiter ist zudem arg gefährdet. Die Ironie der zunehmenden innerimperialistischen Konkurrenz verlangt immer gebieterischer, dass Taiwans Schlüsselsektor sich zunehmend in die USA (Arizona), nach Japan und Deutschland verlagert (Chip Act). Gleichzeitig nimmt der so bedeutende Handel mit der Volksrepublik dieser Logik zufolge ab. Außerhalb des Hightechsektors verliert der Produktivitätszuwachs ständig an Fahrt. Der taiwanische „Tiger“, ab den späten 1970er Jahren als sicherer Beitrittskandidat in den erlesenen Club imperialistischer Mächte gehandelt, scheint das Schicksal anderer Tigerstaaten zusehends zu teilen, sein Ende nicht im imperialistischen Kuschelbett zu finden, sondern davor – als Bettvorleger.

Die Wahl und die Kandidat:innen

Am 13. Januar 2024 fanden die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Taiwan statt.

Gewonnen hat Lai Ching-te von der regierenden DDP. Er hatte verschiedene Ministerposten innerhalb der alten Regierung inne und steht für eine Fortsetzung der bisherigen, konfrontativen und pro-US-amerikanischen Politik gegenüber der Volksrepublik der letzten Jahre. Er hatte sich selbst einst als „pragmatischen Arbeiter für Taiwans Unabhängigkeit“ beschrieben. Er ist aber infolge des Wahlkampfs aufgrund der Angst vor einer noch größeren Eskalation innerhalb der Bevölkerung zurückgerudert. Heute spricht er davon, den Status quo zu erhalten, die Anbindung an den Westen zu stärken und die Verteidigungsausgaben zu erhöhen. Wie schon erwähnt ist die Wahlbasis der DPP der Teil der Bevölkerung, dessen Wurzeln auf die Besiedlung während der Qing-Dynastie zurückgehen. Diese Gruppe sieht sich vor allem als Taiwanes:innen und höchstens sekundär auch als Chines:innen. Die DPP vertritt vor allem die Interessen der „kleineren“ sich als taiwanesisch verstehenden Bourgeoisie und des taiwanesischen Kleinbürger:innentums. Sie ist eine enge Verbündete des US–Imperialismus und wird auch entsprechend stark von westlichen Medien im Wahlkampf unterstützt. Sie versucht, für ein formal unabhängiges, stark an den Westen angebundenes, liberal-demokratisches Taiwan zu kämpfen.

Auch gute Chancen hatte der Präsidentschaftskandidat der Kuomintang, Hou Yu-ih. Der ehemalige Polizeipräsident von Taipeh ist der klassische Repräsentant der Bürokratie und des Großbürger:innentums. Die Kuomintang steht seit der kapitalistischen Restauration in der Volksrepublik dieser deutlich wohlwollender gegenüber als zuvor. So haben die verschiedenen Kuomintang-Regierungen vor 2013 einen Entspannungs- und Annäherungskurs gegenüber der Volksrepublik gefahren und vor allem die wirtschaftlichen Verflechtungen stark ausgebaut. Auch heute wirft sie der DPP vor, das Land in den Krieg zu stürzen, und strebt den Dialog mit der Volksrepublik an. Die Wahlbasis der KMT bleiben vor allem die Nachkommen der nach dem Bürgerkrieg eingewanderten Festlandchines:innen, aber auch Teile der indigenen Taiwanes:innen. Die KMT vertritt in Taiwan vor allem das Interesse des Großkapitals, das aufgrund seiner engen wirtschaftlichen Verbindung zum Festland Entspannung gegenüber der Volksrepublik anstrebt. Und was auch von einer potenziellen „Wiedervereinigung“ profitieren könnte, da sie dann Teil eines imperialistischen Staates wären und die Privatkapitalist:innen ein wichtigerer Bestandteil der herrschenden Klasse werden könnten. Trotz des rhetorischen Fokus auf Entspannung steht auch die KMT für eine Erhöhung der Rüstungsausgaben. Sie wird sie vor allem von chinesischen Medien unterstützt.

Eher kleinere Chancen hatte der Überraschungskandidat Ko Wen-je der Taiwanischen Volkspartei. Ko ist ein ehemaliger Chirurg und probiert, sich als „Mittelweg“ zwischen KMT und DPP zu präsentieren. Er lehnt die harte Politik der DPP gegenüber der Volksrepublik ab, wirft aber auch der KMT vor, dieser zu freundlich gegenüberzustehen. Ko zieht dabei vor allem junge Wähler:innen an und Menschen, die sich vom bisherigen Zwei-Parteien-System nicht vertreten fühlen. Er vertritt eine populistische „volksnahe“ Politik. Hatte er anfangs noch gute Chancen, ist er gegen Ende eher in den Hintergrund gerückt. Zwischenzeitlich stand eine Koalition zwischen der KMT und seiner Volkspartei im Raum, welche aber letztendlich an Streitigkeiten über Posten und Ämter scheiterte. Ko ist aber auch interessant, da er, auch durch seine politische Unerfahrenheit, dazu neigt, die Dinge klarer zu benennen. In einem Interview mit Bloomberg sagte er zur Frage über die Ausrichtung gegenüber China: „Zurzeit ist der Status quo die einzige Wahl, die wir haben, weil die USA Taiwan sich nicht mit China vereinigen lassen (würden) und China nicht zulassen würde, dass Taiwan unabhängig wird.“

Selbstbestimmung und globale Ordnung

Diese erfrischende Ehrlichkeit eines bürgerlichen Politikers trifft den Nagel auf den Kopf. Eine, wenn nicht die zentrale Frage für die meisten Menschen auf Taiwan, die nach dem nationalen Selbstbestimmungsrecht, stößt innerhalb des imperialistischen Weltsystems direkt auf die Großmachtinteressen Chinas und der USA. Denn Taiwan ist eine Halbkolonie. Das bedeutet, dass seine Stellung in der Weltordnung durch das Finanzkapital und die geostrategischen Interessen anderer bestimmt wird, sowohl auf ökonomischer Ebene als auch auf politischer. Taiwan ist vor allem von den USA abhängig.

Diese Abhängigkeit ist historisch entstanden, da Taiwan ohne militärische und wirtschaftliche Unterstützung der USA längst erobert worden wäre, und wurde zu der Zeit, als die Volksrepublik noch ein degenerierter Arbeiter:innenstaat war, als kapitalistischer Gegenentwurf zu dieser aufgebaut. Nach der kapitalistischen Restauration blieb diese Abhängigkeit bestehen. Das Interesse der USA an Taiwan ist ein wirtschaftliches so wie ein militärisch-geostrategisches. Neben dem erweiterten Ressourcen- und Absatzmarkt, den Taiwan dem US-Kapital bietet, wird dort ein Großteil der weltweiten Halbleiterchips produziert. Diese sind zentral für digitale Produkte aller Art. Aus militärstrategischer Sicht ist Taiwan für die USA wichtig, da es zusammen mit Japan und den Philippinen eine Inselkette bildet, die es ermöglicht, der chinesischen Flotte den Zugang zum Pazifik zu verwehren.

Aus diesen Gründen will auch China Taiwan in seinen Einflussbereich verschieben und schlussendlich annektieren. Daneben spielt es für die chinesische Regierung eine besonders wichtige ideologische Rolle: Durch eine Annexion könnte sich die „KP“ Chinas als Vollenderin der „chinesischen Einheit“ darstellen und die Hoffnung der breiten Massen auf eine bürgerliche Demokratie ersticken.

Für die imperialistischen Mächte ist Taiwan in diesem Konflikt bloße Beute, ein Staat, der im Zentrum des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt steht! Weder durch eine fortgeführte Politik der Unterordnung unter die USA noch durch eine Annäherung an die Volksrepublik kann sich die taiwanesische Bourgeoisie aus dieser Lage herausmanövrieren. Taiwan wird in einen Konflikt gezwungen, dessen mögliche Konsequenzen – einen Krieg zwischen den USA und China – die große Mehrheit der Menschen auf der Insel zu Recht fürchtet. Zugleich will sie aber auch berechtigterweise ihr Recht auf Selbstbestimmung nicht opfern.

Teilweise können wir in den bürgerlichen Medien lesen, dass Taiwans wichtige Stellung in der Halbleiterproduktion einen Krieg verhindern würde. Es wird argumentiert, dass dadurch die Weltwirtschaft (einschließlich der USA und Chinas) enormen Schaden nehmen würde und dies nicht im Interesse der „Supermächte“ wäre. Zweifellos spielt dies eine Rolle dabei, dass der aktuelle Konflikt noch nicht über Drohungen, diplomatische militärische Manöver hinausgegangen ist. Aber der Verweis auf bestehende wirtschaftliche Vorteile des Friedens verkennt, dass die Zuspitzung der innerimperialistischen Rivalität – siehe nur die ökonomischen Verflechtungen zwischen den Großmächten vor dem 1. oder 2. Weltkrieg – früher oder später trotz deren Verbindungen in einen heißen Krieg umschlagen kann, ja irgendwann wird, sollte die Arbeiter:innenklasse nicht vorher „ihre“ herrschenden Klassen stürzen.

Es ist daher auch kein Zufall, dass sich die Staaten gegenüber einem „Ausfall“ Taiwans abzusichern beginnen. So baut baut China zurzeit selbst seine eigene Halbleiterproduktion auf und wird im Laufe der Zeit unabhängig von der auf Taiwan werden. Zum anderen steigert gerade die wichtige wirtschaftliche Rolle Taiwans die Konkurrenz der imperialistischen Länder um die Insel.

Auf dem Boden der kapitalistischen Produktionsweise kann Taiwan wie jede andere Halbkolonie natürlich niemals wirklich unabhängig werden, da die wirtschaftlichen Abhängigkeiten weiter bestehen und die kapitalistischen Länder nichts davon abhalten würde, Taiwan erneut zu unterwerfen. Zum anderen müssen wir aber festhalten, dass wie Lenin in den Diskussionen um die nationale Frage in der kommunistischen Bewegung immer wieder betonte, das nationale Selbstbestimmungsrecht keine ökonomische, sondern eine politische Kategorie ist. Das heißt, es bezieht sich auf die Frage der politischen Selbstbestimmung (eigenes Territorium, eigene Regierungsform, …). Dies ist im Kapitalismus verwirklichbar, auch wenn die Realisierung der nationalen Selbstbestimmung die ökonomischen Abhängigkeiten auf dem Weltmarkt und die imperialistische Konkurrenz nicht beseitigt. Daher ist der Kampf um nationale Selbstbestimmung und erst recht die Kontrolle über die eigenen Ressourcen gerade bei geostrategisch so wichtigen Ländern, die gewissermaßen an den tektonischen Grenzen der Einflusssphären der Großmächte liegen, so eng mit dem globalen Kampf gegen jeden Imperialismus verbunden.

Wie kann wirkliche Selbstbestimmung für die Menschen Taiwans aussehen?

Da die verschiedenen Flügel der Bourgeoisie Taiwans ihr und des Landes Schicksal mit dem konkurrierender imperialistischer Mächte verknüpft haben, kann es keine wirkliche Selbstbestimmung unter ihrem Regime geben. Sie werden immer mehr oder weniger offene, despotische oder „demokratische“ Vasallen einer Großmacht sein.

Es braucht also einen Systemwechsel auf Taiwan, aber in letzter Konsequenz natürlich weltweit. Denn nur wenn die ausländischen Konzerne enteignet und unter Arbeiter:innenkontrolle gestellt werden, nur wenn Taiwan die US-Basen schließt, kann es sich von der proimperialistischen Politik der herrschenden Klasse lösen. Eine solche Entwicklung würde freilich auf den Widerstand beider Großmächte stoßen. In Taiwan würde das eine Revolution und die Errichtung einer Arbeiter:innenregierung erfordern, die sich auf Räte und Milizen stützt.

Vor allem müsste ein solches sozialistisches Taiwan mit Interventionen beider Großmächte rechnen. Es bräuchte daher die Solidarität der Arbeiter:innenklasse weltweit, vor allem aber der chinesischen und US-amerikanischen. Revolutionär:innen müssen daher in den USA und China für die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts Taiwans eintreten. Sie müssen in China gegen die nationalistischen Mythen und die großchinesischen imperialistischen Eroberungspläne kämpfen. In den USA müssen sie für den Abzug der US-Truppen aus Taiwan wie von allen anderen Flotten- und Militärstützpunkten in Asien eintreten. In Deutschland und anderen mit den USA verbündeten Ländern müssen wir gegen deren imperialistischen Ziele, gegen die militärische Aufrüstung, jede Truppenstationierung in Ostasien und jede Intervention kämpfen.

Nur so kann eine Grundlage gelegt werden, um die Verteidigung des Selbstbestimmungsrechts Taiwans mit dem Kampf gegen das globale System des Imperialismus zu verbinden. Nur so kann verhindert werden, dass die imperialistischen Länder Taiwan und die ganze Welt in ihren Krieg zerren. Um diesen Kampf zu führen, müssen wir eine internationale Bewegung der Arbeiter:innen und Jugend aufbauen in Taiwan, Deutschland, China, in den USA und überall sonst auf der Welt. Wir müssen uns gegen jede imperialistische Aggression stellen und den Kampf für nationale Selbstbestimmung mit dem gegen dieses System verbinden. In Taiwan bedeutet das, dass wir für das Recht der Taiwanes:innen einstehen, selbst entscheiden zu können, zu welcher Nation sie gehören. Dieses müssen wir mit dem Kampf für eine sozialistische Föderation in ganz Ostasien verbinden.




Argentiniens Präsidentschaftswahlen: Für das „kleinere Übel“ zu stimmen, bringt nichts

Tim Nailsea, Neue Internationale 278, November 2023

Die erste Runde der argentinischen Parlamentswahlen endete mit einem klaren Vorsprung für den peronistischen Wirtschaftsminister Sergio Massa, der 37 Prozent der Stimmen erhielt. Der demagogische rechtsextreme neoliberale Kandidat Javier Milei kam mit 30 Prozent auf den zweiten Platz. Die konservative Patricia Bullrich lag mit 24 Prozent hinter ihnen. Sie hat nun Milei für die Stichwahl unterstützt, aber die Koalition, die sie unterstützte, hat sich gespalten, da zwei ihrer drei Parteien, die Bürgerliche Koalition und die Radikale Partei, sich weigern, ihr zu folgen. Nur wenn es Milei gelingt, die meisten Bullrich-Wähler für sich zu gewinnen, wird er genug haben, um Massa zu besiegen. Massa hofft jedoch, Stimmen von ihren konservativen Anhängern zu gewinnen, die über ihr Bündnis mit dem Demagogen Milei entsetzt sind.

Die einzige Stimme der Arbeiter:innenklasse, Myriam Bregman, Präsidentschaftskandidatin der FIT-U (Frente de Izquierda y de Trabajadores – Unidad = Vereinigte Front der Linken und der Arbeiter:innen) eines Wahlblocks aus vier Parteien, die verschiedenen trotzkistischen Traditionen angehören, erzielte knapp drei Prozent der Stimmen – etwa 850.000 Stimmen. Cristian Castillo von der PTS (Partido de los Trabajadores Socialistas, Partei der Sozialistischen Arbeiter:innen), wurde für die Provinz Buenos Aires gewählt und fügte den vier bei den Zwischenwahlen gewählten FIT-U-Abgeordneten einen weiteren hinzu. Aber die unmittelbare Zukunft der ArbeiterInnen des Landes wird jetzt nicht durch einen Wahlblock entschieden, sondern durch eine vereinte Kampffront in den Betrieben und auf den Straßen.

Zweite Runde – keine Wahl für die Arbeiter:innen

Keiner der drei bürgerlichen Kandidaten hat die für einen Gesamtsieg erforderlichen 45 Prozent erreicht, so dass es nun am 19. November zu einer Stichwahl zwischen Massa und Milei kommen wird. Für die argentinische Arbeiterklasse bedeutet dies, dass sie überhaupt keine Wahl hat. Zwar fürchten viele eine rechtsradikale Präsidentschaft Mileis, doch haben sie aus erster Hand erfahren, wie es ist, unter etablierten peronistischen Regierungen zu leben, die zu einer Aushöhlung ihres Lebensstandards und Angriffen auf ihre Organisationen geführt haben. 

Die Armut hat sich seit 2018 vervierfacht, die Armutsquote liegt derzeit bei 40 Prozent. Die Inflation liegt bei über 100 Prozent und die Lebenshaltungskosten steigen rasant an. 

Der „Peronismus“, benannt nach Juan Peron, der von 1946-55 und erneut von 1973-4 Präsident war, hat eine lange Geschichte des Verrats an der Arbeiter:innenklasse. Peron, der für sich in Anspruch nahm, eine „dritte Position“ zwischen links und rechts einzunehmen, pflegte enge Beziehungen zur mächtigen argentinischen Gewerkschaftsbürokratie, während er und seine Justicialist Party (PJ) in den Boomjahren nach dem Krieg einige politische Maßnahmen zugunsten der Armen des Landes ergriffen und das Frauenwahlrecht einführten, später aber, insbesondere nach seiner Rückkehr an die Macht im Jahr 1973, nach rechts rückten. 

Seit Perons Tod wird die peronistische Bewegung weitgehend von ihrem rechten Flügel dominiert, auch wenn sie weiterhin die sklavische Unterstützung des Allgemeinen Gewerkschaftsbundes (CGT) genießt. Die peronistischen Regierungen, beginnend mit Carlos Menem in den 1990er Jahren und weiterführend mit den Kirchnern Nestor und Cristina sowie dem amtierenden Albertio Fenandez, waren dadurch gekennzeichnet, dass sie riesige Schulden bei ausländischen Banken auftürmten und dann vom IWF diktierte brutale Sparpakete durchsetzten. Trotz des rhetorischen argentinischen Nationalismus des Peronismus hat er sich immer den Forderungen des globalen Kapitalismus und des US-Imperialismus gebeugt. 

Massa steht ganz in dieser Tradition. Er ist eine Figur des Establishments und hat im letzten Jahr als Wirtschaftsminister versucht, einen Ausgleich zwischen den eher interventionistischen und den marktwirtschaftlich orientierten Fraktionen in der peronistischen Koalition zu schaffen. Unter ihm werden die argentinische Lebenshaltungskostenkrise und der Kotau der Regierung vor dem IWF weitergehen. Sein überraschend gutes Ergebnis ist auf die verständlichen Ängste vor der extremen Rechten zurückzuführen.

Faschismus oder extremer Neoliberalismus?

Die Freiheitsbewegung von Javier Milei ähnelt dem rechten MAGA-Flügel der Republikanischen Partei in den USA, mit einer ultra-neoliberalen „libertären“ Wirtschaftspolitik und einer heftig reaktionären Sozialpolitik. Das Ganze ist verpackt in die „Anti-Establishment“-Demagogie, die von Trump in den USA und Bolsonaro in Brasilien vorangetrieben wird. 

Milei ist ein rechtsgerichteter Wirtschaftswissenschaftler und Journalist. Zu seiner Politik gehören Angriffe auf die Rechte der Frauen, einschließlich des Zugangs zu Abtreibung und Sexualerziehung. Er plant, die öffentlichen Ausgaben zu kürzen, und während des Wahlkampfs sprach sich Milei für die Privatisierung der argentinischen Eisenbahnen aus. Seine schockierendste Politik ist das Versprechen, den argentinischen Peso abzuschaffen und die Wirtschaft zu dollarisieren. Tatsächlich gibt es in der Zentralbank nicht genügend Dollarreserven, um dies zu verwirklichen.

Im Gegensatz zu einigen der hysterischen Reaktionen auf seinen Aufstieg ist Mileis Bewegung nicht faschistisch. Der Faschismus kommt auf der Grundlage außerparlamentarischer paramilitärischer Gewalt an die Macht, die auf die Zerschlagung der Arbeiterbewegung abzielt, während seine Bewegung in erster Linie auf Wählerstimmen setzt. Zwar haben sich Mitglieder seiner Bewegung, darunter auch seine Vizepräsidentschaftskandidatin Victoria Villarruel, positiv über die argentinische Militärdiktatur von 1976-83 geäußert, aber wie bei Trump und Bolsonaro gibt es keine Anzeichen dafür, dass die Militärhierarchie Milei bei der Errichtung einer Diktatur unterstützt, zumindest nicht unter den unmittelbaren Bedingungen. Es ist vielmehr der brutale neoliberale Abbau von Sozialleistungen, Frauenrechten, staatlicher Beschäftigung und den Überresten von Arbeits- und Umweltvorschriften, den die Arbeiter:innen zu fürchten haben.

Milei und sein Wahlbündnis enthalten zwar Elemente, die sich bei einer Verschärfung der Wirtschaftskrise in eine faschistische Richtung entwickeln könnten, sind aber eigentlich ein Beispiel für das, was in der kapitalistischen demokratischen Politik üblich geworden ist – ultrakonservative, extreme Neoliberale, die darauf abzielen, den Kapitalismus von den letzten Resten der Beschränkung zu befreien und ihn auf die Arbeiterklasse und die Armen loszulassen. 

Das geringere Übel?

Aufforderungen an die Linke und die Arbeiter:innenbewegung, sich hinter Massa und das Establishment zu stellen, müssen entschieden zurückgewiesen werden. Das System der Stichwahlen ist darauf ausgelegt, die Wähler zu disziplinieren, damit sie die etablierten Parteien unterstützen. Sie dürfen sich im ersten Wahlgang mit Stimmen für alternative Kandidaten vergnügen, aber danach wird von ihnen erwartet, dass sie „ernst machen“ und für eine der beiden verbleibenden Optionen stimmen. 

Dies gilt insbesondere angesichts eines möglichen Sieges der Rechten, wobei Politiker und Medienvertreter die Menschen auffordern, für das „kleinere Übel“ zu stimmen. Da es nur zwei Möglichkeiten gibt, warum nicht den Kandidaten wählen, der trotz seiner Schwächen zumindest kein fanatischer Reaktionär ist, der alles, was von den Rechten der Lohnabhängigen, der Frauen und der Homosexuellen übrig geblieben ist, abschaffen will?

Es ist die neoliberale Politik der peronistischen Koalition, die Argentinien in diese Sackgasse geführt hat. Wenn sie weiter regiert, wird sich die Krise nur vertiefen, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Rechte dies ausnutzen und an die Macht kommen kann.

Der einzige Weg, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, ist ein kämpferischer Kampf, bei dem die Gewerkschaften in den Betrieben, die Arbeitslosenorganisationen und die Frauenbewegung zu einer gemeinsamen Front des Widerstands gegen denjenigen, der Präsident wird, gewonnen werden. Nur eine unabhängige, vom Peronismus und allen kapitalistischen Parteien losgelöste Arbeiter:innenbewegung kann sich sowohl den Angriffen des Neoliberalismus als auch einer aufständischen extremen Rechten entgegenstellen.

Eine solche Bewegung ist kein Hirngespinst. In Jujay, der ärmsten Provinz Argentiniens mit einem indigenen Bevölkerungsanteil von 80 %, haben Kampagnen gegen die Auswüchse der Lithiumkonzerne und reaktionäre Verfassungsänderungen die argentinische Politik in diesem Jahr erschüttert, wobei Lehrer:innen und indigene Arbeiter:innen den Kampf anführten. Eine solche Bewegung kann als Vorbild dienen und auf nationaler Ebene verallgemeinert werden. 

Eines der Hauptziele der Linken muss es sein, die argentinische Arbeiter:innenbewegung von ihrer historischen Unterstützung für den Peronismus zu lösen, und das kann nur geschehen, indem der Ruf nach einer unabhängigen Arbeiter:innenpartei laut wird. Der bescheidene Erfolg des linksextremen Wahlbündnisses FIT-U zeigt, dass es Aktivist:innen gibt, die eine solche Partei aufbauen könnten. Doch dazu bedarf es einer Einheit, die über die von zersplitterten Wahlbündnissen hinausgeht. Es erfordert ein revolutionäres Aktionsprogramm, das bei den wichtigsten Forderungen und Taktiken ansetzt und notwendig ist, um den neuen Präsidenten anzugreifen und zu besiegen.




Landtagswahlen in Bayern: Wahldebakel für die Ampel, weiterer Rechtsruck

Helga Müller, Infomail 1233, 10. Oktober 2023

Diverse Wahlprognosen hatten ja schon vorausgesagt, dass die AfD und die Freien Wähler in Bayern von dem Verlust der SPD, FDP und Die Grünen/Bündnis 90, aber auch von der CSU profitieren werden. Auch wenn das Ergebnis nicht ganz so extrem ausfiel wie prognostiziert, bedeutet der Wahlausgang eine Niederlage für die gesamte Arbeiter:innenbewegung inkl. der Gewerkschaften, SPD und Die LINKE. Aber er offenbart auch die Schwäche der linken Kräfte insgesamt mehr als deutlich. Dieses Ergebnis kann nicht damit beschönigt werden, dass Bayern schon immer ein besonderes Bundesland war und ist. Auch bei der Landtagswahl in Hessen hat sich eine ähnliche Tendenz ergeben – mit Ausnahme der CDU, die noch gegenüber der letzten Wahl zugenommen hat.

Mit diesen beiden Wahlen hat nun die AfD endgültig den Sprung von Ostdeutschland in die Landesparlamente zweier großer westdeutscher Flächenstaaten geschafft, entsprechend frohlocken ihre Bundesgrößen in den Medien. Auch das Ammenmärchen von der besonderen Bindung der ostdeutschen Bevölkerung an sie ist damit Lügen gestraft worden.

Das Ergebnis

Doch bevor wir weiter in die Analyse einsteigen, zunächst einmal ein paar Worte zum vorläufigen Wahlergebnis der Landtagswahlen in Bayern vom 8.10.2023:

Die CSU bleibt zwar mit 37 % stärkste Partei, rutscht aber noch unter ihr desaströses Wahlergebnis bei der letzten Landtagswahl von 2018 mit 37,2 % – das schlechteste seit 1950. Eine stabile Regierung unter einer starken CSU ist damit in Frage gestellt. In Umfragen hatte das Ergebnis für sie noch schlechter ausgesehen. Sie konnte noch etwas zulegen, weil sie sich in der Frage der Zuwanderung zusehends an die Positionen der AfD angenähert hatte. CDU-Oppositionsführer Merz war sich auch nicht zu blöd in seiner Bilanz der beiden Landtagswahlen, seine rechtspopulistischen Aussagen zu Asylsuchenden, die zum Teil auch in seiner eigenen Partei umstritten waren, als Beitrag zum Wahlerfolg seiner Partei zu deklarieren. So weit zur Brandmauer der Union zur AfD! Zwar sah es lange in den Hochrechnungen so aus, dass die Grünen/Bündnis 90 die zweitstärkste Kraft in Bayern werden würden, aber dies schafften die Freien Wähler  mit 15,8 % der abgegebenen Stimmen und gewannen damit gegenüber 2018 4,2 % hinzu. Noch nicht einmal drittstärkste Kraft und damit Anführerin der Opposition im Bayerischen Landtag wurden sie, sondern die AfD mit 14,6 %! Sie erhöhe ihr Wahlergebnis um 4,4 % – der stärkste Zuwachs für eine Partei bei dieser Wahl. Sie hätte sicherlich wie in Hessen das Potential, zur zweitstärksten Partei in Bayern zu werden, wären da nicht die Freien Wähler mit der unsäglichen Aiwangeraffäre um das antisemitische Flugblatt und dem rechtspopulistischen Auftritt des stellvertretenden Ministerpräsidenten auf einer Kundgebung gegen das Heizungsgesetz im Juni in Erding bei München. Dies hat paradoxerweise zu einer Stärkung der Freien Wähler geführt, was aber auch zeigt, welche rechtskonservative bis -radikale Stimmung dort vorherrscht.

Die viertstärkste Kraft wurden die Grünen/Bündnis 90 knapp hinter der AfD mit 14,2 %. Sie verloren 3,2 % gegenüber ihrem Rekordergebnis von 2018.

Die SPD schaffte es zwar im Gegensatz zur FDP noch einmal in den Landtag mit lächerlichen 8,4 % und verliert somit „nur“ 1,3 %. Damit fuhr sie das schlechteste Wahlergebnis in Bayern aller Zeient ein. Dieser geringe Zuspruch ist eine Wahlschlappe und eine Ohrfeige für die SPD.

Die FDP kommt mit 3 % – einem Minus von 2,1 Prozentpunkten – nicht mehr in den Landtag. (Alle Zahlen nach „merkur.de“ vom 9.10.23).

Die LINKE wird in den meisten Veröffentlichungen gar nicht mehr aufgelistet und verschwindet somit vollends in der Bedeutungslosigkeit, auch wenn auf den Wahlplakaten trotzig „Bayerns Opposition“ stand. Sie lag bei 1,5 % und verlor 1,8 Prozentpunkte. (Zahlen nach sueddeutsche.de vom 9.10.23). Auch außerhalb des Landesparlaments kriegt man von der Partei nicht viel von Oppositionsarbeit mit.

Die Wahlbeteiligung fiel mit 73,3 % etwas höher als 2018 (72,4 %) aus. Trotzdem kann man sagen, dass diese Wahl anscheinend von vielen auch nicht als eine Entscheidungswahl gesehen wurde oder sie fühlen sich von keiner Partei angesprochen!

Kommentare und Bedeutung

Alle Kommentator:innen betonen, dass diese beiden Wahlen vor allem auch eine Abrechnung mit der Politik der Ampelkoalition in Berlin symbolisierten und diese ganz offensichtlich abgemahnt wurde. Zu denken geben natürlich sowohl in Bayern als auch bei den Landtagswahlen in Hessen, wo die AfD mit 18,4 % (einem Plus von 5,3 Prozentpunkten) zweitstärkste Kraft wurde, der hohe Zuspruch für die AfD auf der einen und der geringe für die SPD (in Hessen 15,1 %, ein Minus von 4,7 Prozentpunkten) und für DIE LINKE (in Hessen 3,1 % ein Minus von 3,2 Prozentpunkten) auf der anderen Seite. D. h. beide Parteien sind nicht mehr in der Lage, ihre eigentliche Klientel – die Lohnarbeiter:innenschaft, aber auch Frauen, Erstwähler:innen etc. – an sich zu binden. Das ist aber auch ein Trend, der schon länger zu beobachten ist.

Die SPD wird aufgrund ihrer seit Jahrzehnten andauernden unternehmerfreundlichen, Sozialabbau- und mittlerweile auch ihrer Aufrüstungspolitik schon lange nicht mehr als politische Interessenvertretung der arbeitenden Bevölkerung wahrgenommen. Das Ergebnis der Bundestagswahl vor zwei Jahren erscheint im Lichte der beiden Landtagswahlen als ein überraschendes Zwischenhoch. Aber DIE LINKE, die ihre Entstehung der Krise der SPD zu verdanken hatte, kann von dieser Schwäche nicht profitieren. Sie ist aufgrund ihrer inneren Zerstrittenheit nicht in der Lage, eine Massenattraktivität für die Lohnabhängigen, Arbeitslosen, Jugendlichen, Frauen, LGBTQIA+, Rentner:innen oder Migrant:innen aufzubauen (auch nicht mehr in Ostdeutschland). Aber nicht nur ihre Zerstrittenheit – z. B. die Diskussion um den linkspopulistischen Flügel von Sahra Wagenknecht –, sondern vor allem ihre harmlose reformistische Programmatik, um sie regierungsfähig zu machen, tragen massiv dazu bei.

Diese Krise des Reformismus zeigt sich auch an der Wählerwanderung: Für die AfD in Hessen macht Infratest dimap die Hauptunterstützer:innen in den (normalen) Arbeiter:innenschichten und Menschen mit einfacher Bildung aus. Man muss natürlich dazu sagen, dass vor allem Mittelschichten, die Angst vor einer sozialen Degradierung empfinden, die eigentliche Basis für die AfD darstellen.

Diese Schwäche kann die AfD mit ihren rechtsradikalen Themen wie der „massenhaften“ Zuwanderung besetzen und lenkt damit von der eigentlichen Ursache der Krise, die die Menschen weltweit – auch in den reichen Industrienationen – zu spüren bekommen, ab.

Auch die Gewerkschaften befinden sich in einer tiefgehenden Krise, stehen sie doch in allen wichtigen Fragen fest an der Seite der regierenden SPD.

Versagen des Reformismus

Auf die wirklichen Fragen, vor denen die Arbeiter:innenklasse steht wie die effektive Bekämpfung der Inflation, des Arbeitsplatzabbaus, der Klimaveränderung, der  Aufrüstung, des Sozialabbaus durch das 30-Milliarden-Sparprogramm der Ampelkoalition, des Pflegenotstands, der Bildungsmisere und nicht zuletzt der Umgang mit Asylsuchenden, finden weder DIE LINKE noch die Gewerkschaftsführung eine Antwort. Damit treiben sie letzten Endes die Kolleg:innen in die Hände rechtspopulistischer Kräfte wie die Freien Wähler und rechtsradikaler Kräfte wie eben die AfD mit ihren rassistischen, antisemitischen und Antiestablishment-Antworten.

Anstatt die wahren Verursacher:innen und Profiteur:innen der Krise und letzten Endes auch der Zunahme von Migration zu nennen – nämlich die großen weltweit agierenden Konzerne und Banken – und gegen diese zu mobilisieren in großen Demonstrationen, aber auch konsequenten Streiks, setzen sie nach wie vor auf Sozialpartnerschaft und eine Bändigung des Kapitalismus – durch die Wiederbelebung einer grünen sozialen Marktwirtschaft.

Die Landtagswahlergebnisse haben gezeigt – wie wir es ja in Deutschland auch in den 1930er Jahren des letzten Jahrhunderts erlebt haben –, dass es in Krisenzeiten immer eine Polarisierung nach rechts und links gibt. Wir erleben leider heute eine eindeutige Polarisierung nach rechts bis hin zu rechtsradikalen bis neonazistischen Kräften. Die linke Bewegung insgesamt dagegen steckt in einer tiefgehenden Krise.

Nach der Landtagswahl in Bayern wird sich die alteingesessene CSU aufgrund ihrer Wahlschlappe und des Anstiegs der Freien Wähler als auch der AfD noch stärker nach rechts bewegen und sich noch stärker populistischen Themen wie der Zuwanderung widmen.

Konsequente Arbeiter:innenpolitik statt Rechtsruck, „Einheit der Demokrat:innen“ und Sozialpartnerschaft!

Von daher stellt sich jetzt die Frage: Wie werden die Organisationen der Arbeiter:innenbewegung – allen voran die Gewerkschaften und DIE LINKE, aber auch Teile der SPD – mit diesem gefährlichen Rechtsrutsch umgehen? Schon einmal in unserer Geschichte haben diese Organisationen die Gefahr von ganz rechts unterschätzt und auf die Einheit der Demokrat:innen geschworen, um dann als Erste verfolgt, verboten und eingesperrt zu werden.

Einhalt gebieten kann man der AfD nicht mit Hochglanzbroschüren, um über ihren wahren Charakters aufzuklären, wie es der DGB Bayern in der Wahlkampagne angestellt hat oder mit schönen Wahlkampfreden und -veranstaltungen von SPD und Linken zur sozialen Frage (Mieten, Gesundheit, Bildung etc.) im Wahlkampf.

Auch nicht mit „Wohlfühl“kundgebungen gegen die AfD – wie in München auf dem Odeonsplatz kurz vor der Wahl mit immerhin 35.000 Teilnehmer:innen unter dem Motto „Zammreißen in Bayern gegen rechts“ –, zu der alle Demokrat:innen, auch die FDP, aufgerufen waren. Letztere will im Bund gerade einen Sparhaushalt gegen die Mehrheit der Bevölkerung durchsetzen.

Sondern jetzt wäre es dringlicher notwendiger denn je, dass diese jetzt die Initiative ergreifen – nicht nur in Bayern oder Hessen, aber durchaus hier beginnend. Sie müssen aufgefordert werden, große und machtvolle Demonstrationen gegen Sozialabbau, Aufrüstung und Vorbereitung auf Kriege, für Klimaschutz, der seinen Namen auch verdient, und auch die Aufnahme aller Asylsuchenden mit entsprechender Ausstattung der Kommunen vorzubereiten. Zahlen sollen die vielen Krisengewinnler:innen – die großen weltweit agierenden Konzerne und Banken mit der Einführung einer progressiven Kapitalsteuer, der Wiedereinführung der Vermögensteuer usw. Die jetzt kommenden Tarifrunde im öffentlichen Dienst der Länder muss dazu genutzt werden, Einkommenserhöhungen durchzusetzen, die die Inflation auch wirklich bekämpfen. Dafür ist es auch notwendig, sie dazu nutzen, um den Widerstand gegen Hochrüstung und Sozialabbau aufzubauen. Die zu erwartende Ablehnung der Forderungen der Kolleg:innen im öffentlichen Dienst durch die Länder kann nur ernsthaft bekämpft werden, wenn ver.di auch gegen die gesamte Politik der Regierung vorgeht!

Wir dürfen aber nicht abwarten, bis unsere Gewerkschaften aktiv werden, sondern müssen uns selbst für unsere Interessen organisieren und Kampfstrukturen aufbauen, um unseren Kampf zu diskutieren und zu lenken: gegen jeden faulen Kompromiss und Ausverkauf durch die Gewerkschaftsführungen! Wir müssen dies aber auch gegenüber den Gewerkschaftsverantwortlichen einfordern und diese nicht aus der Pflicht lassen!




Wahlen in der Türkei: Mücadeleye devam – Wir kämpfen weiter

Dilara Lorin, Neue Internationale 274, Juni 2023

In den letzten Monaten, vor allem, aber in den letzten Wochen war das Land politisiert und die Spannungen innerhalb der Bevölkerung wurden immer größer. Dies hat verschiedene Ursachen. Das verheerende Erbeben vom 6. Februar, welches mehr als 50 000 Menschen das Leben kostete, aber auch die Korruption und Vetternwirtschaft der Regierung aufzeigte; die Inflationsrate, die Oktober 2022 ganze 80 % erreichtet; die immer prekärer werdende Lage der Arbeiter:innenklasse, auch eine zumeist tief rassistisch geführte Debatte über die Lage und Rolle von Millionen Flüchtlingen und der Kurd:innen.

Dennoch konnte Erdogan die Präsidentschaftswahlen im zweiten Wahlgang für sich entscheiden. Zweifellos kam ihm dabei das Monopol über die staatlichen Medien wie das Fernsehen, die Kontrolle des Staatsapparates, Repression und Entschücherung der Opposition, vor allem der kurdischen HDP, die vom Verbot bedroht sind und von der hunderte Mitglieder in den Gefängnissen sitzen zugute. Aber sein Gegenkandidat, der kemalistische türkische Nationalist Kılıçdaroğlu versprach selbst eine reaktionäre, kapitalistische und rassistische Politik, die keine Alternative zu Erdogan dargestellt hätte.

Zwei Lager, aber zwei reaktionäre Lager

Zweifellos hat die Wahl die Menschen in zwei Lager gespalten, die einen, die Erdogan weiterhin unterstützen, die anderen, die sich für Kılıçdaroğlu aussprachen, weil sie diesen als Alternative zum bonapartistischen Regime Erdoğan ansahen. Dass dies jedoch eine Wahl zwischen Pest und Cholera war und Kılıçdaroğlu keine Alternative für die Arbeiter:innen, Kurd:innen, Geflüchteten und weitere Unterdrückte darstellen kann, wurde in den letzen zwei Wochen immer deutlicher.

Im ersten Wahlgang war neben den beiden Kandidaten trat noch ein dritter angetreten: Sinan Oğan, ein Rechter, der wegen nationalistischen und rassistischen, wegen sexistischen und frauenfeindlichen Äußerungen bekannt wurde, erhielt 5 %. In der Stichwahl versuchte er sich als „Königsmacher“ zu inszenieren. Jedenfalls buhlten beide Kandidaten um seine Stimmen. Auch deshalb waren die vergangen zwei Wochen geprägt von rassistischen Äußerungen und vor allem Kılıçdaroğlu fokussierte seine Wahlpropaganda darauf, innerhalb von 2 Jahren bis zu 2 Millionen Geflüchtete zu deportieren. Zugleich verlor er kaum ein Wort zur Inflation und die kapitalistische Wirtschaftspolitik Erdogans. Vielmehr würden die Geflüchteten Arbeitsplätze „klauen“ und nur deshalb ginge es der Arbeiter:innenklasse so schlecht.

Die rassistischen Äußerungen Kemal Kılıçdaroğlu erinnern an NPD und AfD. Dass dabei Erdogan keine bessere Position vertritt, ist klar. Er benutzt die Geflüchteten als Spielball gegenüber der EU. Große Teile des Geldes, welches im Zuge des reaktionären Flüchtlingsdeals in die Türkei gelangt, erreichen gar nicht erst die Lager und die Betroffenen und letztlich verfolgt auch Erdogan das Ziel, viele wieder zurückzuschicken. Jedoch behauptet er, dies erst zu tun, wenn die dafür notwendigen Bedingungen geschaffen sein würden würden. Dass bedeutet, dass Assad als Diktator wieder anerkannt wird und auch die Beziehungen nach Syrien wieder normalisiert werden – und das auf den Rücken nicht nur der Geflüchteten, sondern vor allem der Kurd:innen in Rojava. 

Parlamentswahlen

Gewonnen hat in den Parlamentswahlen letztlich wieder die AKP, welche  bei den Wahlen zur 600 Abgeordnete umfassenden großen Nationalversammlung 35,61% für sich gewinnen konnte. Dabei hat die AKP aber im Vergleich zu den Wahlen 2018 6,95% der Stimmen eingebüßt. Diese Zahlen verdeutlichen auch, dass die AKP nicht mehr jene Zustimmung in der Bevölkerung erhält wie es früher einmal der Fall war. Auch ihre Basis bröckelt, viele Anhänger:innen stehen nicht mehr hinter der Partei. Nichtsdestotrotz kann sie mit dem Wahlbündnis „Volksallianz“, mit welchen sie auch zur Wahl angetreten ist, insgesamt 49,47 % erhalten. Die AKP tritt dabei im Bündnis mit der faschistischen MHP an. Von den 318 Sitzen der Volksallianz hält die MHP immerhin 50 Sitzen.

Die CHP, welche von vielen als die Alternative zur AKP angesehen wird, kam in den Parlamentswahlen auf 25,33 % und trat ebenfalls in einem Wahlbündnis mit 5 weiteren Parteien auf, dem „Bündnis der Nation“. Dabei koaliert unter anderem mit der IYI Partei, welche islamisch, konservativ und rechts einzuordnen ist. Das „Bündnis der Nation“, das in den Medien auch „Sechsertisch“ genannt wird, kommt auf insgesamt 213 Sitze.

Dass dieses Wahlbündnis kein Interesse daran hat, wirklich demokratische Zustände in der Türkei wieder durchzusetzen, eine Verbesserung für die Arbeiter:innenklasse herbeizuführen oder für die Rechte von den unterdrückten Minderheiten einzutreten, zeigt schon der bürgerliche Charakter der CHP, deren historische Verrat an der Arbeiter:innenklasse, aber auch die Position zu den Kurd:innen  und Geflüchteten ist extrem reaktionär. 

Ergebnis von HDP und YSP

Die links-kleinbürgerliche HDP, welche für die Rechte von Frauen, LGBTI, Kurd:innen und Geflüchteten kämpft, fuhr das schlechteste Ergebnis bei den Parlamentswahlen seit ihrer Gründung ein. Sie trat aufgrund aufgrund der möglichen Illegalisierung unter dem Namen der Yeşil Sol Partei (YSP) an. Die YSP kam lediglich auf 8,82 %. Somit büßt die HPD 2,68% der Stimmen im Vergleich zu den Wahlen im Jahr 2018 ein. Mit dem Wahlbündnis „Arbeit und Freiheit“ traten im Rahmen der YSP 5 weiteren kleinere linke Parteien zu den Wahlen an, da runter die bekannteste, neu gegründete TİP (Arbeiterpartei der Türkei), welche 1,73 % mit ihren eigenen Listen erlangte, denn im Wahlbündnis selbst konnten alle Parteien auch mit ihren eigenen Namen und Listen antreten.

Dass die YSP in diesem Wahlgang an Stimmen verloren hat, zeugt auch von ihren taktischen Fehlern, welche sie schon vor der Wahl entschieden: kein gemeinsames Auftreten einer/s eigenen Präsidentschaftskandidat:in und damit die offene oder indirekte Unterstützung des CHP Kandidaten Kılıçdaroğlu und der fälschliche Glaube, man müsse sich nur auf einige Sitze im Parlament, sowie Bürgermeister und andere Posten fokussieren. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass der Wahlkampf des Bündnis für Arbeit und Freiheit unter massiver Repression stattfand, darunter der Inhaftierung sowie Einschüchterung von vielen Aktivist:innen und Wahlhelfer:innen.

Und die Kurd:innen?

Diese haben in dieser Wahl komplett verloren. Dadurch dass es keinen Präsidentschaftskandidaten von der YSP gab, konnten sie ihren Forderungen kaum öffentliches Gewicht und kein Gehör verschaffen. Dabei ist für die CHP ohnedies klar: Kurd:innen sollen allenfalls als Stimmvieh fungieren, ansonsten setzt man auf Nationalismus und Chauvinismus. So positionierte sich die CHP 2015 gegen Friedensverhandlungen und kritisierte Erdogan und die AKP von rechts. Sie unterstützte viele Angriffe der Türkei auf Rojava.

Dadurch dass die YSP und etliche revolutionäre und kommunistische Gruppen dazu aufriefen, den Präsidentschaftskandidaten der CHP zu unterstützen, verschwand die Masse der kurdischen Stimmen in denen der reaktionären, nationalistischen und bürgerlichen Masse der CHP. Die Politik des kleineren Übels ist jedoch nicht aufgegangen: Erdoğan gewinnt die Wahl am 28.5. und beginnt seine dritte Amtszeit als Präsident. Die stärkte das nationalistische Bewusstsein der AKP-Unterstützer:innen, welches sich jetzt nochmal bestätigt fühlen. Und schon in seiner ersten Ansprache als neuer Präsident hetzt Erdogan gegen den inhaftierten HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und spricht vom Großtürkischen Reich, welches er in dieser Amtsperiode weiter forcieren möchte.

In seine ersten Ansprach nach den Wahlen gibt sich Kılıçdaroğlu als „wahrer Demokrat“, hinter den vor allem Frauen und Jugendlichen zu stehen scheinen, um gleich in den nächsten Sätzen seine rassistische Haltung gegenüber den Geflüchteten noch einmal zu bekräftigen. So äußert er sich gleich am Anfang seiner Rede rassistisch und verkündet: „Als Millionen Geflüchtete kamen und ihr zum Volk zweiter Klasse wurdet, konnte ich nicht dazu schweigen“. Von den Kurd:innen war keine Rede mehr, es schien so, als seine sie vergessen, unwichtig oder nicht der Rede wert. Dabei waren es Städte vor allem die Städte aus der kurdischen Region, in denen oftmals mit einer überwältigenden Mehrheit Kılıçdaroğlu gewählt wurde. 

Kaybettik (Wir haben verloren)  oder Mücadeleye devam (Wir kämpfen weiter)?

Während viele am 28. Mai mit Türkei-Fahnen, den Wolfs- oder Rabiagrüßen den Sieg Erdoğans feierten, war ein anderer Teil der Bevölkerung niedergeschlagen. Es wurde seitens liberaler und bürgerlicher Kräfte, aber auch großer Teil der Linken für einen möglichen Sieg der „Demokratie“ unter Kılıçdaroğlu geworben. Für eine gewisse Zeit hinterließ diese bei vielen den Eindruck, dass „bessere Zeiten“ bevorstände: Erdoğan und die AKP hätten ausgesorgt, sie würden gehen. An ihre Stellt würden besser Zeiten mit mehr demokratischer Mitbestimmung, mehr Rechten für das Parlament, einer stärkeren Wirtschaft folgen.

Auch wenn es vollkommen nachvollziehbar ist, dass man sich nach besseren Zeiten sehnt, man das autoritäre Regime satt hat, so war die CHP nie eine Alternative. Denn eine bürgerlich, nationalistische Partei, welche weiterhin im Sinne der Kapitalist:innenklasse agiert, hat nicht das Interesse daran, wirkliche Verbesserungen durchzusetzen. Und alleine die weltweite wirtschaftliche Lage und tiefe ökonomische Krise in der Türkei (Inflation, Verfall der Währung) hätten gar nicht erst die Möglichkeit unter Kılıçdaroğlu geben, Reformen durchzuführen. Vielmehr hätte auch seine Regierung die Arbeiter:innenklasse massiv angegriffen, um die Profitwirtschaft wieder flott zu machen.

Wir dürfen daher auch jetzt nicht dem Modus des Verlorenen – kaybettik – verfallen, sondern unser Motto muss lauten: „Mücadelemis devam etmeli“ – Unser Kampf muss weiter gehen! Denn was notwendig gewesen wäre, und was weiterhin notwendig ist, ist die stark politisierte Lage in der Türkei zu nutzen, um die Arbeiter:innen und Unterdrückten jetzt für ihre Interessen zu mobilisieren, für den Abbau einer Massenbewegung gegen die Krise, gegen den Rassismus, gegen das Regime. Die Wahlbeteiligung lag zwar bei über 80%, aber kaum eine Organisation hat einen dritten Weg der Organisierung und Mobilisierung aufgezeigt, obwohl es die Situation dies erfordert.

Es ist notwendig, dass die türkische Linke jetzt in einer Einheitsfront tritt, in welcher sie alle kämpferischen und fortschrittlichen Teile der Gesellschaft vereint, und versucht, die Gewerkschaften, die linken Parteien, die Kurd:innen, die Umwelt- und Frauenbewegung gemeinsam zu mobilisieren. Wir brauchen Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen und einer gleitenden Skala Löhne, nach Enteignung der Großunternehmen und Banken unter Arbeiter:innenkontrolle. Nur so kann die Inflation und die damit einhergehende Wirtschaftskrise bekämpft werden.

Dafür müssen die Gewerkschaften in der Türkei anfangen ihre Mitgliedschaft und ihren Organisationsgrad auszuweiten, Aktionskomitees in Betrieben und Stadtteilen aufzubauen, um so zu Massenorganen der Arbeiter:innen zu werden. Revolutionär:innen müssen für ein  Aktionsprogramm der Arbeiter:innenklasse eintreten, das die Rechte und Forderungen aller unterdrücken Minderheiten, allen voran der Kurd:innen und Araber:innen und aller Geflüchteten vertritt! Eine solche Einheitsfront muss sich auf Massenversammlungen und Aktionskomitees in den Betrieben und Stadtteilen stützen sowie auf Selbstverteidigungseinheit gegen die Repression.

Es ist eine große Aufgabe, aber das Regime kann nicht durch einen weiteren nationalistischen und bürgerlichen Kandidaten gestürzt werden, sondern nur von der Arbeiter:innenklasse und den Unterdrückten selbst – und dazu ist der Aufbau einer neuen, revolutionären Arbeiter:innenpartei nötig, die unabhängig von allen Flügeln der herrschenden Klasse agiert.




Nein zur Berliner GroKo! Gemeinsamen Widerstand organisieren!

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 272, April 2023

Nach einer Panne mit Wahlwiederholung inmitten der Zeitenwende ist das politische Berlin erschüttert. Das erste Mal in über 20 Jahren ist die CDU die stärkste Kraft. Alle Parteien der rot-grün-roten Koalition haben an Stimmen verloren. Und nun? Nach Sondierungen zwischen CDU-Grünen, CDU-SPD und SPD-Grünen-Linken hat die SPD die Bombe platzen lassen. Ihr Berliner Parteivorstand ist gegen eine Fortsetzung der bisherigen Regierungskoalition. Die Partei befindet sich zurzeit in Unterredungen für eine Berliner Große Koalition. Auch wenn es sich mit den Grünen und der CDU in allen Varianten um Koalitionen mit offen bürgerlichen Parteien handelt und wir sowohl eine GroKo als auch RGR ablehnen, so handelt es sich nicht um gleiche Qualitäten von Angriffen auf soziale Errungenschaften in der Bundeshauptstadt.

Eine CDU-geführte Regierung bedeutet den finalen Todesstoß für den Enteignungsvolksentscheid in seiner aktuellen Form, führt zu einer „Mobilitätswende“, die auf Autos setzt, einer Ausweitung des Polizeiapparates, mehr rassistischen Polizeikontrollen, einer offeneren Zusammenarbeit mit dem Kapital und vielem mehr.

Konturen eines drohenden Regierungsprogramms

Mit dem Sondierungspapier beider Parteien wird erkennbar, was uns erwarten könnte. Franziska Giffey hatte alle Brücken für die Wiederaufnahme der RGR-Koalition damit eingerissen. Sie sagte gegenüber der Presse, die Grüne wollen nur ihre eigenen Themen durchsetzen und DIE LINKE sei zu zerstritten. Auch wenn es in Teilen nur Schlagworte sind, wollen wir hier eine erste Skizze der drohenden GroKo aufzeichnen.

Wohnen: Dass auf dem Mietenmarkt seit Jahren soziale Verdrängung stattfindet, ist bekannt. In den letzten fünf Jahren ist der Neuvermietungspreis um 48,2 % gestiegen – im letzten Quartal 2022 allein auf durchschnittlich 15,95 Euro pro Quadratmeter nettokalt. Unter den Großstädten ist nur noch München teurer. Die Mär der niedrigen Ausgangspreise ist also schon lange erzählt. Nur die Löhne sind weiterhin geringer als in vielen anderen Großstädten (etwa 10.000 Euro weniger verfügbares durchschnittliches Einkommen pro Jahr im Vergleich zu München). Trotzdem lautet der Lösungsansatz der drohenden GroKo Entlastung durch (v. a.) privaten Neubau. Das Ziel sind 20.000 Wohnungen pro Jahr (Leerstand etwa 0,9 %). Der Perspektive der Enteignung und Verstaatlichung großer privater Immobilienkonzerne wird ein erneuter Riegel vorgeschoben. Sollte (!) die sogenannte Expert:innenkommission zum Volksentscheid von „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ ein positives Votum abgeben, soll ein Vergesellschaftungsrahmengesetz diskutiert werden. Ein solcher Rahmen war bereits seit Tag eins die legale Basis des Volksentscheids und nennt sich Grundgesetz.

Verkehr: Nicht erst seit den Aktionen der Letzten Generation bildet Verkehr in Berlin ein Streitthema. Die Grünen haben mit ihren sogenannten Popup-Radwegen eine Reihe von Straßen in der Stadt entschleunigt. Bei weitem decken diese nicht den Bedarf ab, stellen jedoch – neben der A100 – das bedeutendste Symbol der „Verkehrswende“. Jedoch fällt das Wort „Fahrradverkehr“ mit keinem Wort im Papier. Aber die Stadtautobahn soll vom Treptower Park bis zur Storkower Straße weitergebaut werden. Für 13 Berliner Clubs und zehntausende Berliner Mieter:innen bedeutet das das Ende.

Klima: Dieser Punkt schließt hier nahtlos an. Angesichts des Volksentscheids für ein klimaneutrales Berlin 2030 (26. März) sind hier mehr als warme Worte gefragt. So soll ein 5-Milliarden-Euro-Sondervermögen für den Klimaschutz aufgesetzt werden. Die Hälfte davon soll durch die Streichung der Coronarücklagen (2,6 Mrd. Euro) beglichen werden. Damit abgedeckt werden sollen Gebäudesanierungen, Mobilität und Energiegewinnung. Es ist unklar, inwiefern der Kauf von 51 % der Unternehmensanteile der GASAG davon beglichen werden soll. Die GASAG AG ist der größte lokale Energieversorger, ein Tochterunternehmen von Vattenfall und soll auf Initiative des Mutterkonzerns rekommunalisiert werden – zu überhöhten Preisen.

Innenpolitik und Migration: Einig ist man sich außerdem, dass ein Einbürgerungszentrum eingerichtet werden soll, dass das Antidiskriminierungsgesetz und der Mindestlohn nicht angetastet werden, dass die Polizei sogenannte Bodycams bekommt und dass Videoüberwachung in Modellprojekten getestet werden soll.

Die innere Sicherheit müsse man „ganzheitlich vom Senat aus angehen“, meint Marcel Kuhlmey von der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin und zuvor 25 Jahre bei der Polizei tätig. Er rechnet damit, dass der neue Senat Tasern und Bodycams gegenüber aufgeschlossen ist.

Law and Order ist also angesagt bei Aufstockung und weiteren Befugnissen der Repressionskräfte und zügiger Abwicklung von Asylanträgen, Einbürgerung und Abschiebung. Migrant:innen und Linke stehen vor schweren Zeiten. Diese Reaktion auf die Silvesterkrawalle war zu erwarten, schlug doch schon bei der Wiederholungswahl das Pendel zugunsten der CDU aus.

Weiteres: Bis 2026 soll es eine Verwaltungsreform geben. Die Polizei und Rettungsdienste sollen personell und materiell aufgestockt werden. Dabei sollen „Sicherheit und Sauberkeit“ zusammen gedacht werden – was wirklich nicht gesund klingt. Doch trotzdem hat die SPD Kleinigkeiten als Gewinne darzustellen. Das 29-Euro-Ticket (Tarifbereich AB) bleibt erhalten. Die CDU wollte noch den Berliner Mindestlohn und das Antidiskriminierungsgesetz abschaffen. Und auch in diesem Koalitionsvertrag steht erneut (!), dass die Tochterunternehmen der Berliner Krankenhäuser wieder eingegliedert werden sollen.

Koalitionsverhandlungen und Widerstand

Bis Anfang April soll ein Koalitionsvertrag vorgelegt werden. In 13 Fachgruppen wird verhandelt. Und diese haben es in sich, denn Lobbyist:innen sind hier fast überall dabei. Nachdem bekannt wurde, dass Tanja Böhm, die Leiterin von Microsoft Berlin, aus der Fachgruppe zur Digitalisierung ausgestiegen ist, wurde die Büchse der Pandora geöffnet. So ist beispielsweise in der Gruppe zu Gesundheit und Pflege Delia Strunz, ihres Zeichens Cheflobbyistin vom Pharmariesen Johnson & Johnson (Coronaimpfstoff). Daneben sitzt der Vorstand der Barmer Krankenkasse im Gremium. In der Verkehrs-AG sitzt der Bevollmächtigte für die Bundesländer Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern der DB-AG, Alexander Kaczmarek, ein Anhänger der S-Bahnzerschlagung.

Doch hiergegen regt sich Widerstand. Am Samstag, dem 18. März, fand eine Demonstration unter dem Titel „Rückschrittskoalition stoppen“ statt. Laut Veranstalter:innen nahmen etwa 2000 Menschen teil. Das Bündnis hatte sich in Reaktion auf die Sondierungsergebnisse gegründet und umfasst neben Einzelpersonen stadtpolitische, klimapolitische, antirassistische und migrantische Organisationen sowie die Jugendorganisationen von LINKEN und Grünen. Auch die Berliner Jusos haben sich gegen eine Beteiligung an Schwarz-Rot ausgesprochen und organisieren eine NoGroKo-Kampagne.

Die Aktionen richten sich vor allem an die 19.000 Berliner SPD-Mitglieder. Diese sollen Anfang April per Briefwahl über die Senatsbeteiligung abstimmen können – etwa 25 % davon sind Teil der Jusos, also unter 35 Jahren. Eine Auszählung der Stimmen wird am 23. April stattfinden. Bis 20. März hatten bereits drei der zwölf Kreisverbände sich gegen eine Beteiligung an der Koalition ausgesprochen (Neukölln, Tempelhof-Schöneberg und Steglitz-Zehlendorf (!)). Im Parteivorstand sprachen sich 25 Personen für und 12 gegen Koalitionsverhandlungen mit der Union aus. Sollte die Parteimehrheit für Beteiligung stimmen, so könnte Kai Wegner am 27. April Berlins Regierender Bürgermeister werden. Die CDU will über die Frage der Koalition auf einem Landesparteitag entscheiden.

GroKo bekämpfen, aber wie?

Es ist ein Fortschritt, dass sich Widerstand formiert. Aber auch 2017 gab es den in der SPD gegen die Regierungsbeteiligung (auf Bundesebene). Auch beim Volksentscheid von DWE waren es die Jusos Pankow, die für eine Enteignung ab 20 Wohnungen eintraten! Doch weiterhin sind sie die Parteijugend der Sozialdemokratie. Der Kampf muss auch außerhalb der Urabstimmung geführt werden. Andererseits hat der Protest einen faden Beigeschmack, denn bereits Rot-Grün-Rot hat die Polizei ausgebaut, die Bahn zerschlagen, runde Tische mit der Immobilienlobby initiiert, Obdachlosencamps geräumt, abgeschoben, Demonstrationen zusammenknüppeln lassen und so vieles mehr. Rot-Grün-Rot hat sich als unfähig erwiesen, die sozialen Probleme der Berliner:innen zu lösen. Und schlussendlich schafft der Widerstand in der LINKEN eine gemeinsame Gegnerin, die „Giffey-SPD“, wie sie Katina Schubert nennt (LINKE-Landesvorsitzende). Jene Kräfte, die also den Kampf der Regierungsbeteiligung untergeordnet haben, sind nun verwundert, dass die SPD sich dadurch nicht nach links bewegt hat. Ein solcher falscher Frieden ist ein weiterer Fallstrick im Niedergang der LINKEN und eine Nebelkerze, die den Aufbau einer Fraktion der Linken in der LINKEN zu verhindern droht.