Krankenhauspflege: Streiks und Reformen

Jürgen Roth, Infomail 1205, 30. November 2022

Nach bundesweiten Warnstreiks und 5 Verhandlungsrunden einigten sich Gewerkschaft und Klinikleitung lt. ver.di-Pressemitteilung vom 11.11.2022 auf einen Tarifvertrag bei der Sana AG.

Sana AG

Rund 10.000 Beschäftigte fallen unter den Konzern(haus)tarifvertrag. Deren Entgelte erhöhen sich – allerdings erst ab 1.6.2023 – um 7 %, mindestens aber 200 Euro. Zudem wurden Einmalzahlungen (2.000 Euro 2022, 500 Euro 2024) sowie höhere Zulagen vereinbart. Darüber hinaus gibt es ein Angebot des Konzerns, Teil der eigenen privaten betrieblichen Krankenversicherung zu werden.

Dem Abschluss waren Warnstreiks in Berlin und Nürnberg vorgegangen, nach die Beschäftigten schon im Oktober die Arbeit niedergelegt hatten. Zur 5. Verhandlungsrunde hatte ver.di zu einer Demo am Stammsitz in München mobilisiert. In Hof (Oberfranken) hatte am 14.10. etwa die Hälfte aller Pflegekräfte die Arbeit niedergelegt. In Nürnberg und Pegnitz erreichten die Warnstreiks am 20.10. ihren ersten Höhepunkt. Am gleichen Tag umzingelten die Lichtenberger:innen die ver.di-Zentrale in Berlin, wo die Verhandlungen stattfanden. Auf dieser Kundgebung erzählten Pflegende von Fortbildungen, die sie selbst bezahlen müssen und oft nicht mit Lohnsteigerungen verbunden sind, von überbelegten Kinderintensivbetten und der Arroganz ihrer Chef:innen, man könne ja das Unternehmen wechseln, wenn einem die Zustände nicht passten.

Ergebnisdetails

Im Einzelnen sieht das Tarifergebnis folgende Regelungen vor: Die Tabellenentgelte steigen zum 1. Juni 2023 um 7 Prozent, mindestens jedoch um 200 Euro monatlich; die Vergütungen für Auszubildende erhöhen sich zum selben Zeitpunkt um 100 Euro pro Monat. Ende dieses Jahres erhalten die Beschäftigten (Teilzeit anteilig) eine steuer- und abgabenfreie Einmalzahlung in Höhe von 2.000 Euro; Auszubildende erhalten dann eine Einmalzahlung in Höhe von 750 Euro. Zum 30. April 2024 erhalten die Beschäftigten (Teilzeit anteilig) eine weitere Einmalzahlung von 500 Euro, die für langjährig Beschäftigte um 100 Euro aufgestockt wird. Auszubildende bekommen zum selben Zeitpunkt noch einmal 200 Euro. Der Tarifvertrag hat eine Laufzeit bis 30. April 2024. Zudem werden die Zulagen, unter anderem für Wechselschicht und die Pflegezulage deutlich erhöht, ebenso die Zuschläge für Nachtarbeit und der Zuschuss zur betrieblichen Altersvorsorge. Neu eingeführt wird eine monatliche Zulage für langjährig Beschäftigte: Ab 20 Jahren bei Sana sind es 50 Euro, ab 30 Jahren 75 Euro und ab 40 Jahren 100 Euro.

Die Tarifkommission kündigte eine Mitgliederbefragung an, die bis zum 25.11.2022 abgeschlossen sein sollte. Natürlich ist deren Ergebnis nicht bindend, weil es nicht zum Vollstreik nach Urabstimmung kam.

Was ist mit Entlastung?

Für viele Beschäftigte ist ein Entlastungstarifvertrag eine weitere Option. So ist z. B. die Klinik in Berlin-Lichtenberg gut organisiert. Scheinbar großzügig erklärte ver.di, man werde die Kolleg:innen dabei unterstützen, sollten sie sich dafür entscheiden. Abgesehen davon, dass eine solche Entscheidung ohne funktionierende gewerkschaftliche Betriebsgruppe bzw. Vertrauensleutekörper schon kaum zu treffen sein wird, dürfte im unwahrscheinlichen Fall ihres Zustandekommens der Apparat bestenfalls auf einen Häuserkampf einschwenken. So schiebt er die Verantwortung und Initiative an die Basis weiter. Kein Wunder, wo er doch mal wieder wie bisher stets üblich Lohn- und Entlastungstarif künstlich trennt.

Nebenbei bemerkt: In punkto Tarifvertrag Entlastung stellt sich die GEW Berlin gerade als Speerspitze mit dem 6. Warnstreik im Lauf der letzten Woche (3.000 plus Teilnehmer:innen) auf. So erfuhren wir dort, dass die Aufnahme von Entlastungsforderungen durch Druck auf den bundesweiten Apparat in der nächsten Ländertarifrunde erfolgen soll. Diesem Beispiel folgt die Gewerkschaft ver.di für die nichtärztlichen Krankenhausbeschäftigten leider nicht, sondern beschränkt sich auf flächendeckende Tarifrunden nur in der Frage der Entlohnung, nicht Entlastung. Hier blieb es beim „Häuserkampf“ großer Kliniken wie an den Universitäten oder bei Vivantes Berlin.

Chancen

Die Sana AG ist Deutschlands drittgrößter privater Krankenhauskonzern, betreibt 44 Akutkrankenhäuser, 3 Herzzentren, 4 orthopädische Fach- und 3 Rehakliniken, 4 Pflegeheime und 28 Medizinische Versorungszentren. Insgesamt arbeiten 36.000 Menschen bei Sana.

Unter den Konzerntarifvertrag fallen aber nur 20 Kliniken. Das ist nur etwas mehr als ein Viertel aller Beschäftigten. Zunächst hatte ver.di einen Sockelbetrag von 150 Euro und 8 % linear für eine Laufzeit von 12 Monaten gefordert.

Kurz zuvor kämpften die Beschäftigten der 4 Unikliniken Baden-Württembergs für bessere Bedingungen und höhere Löhne und legten die Arbeit nieder. Ebenfalls wird es wohl demnächst im Bereich der ärztlichen Klinikbeschäftigten zu Arbeitskampfmaßnahmen kommen. Der Marburger Bund, bei dem die überwältigende Mehrheit organisiert ist, tritt in Verhandlungen ein.

Diese Beispiele zeigen: Es tut sich was! Gerade das Beispiel Sana zeigt, dass auch in privaten Konzernkliniken Streikbereitschaft existiert, auch wenn sie von der ver.di-Spitze nur unzulänglich ausgeschöpft wird. Umso wichtiger wird es für alle Krankenhausbeschäftigten, dagegen und für flächendeckende Entlastungspläne über alle Berufsgruppen hinweg eine innergewerkschaftliche Opposition zu bilden und sich der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) anzuschließen. Das gilt auch für den Marburger Bund.

Vorsicht Krankenhaus„reform“!

Der Bundesvorstand der Linkspartei hat Alternativen zu Lauterbachs Plänen für eine Krankenhausreform verabschiedet. Insbesondere moniert er, dass die Abschaffung der DRGs (Fallpauschalen) nicht auf der Tagesordnung der Ampelkoalition steht. Deren Aussetzung (!) zumindest für die Kinderstationen hatte der Bundesgesundheitsminister noch im Oktober angekündigt.

DIE LINKE fordert ein Halte- und Rückholprogramm des Bundes für Pflegekräfte, die ihren Job verlassen haben. Eine Zulage von 500 Euro monatlich soll aus einem Bundesfonds finanziert werden. Was ist mit denen, die ihre Arbeitszeit reduziert haben, um sie wieder aufzustocken? Zudem gibt es noch 2 Pferdefüße: a) Statt Lohnsubvention für einige zu betreiben, müssten alle eine gleich höhere Bezahlung erhalten; b) der Bund soll nicht nur zahlen, sondern alle Kliniken enteignen und unter seiner oder Regie anderer Gebietskörperschaften verstaatlichen sowie einen integrierten nationalen Gesundheitsdienst organisieren gemäß dem organisatorischen Vorbild des NHS in Britannien.

Ferner fordert der Bundesvorstand: Pflegepersonalschlüssel für bundesweit 100.000 zusätzliche Pflegestellen; Gewinnverbot für Krankenhäuser; Bundesfonds zur Rekommunalisierung privatisierter Kliniken.

Doch wie will man Ersteres ohne Abschaffung der Fallpauschalen und des Klinikwettbewerbs umsetzen? Und sollen bei der Rekommunalisierung die Klinikaktionär:innen entschädigt werden, vielleicht sogar zum Börsenwert?

Sicher eine wünschenswerte Initiative trotz mancher Lücken, doch nicht mehr als fromme Reformwünsche vom Weihnachtsmann. Perspektiven der Umsetzung mittels Kampfmaßnahmen werden gar nicht erwähnt. Dabei ist zu befürchten, dass die kleinen, aber in der stationären Grundversorgung elementaren Krankenhäuser zugunsten ambulanter Zentren geschlossen werden sollen. Wir werden über die konkreten Pläne informieren.

Zweitens zeigen die Erfahrungen mit den bisherigen Entlastungstarifverträgen, dass es nicht zur Personalaufstockung gekommen ist. Wie auch, wenn nicht mehr Geld ins System fließt? Das scheitert aber an der finanziellen Lage der Krankenkassen. Gewerkschaften und DIE LINKE wären gut beraten, ihre Mitglieder auf den drohenden Kahlschlag bei der stationären Grundversorgung abseits von Großstädten ebenso aufmerksam zu machen wie auf die notwendige Finanzierung durch die gesetzlichen Krankenkassen.

  • Kein Krankenhauskahlschlag! Gesetzliche Sozialversicherungspflicht für alle und ohne Beitragsbemessungsobergrenzen! Entschädigungslose Verstaatlichung aller Krankenhäuser unter Kontrolle der Beschäftigten!



Tarifabschluss Häfen: Punktsieg für den Apparat

Bruno Tesch, Neue Internationale 267, September 2022

In der zehnten Verhandlungsrunde zwischen dem Zentralverband der deutschen Seehäfen (ZDS) und der Gewerkschaft Vereinte Dienstleistungen (ver.di) einigten sich die beiden Parteien am 22. August 2022 auf einen neuen Tarifvertrag.

Das Ergebnis

Ab 1. Juli 2022 steigen die Entgelte in Vollcontainerbetrieben in der Ecklohngruppe 6 (inklusive Sonderzahlung) um 9,4 Prozent; in den konventionellen und Stückguthafenbetrieben in derselben Referenzlohngruppe (inklusive Sonderzahlung) um 7,9 Prozent. Ab 1. Juni 2023 erhöhen sich die Entgelte in den genannten Betriebsarten um jeweils weitere 4,4 Prozent. Sollte die Preissteigerungsrate darüber liegen, tritt eine Inflationsklausel in Kraft, die eine Preissteigerungsrate bis 5,5 Prozent ausgleicht. Für den Fall einer höheren Inflationsrate haben die Tarifparteien eine Verhandlungsverpflichtung, inklusive eines Sonderkündigungsrechtes, vereinbart.

Extrem bescheiden fällt der Abschluss zudem für die Beschäftigten der sog. C-Betriebe aus, für die zum 1. Juli 2022 3,5 % vereinbart wurden, für 2023 gar nur 2,5 %. Unter diese Unternehmen fallen lt. ver.di vor allem solche, die mit großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hätten. In der Regel sind das aber auch jene, wo die Arbeiter:innen ohnedies schon weniger verdienen. Für sie bedeutet der Abschluss weitere deutliche Reallohnverluste, so wie insgesamt die Lohndifferenzen in der Branche weiter zunehmen.

Ursprünglich Forderung

Der gewerkschaftlichen Forderung nach einem Inflationsausgleich in nicht bezifferter Höhe und Anhebung der Stundenlöhne um 1,20 Euro v. a. auch für die unteren Lohngruppen stand die Position des ZDS, die die Laufzeiten aufspalten wollte und eine schrittweise Lohnerhöhung von 3,2 % in diesem und 2,8 % im nächsten Jahr sowie eine Einmalzahlung von 600 Euro vorsah, gegenüber. Daneben sind auch Arbeitsverdichtung und Überstunden ein gerade in den letzten Jahren immer drückenderes Dauerthema geworden. Grund dafür sind Personalabbau und die Ausweitung des Sektors der „unständigen“ Arbeitskräfte, die als moderne Tagelöhner:innen malochen.

Natürlich verdienten auch diese Forderungen in voller Höhe und Umfang unsere tätige Solidarität, denn schon ihre Durchsetzung konnte sich nur stärkend auf das Selbstbewusstsein der Kolleg:innen auswirken und die Anziehungskraft einer gewerkschaftlichen Organisierung erhöhen. Aber die Kolleg:innen sollten wachsam sein und Transparenz und Rechenschaftspflicht von ihren in den Verhandlungen agierenden Vertreter:innen fordern. So erwies sich der Glaube als Luftschloss, dass „eine starke Mobilisierung am 22. August ( … ) es auch der Verhandlungskommission ermöglichen (würde), ( … ) sich über die weiteren Verhandlungsschritte direkt mit den anwesenden Kolleg:innen zu beraten, anstatt sich hinter verschlossenen Türen auf die Argumente der Bosse einlassen zu müssen“, wie Dustin Hirschfeld von „Klasse gegen Klasse“ schrieb. (https://www.klassegegenklasse.org/hafenstreiks-inflationsmonster-stoppen-vollstreik-jetzt/).

Eigenlob der ver.di-Spitze

Auf den ersten Blick liest sich das Resultat als voll im Einklang mit den gewerkschaftlichen Kernforderungen. „Das ist ein sehr gutes Ergebnis. Unser wichtigstes Ziel war ein echter Inflationsausgleich, um die Beschäftigten nicht mit den Folgen der galoppierenden Preissteigerung alleinzulassen“, schwelgte denn auch ver.di Verhandlungsführerin Maya Schwiegershausen-Güth.

Das Resultat wird zur Annahme bei der Bundestarifkommission am 5. September empfohlen und dürfte wohl durchgewinkt werden, nachdem ein „Diskussionsprozess mit den Mitgliedern in den Betrieben über das Tarifergebnis eingeleitet“ worden ist. Da aber 90 % der Bundestarifkommission den Abschluss unterstützen, soll das Ergebnis ausdrücklich nur besprochen und erklärt werden. Eine Mitgliederbefragung, die wenigstens einen Aufschluss über die Positionierung der Basis geben könnte, ist ausdrücklich nicht vorgesehen. Den Hafenarbeiter:innen wird dieser neue Vertrag nicht nur als großer Erfolg verkauft, Schulterklopfen über die Unterstützung durch Streikaktionen als „faire“ Geste inbegriffen, aber v. a. wird die Linie des Bürokrat:innenapparats hervorgestrichen: Seht her, was wir durch unser Verhandlungsgeschick alles erreichen können!

Mehr war drin!

Doch Eigenlob stinkt bekanntlich. Aber eine kritische Feststellung zum glorreichen Abschluss lässt sich nicht beiseite wischen: Offensichtlich hat die Idee der Gegenseite von einer Aufspaltung nach Tätigkeitsbereichen wie auch einer zeitlichen Streckung verfangen.

Zudem ist bei der Inflationsberechnung ja deren Beginn weit vor dem Stichdatum Juli 2022 unberücksichtigt geblieben. Eine Anhebung der Tabellenentgelte von 1,20 Euro konnte zwar für 2022 erreicht werden, für das zweite Jahr sind freilich nur weitere 30 Cent vorgesehen – womit sich die „soziale Komponente“ gleich wieder relativiert. Was gedenkt die Gewerkschaft gegen die horrende Arbeitszeitverdichtung, die Ausweitung des prekären Sektors der „unständigen“ Arbeitskräfte in den Seehäfen zu tun? Dazu schwieg sie.

Tarifrundenritual nicht durchbrochen

In der Nachbetrachtung bleibt festzuhalten, dass viel mehr hätte erreicht werden können. Das erstreckt sich nicht nur auf das reine Tarifresultat, sondern vielmehr auf die politisierende Ausstrahlung über den engen gewerkschaftlichen Rahmen hinaus. Die Streikbereitschaft war riesig und die Entschlossenheit zum Kampf erwies sich auch in der machtvollen und militanten Demonstration am 15. Juli in Hamburg. Hier zeigte sich ähnlich wie bei den Streiks der Gewerkschaft der Lokführer:innen (GdL), dass selbst mit einer verhältnismäßig kleinen Belegschaftszahl eine große Wirkung erzielt werden kann, wenn neuralgische Stellen in Transport und Verkehr und betroffen werden.

Darüber hinaus wurde jedoch auch die Chance nicht genutzt, mit gleichzeitig stattfindenden Arbeitsniederlegungen z. B. an den Flughäfen ein Verbindungsnetz an Aktivist:innen aufzubauen, das die Streiks hätte ausweiten und die Frage des Teuerungsausgleichs zu einer bundesweiten Kampagne für die gleitende Lohnskala – 1 % Lohnsteigerung für jedes Prozent Inflation – unabhängig von Tarifrunden und unter Kontrolle der Arbeiter:innen als Produzent:innen wie Konsument:innen hätte ausbauen lassen.

Zustimmung zum Arbeitsgerichtsurteil

Skandalös war in dem Zusammenhang v. a. die Zustimmung der ver.di-Spitze zu dem arbeitsgerichtlichen Verdikt, die Streiks nach den 15. Juli, dem Höhepunkt der Aktionsfähigkeit der Basis, bis zum 26. August auszusetzen. Dies spielte dem bürokratischen Apparat naturgemäß in die Hände, denn so konnte er die Kontrolle behalten, der möglichen Kampfdynamik die Spitze brechen, die Beschäftigten zu unterstützenden Statist:innen für ihre nicht direkt kontrollierbaren Verhandlungsrunden mit den Arbeit„geber“:innen degradieren.

Eine unmittelbare Lehre aus den Geschehnissen muss lauten: Die Forderung nach Inflationsausgleich muss sich auf alle Branchen erstrecken, die Preissteigerungen und gleitenden Lohnanpassungen sollten von gewählten Arbeiter:innenkontrollkomitees überwacht werden. Einschränkungen des Streikrechts durch bürgerliche Gerichte dürfen niemals anerkannt und befolgt werden.

In Diskussionsprozess eingreifen!

Die Mobilisierung hat aber schon jetzt viele Kolleg:innen in den Häfen kämpferischer und politischer gemacht. Und für die Beschäftigten in den C-Betrieben ist der Abschluss ein Hohn. Eine konsequente Gewerkschaftspolitik hätte sich auf die Verfestigung der Aufsplitterung nicht einlassen dürfen, sondern vielmehr die Kampfkraft zur Mobilisierung für einen gemeinsamen und gleichen Abschluss nutzen müssen.

Aber auch in anderen Bereichen fällt der Abschluss viel zu knapp aus – nicht zuletzt wegen der zwei Jahre Laufzeit. Statt die Kampfkraft voll zu entfalten, die Verhandlungen für gescheitert zu erklären und eine Urabstimmung einzuleiten und damit vom Warn- zum Vollstreik überzugehen, zogen es ver.di-Führung, Verhandlungs- und Tarifkommission vor, doch noch einen angesichts des Mobilisierungspotentials und des massiven Inflationsdrucks mäßigen Abschluss zu zimmern.

Alle kämpferischen Gewerkschafter:innen sollten bei den bis zum 5. September anberaumten Versammlungen gegen die Annahme des Verhandlungsergebnisses argumentieren und dafür eintreten, dass dort nicht nur diskutiert und informiert, sondern auch abgestimmt wird. Außerdem soll ein für die Tarifkommission bindender Mitgliederentscheid zum Tarifvertrag eingefordert werden. Zweifellos wird dies gegen den Apparat sehr schwer durchsetzbar sein – doch sollen und können die Versammlungen genutzt werden, um zu sehen, wie viele Gewerkschaftsmitglieder mit dem Apparat gehen und wie viele nicht, vor allem aber um möglichst viele klassenkämpferischen Arbeiter:innen über die Tarifrunde hinaus in einer antibürokratischen Basisopposition zu organisieren.




Hafenstreiks: fortführen, ausweiten, politisieren!

Bruno Tesch, Neue Internationale 267, 23. August 2022

Vorbemerkung: Am Abend des 23. August einigte sich ver.di mit dem Zentralverband der Seehafenbetriebe. Ein Artikel folgt in Kürze, dieser Artikel behandelt die Situation vor dem Tarifabschluss und wurde in diesem Kontext geschrieben und veröffentlicht.

Nach Warnstreiks hatte sich die Gewerkschaftsvertretung von ver.di für die Beschäftigten in den verschiedenen Nordseehäfen durch einen Beschluss des Hamburger Arbeitsgerichts vom 14. Juli ausbremsen lassen. Das Gericht untersagte abermalige Arbeitskampfmaßnahmen bis zum 26. August. In dieser Zeitspanne ließ sich die Gewerkschaft stattdessen zu weiteren Verhandlungsrunden verpflichten. Gestern fand die dritte und letzte Runde dazu statt, Ergebnisse sind noch nicht bekannt.

Diese „neutrale“ Entscheidung kam nicht nur den Absichten der Kapitalist:Innenseite, dem Zentralverband der Seehafenbetriebe (ZDS), entgegen, sondern auch seinen Tarif„partner:innen“ vom gewerkschaftlichen Lager sehr gelegen, die sich wohl auch aus rechtlicher Sicht gar nicht auf den Vergleich hätten einlassen müssen. Ver.dis Verhandlungsführerin, Maya Schwiegershausen-Güth, erklärte: „Streik ist immer das letzte Mittel, aber Lösungen werden am Verhandlungstisch vereinbart.“ Beide haben ein gemeinsames Interesse, ein Spiel auf Zeit durchzuexerzieren, bei dem den Arbeiter:innen der kämpferische Schwung schließlich verlorengehen soll. Der bürokratische Apparat von ver.di verfolgt zudem die Strategie, jederzeit die Kontrolle über das Geschehen zu behalten. Dies erschien ihm insbesondere nach der Demonstration in Hamburg vom 15. Juli geboten, die von der Polizei angegriffen wurde und wo sich eine eigene Kampfdynamik an der Basis zu entfachen drohte.

„Wir sind der Hafen“

Am 22. August gelang es, mehr als 200 Beschäftigte aus den verschiedenen Häfen unter dem Motto „Wir sind der Hafen“ zur dritten Verhandlungsrunde in Bremen zusammenzubringen. Die Stimmung war sehr lautstark, obwohl dann nur die Verhandlungsführerin Schwiegershausen-Güth im Radio Bremen-Magazin Buten und Binnen als einzige Mikrofonzeit erhielt und dort über schwierige Verhandlungen orakelte. Die Fortführung von Streiks nach dem Verhandlungstag wird aber anscheinend nicht ausgeschlossen. In welcher Form, wird davon abhängen, ob die bremsende ver.di Führung weiterhin das Heft in der Hand behält oder ob der Druck an der Basis weiter gesteigert werden kann und sich eigenständige Strukturen im Kampf herausbilden, die ihn vorwärtstreiben und ausweiten können.

Noch sind die Zielvorstellungen beider Lager anscheinend nicht übereingekommen. Der gewerkschaftlichen Forderung nach einem Inflationsausgleich in nicht bezifferter Höhe und Anhebung der Stundenlöhne um 1,20 Euro v.a. auch für die unteren Lohngruppen steht die Position des ZDS, die die Laufzeiten aufspalten will und eine schrittweise Lohnerhöhung von 3,2 % in diesem und 2,8 % im nächsten Jahr sowie eine Einmalzahlung von 600 Euro vorsieht, gegenüber. Auch wenn die Kluft groß zu sein scheint, unüberwindlich ist sie nicht, zumal sie sich auf eine ökonomische Zahlenebene verengt und die Regeln kapitalistischer Rechenexempel nicht außer Kraft setzt.

Daneben sind auch Arbeitsverdichtung und Überstunden ein gerade in den letzten Jahren immer drückenderes Dauerthema geworden. Grund dafür sind Personalabbau und die Ausweitung des Sektors der „unständigen“ Arbeitskräfte, die als moderne Tagelöhner:innen malochen.

Natürlich verdienen auch diese Forderungen in voller Höhe und Umfang unsere tätige Solidarität, denn schon ihre Durchsetzung kann sich nur stärkend auf das Selbstbewusstsein der Kolleg:innen auswirken und die Anziehungskraft einer gewerkschaftlichen Organisierung erhöhen. Aber die Kolleg:innen müssen wachsam sein und Transparenz und Rechenschaftsplicht von ihren in den Verhandlungen agierenden Vertreter:innen fordern. Wir glauben nämlich nicht, dass „eine starke Mobilisierung am 22. August ( … ) es auch der Verhandlungskommission ermöglichen (würde), ( … ) sich über die weiteren Verhandlungsschritte direkt mit den anwesenden Kolleg:innen zu beraten, anstatt sich hinter verschlossenen Türen auf die Argumente der Bosse einlassen zu müssen“, wie Dustin Hirschfeld von „Klasse gegen Klasse“ schreibt (https://www.klassegegenklasse.org/hafenstreiks-inflationsmonster-stoppen-vollstreik-jetzt/).

Diese Hoffnung muss so lange illusorisch bleiben, wie die entscheidenden Fragen von unmittelbarer Einflussnahme und der Aufbau von auf Vollversammlungen demokratisch gewählter Kampfstrukturen wie Streikaktionsräten als Kontrollmechanismen und Machtorganen nicht gezielt angegangen werden.

Zwischen Fallstricken und Signalwirkung

Zu den Erschwernissen der Auseinandersetzungen gehören jedoch auch Rahmenbedingungen, bei denen die Bürokratie selbst die Tarifvereinbarungen durchlöchert und einer Verschlechterung der Position der Lohnabhängigen zugestimmt hat. In vielen Fällen sind über das Arbeitszeitgesetz sogenannte Tariföffnungsklauseln (Tök) in die Vertragsabmachungen eingeschleust worden. Sie ermöglichen es einseitig den Unternehmen, ihren Belegschaften betriebliche Sonderkonditionen aufzubinden, so z. B. die Beschäftigungssicherungsverträge, die es den Firmen gestatten, bei etwaigem Auftragsmangel Arbeitszeit und Entgelte zu verringern.

Die unsägliche Standortsicherungslogik der Gewerkschaftsbürokrat:innen hat zur Knebelung der Kampfkraft beigetragen, denn sie hält sich kapitalkonform an die sogenannte Friedenspflicht, die ihnen nur mit Ablauf der Tarifverträge normalerweise alle zwei Jahre erlaubt, zu Gegenwehrmaßnahmen zu greifen, und deren Begriffsbildung „Friedenspflicht“ dem ständigen Klassenkrieg der Bosse Hohn spricht.

Ein erfolgreich geführter Arbeitskampf kann in jedem Fall Wirkung erzielen. Im Zusammenhang mit dem Kampf gegen die Abwälzung der Krisenlasten auf die Arbeiter:innenklasse, was sich in Versuchen zur Angleichung von Löhnen an die in allen Bereichen spürbare Teuerung ausdrückt, eröffnet sich jetzt die Möglichkeit einer besonderen Ausstrahlung auf andere Sektoren der Klasse, es den Hafenarbeiter:innen gleich zu tun. Dazu muss jedoch der Kampf zumindest auf breiterer Ebene politisiert werden, sonst wird er im Räderwerk von Tarifverträgen, die nach Wunsch von Kapital und Arbeiter:innenbürokratie auch noch, sorgsam nach Fachbereichen sortiert, luftdicht verpackt werden, steckenbleiben.

Mit gutem Beispiel gehen zur Zeit die Arbeiter:innen in Britannien voran, die eine branchenübergreifende Streikwelle entfacht haben. Antriebsmotor war auch hier der Kampf gegen die horrende Inflation. Sie trotzen dabei gewerkschaftsfeindlichen Gesetzen, die ihnen das Streikrecht immer weiter beschneiden wollen, und beschränken sich nicht auf Warnstreiks, wie gerade der angelaufene 10-tägige Vollstreik im größten Containerhafen Felixstowe zeigt.

Weder Bürgerliche Gerichte, noch die bürokratischen Spitzen der Gewerkschaften dürfen darüber entscheiden, ob, wann und von wem gestreikt wird! Das ist allein Sache der Beschäftigten, die in direkter Urabstimmung und demokratischer Kontrolle darüber entscheiden sollen. Vollstreik mit dem Ziel der vollen Durchsetzung der Forderungen jetzt! Keine Töks! Die Aktivist:innen aus den Häfen sollten Aktionsräte bilden, die Verbindungen zu anderen Bereichen aufnehmen, die unter ähnlichen Bedingungen arbeiten und vor ähnlichen Problemen stehen, z. B. im gesamten Logistik- und Verkehrswesen. Sie könnten die Grundlage legen für eine Basisbewegung kämpferischer Arbeiter:innen, die Kapital und reformistische Bürokratie bekämpfen.




Gesundheitsminister:innenkonferenz in Magdeburg: ver.di-Mitglieder fordern Entlastung

Ernst Ellert, Infomail 1191, 22. Juni 2022

Es ist schon zu einem Ritual geworden: Alljährlich treffen sich die Gesundheitsminister:innen der Länder und des Bundes zu einer Konferenz, diesmal in der Hauptstadt Sachsen-Anhalts.

Nur das Wetter war heiß

Ca. 250 Gewerkschafter:innen waren aus vielen Bundesländern angereist und marschierten vom Jerichower Platz zum Tagungsort Dorint-Hotel Herrenkrug ganz im Osten Magdeburgs. Ein Drittel bis die Hälfte stammte aus Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen. Daneben waren sichtbar vertreten Kolleg:innen aus Baden-Württemberg (Crailsheim) und Rheinland-Pfalz (Uniklinik Mainz).

Ver.di-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler hielt eine kurze Rede, in der sie den in die 8. Woche gehenden Streik der 6 Unikliniken in Nordrhein-Westfalen als lobendes Beispiel zwar erwähnte, aber nichts darüber verriet, wie dieser Kampf nach Ansicht des Bundesvorstands gewonnen und auf die gesamte Republik ausgedehnt werden kann. Der dortige Arbeit„geber“:innenverband (AdL) und die 6 Klinikvorstände halten sich bisher mit Angeboten zurück, die über eine sich durch die Krankenkassen finanzierende Personalaufstockung für bettenführende Bereiche der Pflege hinausgehen. Ver.di NRW hatte diese zu Recht abgelehnt, weil sie nur einen Teil der Pflege und schon gar nicht Abteilungen außerhalb ihrer betreffen. Der Rat der 200 (Teamdelegierte aus allen Bereichen der 6 Krankenhäuser) hatte just am 21. Juni einen offenen Brief an Landesregierung und Unternehmenseite formuliert, der zu einem ernsthaften Angebot mahnt.

Reden

250 Leute machten ihrem Unmut zwar Luft, doch kann die Mobilisierung durch ver.di angesichts der geringen Teilnehmer:innenzahl und der Lage in NRW nur als lauwarm gelten. Lediglich das Wetter legte einen drauf.

In den Reden zweier Auszubildenden über ihre Situation und von Lilian Kilian zur Situation in der Psychiatrie gab es zwar auch Anklänge von Unzufriedenheit mit den Versprechen aus Politik und vonseiten der Krankenhausunternehmen. So habe sich die Situation seit Einführung der Fallpauschalen (DRGs) weiter verschlechtert. Folglich seien die Unterstützungsbekundungen nur leerer Trost. Das DRG-System müsse fallen und mit ihm die auf Gewinn ausgerichtete betriebswirtschaftliche Logik.

Fast in einem Atemzug wurde aber wieder auf die kostendeckende Möglichkeit der Refinanzierung von Entlastungsverträgen (s. o.) verwiesen, was nur für wenige Bereiche und auch dort nur bedingt gilt. Als zweite Mär, auf die auch schon die Streikenden in Berlin hereinfielen und gegen die auch die in NRW nicht immun sind, wurde verbreitet, „die Politik“, vorher noch als Vereinigung für billigen Seelentrost dargestellt, möge und könne doch den Rest bezahlen.

Die Länder sind jedoch im Zuge des dualen Krankenhausfinanzierungsgesetzes „nur“ verpflichtet, technische und bauliche Investitionsmittel zur Verfügung zu stellen und tun dies zusehends ungenügender. Den laufenden Betrieb dürfen sie demnach gar nicht abdecken. Das ist Aufgabe der Krankenkassen. Darauf hatte jüngst der Berliner Senat hingewiesen – natürlich nach der Tarifrunde, während der er die Streikenden hingegen diesbezüglich in Arglosigkeit wog.

Forderungen

Ver.di hatte unter folgenden Forderungen nach Magdeburg mobilisiert:

  • PPR 2.0 in der Krankenhauspflege kurzfristig in Kraft setzen
  • Bedarfsgerechte und verbindliche Personalbemessung in der Altenpflege schnell und vollumfänglich umsetzen
  • Psychiatrie-Personalverordnung zu 100 Prozent einhalten
  • Besonders in der Altenpflege: flächendeckende Entlohnung nach relevanten Tarifverträgen
  • Bedarfsgerechte und solidarische Finanzierung
  • Schluss mit Kommerzialisierung und Profitmaximierung im Gesundheitswesen 

Diese sind allesamt unterstützenswert. Doch mit o. a. sozialpartnerschaftlicher Orientierung der Gewerkschaftsführung werden sie nicht umsetzbar sein. Im 1. Schritt gilt es deshalb einzuklagen, dass ver.di von ihrer bisherigen Strategie der Entlastungskampagne als bestenfalls Kampf in einzelnen Häusern abrückt und sie auf alle Krankenhäuser, psychiatrische Einrichtungen und Altenpflegeheime ausdehnt. Die Teilnehmer:innen heute in Magdeburg hätten dafür volles Verständnis gehabt.




Tarifrunden in den Sozial- und Erziehungsdiensten: Nicht am Ziel und trotzdem Schluss?

Richard Vries, Neue Internationale 265, Juni 2022

In der Nacht zum 18. Mai wurde erneut derselbe Fehler begangen wie vor kurzem in Verhandlungen um den TVöD-H (Tarifvertrag öffentlicher Dienst-Hessen) und TVöD-L (Länder). Ein völlig unzureichendes Ergebnis, diesmal für einen Rahmentarifvertrag, wurde angenommen.

Die Verhandlungsführungen der Gewerkschaften – ver.di und Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) – und der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) einigten sich auf einen Abschluss, der vor allem durch ein kompliziertes Regelwerk auffällt, dessen Hauptvorzug darin bestehen dürfte, dass es sich leichter schönreden lässt als andere Ergebnisse.

Tatsächlich bekommen die Beschäftigten eine ellenlange Laufzeit von knapp 5 Jahren vom 1. Juli 2022 bis zum 31. Dezember 2026 serviert.

Darüber hinaus konnte die Forderung nach einer Höhergruppierung überhaupt nur für Teile der Beschäftigten umgesetzt werden. Auch die Erhöhungen blieben weit unter den Forderungen, die bis zu 400 Euro betragen hatten. Für die Laufzeit des Vertrages soll es für Erziehende in den Gehaltsgruppen S 2 bis S 11a eine monatliche Zulage von 130 Euro geben. Für Beschäftigte in den Sozialdiensten der Gehaltsgruppen S 11b bis S 12 sowie S 14 und S 15 sind es immer noch Reallohnverlust bedeutende 180 Euro. Bei einer Inflation von derzeit fast 8 % gibt es nämlich durchschnittlich nur eine 3,7-prozentige Anpassung. Zudem muss man bedenken, dass die Gehaltsaufstockungen sich über die gesamte lange Laufzeit von fünf (!) Jahren nicht verändern.

Wird die Zulage anteilig umgewandelt, können zu 2 beschlossenen Entlastungstagen jährlich 2 weitere hinzukommen. Fraglich bleibt, wie diese im dicht gestrickten Berufsalltag überhaupt gewährt werden sollen. Immerhin haben Vor- und Nachbereitungszeiten eine Erhöhung von 19,5 auf 30 Stunden erfahren. Praxisanleitung wird derweil mit 70 Euro im Monat vergütet, jedoch nur wenn der Anteil an Ausbildungsanleitung 15 % der  Arbeitszeit übersteigt.

Für Heilerziehungspflegende soll nun ihr Ausbildungsentgelt tariflich geregelt werden. In der Behindertenhilfe wurde eine erhöhte Wohnzulage über 100 Euro beschlossen. Wer durch erworbene Berufspraxis mit mehr Tempo in höhere Stufen aufsteigen will, wird jedoch mit einer Wartezeit bis zum 1. Oktober 2024 rechnen müssen.

Ver.di-Spitze rechnet das Ergebnis schön

Von Seiten ver.dis heißt es auf Instagram neben dem trügerischen Hinweis, dass im Januar 2023 sowieso wieder der Vergütungstarifvertrag TVöD verhandelt werde, bloß: „Das Ergebnis werden wir jetzt natürlich mit unseren Mitgliedern diskutieren.“ Die lassen hier aber bereits gefrustet ihre dicke Luft raus oder können es erst gar nicht glauben. Die Gewerkschaft vertröstet nur vage, „ dass Themen wie Personalaufbau, Personalschlüssel … nicht in der Tarifrunde, sondern gesetzlich geregelt werden müssen“.

Die Verhandlungs„partnerin“ VKA prangert zwischenzeitlich insbesondere eine „Sonderstellung“ der in Sozial- und Erziehungsdiensten Beschäftigten an und faselt in der FAZ vom 20. Mai 2022 von „herausfordernden“ Ergebnissen. Sondervermögen werden hierzulande wohl ausschließlich für Aufrüstung akzeptiert.

Ver.di-Vorsitzender Frank Werneke selbst meint wiederum ganz im Sinne dieser „Sozialpartnerin“, mithilfe der derzeitigen Ergebnisse „wirksam gegen Fachkräftemangel vorzugehen“. Eine Entscheidung dazu wird es spätestens nach der Mitgliederbefragung bis Mitte Juni 2022 geben.

Hauptforderungen und Arbeitsbedingungen

Wie schlecht der Abschluss wirklich ist, verdeutlicht ein Abgleich mit den drei Hauptforderungen für die Tarifverhandlungen im Sozial- und Erziehungsdienst (SuE). Die ver.di-Bundestarifkommission für den öffentlichen Dienst hatte am 17. Dezember 2021 beschlossen: erstens eine Besserung der entkräftenden Arbeitsbedingungen, zweitens Gehaltserhöhungen sowie drittens ein Vorgehen gegenüber dem ausufernden Fachkräftemangel. Laut ver.di werden jetzt schon 170.000 Fachkräfte zusätzlich an Kitas benötigt. Weitere 70.000 werden bis 2025 wohl noch hinzukommen.

Kommunal gut 245.000 Erzieher:innen, 55.000 Sozialarbeiter:innen und -pädagog:innen sowie 30.000 Heilpädagog:innen und in der Behindertenhilfe Tätigen fehlt es akut an Raum, Zeit sowie an personeller und gesundheitlicher Stabilität. Durch Krieg und Krise steigt die Last zusätzlich. Geschlechtliche Ungleichverteilung wie auch (rassistische) Ausbeutung im Kapitalismus spiegeln sich in den prekären Bedingungen der unverzichtbaren, gesellschaftlichen Fürsorgearbeiten wider. Ein Viertel der Erzieher:innen würde den untragbaren Job sogar augenblicklich hinschmeißen wollen, was eine nochmals verschärfte Personalsituation zur Folge hätte. Es schrie also nur so nach konsequentem, branchenweitem Streik!

Arbeitskampf

Bereits seit Sommer 2020 wurde mit coronabedingten Unterbrechungen der Tarifvertrag SuE verhandelt. Die Fortsetzung der Auseinandersetzung von Ende Februar 2022 lieferte zunächst kein Ergebnis für die rund 330.000 kommunal Tätigen. Verhandlungsrunde Nr. 2 zwischen VKA und ver.di blieb bis Ende März 2022 weiterhin ohne Angebot der kommunalen Seite. Wiederholte Warnstreiks über mehrere Monate waren die Folge.

Allein an die 26.000 Beschäftigte kamen deutschlandweit zu Warnstreiks am 4. Mai 2022 zusammen. Kindergärten und Betreuungen an Schulen blieben währenddessen vereinzelt v. a. in Städten geschlossen. Wie ver.di rief gleichfalls die GEW zwischen dem 11. und 13. Mai erneut in verschiedenen Städten und Bundesländern bis zu 50.000 zu Warnstreiks auf. So forderten etwa die Kitavernetzung Frankfurt und die Betriebsgruppe ASB-Lehrerkooperative unter dem Banner von ver.di und GEW zusammen den TVöD für alle. Momentan wird das Gehalt derer, die zwar im SuE beschäftigt, aber nicht kommunal, sondern bei einem freien oder kirchlichen Träger tätig sind, (oftmals nur teilweise) an das Ergebnis der Tarifrunde angeglichen. Das ist relevant für nunmehr mehr als 1,2 Million weitere Beschäftigte in Sozial- und Erziehungsdiensten. Mehr als 83 % davon sind Frauen.

Wichtig und richtig war, dass es auch Verstärkung von gleichgesinnter Seite gab: U. a. Pflege- und Klinikbeschäftigte hatten sich etwa in Baden-Württemberg mit einem weißen Block den Kämpfenden im SuE angeschlossen. Gemeinsam forderten sie mehr Personal, Entlastungen und Aufwertungen.

Wie weiter?

Wirklich kämpferische und politische Forderungen, wie sie auch von gewerkschaftlicher (Basis-)Seite sonst in der Öffentlichkeit immer wieder zu hören sind, fanden zu keiner Zeit ihren Niederschlag in den Warnstreiks. Im Gegenteil ließ Werneke bereits vor Ende der 3. Verhandlungsrunde öffentlich verlauten, „nicht wochenlang streiken“ zu wollen, „um die Belastung nicht noch mehr zu vergrößern“. Die Sozialpartner:innenschaft lässt er hier deutlich durchblicken und auch die nie direkt mitverhandelnde GEW distanziert sich fälschlicherweise keineswegs davon. Was aber belasten denn einige weitere Wochen Arbeitskampf gegenüber Jahrzehnten voller Überbeanspruchung?

Nun hat die dritte Tarifrunde am 16./17. Mai in Potsdam gezeigt, dass es weitere Schritte braucht. Es ist eben genau diese selbst geschaffene Aussichtslosigkeit, die verdeutlicht, dass gerade jetzt aktive Basisstrukturen in den Einrichtungen geschaffen werden müssen. Der Kurs der Sozialpartner:innenschaft kommt letztlich nur den sog. Arbeitergeber:innen zugute. Zugleich verschärfen faule Kompromisse nicht nur den Notstand im Erziehungswesen und die chronische Überlastung der Beschäftigten. Sie unterminieren auch die gewerkschaftliche Organisation und Kampfkraft, die die Kolleg:innen in den letzten Jahren immer wieder gezeigt haben.

Daher brauchen wir nicht nur aktive Basisstrukturen und von unten gewählte und abwählbare Aktions- und Streikkomitees. Wir brauchen vor allem eine organisierte antibürokratische Basisopposition, die all jene Beschäftigten sammelt, die für eine klassenkämpferische Gewerkschaftspolitik und ein Ende der sozialpartnerschaftlichen Unterordnung eintritt, für die die Apparate stehen.

Das Ergebnis muss auf Betriebs- und Gewerkschaftsebene diskutiert und in der kommenden Mitgliederbefragung zurückgewiesen werden. Eine Urabstimmung findet ja nach Warnstreiks nicht statt. Nur so kann der früher oder später in den Verhandlungen einknickenden Gewerkschaftsbürokratie nachhaltig etwas entgegengesetzt werden, wenn sich die mit dem Abschluss Unzufriedenen in ver.di und GEW jetzt entsprechend zusammenschließen und organisieren. Nur dann können wirkliche Verbesserungen mit der Umsetzung branchenweiter und politischer Forderungen gelingen. Was gegenwärtig fürs Ziel gefragt ist, lässt sich in drei Worte zusammenfassen: Mut zur Ablehnung!




Ver.di: Die nächste Tarifrunde in den Sand gesetzt

Helga Müller/Mattis Molde, Neue Internationale 261, Dezember 2021/Januar 2022

Nachdem die öffentlichen Arbeit„geber“Innen auch bei der zweiten Verhandlung Anfang November 2021 kein Angebot gemacht hatten und der niedersächsische Verhandlungsleiter noch davon redete, dass die Forderungen von ver.di nicht umsetzbar seien aufgrund der hohen Verschuldung durch die Ausgaben gegen die Corona-Krise, kam es nun nach zähen Verhandlungen am 27. und 28. November zu einem Ergebnis.

In der Vorwoche mobilisierten sich noch Zehntausende von KollegInnen in mehrtägigen Warnstreiks, kämpferischen Demonstrationen und Kundgebungen. Vor allem die Beschäftigten aus den Unikliniken machten sich Luft über die arrogante Haltung des Verhandlungsführers der Länder, der den mittlerweile Jahrzehnte andauernden Pflegenotstand einfach negierte und von einem vorübergehenden „Engpass“ bei den Pflegekräften sprach, der auf die stark ansteigende vierte Coronawelle zurückzuführen sei.

Ob das Ergebnis tatsächlich den öffentlichen Dienst nun für junge Menschen attraktiver macht  – insbesondere für den Gesundheitsbereich –, vor allem aber die Inflationsrate ausgleicht und somit verhindert, dass die Krise auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen wird, darf bezweifelt werden. Ver.di-Vorsitzender und -Verhandlungsführer Frank Werneke hatte ja noch vor den Verhandlungen davon gesprochen, dass eine Erhöhung der Gehälter der Pflegekräfte um mindestens 300 Euro bei einer Laufzeit von einem Jahr eine von anderen Punkten sei, um den Beruf wieder attraktiver zu gestalten – auch für KollegInnen, die aufgrund der Überlastung in Teilzeit gingen oder den Beruf ganz verlassen haben.

Das Ergebnis in Zahlen

  • Ab 1. Dezember 2022 Erhöhung der Gehälter (tabellenwirksam) um 2,8 Prozent.
  • Die Beschäftigten im Gesundheitsbereich bekommen ab 1. Januar 2022 mehr Geld durch Erhöhungen der Zulagen: Beispielsweise wird an den Unikliniken die Intensiv- und Infektionszulage von 90 auf 150 Euro erhöht und steigt damit um bis zu 67 Prozent. Das Tarifergebnis bringt etwa für eine Intensivpflegekraft eine durchschnittliche monatliche Einkommenssteigerung von 230 Euro,
  • für PhysiotherapeutInnen von durchschnittlich mehr als 180 Euro,
  • für Beschäftigte in Laborberufen ebenfalls von mehr als 220 Euro (Angaben nach ver.di).
  • Auch der Geltungsbereich der allgemeinen Pflegezulage wurde erweitert: Unter anderem erhalten  LogopädInnen, DiätassistentInnen oder medizinische Fachangestellte die Hälfte der Zulage, also 70 Euro pro Monat.
  • Anfang nächsten Jahres Auszahlung einer steuerfreien Einmalzahlung von 1300 Euro – also nicht tabellenwirksam.
  • Auszubildende, PraktikantInnen und Studierende erhalten zur gleichen Zeit 650 Euro steuerfrei.
  • Die Entgelte von Auszubildenden, PraktikantInnen und Studierenden werden ab Dezember 2022 um 50 Euro und im Gesundheitswesen um 70 Euro angehoben.
  • Die Übernahmeregelung für Auszubildende wird wieder in Kraft gesetzt.
  • Der Tarifabschluss hat eine Laufzeit von 24 Monaten (sie endet am 30.09.2023).

Kritik und Schönfärberei

Werneke selbst bezeichnete die Entgeltsteigerung von 2,8 Prozent als „absolut nicht befriedigend“. Gleichzeitig wurde dies in der ersten Stellungnahme von ver.di wieder relativiert: „Mit der steuerfreien Einmalzahlung von 1.300 Euro, der bereits für April 2021 vereinbarten Lohnerhöhung von 1,4 Prozent und den weiteren 2,8 Prozent ab 1. Dezember 2022 wird die Inflation in 2021 und 2022 ausgeglichen werden. Das statistische Bundesamt prognostiziert sie derzeit auf 2,5 Prozent.“

Diese Aussage sorgte für großen Ärger unter den aktiven Mitgliedern. Denn hier wurde mal wieder getrickst und gelogen.

1. Bezüglich der Inflationsrate lauten die Prognosen des Bundesamtes für Statistik: 3 % für dieses und 2,5 % für nächstes Jahr – tatsächlich kann sie natürlich ganz aus dem Ruder laufen. Denn dieses Jahr beträgt sie nur deshalb 3 %, weil sie in der ersten Jahreshälfte niedriger ausfiel, in der zweiten sich aber der 5 % annäherte.

2. Im April 2021 wurden nicht die Bezüge der Länderbeschäftigten um 1,4 % erhöht, sondern derer im TVöD (Bund und Kommunen). Der TVöD-L sah eine Erhöhung um 1,29 % ab 1.1.21 vor.

Insgesamt bringt dieser Abschluss nicht einmal einen Inflationsausgleich, sondern schreibt eine Reallohnsenkung fest.

Die Gehaltstabelle des TVöD-L lief am 30. 9. 21 aus. Die neue läuft 24 Monate bis zum 30.9.2023. In dieser Zeit gibt es eine einzige tabellenwirksame Erhöhung, nämlich 2,8 %, und diese erst gegen Ende der Laufzeit ab 1.12.2022. Das heißt: Fast 2 Jahre (23 Monate) bleibt das tabellenwirksame Gehaltsniveau bei +1,29 %, während das Preisniveau im selben Zeitraum (nach äußerst moderaten Prognosen) um mindestens 5,5 % steigt.

Nun kommt noch die Einmalzahlung von 1300 Euro hinzu. Bezogen auf den gleichen Zeitraum von 23 Monaten ergibt diese rund 57 Euro im Monat.

Für Eingangsstufe EG1 machen diese 57 Euro nur plus 2,45 % aus. Mit den 1,29 % vom Anfang dieses Jahres wären dies 3,74 %, also mitnichten ein Inflationsausgleich. In den Einkommensgruppen um die 4 500 Euro brutto, in denen z. B. die meisten Lehrkräfte eingruppiert sein dürften, machen die 57 Euro gerade 1,26 % mehr aus.

Also: Selbst in der untersten Eingruppierungsstufe ergeben Einmalzahlung und prozentuale Erhöhung zusammen für die Jahre 2021 und 2022 keinen Inflationsausgleich, erst recht nicht in den Einkommensgruppen, die für die meisten Beschäftigten gelten.

Angriff abgewehrt?

Zwar konnte tatsächlich der zentrale Angriff der öffentlichen Arbeit„geber“Innen der Länder auf  die Eingruppierungsregeln, den so genannten Arbeitsvorgang, zurückgeschlagen werden – dank der Mobilisierung der KollegInnen. Aber nachdem solche „abgewehrten Angriffe“ in den letzten Jahren regelmäßig bei Tarifrunden auftauchen – ob Metall, Handel oder öffentlicher Dienst – drängt sich die Frage auf, ob diese nicht inzwischen Teil des Tarifrituals geworden sind. So können die miesen Abschlüsse immer noch unter dem Motto „Wir haben Schlimmeres verhindert“ verkauft werden.

Pflege

Wie in der Tarifrunde im öffentlichen Dienst der Gemeinden und des Bundes sind auch hier die Pflegekräfte besser bezahlt worden: Auch wenn „das Ergebnis ein weiterer Zwischenschritt auf unserem Weg zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen [ist]. Das werden wir in zukünftigen Tarifrunden fortsetzen“, wie Werneke in der ver.di-Stellungnahme betonte, so ist das in der Realität auch ein weiterer Schritt der Ausdifferenzierung der Gehälter und letzten Endes der Spaltung innerhalb der Belegschaft im öffentlichen Dienst. Es ist unbestritten, dass die Pflegekräfte seit Jahren schlecht bezahlt werden und dies mit einen Grund dafür darstellt, dass viele den Job verlassen und von daher eine entsprechende Gehaltserhöhung seit Jahren ansteht, so darf es eine weitere Ausdifferenzierung nicht geben. Gerade für die Tarifauseinandersetzung bei den Ländern, wo die Kampfbereitschaft nicht sehr hoch ist – wie die Gegenseite sehr wohl weiß –, birgt das die Gefahr, dass die Kampfkraft noch mehr unterhöhlt wird. Zudem liefert die Gehaltsfrage nur einen Grund für die Flucht aus dem Pflegeberuf. Wichtiger sind tatsächlich die Arbeitsbedingungen, was die Forderung nach mehr Personal entsprechend dem Bedarf und einer massiven Arbeitszeitverkürzung einschließt. Auch wenn Werneke von weiteren Verbesserungen für die Pflegekräfte redet, bleibt die Frage offen, ob es zu einer gemeinsamen Entlastungskampagne aller Unikliniken bundesweit für mehr Personal und einen Tarifvertrag Entlastung kommen wird – wie ver.di es noch vor der Tarifrunde in Aussicht gestellt hatte. In einigen Bundesländern scheint es diesbezüglich Vorbereitungen zu geben, aber ob eine einheitliche bundesweite Auseinandersetzung vom Zaun gebrochen wird – was dringend notwendig wäre, um die Kampfkraft zu erhöhen und auch die Möglichkeit zu eröffnen, dass auch Soliaktionen der arbeitenden Bevölkerung zustande kommen –, ist doch eher unwahrscheinlich.

Bilanz

Statt durch diese Regelung, die für die Masse Reallohnverlust bedeutet und gleichzeitig bestimmte Gruppen besserstellt, die Einheit der Beschäftigten zu untergraben, hätte ver.di die Kampfkraft im Gesundheitswesen und auch bei einer anderen „systemrelevanten“ Gruppe, den angestellten LehrerInnen, nutzen können, um deutlich mehr herauszuholen. Die durch den TVöDL bezahlten Beschäftigten sind nicht besonders kampfstark. Obwohl 1,1 Millionen diesem Tarifvertrag unterliegen, sind viele davon kaum gewerkschaftlich organisiert und auch nicht die kämpferischsten. Die Mobilisierungen in dieser Tarifrunde, bei denen sich die Beschäftigten der Unikliniken und der angestellten LehrerInnen hervorgetan haben, fielen aber durchaus besser aus als zu früheren Zeiten. Es hätte ein Aufbruch auch für diese Sektoren werden können. Das miese Ergebnis und die Spaltung im Abschluss verhindern auch dies.

Betriebsgruppen, Gremien auf allen Ebenen sollten mit Resolutionen das Ergebnis und die Schönrederei kritisieren. Da es keinen Streik gab, gibt es auch keine Urabstimmung und es wird schwer sein, eine solche durchzusetzen. Wohl aber sollten auf allen Ebenen Voten verlangt werden.

Die Aufforderung an die Tarifkommission, das Ergebnis nicht anzunehmen, ist dabei eher symbolisch und nur sinnvoll in Verbindung mit Schritten, die das entsprechende Gremium auch machen kann. Sie sollten eine solche Ablehnung mit der Frage verbunden werden, wie die Krise und die Pandemie bekämpft werden können.

Nach den Niederlagen bei der Tarifrunde TVöD vor gut einem Jahr und bei der Metall- und Elektroindustrie, bei Stahl und Handel und den vielen kleineren Runden, ist klar, dass die Gewerkschaftsbürokratie ihren Teil dazu beiträgt, dass die ArbeiterInnenklasse für Krise und Pandemie zahlen soll. Ganz im Einklang mit der Politik der alten und neuen Regierung, die auf Steuererhöhungen für die Reichen verzichten und die Umverteilung von unten nach oben fortsetzen will, werden die Arbeitenden zur Kasse gebeten.

Die Kampfkraft in Tarifkämpfen wird verschenkt, wenn es nicht gelingt, in den Gewerkschaften oppositionelle Gruppen und Strömungen aufzubauen, die gegen die Politik der Bürokratie vorgehen, für die Weltmarktstellung der deutschen Konzerne und die politischen Ambitionen des deutschen Imperialismus wichtiger sind als die Lage der arbeitenden Klasse. Sie wird verschenkt, wenn die Zehntausenden, die sich in den Tarifrunden engagieren, nicht verstehen, dass der Kampf auch politisch geführt werden muss, eine umfassende Bewegung gegen die Abwälzung der Krise ansteht. Uns zwar ab jetzt.




Tarifrunde Öffentlicher Dienst: Gebt uns fünf!

Christian Gebhardt, Neue Internationale 260, November 2021

Gebt uns fünf! So lautet eine Forderung der derzeit laufenden Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst der Länder: 5 % mehr Lohn, mindestens 150 Euro und eine Laufzeit von einem Jahr. Zusätzlich zu diesen Hauptpunkten fordern die beteiligten Gewerkschaften – allen voran die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di – 100 Euro mehr für alle Auszubildenden, eine Höhergruppierung der Beschäftigten sowie einen Tarifvertrag für studentische Beschäftigte neben besseren Arbeitsbedingungen für prekär beschäftigte Hochschulangestellte.

Klingen 5 % mehr Lohn bei einer Tariflaufzeit von einem Jahr zunächst einmal sehr radikal, vergeht einem das Lachen innerhalb von Minuten, wenn man dies mit der aktuellen Inflation von über 4 % vergleicht. Gleichzeitig steht natürlich wie bei jeder Tarifverhandlung auch noch die Frage im Raum, ob es überhaupt zu einem Abschluss von 5 % kommt oder  die Gewerkschaften Kompromisse eingehen und entweder bei der Frage der Prozente zurückschrauben oder die Vertragslaufzeit verlängern werden.

Gerade für die unteren Lohngruppen spielt der finanzielle Aspekt eine zentrale Rolle. Schon in den letzten Jahren blieben große Teile des öffentlichen Dienstes mehr und mehr hinter der allgemeinen Einkommensentwicklung zurück. Die Preissteigerung lebensnotwendiger Güter wie Wohnung, Heizung und Strom liegt zudem noch deutlich über der Inflationsrate, sodass eigentlich 5 % längst nicht genug sind, um die Kaufkraft zu halten. In Anbetracht dieser Fakten müsste eigentlich ein Plus von 8 – 10 % gefordert werden.

Führung der Kampagne

Dabei ist der finanzielle Aspekt der Tarifrunde für viele KollegInnen längst nicht das einzige, für manche nicht einmal das drängendste Problem.

Die KollegInnen im öffentlichen Dienst – vom Gesundheitswesen, über Verwaltungen bis hin zum Bildungswesen stehen angesichts der Inflation voll hinter den monetären Forderungen. Jedoch spielen die Fragen des Gesundheitsschutzes, der weiteren Strategie der Pandemiebekämpfung, der Arbeitsüberlastung und des Personalmangels eine zentrale, wenn nicht die entscheidende Rolle im Alltagsgeschäft – und faktisch keine in der Tarifrunde.

Die ersten zaghaften Mobilisierungen der LehrerInnen in Berlin rund um die Initiative „Tarifvertrag Gesundheit“ sowie die lang anhaltenden Arbeitskämpfe in den Berliner Krankenhäusern haben gezeigt, dass diese Themen den Beschäftigten wichtig sind und sich auch darum mobilisieren lässt. Warum wurde dies aber nicht zum bundesweiten Fokus der derzeitigen Tarifverhandlungen gemacht bzw. lokal in die Kampagne integriert? Wieso hält sich die Berliner GEW derzeit mit ihrer Mobilisierung rund um ihre Forderungen nach einem „Tarifvertrag Gesundheit“ zurück und verschiebt weitere Aktionen ins nächste Jahr?

Das Argument der Gewerkschaftsführungen lautet hier, dass Forderungen nach Gesundheitsschutz in dieser Tarifrunde nicht verhandlungsfähig wären, d. h. diese „Punkte“ würden derzeit nicht zur Diskussion auf dem Tisch liegen. Hier wird aber gerne vergessen, dass es auch die Gewerkschaftsführungen sind, die die Diskussionspunkte und Schwerpunkte beschließen. Somit könnten sie auch Gesundheitsfragen auf die Tagesordnung setzen und zum Fokus dieser Verhandlungsrunde erklären.

Ein solcher zusätzlicher Schwerpunkt der Verhandlungsrunde würde aber bedeuten, dass die Gewerkschaftsführungen mit ihrer derzeitigen Strategie im Umgang mit der Pandemie brechen müssten: die Ausfüllung ihrer Rolle als stillhaltende SozialpartnerInnen! Hierbei stellen sie sich eng an die Seite der Regierung sowie des Kapitals und malen das Bild einer gemeinsam notwendigen Anstrengung, um die Coronapandemie zu überwinden. Dies bedeutete für die Beschäftigten letztes Jahr absolute Passivität auf der Straße, Nullrunde, erhöhten Arbeitsaufwand bzw. Mehrarbeit im Beruf und gesundheitlich unsichere Arbeitsbedingungen. Jetzt, wo die Regierung den pandemischen Notstand für beendet erklärt, zeigt sich das Fatale der SozialpartnerInnenschaft erneut. Die Beschäftigten müssen sie in Form erhöhter Gesundheitsrisiken und zusätzlicher Belastung nicht nur in den Krankenhäusern, sondern auch in den Kitas oder Schulen ausbaden.

Die Gewerkschaftsspitzen wiederum sind nicht daran interessiert, diese Strategie aktiv zu ändern. Ein Ausdruck dessen ist hier das Ausklammern der Arbeits- bzw. Gesundheitsschutzfragen in der laufenden Tarifrunde.

Die GEW

Exemplarisch lässt sich dies am Verhalten der GEW erkennen. Sie stellt während der Tarifverhandlungen die kleine Partnerin neben der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di dar, welche auch den Verhandlungsvorsitz innehat. Ver.di gibt somit den Ton vor und die anderen Gewerkschaften haben sich daran zu orientieren. Dies wird innerhalb der GEW gerne als Ausrede verwendet, um ihre Inaktivität damit zu begründen, dass ver.di alles vorgibt und sie selbst „nichts zu sagen hätte“. Aber auch hier muss wieder kritisch die Frage gestellt werden: „Warum tritt die Gewerkschaftsführung der GEW nicht aktiver auf?“

Ihre oben schon angesprochene Initiative in Berlin „Tarifvertrag Gesundheit“ wäre eine gute Möglichkeit, um sich nicht nur als aktive Gewerkschaft während der Tarifverhandlungen darzustellen, sondern auch ein Thema zu besetzen, welches den Beschäftigten wichtig ist und um das auch größere Mobilisierungen durchgeführt werden könnten. Auch wenn der Punkt „Gesundheit“ in den Tarifverhandlungen nicht „auf dem Tisch liegt“, könnte die GEW dies als „Begleitmusik“ ihrer Tarifkampagne in den Fokus stellen und die beiden Themenkomplexe wirtschaftliche Forderungen und Gesundheitsschutz miteinander verbinden. Sie könnte es nicht nur in Berlin zur Mobilisierung nutzen, sondern auch Solidaritätsaktionen für die Berliner Initiative in weiteren Bundesländern fördern, um den Berliner KollegInnen solidarisch bei ihrem Kampf um den „Tarifvertrag Gesundheit“ zur Seite zu stehen, wie auch eine Debatte in anderen GEW-Landesverbänden zu diesem Thema anstoßen und einen Vorstoß „Tarifverträge Gesundheit“ auf Bundesebene lancieren.

Eine solche Initiative müsste, ja dürfte sich nicht nur auf die GEW begrenzen, sondern sollte innerhalb der DGB-Gewerkschaften auf Bundesebene kommuniziert und vorbereitet werden. Hierfür könnten ebenfalls die derzeitigen Tarifverhandlungen genutzt werden, um die Debatte unter den KollegInnen verschiedener Gewerkschaften zu organisieren und zu strukturieren.

Digitale Kampagne?

In den Jahren seit dem Ausbruch der Pandemie spielten aber nicht nur das Thema Gesundheitsschutz eine wichtige Rolle im Arbeitsalltag der KollegInnen, sondern auch die Frage, ob Aktionen auf der Straße überhaupt legitim sind und wir uns nicht eher nur im digitalen Rahmen aufhalten sollten. Wie die katastrophale Fehlentscheidung der Gewerkschaften, die Erster-Mai-Mobilisierungen 2019 nicht stattfinden zu lassen, gezeigt hat, ist eine aktive Mitgliedschaft auf der Straße von großer Bedeutung. Wie wird aber die derzeitige Tarifkampagne geführt? Kurz gesagt: Altbekannte Tarifrituale werden mit Onlinekampagnen garniert!

Als Beispiel kann hier wieder die GEW dienen. Anstatt aktiv auf die Belegschaft zuzugehen und in Diskussionsveranstaltungen und Mitgliederversammlungen die Tarifrunde zu verbreitern und führen, wird dafür eine externe Agentur engagiert. Anstatt dies in die Hände der KollegInnen zu legen, wird es der Berliner Agentur „Ballhaus West“ überlassen. Dadurch wird gewährleistet, dass die Gewerkschaftsführung politisch die Kontrolle über die Kampagne behält und die Schwerpunkte vorgeben kann. Dass eine solche von oben aufgestülpte „Mobilmachung“  von den KollegInnen nicht angenommen wird, zeigt auch eindrücklich die Resonanz auf die Onlinekampagne der GEW in den „sozialen“ Medien. Bis zum 30.10.21 haben sich gerade einmal 393 AbonnentInnen in den Telegram-Informationskanal der GEW für die laufende Tarifrunde verirrt. Eine aktive Beteiligung der Belegschaft bundesweit wie auch eine Mitgestaltung dieser sieht anders aus.

Raus auf die Straße – Aufbau von Streikkomitees!

Den obigen Punkten wird als Argument schnell entgegengebracht: „Wie sollen sich denn die VerhandlungsführerInnen neben den Verhandlungen auch noch um das alles kümmern?“ Wir würden entgegnen: „Das müssen sie gar nicht! Es müssen Basisstrukturen in den jeweiligen Betrieben, Einrichtungen und Verwaltungen aufgebaut werden.“ Diese könnten nicht nur Streikmobilisierungen für die derzeit laufenden Tarifverhandlungen unterstützen, vorbereiten und durchführen, sondern auch Solidaritätsarbeit mit der Bevölkerung entfachen, Gespräche mit betroffenen Menschen wie z. B. Eltern oder PatientInnen führen. Man darf sich ruhig ein Beispiel an der vorbildlichen Öffentlichkeitsarbeit im Berliner Krankenhausstreik nehmen, der zeigte, wo’s langgehen kann.

Gleichzeitig könnten solche, den Mitgliedern verantwortliche und von diesen gewählte  Streikkomitees auch den Kontakt zu KollegInnen unterschiedlicher Gewerkschaften innerhalb eines Betriebes bzw. einer Bildungseinrichtung aber auch darüber hinaus organisieren. So könnten Themenfelder und Forderungen gemeinsam erarbeitet werden, um mobilisierungsstark und dynamisch die Tarifrunde zu führen.

Eins ist klar: Die 5 % werden auch nur durch eine starke Gewerkschaft auf der Straße und durch einen massiven, bundesweiten und unbefristeten Streik durchgesetzt werden können, ganz zu schweigen von anderen Forderungen wie nach besserem Gesundheitsschutz.

Daher müssen kämpferische GewerkschafterInnen, Basisversammlungen, Betriebsgruppen und andere gewerkschaftliche Strukturen auch dafür kämpfen, dass es keine Verhandlungen hinter verschlossenen Türen, keine Geheimabsprachen mit den Arbeit„geber“Innen gibt. Die Verhandlungen sollten vielmehr öffentlich übertragen werden.

Zweitens sollten die Gewerkschaften zur Kenntnis nehmen, dass es ohne große Mobilisierung keinen Abschluss geben kann, der die Löhne auch nur sichert. Ver.di und GEW sollten daher so rasch wie möglich die Verhandlungen für gescheitert erklären und die Urabstimmung einleiten.

Belegschaftsversammlungen, Wahl und Abwählbarkeit von Tarifkommission und Streikkomitees sind dabei unerlässlich, um den Kampf zu organisieren und demokratisch zu kontrollieren; um sicherzustellen, dass am Ende keine faulen Kompromisse, sondern Abschlüsse herauskommen, die die Lage der Beschäftigten verbessern und deren Kampfkraft stärken.




Vivantes-Eckpunktepapiere: Licht und Schatten

Jürgen Roth, Infomail 1168, 1. November 2021

Als letzter der 3 Bereiche der Berliner Krankenhausbewegung (Mutterkonzerne Charité und Vivantes, ausgelagerte Vivantes Tochterunternehmen) konnten nun auch die Vivantes-Servicegesellschaften ein mit der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di ausgehandeltes Eckpunktepapier auf einer Pressekonferenz letzten Freitagmittag vorstellen.

Mutter …

Eine vorläufige Sichtung der Kernpunkte bestätigt unsere Vermutung: Es umfasst wie bei der Charité und im Unterschied zum dortigen 2015 vereinbarten und 2016 gekündigten Tarifvertrag Entlastung (TVE) alle Bereiche des Mutterkonzerns, bleibt aber in wesentlichen Punkten hinter dem bei den Uniklinken anvisierten Abschluss zurück. Im Kern fällt 1 Freischicht auf 9 in Überlast (Charité: 5). Das stellt ggü. dem ursprünglichen Angebot (1:12) eine deutliche Verbesserung dar. Das gilt auch ggü. dem für Auszubildende (1:48). Allerdings kriegen diese nur ein Notebook geschenkt und Freizeitausgleich erst angerechnet, wenn sie nach Ende ihrer Ausbildung von Vivantes übernommen werden.

In der Urabstimmung sollten die Gewerkschaftsmitglieder beim Vivantes-Mutterkonzern den Vertrag ablehnen, solange er nicht eine vollständige Gleichstellung mit den Angestellten der Charité bringt. Ein weiterer Erzwingungsstreik sollte den neuen Senat auffordern, die Umsetzung des zur Allgemeinverbindlichkeitserklärung des Charité-Abschlusses auch bei Vivantes anzurdnen.

… und Töchter – schmerzhafter Kompromiss

Einerseits ist Erleichterung unter den Beschäftigten zu spüren. Der längste und heftigste Streik der Berliner Krankenhausbewegung ist vorläufig zu Ende. Seit über einem Jahr wurde verhandelt. „In 4 Jahren sehen wir uns wieder auf der Straße“, so Alexander Thonig von VivantesClean (Reinigungsgesellschaft), Mitglied der ver.di-Tarifkommission im Neuen Deutschland vom 1. November.

Der Stufenplan sieht je nach Tochtergesellschaft bis 2025 einen Lohn von 96 % oder 91 % des TVöD vor. Zur Zufriedenheit trügen auch die stark an ihm orientierte Zulagenregelung sowie die Verlängerung des Krankengeldzuschusses über die 6. Woche (eigentlich überhaupt ein Krankengeldzuschuss, denn bis zur 6. Woche gilt ja die gesetzliche Lohnfortzahlung) hinaus bei, so Thonig.

Doch es gibt auch Schattenseiten: Sauer stößt vielen Beschäftigten auf, dass keine vollständige Angleichung an den TVöD erreicht werden konnte, geschweige denn eine Rückkehr in den Schoß der Konzernmutter, die ja von Senat und Abgeordnetenhaus versprochen worden war. Melanie Meißner, Medizinische Fachangestellte in einem MVZ, macht ferner darauf aufmerksam, dass manche ihrer KollegInnen in den Bestandsschutz schlüpfen müssen, um nicht weniger zu verdienen als zuvor. In Anlehnung an den TVöD nehmen die Eckpunkte nämlich die Lohngruppeneinteilung nach Dauer der Betriebszugehörigkeit vor. Sie selbst weist 23 Jahre Berufserfahrung und eine onkologische Zusatzausbildung auf, ist aber erst seit 3 Jahren bei Vivantes. Verhandlungsführer Ivo Garbe bezeichnet das Ergebnis denn auch als „teils gut und teils schmerzhaft“.

Für das Labor Berlin, ein gemeinsames Tochterunternehmen mit der Charité, gelten die Eckpunkte nicht. Der Verhandlungsaufforderung ver.dis sind die Geschäftsführungen bisher nicht nachgekommen. Der TV soll bis zum 15. Dezember fertiggestellt sein, damit er 2022 inkraft treten kann und Prämien und Nachzahlungen für 2021 ausgezahlt werden könnten.

Finanzierung

Der kommissarische Geschäftsführer von Vivantes, Johannes Danckert – die Geschäftsführerin und Verhandlungshardlinerin Dorothea Schmidt scheint man beurlaubt zu haben –, betont die resultierenden Mehrausgaben von 68 Mio. Euro, verweist auf die finanziellen Schwierigkeiten des Konzerns und hofft auf Refinanzierung durch „die Landespolitik“, die bereits Zusagen getätigt habe. Über deren Zusagen und sogar Beschlüsse können die Beschäftigten allerdings eine lange Klagelitanei anstimmen. Hinzu kommt, dass zu erheblichen Teilen die Finanzierung der laufenden Krankenhausbetriebskosten durch die Krankenkassen nach dem System der Fallpauschalen (DRGs) erfolgt. Aus diesen Erlösen müssen sich auch die Töchter finanzieren.

Damit hängt ein weiteres Damoklesschwert über dem möglichen Abschluss, wenn staatliche Subventionen, sofern sie nicht eh nur leere, großmäulige Versprechen darstellen, dieses Marktmodell aushebeln. Schließlich schwebt immer noch das drohende Verdikt seitens der ArbeitgeberInnenverbände im öffentlichen Dienst (TGL, VKA) über dem Ganzen, einen „Berliner Alleingang“ mit einem Rauswurf aus den Verbänden nötigenfalls mit einem Rauswurf zu quittieren.

Urabstimmung für Gleichstellung Ein Vergleich der Eckpunkte mit dem gültigen TV des Tochterunternehmens der Charité, CFM, ist erst nach Bekanntwerden aller Details möglich. Das müssen die Beschäftigten klären und können das auch besser als wir. Eine Urabstimmung muss den TV ablehnen, falls er schlechter ausfällt als der bei CFM, und dessen Übernahme durch Allgemeinverbindlichkeitserklärung seitens „der Landespolitik“ fordern. Unter diese muss auch das Labor Berlin fallen, falls kein besserer TV ausgehandelt werden kann. Das dürfte nach Aussetzung des Streiks, die die Beschäftigten dort ihres wichtigsten Druckmittels beraubt, eine verbliebene Chance verkörpern, mit ihren anderen KollegInnen beider Konzerne gleichgestellt zu werden




Tarifvertrag bei Vivantes rückt näher

Jürgen Roth, Infomail 1166, 15. Oktober 2021

Bis in die Nacht zum Montag, den 11. Oktober, liefen die Gespräche zwischen der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und Deutschlands größtem kommunalen Klinikunternehmen Vivantes. Nach 34 Tagen Vollstreik hatte man sich wie 4 Tage zuvor bei den Universitätskliniken der Charité auf ein Eckpunktepapier geeinigt, das bis Ende November zu einem Tarifvertrag Entlastung (TVE) führen soll. Der Streik beim Vivantes-Mutterkonzern wurde daraufhin ausgesetzt. Bei der Charité ist er das seit 7. Oktober.

Details

Im Kern soll der TVE die Angleichung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Berliner Krankenhäusern anstreben. Die Einigung ver.dis mit der Charité-Spitze im dortigen Eckpunktepapier zeigte in Anbetracht des Pflegepersonal- und Nachwuchsmangels auch bei der weit widerspenstigeren Verhandlungsführung Vivantes‘ schließlich Wirkung. Weitere Sturheit hätte die Gefahr einer Abwanderung eigenen Personals zur Charité heraufbeschworen.

Die neuen Eckpunkte folgen der gleichen Systematik. Bereich für Bereich wird geschaut, ob unterschiedliche Belastungssituationen und Unterbesetzung bestehen. Bei Charité und Vivantes soll ein Punktesystem eingeführt werden. Bei den 3 Uniklinikstandorten gibt es Belastungspunkte, wenn eine Abteilung unterbesetzt ist, Leiharbeitskräfte eingesetzt werden, oder nach Gewalterfahrungen. Bei der Charité können die Punkte dann in Freizeitausgleich, Erholungsbeihilfen, Kinderbetreuungszuschüsse, Altersteilzeitkonten oder Sabbaticals (längere Auszeiten) umgewandelt werden. Vivantes sprach in einer Mitteilung am Montag lediglich allgemein von einer Umwandlung in Entgelt oder Freizeit.

Während die Charité 3 neue Ausbildungsstationen und 1 multiprofessionelle Intensiv-Lehrstation einrichten will, will Vivantes die Ausbildungsbedingungen tariflich regeln, z. B. durch Ausstattung mit Notebooks. Der Konzern legte sich auch nicht auf Neueinstellungen fest, während die Landesunikliniken 700 neue Pflegekräfte binnen 3 Jahren anwerben wollen. Der TVE soll in beiden Konzernen eine Laufzeit von 3 Jahren aufweisen und bei Vivantes.

Vergleiche

Die Tarifbewegung Entlastung startete schon 2012 an der Charité und führte dort 2015 zu einem TVE, der 2016 von ver.di gekündigt wurde. Grund: Die darin festgehaltenen Regelungen galten nur für einige Bereiche, waren zu wenig auf die Bedürfnisse abgestimmt und überdies nicht einklagbar. Auch wenn die Eckpunkte bei Vivantes weniger konkret als bei der Charité ausfallen oder schlechter scheinen, können wir davon ausgehen, dass der zukünftige TVE in beiden Krankenhausketten deutlich mehr Bereiche, darunter auch nicht-stationäre wie Kreißsäle, OPs und Funktionsabteilungen (Notaufnahmen/Rettungsstellen, Untersuchungsräume) umfassen wird als der von 2015 und zudem konkretere Entlastungsregelungen enthält. Susanne Feldkötter, Vizevorsitzende des ver.di-Landesbezirks Berlin-Brandenburg, bezeichnete die bei der Charité verabredeten Eckpunkte als einmalig. Sie sollten als „Leitwährung in der gesamten Branche“ gelten.

Möglich wurde dieser Erfolg durch einen langen und hartnäckig geführten Streik, der auch mit wirksamen Aktionen die breitere Öffentlichkeit und Bündnisse wie deutsche Wohnen & Co. enteignen oder Gesundheit statt Profite einbeziehen konnte. Zudem beteiligte sich die Gewerkschaftsbasis außergewöhnlich engagiert. Neben o. a. Mobilisierungen ermittelte jede Station ihre Personaluntergrenzen, stellte Notdienstpläne auf und brachte ihre Meinung zum Stand der Verhandlungen ein, sorgte für eine repräsentative Tarifkommission, in der zahlreiche unterschiedliche Disziplinen vertreten waren. In Gestalt der Teamdelegierten schuf diese breíte Bewegung Organe, die einerseits die AktivstInnen umfassen wie in gewerkschaftlichen Vertrauensleutekörpern und somit zur Etablierung lebendiger ver.di-Betriebsgruppen in den Häusern beitragen, aber auch eine wichtige Funktion bei der Kontrolle der Umsetzung des TVE ausüben können.

Wie weiter?

Deren dringlichste Aufgabe besteht darin, dafür zu sorgen, dass es keinen Abschluss ohne Urabstimmung, ohne Zustimmung der Basis geben darf. Eine Schwäche des Streiks bestand darin, dass es keinen Beschluss von unten, durch Streikvollversammlungen und von ihnen gewählte und jederzeit neu wählbare Streikkomitees über die Aussetzung des Streiks nach der Einigung auf die Eckpunktepapiere gab. Vielmehr wurde der Streikabbruch von oben ohne Debatte an der Basis verkündet und somit dem Hauptamtlichenapparat die Streikführung nicht strittig gemacht.

Mit dem Faustpfand ihres vorläufigen Erfolgs und ihren Arbeitskampferfahrungen muss sich die Berliner Krankenhausbewegung auch zur Vorreiterin einer bundesweiten für die gleichen Ziele (TVE, Angleichung an den TvöD) machen.

Nehmen wir also Feldkötters Leitwährungsgerede für bare Münze! Wir können damit beginnen, im 1. Schritt die Beschäftigten der Vivantes-Tochterunternehmen nicht im Regen stehenzulassen, so wie dies die Charité-Beschäftigten gezeigt haben, die am 9. Oktober auf die Straße gegangen sind, obwohl sie nach Einigung auf ihre Eckpunkte sich nicht mehr im Ausstand befanden. Am 13. hatten mehrere Hundert vor dem Roten Rathaus für die Angleichung an den TvöD bei den Vivantes-Servicegesellschaften demonstriert und ihren KollegInnen in den Mutterkonzernen zum Erfolg gratuliert. Am 14. Oktober wurde bei den VSG unter dem Moderator Platzeck weiter verhandelt und der Streik an diesem Tag ausgesetzt. Kommt es hier nicht aus eigener Kraft zu einem Abschluss, der mindestens den gleichen Tarif wie bei der Charité-Tochter CFM durchsetzt, muss die Berliner Krankenhausbewegung vom Senat fordern, die Übernahme des Tarifvertrags zu erzwingen.

Der 2. Schritt muss die Einberufung einer bundesweiten Krankenhauskonferenz, organisiert durch ver.di sein, die die Umsetzung der „Leitwährung“ auch in bundesweit gültige klingende Münze – TVE und TvöD für alle – voranbringen hilft. Vorrangig muss Druck aufgebaut werden, damit diese Ziele auch zusätzlich zum Gegenstand der anstehenden Lohn- und Gehaltsrunde der Bundesländer (TVöD-L) geraten können.

Kontrolle

Den Teamdelegierten fällt eine weitere wichtige Rolle im Aufbau einer wirksamen Kontrolle über die Umsetzung des TVE zu. Kommt es nämlich nicht zu einer durch progressive Besteuerung des Kapitals und gesetzlicher Krankenversicherungspflicht für alle ohne Beitragsbemessungsgrenzen finanzierten massiven Neueinstellungswelle in der Pflege und steuern chefärztlich umgesetzte Renditeziele weiterhin die Krankenhausmedizin, dann drohen die Entlastungsregelungen, zu einem langfristigen individuellen Lebensarbeitskonten ohne Überstundenzuschläge zu verkommen. Von Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Behandlungsqualität blieben wir dann genauso weit entfernt wie jetzt.

Ein Manko gegenüber dem Abschluss von 2015 besteht darin, dass Interventionsmittel wie Bettensperrungen und Aufnahmestopps im zukünftigen TVE gar nicht mehr angedacht sind. Die Beschäftigten und PatientInnenorganisationen haben aber ein objektives Interesse an der Kontrolle von unten – auch wenn es beim Pflegepersonalmangel bleibt, dem akut durch Freizeitausgleich in ferner Zukunft nicht abgeholfen werden kann. Der Marburger Bund und die in ver.di organisierten ÄrztInnen können und müssen für vergleichbare Entlastungen beim ärztlichen Personal eintreten und notfalls streiken. Damit könnten eine weitere Bresche in das Finanzierungssystem nach Fallpauschalen geschlagen und die Tür zu einem rationalen, nichtkommerziellen, letztlich sozialistischen Gesundheitswesen eine Spalt weiter geöffnet werden.




Mehr Personal – noch vor der Wahl!

Jürgen Roth, Infomail 1163, 16. September 2021

„Mehr Personal – noch vor der Wahl! TVöD – für alle an der Spree!“ Um 8 Uhr am Morgen des 16.9.2021 versammelten sich geschätzt 300 – 400 Streikende unter diesen lauthals skandierten Parolen vor dem Berliner Abgeordnetenhaus. Dieses historische Gebäude diente zu Kaisers Zeiten einem Teil des Preußischen Landtags als Sitz. Hier tagte auch der 1. Reichsrätekongress im Dezember 1918 und im dortigen Festsaal erfolgte die Gründung der KPD zur Jahreswende 2018/19. Nach einer kämpferischen Kundgebung und vielen Reden übers Megaphon zogen die Streikenden in einer kurzen Demonstration durch die Stadt.

Angebote?

Vivantes hat mittlerweile ein Angebot offeriert, das ver.di-Streikleiterin für den TVE (Tarifvertrag Entlastung), Meike Jäger, zwar als verhandelbar bezeichnete, es aber ablehnte, dafür den Streik auszusetzen. An diese Bedingung knüpft die kommunale Krankenhausführung jedoch die Aufnahme von Verhandlungen.

Nach 120 Tagen „Schweigen im Wald“ der „ArbeitgeberInnen“ bezeichnete Jäger dieses Junktim zu Recht als dreist. Das Angebot ist sehr vage gehalten. Man will Arbeits- und Ausbildungsbedingungen verbessern. Zu den gewerkschaftlichen Forderungen nach mehr Praxisanleitung für Azubis und personeller Mindestbesetzung bzw. Belastungsausgleich bei deren Unterschreitung findet sich kein Wort. Konkret ist nur vom Ende des Arbeitskräfteleasings die Rede. Das ist sicher begrüßenswert, weil die KollegInnen weniger Stress ausgesetzt sind, ständig neue Leute auf Station einzuweisen und anzulernen, und es sich gegen die Praxis der Leiharbeit richtet. Doch wenn diese Arbeitskräfte entfallen, droht die Gefahr, dass das Personal noch mehr zwischen verschiedenen Abteilungen umherspringen darf. Ohne verbindliche Personalbemessungsregelungen handelt es sich dabei also um einen vergifteten Köder.

Zum zweiten Thema neben Entlastung, der Angleichung der Einkommen und Bedingungen der Tochterunternehmen der beiden Klinikmütter (VSG im Fall von Vivantes und Labor Berlin auch bei der Charité), schlug Vivantes eine Angleichung bis 2028 (!) unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Situation der Häuser vor. Also wenig mehr als nichts. Auch nichts dazu, wie hoch Zulagen, Zuschläge und Weihnachtsgeld und die Angleichungsschritte in den Tabellen ausfallen sollen. Nichtsdestotrotz bietet ver.di am kommenden Samstag, wenn bei VSG/Labor Berlin nicht gestreikt wird, Verhandlungen an. Sollte man an diesem Tag vorwärtskommen, steht eine Aussetzung des Streiks für folgenden Montag im Raum.

Streik und Notfallversorgung

Seit Beginn der unbefristeten Arbeitsniederlegung laufen täglich neue Streikmeldungen aus verschiedenen Standorten beider Häuser ein, so dass sich mehr KollegInnen als erwartet beteiligen wollen. Ver.di sah sich gezwungen, bei Vivantes etliche wieder auf die Stationen und in die Funktionsabteilungen zurückzuschicken, da noch immer PatientInnen dort weilten bzw. neue aufgenommen wurden. Bei der Charité lief das Ganze gesitteter ab. Dort liegen seit 2015 genügend Erfahrungen mit dem Umgang solcher Situationen vor. Außerdem eskalierte Vivantes und beklagte laxes Umgehen mit der Notdienstabsicherung. Lt. Jäger stimmt das nicht. Zusätzliche KollegInnen aus Reihen der Streikwilligen würden abgestellt, wenn sie gebraucht würden.

Sie wies darauf hin, dass ihre Gewerkschaft deshalb eine Notdienstvereinbarung vorgelegt habe, die zu unterzeichnen aber die „ArbeitgeberInnen“ sich geweigert haben. Zudem warf sie die Frage auf, wieso solche Fälle in der Clearingstelle nicht schon geklärt wurden, bevor es zu solchen Engpässen kommen konnte. Ver.di könne belegen, wie viele Rettungsstellen wegen Personalmangels abgemeldet wurden und dass die Klinikleitung überdramatisiere, wenn sie von streikbedingter Gefährdung der Notfallversorgung in der Stadt spreche.

Wie weiter?

Der Streik bei Charité und Vivantes hat in der letzten Woche eine beachtliche Dynamik entwickelt. Das ist auch der Grund, warum die Klinikleitungen jetzt notdürftige Angebote aus dem Hut zaubern.

Es ist klar: Sie wollen dem Druck der Arbeitsniederlegung ausweichen und ihn brechen, um so zu verhindern, dass noch mehr Beschäftige ver.di beitreten und die Streikfront ausgeweitet wird. Darüber hinaus haben sich Einschüchterung und Repression gegenüber den Kämpfenden als Rohrkrepierer erwiesen. Statt den Streik zu brechen, trugen sie dazu bei, Wut und Entschlossenheit, aber auch Organisiertheit, Selbstbewusstsein und politische Klarheit zu steigern.

Daher auch das Junktim, dass der Streik für Verhandlungen „ausgesetzt“, also unterbrochen werden soll. Die Beschäftigten und die Streikleitungen sind gut beraten, das zurückzuweisen. Die Erfahrung zeigt, dass sich Arbeitskampfbewegungen nicht einfach „aussetzen“ und dann wieder anwerfen lassen. Vielmehr sollten die aktuelle Dynamik und die Woche vor den Wahlen zum Abgeordnetenhaus noch genutzt werden, um den Arbeitskampf weiter hochzufahren, um die Tarifrunde Entlastung und den Kampf bei den Töchtergesellschaften zeitgleich und koordiniert zu führen. Daher: Nein zum etwaigen Aussetzen des Arbeitskampfes! Darüber entscheiden sollen nicht Tarifkommissionen und Streikleitungen, sondern die Streikenden selbst!

Die Verhandlungen mit Vivantes und Charité sollten dabei nicht hinter verschlossenen Türen geführt werden, sondern öffentlich. So können sie alle Beschäftigen und die gesamte Öffentlichkeit direkt verfolgen, so können sie sich selbst ein Bild von den Angeboten von Vivantes und Charité machen. So können die Kämpfenden ihre Verhandlungskommission effektiv kontrollieren und starkmachen, damit sie nicht schwach wird. Denn nur die Streikenden selbst können und sollen nach Diskussion auf Vollversammlungen entscheiden, welchen Tarifvertrag sie gegebenenfalls anzunehmen bereit sind.