Ukrainekrieg – und kein Ende?

Markus Lehner, Neue Internationale 280, Februar 2024

Das Sterben geht weiter auf den Schlachtfeldern der Ukraine. In den bisher fast 2 Jahren seit dem russischen Angriff soll etwa ein halbe Million Soldat:innen Opfer dieses Krieges geworden sein, davon etwa 150.000 Tote. Überprüfen lassen sich die Angaben der verschiedenen Seiten und internationaler Geheimdienste zu den militärischen Opfern kaum – doch dies sind die realistischsten Schätzungen aus den unterschiedlichen Quellen. Laut dem zuständigen UN-Kommissariat für zivile Opfer wurden bisher etwas über 10.000 Zivilist:innen Opfer von militärischen Schlägen – bemerkenswerterweise etwa die Hälfte deren, die dieselbe Stelle für 2 Monate Krieg in Gaza angibt. Ein deutliches Zeichen dafür, dass dieser Krieg vor allem auf konventionelle militärische Art, d. h. durch Massakrieren von Soldat:innen vonstattengeht.

Ausgebliebene Wende

Die von vielen im Westen erwartete Wende durch die ukrainische „Sommeroffensive“ trat offenbar nicht ein. Der Krieg entwickelt sich derzeit immer mehr zu einem Stellungskrieg, ähnlich dem Ersten Weltkrieg. In einem bemerkenswerten Interview im „Economist“ (11/4/2023) bemerkte der Oberkommandierende der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj: „Ähnlich wie im Ersten Weltkrieg haben wir eine kriegstechnologische Lage erreicht, die uns zum Stellungskrieg zwingt.“ Gemäß den Lehrbüchern der NATO-Kriegsführung hätten die ukrainischen Offensivkräfte innerhalb von 4 Monaten die Krim erreichen müssen. Tatsächlich, erklärt Saluschnyj im Interview, habe er an allen Fronten schon nach kurzer Zeit ein Steckenbleiben oder nur sehr langsames Vorgehen feststellen müssen, was er zuerst auf schlechte Kommandoführung oder nicht ausreichend ausgebildete Einheiten zurückgeführt habe. Doch als auch Personalrochaden und Truppenumgruppierungen nichts änderten, habe er in alten Handbüchern aus Sowjetzeiten  nachgeschlagen und festgestellt, dass die Beschreibungen des Steckenbleibens der Offensivkräfte im Ersten Weltkrieg genau dem Bild entsprächen, das er von der Front wahrnahm.

Sowohl wenn er Angriffswellen der russischen wie der ukrainischen Seite beobachtete, ergäbe sich immer das Bild, dass die verteidigende Seite einen enormen technologischen Vorteil hat. Beide Seiten würden sofort Massierungen von Panzern oder Truppen mit ihren elektronischen Mitteln bemerken und durch Einsatz von Drohnen oder Artillerie jeglichen Vorstoß zu einem Unterfangen machen, bei dem ein großer Teil von Angreifer:innen und ihrem Material ausgeschaltet wird. Von daher bleibt der Ausbau von Verteidigungsstellungen auf beiden Seiten das bevorzugte Ziel. Auch die ukrainische Führung ist inzwischen von ihrer groß propagierten Offensivstrategie abgerückt und erklärt ihre gegenwärtige generelle Linie als „strategische Verteidigung“. Nur ein besonderer kriegstechnologischer Sprung könne laut Saluschnyj aus diesem Gleichgewicht des Schreckens herausführen. Aber militärhistorische Erfahrungen, wie etwa der Einsatz von Panzern am Ende des ersten Weltkriegs, zeigen, dass solche wirklich qualitativ neuen Technologien länger bis zur erfolgreichen Integration brauchen und zumeist erst im nächsten Krieg entscheidend werden.

Abnutzungskrieg

Da es sich jetzt offenbar um einen Abnutzungskrieg handelt, wird die Frage der Kriegswirtschaft und der quantitativen Versorgung der Truppen mit militärischem Material immer entscheidender. Der Krieg wird also immer mehr durch die Ökonomie entschieden, wie schon im Ersten Weltkrieg. Und hier gewinnt Russland immer mehr an Boden. Wie ein US-Banker kürzlich bemerkte, haben sich Prognosen, dass die russische Ökonomie aufgrund der westlichen Sanktionen und Belastungen durch die Kriegswirtschaft in wenigen Monaten zusammenbrechen würde, als „triumphally wrong“ erwiesen. Anders als auch viele Linke analysiert haben, hat sich die russische Ökonomie eindeutig als die einer imperialistischen Macht erwiesen. Nicht nur, dass die Ausfälle von Kapital- und Warenimporten mit nur leichten Einbrüchen weggesteckt werden konnten, inzwischen hat sich die russische Waffenproduktion um 68 % erhöht und einen Anteil von 6,5 % des BIP erreicht. Nach einer Rezession 2022 ist die russische Ökonomie 2023 um 2,8 % gewachsen. Natürlich haben sowohl steigende Importpreise wie Kriegswirtschaft zu einer wachsenden Inflation um die 7 % geführt. Die Leidtragenden sind wie bei militärischen Opfern vor allem die Arbeiter:innen, die mit immer höheren Lebenshaltungskosten bei eingeschränkterem Angebot zu kämpfen haben. Trotzdem wird für die Präsidentschaftswahlen im März kaum mit einem Machtwechsel gerechnet. Und danach wird wohl der entscheidende Nachschub für die Truppen wieder im größeren Maße fließen: mehr Soldaten durch weitere Mobilisierungen!

Dass die Ukraine größere Probleme mit dem Abnutzungskrieg hat, hat sich in den letzten Monaten immer deutlicher gezeigt: Zu Hochzeiten der Sommeroffensive feuerte die ukrainische Artillerie etwa 7.000 Projektile am Tag ab – wesentlich mehr als die russische. Doch derzeit muss sie sich aufgrund von Knappheit auf 2.000 pro Tag beschränken, während die russische Artillerie 5-mal so viel abfeuert. Ursache dafür sind nicht nur stockende Hilfsgelder aus dem Westen (z. B. die vom US-Kongress zurückgehaltenen Militärhilfen), sondern viel grundlegendere Probleme der westlichen Rüstungsindustrie. In den letzten Jahrzehnten konzentrierte sich diese auf hochtechnisierte und spezialisierte Waffen, während es im konventionellen Abnutzungskrieg vor allem auf Masse und traditionelle „Hardware“ ankommt. Nachdem bisher vor allem aus Beständen der westlichen Armeen geliefert wurde, kommt es jetzt immer mehr auf tatsächliche Neuproduktion an. Die Ukraine selbst kann schon aufgrund der kriegsbedingten Infrastrukturprobleme (z. B. Ausfall von mehr als der Hälfte der Stromversorgung) kaum selbst die nötigste Menge produzieren.

Grenzen des westlichen Imperialismus

Doch auch der westliche Imperialismus erweist sich als nicht so übermächtig, wie er von vielen gemalt wird. Munitionsproduktion benötigt Unmengen an Stahl. Sieht man sich die 15 größten Stahlkonzerne der Welt an, so findet sich dort kein einziger US-Konzern mehr, wohl aber rangieren dort 9 chinesische. Die USA sind aus einem der bedeutendsten Stahlproduzenten der Welt heute zu einem der größten Importeure geworden. Sie und Westeuropa müssen unter hohen Kosten für Zulieferungen heute ihre Munitionsproduktion um ein Vielfaches steigern, um mit Russland und China mithalten zu können. Insbesondere bei 155-mm-Geschossen wollen sie bis 2025 ihre Jahresproduktion auf 1,2 Millionen erhöhen, sechsmal so viel wie 2023. Damit wird man vielleicht die russische Produktion einholen, die sich jetzt schon seit Kriegsbeginn verdoppelt hat (nicht gerechnet den massiven zusätzlichen Bezug solcher Munition aus Nordkorea).

Viele solche Versprechen lassen sich jedoch aufgrund von Lieferengpässen und technischer Umstellungsprobleme in der Kürze der Zeit kaum umsetzen. So hatte die EDA (die „Verteidigungsagentur“ der EU) der Ukraine im März 2023 für den Rest des Jahres 1 Million solcher Munition zugesagt, tatsächlich jedoch nur 480.000 beschaffen können. Während die unter Staatskontrolle stehende US-Munitionsproduktion aufgrund politischer Entscheidungen hochgefahren werden kann, sind die europäischen Rüstungskonzerne (vor allem die deutsche Rheinmetall, die britische BAE Systems, die französische Nexter S. A., die norwegisch-finnische Nammo AS) als Privatkonzerne nur durch konkrete finanzielle Zusagen zur Ausdehnung ihrer Produktion bereit. Ihre Auftragsbücher sind jetzt schon dreimal so voll wie vor dem Krieg. Rheinmetall überzieht den Kontinent derzeit mit neuen Produktionsstätten. Trotzdem wird diese Produktion der Quantität nach mindestens bis Anfang 2026 hinter der russischen zurückbleiben.

In einem Abnutzungskrieg, der vor allem durch Verteidigungsstellungen und Artillerie geprägt ist, können solche Faktoren entscheidend sein. Wie der Erste Weltkrieg gezeigt hat, können Munitionsmangel und geballte Artillerieüberlegenheit dann doch immer wieder zu einzelnen Durchbrüchen führen – und letztlich eine Seite zur Aufgabe zwingen. Noch sind die Kriegsparteien aber offensichtlich weit von einem solchen Punkt entfernt. Es werden also nicht nur weitere Milliarden in die Rüstungsindustrien gesteckt, sondern vor allem tausende Soldat:innen in die so entstandene Kriegshölle geschickt werden. In den letzten Monaten gab es insbesondere in der Ukraine wachsende Rekrutierungsprobleme. Auch wenn die Motivation der ukrainischen Verteidiger:innen um ein Vielfaches höher ist, so sind doch viele Soldat:innen nach Monaten des Kampfes und der vielen toten Kamerad:innen einfach ausgebrannt. Ausdruck davon ist die wachsende Bewegung der Angehörigen, die dafür kämpfen, dass ihre Ehemänner oder Söhne endlich abgelöst werden. Doch neue Rekrut:innen werden immer weniger und vor allem weniger militärisch geeignet. Daher werden auch die Rekrutierungsbemühungen des ukrainischen Militärs immer brutaler und weniger „freiwillig“.

Innere Widersprüche

Schließlich werden in der Führung der Ukraine immer deutlichere Widersprüche sichtbar. Das erwähnte Interview von Oberbefehlshaber Saluschnyj führte zu einer wütenden Replik von Präsident Selenskyj, der seine optimistische Darstellung des Kampfverlaufs für die westlichen Geldgeber:innen dadurch in Frage gestellt sah. Andererseits wurde deutlich, dass die politischen Vorgaben lange zu einer verlustreichen Verteidigung Bachmuts wie der schon gescheiterten Offensive führten – und die militärische Führung Selenskyj praktisch die Wende zur Verteidigungsstrategie aufzwingen musste. Saluschnyj hat Ersteren längst in den Popularitätswerten überholt, insbesondere unter den Soldat:innen. Hinter ihn stellt sich auch der Kiewer Bürgermeister Klitschko, so dass hier eine tatsächliche politische Gegenmacht zu entstehen beginnt. Es ist nicht auszuschließen, dass Selenskyj eher als Putin fällt, insbesondere wenn man im Westen eine gesichtswahrende Beendigung der Kampfhandlungen ohne Erreichen der Kriegsziele der Ukraine anstrebt.

In der Linken wird der Ukrainekrieg gerne auf einen Stellvertreterkrieg zwischen den imperialistischen Mächten USA/EU und Russland reduziert. Auch wenn dies ein bestimmendes Moment des gesamten Krieges darstellt, der untertrennbar mit dem neuen Kalten Krieg und dem Kampf um die Neuaufteilung der Welt verbunden ist, so ist er auf Seiten der Ukraine auch ein nationaler Verteidigungskrieg gegen die Jahrhunderte alte Unterdrückung durch das imperiale Russland. Das erklärt jedenfalls die massive Unterstützung auch der ärmeren Bevölkerung in der Ukraine für den Kampf gegen die russischen Invasor:innen.

Zugleich ist die westliche Unterstützung nicht absolut und bedingungslos – trotz aller warmen Worte, dass hier „unsere Freiheit“ verteidigt würde. Einerseits wird das ökonomische Fell der Ukraine schon heftig unter den westlichen Agenturen verteilt (siehe die IWF-Programme für die Ukraine und ihre Auswirkungen auf die ukrainischen Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen). Andererseits machten Biden & Co. von Anfang an klar, dass sie nur soviel Militärhilfe leisten würden, wie zur Verteidigung notwendig ist, und nichts liefern wollten, das sie unmittelbar zu Beteiligten in einem Krieg machen – oder sie gar direkt in die militärische Konfrontation mit Russland bringen würde. Dies unterscheidet die Ukraine 2022 auch deutlich von Serbien 1914. Diese Grenzen der Unterstützung für sie durch USA und EU machen auch klar, dass die derzeitigen Engpässe in der militärischen Versorgung möglicherweise den Anfang einer (bewussten oder unbewussten) Ausstiegsstrategie markieren. D. h. in der Hoffnung, dass der Abnutzungskrieg sowohl die Ukraine wie Russland soweit militärisch schwächt, dass beide immer mehr zu einem „Ausgleich“ bereit sind. Ein solches „Minsk 3“ (sicher nicht unter diesem Namen, aber mit ähnlichen Konsequenzen) würde der Ukraine wesentliche Gebiete kosten und Russland im Gegenzug den endgültigen Verlust des größten Teils der Ukraine aus ihrem Einflussgebiet bringen. Mit der gegenwärtigen Führung der Ukraine wird dies kaum zu machen sein – aber dafür stehen ja wohl schon Alternativen bereit.

Millionen ukrainischer Arbeiter:innen, Bauern und Bäuerinnen, die für die Unabhängigkeit ihres Landes und eine demokratische Selbstbestimmung in den Kampf gezogen sind, werden dies als enormen Verrat empfinden. Aber auch ein festgefahrener, länger anhaltender Stellungskrieg wird den Unmut über die Kriegspolitik des kapitalistischen Regimes in Kiew, ja über die Sinnhaftigkeit des Krieges selbst und dessen Führung befördern, zumal dieses während des Kriegs die Ausbeutung der Lohnabhängigen vorantrieb und die gewerkschaftlichen und politischen Rechte der Arbeiter:innenklasse massiv einschränkte. Die inneren Widersprüche in der Ukraine werden noch zusätzlich dadurch befeuert, dass das Regime für ungezügelte Ausbeutungsverhältnisse und Ausverkauf des Agrarreichtums an „westliche Investor:innen“ steht. Wir warnen daher vor jedem Vertrauen in irgendwelche dieser vorgeblichen Führer:innen der nationalen Verteidigung. Es ist vielmehr notwendig, dafür zu kämpfen, dass die Arbeiter:innenklasse den verschiedenen nationalistischen Führungsgruppen jede politische Unterstützung entzieht und sich schon jetzt gegen den Ausverkauf der Ukraine in jeder Hinsicht organisiert, um so den Kampf für eine unabhängige sozialistische Ukraine vorzubereiten und in Angriff zu nehmen.

Perspektiven

Hierzulande müssen wir gegen die Aufrüstung und die Milliarden für die Rüstungskonzerne kämpfen. Unter dem Vorwand der Verteidigung der Ukraine wird Aufrüstung im Interesse eigener aggressiver imperialistischer Ziele betrieben und die Kapazität der Rüstungsindustrie entsprechend ausgebaut. Auch wenn wir das Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung und die Beschaffung der dafür nötigen Mittel anerkennen, so müssen Revolutionär:innen in der Ukraine und im Westen vor den Illusionen warnen, dass die gegenwärtige militärische Unterstützung der NATO-Staaten wirklich der Unabhängigkeit dient. Vielmehr sind diese Lieferungen mit der Bedingung der Sicherung der eigenen Einfluss- und Ausbeutungssphäre verknüpft und letztlich nicht auf wirkliche Selbstbestimmung für die gesamte Ukraine ausgerichtet, sondern sollen dem Westen Beute bringen. Ob diese Rechnung aufgeht oder die ukrainischen Massen diese durchkreuzen, hängt letztlich davon ab, ob es der Arbeiter:innenklasse gelingt, eine eigene revolutionäre Partei aufzubauen, die den Kampf gegen die russische Okkupation mit dem für eine sozialistische Ukraine verknüpft.

In Russland sind die Bedingungen für eine Opposition gegen den Krieg seit dessen Beginn nicht leichter geworden. Der russische Imperialismus konnte sich nach den ersten, sicher so nicht erwarteten, schweren Rückschlägen stabilisieren. Sowohl ökonomisch wie auch politisch hat das Regime die Lage weitgehend im Griff. Die Pseudoopposition der Wagner-Anführer:innen hat ihren Zweck der Kanalisierung von Protest gegen „die da oben“ erfüllt und konnte in Person von Prigoschin zum Absturz gebracht werden. Allerdings werden Preissteigerungen, Knappheit bestimmter Waren und eine massive Auswanderungswelle insbesondere von gut ausgebildeten Menschen langfristig zu neuen Erschütterungen führen. Hunderttausende Tote und Verwundete für kleine Landgewinne in der Ukraine werfen Fragen an die Führung auf. Die jüngsten massiven Proteste in der Teilrepublik Baschkortostan an der Wolga zeigen, dass die Ruhe in dem Riesenreich nur eine scheinbare ist. Das mutige Auftreten des Umweltaktivisten Fayil Alsynov gegen den Ukrainekrieg und die übermäßige staatliche Repression dagegen haben genügt, um eine bisher passive Provinz in Aufruhr zu versetzen. Je länger und blutiger der gegenwärtige Abnutzungskrieg in der Ukraine andauert, um so mehr wird der Ruf nach „Brot und Frieden“ wieder das russische Regime erschüttern. Es kommt für die russischen Sozialist:innen darauf an, diesen Moment für einen neuen russischen Oktober vorzubereiten!

Revolutionäre Marxist:innen sollten dafür eintreten, den Ukrainekrieg auf einer gerechten und demokratischen Grundlage zu beenden: Russland raus aus der Ukraine, Nein zum zwischenimperialistischen Kalten Krieg und Selbstbestimmung für die Krim und die Donbass-Republiken. Dies muss mit der längerfristigen Perspektive einer unabhängigen sozialistischen Ukraine verknüpft werden, denn nichts anderes würde einen gerechten und dauerhaften Frieden bringen.




Venezuela und die zweitgrößte Geflüchtetenkrise der Welt

Jonathan Frühling, Infomail 1239, 17. Dezember 2023

Geschichte Venezuelas von 1998 – 2013

1998 wurde Hugo Chaves zum Präsidenten Venezuelas gewählt. Dies war der Startpunkt einer Linksentwicklung auf dem südamerikanischen Kontinent. Diese Art des Linkspopulismus wurden nach Chaves als Bolivarismus bezeichnet (in Anlehnung an den antikolonialen General Símon Bolívar, der als wichtigste Person des antispanischen Befreiungskampfes im Norden des Kontinents gilt). Die politische Grundlage dieser Regierungssysteme war die Verstaatlichung einige Schlüsselindustrien. In Venezuela ist dabei vor allem Ölindustrie zu nennen. Von den so generierten Staateseinnahmen wurden vielfältige soziale Programme finanziert. Es gab zur Zeit Chaves genügend Wohnraum, günstige Bildung und gute Krankenversorgung. Außerdem wurden Arbeitsrechte verbessert und solid Renten- und Sozialsysteme eingeführt. Dadurch gewann Chaves ein großes Ansehen bei der Linken weltweit, besonders aber bei der verarmten Bevölkerung Venezuelas.

Allerdings ist dies keineswegs ein “Sozialismus des 21. Jahrhunderts”, was von Chaves und ähnlichen Regierungen in Bolivien, Ecuador oder Argentinien immer behauptet wurde. Tatsächlich handelte es sich um einen Klassenkompromiss. Trotz Verstaatlichung eines Teils der Industrie blieb das Privateigentum an Produktionsmitteln überall voll intakt. Ausbeutung von Arbeitskraft und damit eine Generierung von Mehrwert blieben Grundlage der Wirtschaft. Deshalb billigte die Bourgeoisie diese Regime. Außerdem schafften die sozialen Reformen politische Stabilität, die auch für die Bourgeoisie von Vorteil war. Streiks, die über den beschränkten Reformismus hinausgingen und die Klassenzusammenarbeit gefährdeten, wurde auch in Venezuela unter Chaves brutal niedergeschlagen. Zudem entwickelte sich ein durch und durch korrupter Staatsapparat, der letztlich der Bourgeoisie und vor allem sich selbst dient.

Ab 2013: Das Scheitern des Bolivarismus

Wie wir bereits Ende der 90er Jahre vorausgesagt haben, musste der Bolivarismus scheitern, da die Interessen der Bourgeoisie und der Lohnabhängigen absolut gegensätzlich sind und deshalb nicht ewig befriedet werden können. Der Zeitpunkt war gekommen, als 2013 die Ölpreise einbrachen. Die Sozialprogramme mussten dann zurechtgestutzt werden. So verlor die Regierung einen guten Teil der unterdrückten Klassen als Unterstützer:innen. Linke Proteste wurden von der Regierung brutal unterdrückt, das Land entwickelte sich ab 2013 unter dem neue Präsidenten Maduro vollständig zu einer Diktatur. Das beides entfremdete noch mehr Menschen von der Regierung. Auch die Profite der Bourgeoisie wurden mit der Wirtschaftskrise schmaler. Sie hatte damit genug vom Klassenkompromiss und wollte von diesem Zeitpunkt an eine durch und durch bürgerliche Regierung. Auch die USA sah nun die Möglichkeit gekommen, einen Regimechange herbeizuführen. Sie verhängte schon unter Obama ab 2015 immer mehr Sanktionen, die letztlich das Ziel hatten, das Land völlig in den Ruin zu treiben und so die Regierung zu destabilisieren. Damit waren Obama und später Trump leider erfolgreich. Heute existiert quasi eine völlige Blockade gegen Venezuela und jedes Land, welches mit Venezuela handelt, wird selbst sanktioniert. (Gerade am 20.10.2023 wurden die Sanktionen gelockert, da der Präsident Maduro Wahlen für 2024 angekündigt hat). Außerdem gibt es allerhand Sabotage von Seiten der herrschenden Klasse innerhalb des Landes.

Dass sich das Regime halten kann, liegt vor allem daran, dass die Armee die Regierung unterstützt und die führenden Generäle Angst haben, ihre Machtstellung unter einer USA-treuen und neoliberalen Regierung zu verlieren. Außerdem gibt es noch Teile der unterdrückten Klassen, die dem Regime die Treue halten, weil sie wissen, dass sie vom Neoliberalismus noch weniger zu erwarten haben. Außerdem gibt es auch regierungstreue Milizen, die neben der Armee existieren, und die einen Putsch schwieriger machen würden, als z.B. in Bolivien.

Wirtschaftliche und soziale Krise in Venezuela 2023

Venezuela ist heute durch die US-Blockade und den Widerstand der Bourgeoisie innerhalb des Landes heute faktisch ein failed state. Das Land ist einer der ärmsten der Welt. Das BIP liegt kaufkraftbereinigt bei 200 Mrd. US-Dollar. Das durchschnittliche pro Kopf Einkommen mit rund $ 3400 (2022) ist das 159. niedrigste der gesamten Welt. Die Wirtschaft ist seit 2013 um ein Drittel geschrumpft. Die Inflation ist von 2013 bis 2017 von 40 % auf 428 % gewachsen. Seit 2017 die US-Sanktionen greifen, ist sie auf unvorstellbare 65.000 % gestiegen, um dann bis 2022 auf 200 % zu sinken (Prognose für 2023: 400 %)  (Quelle: https://www.statista.com/statistics/371895/inflation-rate-in-venezuela/).

Das Geld ist so wertlos geworden, dass es in Kolumbien an Touris verkauft wird und daraus zum Teil Handtaschen hergestellt werden. Es gab auch immer mal wieder Währungsreformen, die vorsahen einige Nullen zu streichen. An der realen Situation hat das natürlich nichts geändert. Die Arbeitslosigkeit ist auch explodiert. 2018 erreichte sie einen Wert von über 35 % (Quelle: https://www.statista.com/statistics/371895/inflation-rate-in-venezuela/). Viele Menschen haben deshalb ihre Lebensgrundlage verloren und sind hungernd auf der Straße gelandet; das Gesundheitssystem ist zusammengebrochen. In dem Zuge der Krise ist auch die Gangkriminalität explodiert. Venezuela ist heute das gefährlichste Land Südamerikas. Selbst für die, die überleben können oder konnten, bot und bietet das Land keine Zukunft mehr.

Zweitgrößte Geflüchtetenkrise der Welt

Aufgrund dieser grausamen Lage habe bis 2023 über 7 Millionen Menschen das Land verlassen. Dies ist nach Syrien die größte Flüchtlingsbewegung, die es momentan auf der Welt gibt. Rund 6 Millionen haben in Südamerika und der Karibik Zuflucht gesucht, alleine 2,5 Millionen in Kolumbien. (Quelle: https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/hilfe-weltweit/venezuela)

Die UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR hat zum Teil Trinkwasser und Hilfspakete entlang der Flüchtlingsrouten zur Verfügung gestellt und geholfen die Menschen als Geflüchtete zu registrieren. Allerdings sind die Programme völlig unterfinanziert. Programme zur Ernährung, Bildung oder dem Schutz von Kindern mussten nach kurzer Zeit wieder eingestellt werden. Eigentlich bräuchte es nur 61 Millionen US-Dollar pro Jahr für die Finanzierung der Programme (ungefähr 3/4 des Geldes, was Deutschland für eine F-35 Kampfjet ausgibt oder 1/1640 des 100 Mrd. Sondervermögens der Bundeswehr). Aber 2023 waren nur 12 Prozent davon finanziert, also schlappe 7,3 Millionen (ungefähr 2 Leopard 2 Kampfpanzer) (Quelle: ebd.). Die Menschen werden als faktisch völlig im Stich gelassen.

Situation der Geflüchteten in Südamerika

Wie überall, wo Menschen zu Fuß flüchten, sind sie dabei von massiven Gefahren durch Wetter, Tiere und im besonderen Menschen bedroht. Hunger, Krankheiten und (sexuelle) Ausbeutung gehören für diese Menschen zum Alltag. Die Situation der Geflüchteten ist auch in ihren Zielländern in Südamerika katastrophal. Durch Corona sind diese Länder sowieso schon wirtschaftlich zerrüttet. Die Mittelklassen sind erodiert, Armut und Kriminalität grassieren wie nie zuvor. Formelle Arbeit zu finden ist als illegale Geflüchtete natürlich unmöglich, zumal der informelle Sektor in Ländern wie Kolumbien oder Peru 80% der Arbeitskräfte umfasst! Die Länder basieren also faktisch fast ausschließlich auf einer Schattenwirtschaft, in der es keine Arbeitsrechte gibt. Zudem gibt es sehr viel Diskriminisierung und Entrechtung, was dazu führt, dass Venezulaner:innen entweder gar nicht oder zu schlechteren Löhnen eingestellt werden. So lassen sich die einheimischen Lohnabhängigen gegen die Geflüchteten ausspielen. Viele landen völlig mittellos auf der Straße und geraten so in die Fänge der Mafia, die sie für ihre Zwecke missbraucht. Frauen bleibt oftmals keine andere Möglichkeit als sich für Hungerlöhne kontrolliert von der Mafia zu prostituieren. Männer werden dazu eingesetzt Schutzgeld einzutreiben oder Kriege gegen andere Gangs zu führen. In Kolumbien sind sie auch den sozialen Säuberungen der Gangs und reaktionären Bewohner:innen ausgesetzt, die wahllos Geflüchtete, Prostituierte und Drogenabhängige ermorden.

In Peru müssen sie als Sündenbock herhalten. Ähnlich wie in Ecuador rutscht das Land momentan in Chaos ab. Raubüberfälle, Morde und Schutzgelderpressung breiten sich rasendschnell im Land aus. Grund dafür sind die Verarmung des Landes durch Corona und durch die korrupten und neoliberalen Regierungen, die sich nur in die eigene Tasche wirtschaften und dem Kapital wortwörtlich den Weg freischießen, statt ernsthaft eine soziale und wirtschaftliche Entwicklung in dem Land anzustoßen. Durch die Regierung, das Parlament und die große bürgerlichen Medien wird jedoch das Narrativ verbreitet, dass die Schuld alleine bei den Geflüchteten aus Venezuela liegt, die per se kriminell sein. Ähnlich wie wir das aus Deutschland mit der Hetze gegen Geflüchtete kennen, werden hier alle tatsächlichen Verbrechen von Venezulaner:innen aufgebauscht und dadurch ein Zerrbild erzeugt. Das mittellose Geflüchtete zum Teil tatsächlich in die Kriminalität abgedrängt werden, ist natürlich durch die Diskriminierung und die Verweigerung der Integration zu erklären. Die Schuld muss hier also ganz klar bei der Regierung gesucht werden. Die Idee, dass die Geflüchteten das Land ins Chaos stürzen, ist allerdings zu wirksam, um von den eigenen Verbrechen abzulenken und das Land unter einer reaktionären Idee zu einen, als das die Regierung mit dieser Politik brechen würde.

Kampf dem Imperialismus und Kapitalismus!

Die Geflüchtetenkrise Venezuelas zeigt deutlich, wie der US-Imperalismus, der gescheiterte Populismus und Nationalismus bzw. Chauvinismus den Kontinent in den Ruin treiben. Als Revolutionär:innen müssen wir deshalb gegen alle diese Übel gleichzeitig vorgehen. Wir müssen für ein sofortiges Ende der Blockade Venezuelas eintreten, die die Basis dieser Krise ist. Obwohl wir die Politik von Maduro ablehnen, sollten wir die Regierung trotzdem gegen die von der USA unterstützen Putschversuche verteidigen. Der Kampf für bürgerliche Rechte, wie freie Wahlen, mehr gewerkschaftliche Rechte oder Pressefreiheit, verdient natürlich vollste Unterstützung. Allerdings brauchen wir einen Umstürz von links, der mit dem korrupten Regime Maduros Schluss macht und es durch wahren Sozialismus unter einer Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung ersetzt und das Land nicht an die herrschende Klasse und die USA ausliefert.

In den anderen Ländern Südamerikas müssen wir gegen die chauvinistische Spaltung der Lohnabhängigen kämpfen. Wir müssen uns gemeinsam gegen die Bosse organisieren und dürfen uns nicht gegen unsere Klassengeschwister aus Venezuela ausspielen lassen. Unsere Feind:innen sind letztlich die gleichen. Die Grundlage dieser Politik muss natürlich die gewerkschaftliche Organisierung aller Lohnabhängigen in den gleichen Organisationen sein. Die Grenzen müssen offen sein und es muss jeder Person in allen Ländern die gleichen Rechte zugestanden werden. Nur das kann uns dem Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung und für ein Leben in Freiheit näherbringen.




Nachruf auf Marcus Vickers

Internationales Sekretariat der Liga für die 5. Internationale, Infomail 1211, 19. Januar 2023

Mit großer Trauer haben wir vom Tod unseres Genossen Marcus Vickers nach langem Kampf gegen den Krebs erfahren. Marcus war ein Gründungsmitglied von Workers Power USA und seit etwa fünfzehn Jahren ein unermüdlicher Aktivist für die Liga. Als Aktivist der Arbeiter:innenklasse und Musiker in Nashville, Tennessee, war er im Labor Council der Stadt und bei den Democratic Socialists of America aktiv. Als führendes Mitglied von WPUS schrieb er häufig für deren Website und für die der Liga für die Fünfte Internationale unter dem Namen Marcus Otono.

Er leistete einen wichtigen Beitrag zu den Onlinetreffen der US-Sektion. Bei diesen Treffen zeigte Marcus immer das größte Einfühlungsvermögen, ermutigte die jungen Genoss:innen und bemühte sich um ihre Teilnahme. Selbst bei Meinungsverschiedenheiten in taktischen Fragen war er immer der Erste, der die Entscheidung umsetzte, und zwar in vorbildlicher Weise.

Er war und blieb durch und durch ein Internationalist, Antirassist und Antisexist. In seinen letzten Lebensjahren leistete er einen wichtigen Beitrag zur Ausarbeitung des Aktionsprogramms der Liga für die USA, das wir in Kürze veröffentlichen und nun seinem Andenken widmen werden.

Unser aufrichtiges Beileid gilt Marcus‘ Familie und Freund:innen sowie seinen Genossinnen und Genossen in WPUS, die seine Gaben, seinen Optimismus und seinen Sinn für Humor sehr vermissen werden.

 Lieber Genosse, du wirst in den warmen Erinnerungen all derer weiterleben, die mit dir zusammengearbeitet haben, und in den Ideen und der Arbeit, die du zum Aufbau der Liga für die Fünfte Internationale und der Arbeiter:innenbewegung beigetragen hast. Wir verabschieden uns von Dir ganzen Herzens.




USA: Zwischenwahlen zeigen Notwendigkeit einer unabhängigen Arbeiter:innenpartei

Andy Yorke, Infomail 1205, 1. Dezember 2022

Die Zwischenwahlen in den USA am 8. November waren ein Schock für die Kommentator:innen, die Präsident Biden und der Demokratischen Partei eine Katastrophe voraussagten. Tatsächlich war der Umschwung gegen die etablierte Partei so gering wie seit vielen Jahren nicht mehr, obwohl Biden in den Meinungsumfragen rekordverdächtig unbeliebt ist.

Die von Ex-Präsident Trump vorhergesagte „rote Welle“ zugunsten der Republikanischen Partei blieb aus. In der Tat haben viele der von ihm unterstützten MAGA-Kandidat:innen (Make America Great Again) verloren oder deutlich unterdurchschnittliche Ergebnisse erzielt. Vielmehr kam es in beiden Parteien zu einer Verschiebung in Richtung „Mitte“. Biden ist sicherlich in seiner Fähigkeit geschwächt, den Großteil seiner innenpolitischen Agenda durch das Repräsentantenhaus zu bringen, aber die Zwischenwahlen waren eine weitaus schwerwiegendere Niederlage für Donald Trump und den von ihm unterstützten rechtspopulistischen Flügel.

Seine Erklärung über seine Kandidatur für 2024 war dementsprechend schwach und schlecht gelaunt. Er drohte seinem republikanischen Mitstreiter Ron DeSantis, der einen Erdrutschsieg bei der Wahl zum Gouverneur von Florida erzielte, mit Enthüllungen, die seine Chancen irreparabel beeinträchtigen würden.

In der Republikanischen Partei zeichnet sich nun ein wahrer Bürger:innenkrieg ab. DeSantis lehnt Trump als Person ab, nicht aber seinen Rechtspopulismus, wie seine Reden zeigen. Dies wird durch sein Eintreten für ein Anti-Woke-Gesetz (soll Gutheißen oder Billigung bestimmter Unterrichtsinhalte durch staatliche Lehrkräfte verhindern) untermauert. Mit dem reaktionären Vorstoß soll das Gutheißen oder die Billigung bestimmter Unterrichtsinhalte durch staatliche Lehrkräfte verhindert werden, so zum Beispiel das Aufgreifen von Lehren der „Critical Race Theory“. Jedes Eingeständnis der rassistischen Vergangenheit und Gegenwart Amerikas soll faktisch aus dem Unterricht verbannt werden.

Auf der anderen Seite gingen Biden und die rechte und mittlere Seite der Demokrat:innen gestärkt aus der Wahl hervor und konnten sich gegen jede ernsthafte Herausforderung von links um Sanders oder Alexandria Ocasio-Cortez und neben dieser den anderen 3 Mitgliedern der „Squad“ (Truppe) – Ilhan Omar, Ayanna Pressley, Rashida Tlaib – behaupten. Sicherlich spielte das Thema Abtreibung der Demokratischen Partei in die Hände und ermöglichte es ihnen, den Vorteil zu überwinden, den die Republikanische Partei in Bezug auf die sich verschlechternde Wirtschaftslage (8 – 9 % Inflation) zu besitzen glaubte.

Jacobin, die Website der Demokratischen Sozialist:innen Amerikas (DSA), lobt in den höchsten Tönen den Sieg von John Fetterman in Pennsylvania als Ergebnis einer starken Wahlkampfunterstützung durch den Gewerkschaftsverband Change to Win und die Aktivist:innen der Lehrer:innengewerkschaft von Pennsylvania; ein Beweis für die immer noch aktiven Verbindungen zwischen den Gewerkschaften und der Demokratischen Partei. Fetterman vertritt in der Tat relativ progressive Ansichten zu Themen wie der Legalisierung von Cannabis, Abtreibung und einem Mindestlohn von 15 US-Dollar. Aber er prangerte auch den Slogan „Defund the police“ (Keine Finanzierung der Polizei) als „absurd“ an, er erklärte, er werde „hart gegen China“ vorgehen, und er sprach sich für Fracking aus. Er ist bestenfalls ein Mitte-Links-Populist.

Zwischen den kapitalistischen Parteien

Trotz alledem bleiben die amerikanischen Arbeiter:innen, insbesondere diejenigen, die sich an der anhaltenden Streikwelle und den gewerkschaftlichen Organisierungsbestrebungen beteiligen, in dem nicht enden wollenden Wahlzyklus zwischen den beiden kapitalistischen Parteien gefangen, mit einem weiteren zweijährigen Kampf, um Trump oder DeSantis aus dem Weißen Haus und die Konzerndemokrat:innen an der Macht zu halten. Sie können die Ausrede eines festgefahrenen republikanischen Repräsentantenhauses und rechter Demokrat:innen wie Joe Manchin im Senat nutzen, um all die eher arbeiter:innenfreundlichen Versprechen aus Bidens Manifest für 2020 über Bord zu werfen.

Sanders und der linkspopulistische/demokratische sozialistische Flügel drängten auf mehr „wirtschaftliche Botschaften“, die für die Arbeiter:innen attraktiv sein sollten, um die Wahlkampfspots zu ergänzen, die sich auf die Abtreibung konzentrierten – eine versteckte Kritik, dass Biden nicht radikal genug sei. Aber in Wirklichkeit wird die Wirtschaftspolitik der Demokratischen Partei immer die Interessen der Hochfinanz und des Großkapitals in den Vordergrund stellen. Das hat sie schon immer getan, selbst unter der stark mythologisierten Roosevelt-New-Deal-„Koalition“ mit Gewerkschaftsbürokrat:innen und Bürgerrechtsführer:innen. Nur ein unabhängiger Klassenkampf, das Gespenst der Revolution, könnten der herrschenden Klasse radikale Reformen abtrotzen, nicht das fein austarierte politische System und die Hoffnung auf kleine Fortschritte.

Doch die Mehrheit der reformistischen Linken in den USA, allen voran die DSA und die Zeitschrift Jacobin, wollen Arbeiter:innen, Frauen, ethnische Minderheiten und Jugendliche in der Tretmühle der Wahlpolitik halten, indem sie für die Demokratische Partei stimmen und in vielen Fällen auch für sie kandidieren, die zweite Partei des US-Kapitalismus, in der die Spenden der Unternehmen diejenigen der Gewerkschaften in den Schatten stellen, die nur einen weiteren Minderheitenstatus bekleiden.

Das Sanders-Experiment – das zweimal, 2016 und 2020, durchgeführt wurde – hat bewiesen, dass eine „politische Revolution gegen die Milliardär:innenklasse“ nicht durch die Demokratische Partei stattfinden kann, obwohl das Organisationsgremium, das Demokratische Nationalkomitee, die mächtigste und am besten platzierte Herausforderung für ihre Autorität seit Jahrzehnten enthält.

Ein Teil der Jakobiner:innen und einige kleine linke Fraktionen sagen, sie wollen einen „schmutzigen Bruch“ mit der Demokratischen Partei und schließlich eine Arbeiter:innenpartei aufbauen. Wahl für Wahl verzögern sie jedoch die tatsächliche Umsetzung dieser Strategie. Ihr jüngster Vorschlag besteht darin, Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez aufzurufen, diesen Bruch anzuführen, trotz der offensichtlichen Tatsache, dass sie jetzt mehr denn je in der DP integriert sind.

Eine Strategie des „sauberen“ Bruchs bedeutet andererseits, alle Befürworter:innen einer wirklichen Unabhängigkeit zugunsten der Arbeiter:innenklasse zu vereinen, um bei den kommenden Bundesstaats- oder Kommunalwahlen und im Jahr 2024 Arbeiter:innen- und/oder sozialistische Kandidat:innen zu unterstützen. Dies sollte innerhalb der DSA und in den Gewerkschaften verfolgt werden, aber auch die radikalen Aktivist:innen unter den Kämpfer:innen für die Rechte von Frauen, Farbigen, Klimagerechtigkeit usw. einbeziehen.

Es bedeutet, dies auf der Grundlage eines kämpferischen Aktionsprogramms zu tun, um eine unabhängige Arbeiter:innenpartei mit allen laufenden Auseinandersetzungen zu verbinden, einschließlich der Kämpfe gegen Rassismus und die populistische Rechte und ihre faschistischen Ränder. Das Ziel sollte sein, entweder einen DSA-Konvent 2023 zu gewinnen, um ein solches Programm zu verabschieden und einen sofortigen Bruch mit der Demokratischen Partei zu beschließen, oder einen Kongress all derer einzuberufen, die dazu bereit sind.




USA: „Unsere“ Demokratie retten!??

Christian Gebhardt, Infomail 1199, 20. September 2022

Die Republikanische Partei ist darauf aus, „unsere“ Demokratie zu stürzen. Die bevorstehenden midterm elections (Zwischenwahlen) werden eine Wahl zwischen einer extremistischen Autokratie und der „besten Demokratie“ sein, die wir je auf Erden gesehen haben. Zumindest versucht die Demokratische Partei, uns das drei Monate vor den Zwischenwahlen im November weiszumachen. Aus Angst, ihre hauchdünne Mehrheit zu verlieren, verweisen die Demokrat:innen auf die Tatsache, dass immer mehr republikanische Vorwahlen auf den von Trump unterstützten und nicht auf den „gemäßigten“ Kandidaten hinauslaufen. Diese radikalen Anhänger:innen Trumps würden nicht nur eine Bedrohung für die demokratischen Rechte (z. B. Abtreibungsrechte oder die Homo-Ehe), sondern auch für die Demokratie als Ganzes darstellen.

Und da ist ein Körnchen Wahrheit dran. Die Ergebnisse der Vorwahlen zugunsten der Hardcore-Trumpanhänger:innen bei den kommenden Zwischenwahlen sind nicht nur ein Zeichen für den anhaltenden Einfluss des Trumpismus innerhalb der Republikanischen Partei, sondern auch ein Zeichen für einen anhaltenden Einfluss auf Politik und Gesellschaft, selbst nachdem Trump sein Amt niedergelegt hat. Die Republikanische Partei befindet sich mitten in einem Rechtsruck, der von einer Basis von Wähler:innen angeheizt wird, die an die „große Lüge“ des Wahlbetrugs glauben und Druck auf „gemäßigte“ Republikaner:innen ausüben, damit diese sich entweder vorerst zurückhalten oder ihre Politik ändern. In jedem Fall spricht dies für einen Rechtsruck der Republikanischen Partei, der für Revolutionär:innen nicht allzu überraschend kommt. Unabhängig davon, ob dieser Rechtsruck aus echter Überzeugung oder Opportunismus erfolgt, stellt er dennoch eine reale Bedrohung für viele demokratische Rechte der US-Arbeiter:innenklasse insgesamt dar: z. B. Angriffe auf Abtreibungsrechte, die Homo-Ehe, das Wahlrecht usw.

Insgesamt lässt sich die derzeitige Situation in den USA als eine Polarisierung charakterisieren, in der die extreme Rechte in Zusammenarbeit mit der christlichen Rechten immer mehr Einfluss gewinnt und bestimmte Punkte ihrer Agenda durchsetzen kann.

Aber wer sind diese „Gemäßigten“?

Die Demokratische Partei fordert die gemäßigten republikanischen Teile auf, zur Vernunft zu kommen und die Realität der derzeitigen Republikanischen Partei zu erkennen. Eine Person, die in diesem so genannten moderaten Haufen am beliebtesten ist, ist Liz Cheney, eine Politikerin, die in 93 % der Fälle für die Politik von Donald Trump gestimmt hat und nicht als Teil des „progressiven Flügels“, was immer dieser Begriff auch bedeuten mag, innerhalb der Republikanischen Partei bekannt war. Mit ihrer Verteidigung der härtesten Formen des wirtschaftlichen Neoliberalismus gegen die Arbeiter:innenklasse und von Waterboarding (Kopf unter Wasser Drücken) und anderer Folter als legitime außenpolitische Optionen hätte sie noch vor zwei Jahren von keinem Mitglied der Demokratischen Partei als „gemäßigt“ bezeichnet werden können.

Was hat sich also geändert? Cheney hat sich in die Herzen der Demokrat:innen gespielt, indem sie gegen Trumps Verwicklung in den Angriff auf den Kongress am 6. Januar Stellung bezog, ihre Rolle im Ausschuss „6. Januar“ übernahm und für Trumps zweites Amtsenthebungsverfahren stimmte. Obwohl dies wichtige politische Positionen gegen Trumps Form des Autoritarismus waren, können sie ihr früheres politisches Leben als Hardcorepolitikerin des rechten Flügels, die politisch genauso ruchlos war wie ihr berüchtigter Vater, der ehemalige republikanische Vizepräsident Dick Cheney, nicht vergessen machen.

Wahlstrategie der Demokratischen Partei für die Zwischenwahlen

Es stellt sich also die Frage: Warum loben die Demokrat:innen jetzt Cheney? Zwar könnten wir ihnen zugute halten, dass sie glauben, Liz Cheneys Politik hätte sich grundlegend geändert und sie sei nun eine respektvolle Verbündete. Doch selbst wenn die Demokrat:innen dumm genug sind, das zu glauben, deutet das eher auf ihre übergreifende, fehlgeleitete Strategie für die Zwischenwahlen hin, ein Thema, das viel wichtiger ist.

Cheney als gemäßigt darzustellen und sie und ihre Anhänger:innen aufzufordern, nach Gemeinsamkeiten zu suchen und diese zu stärken, bedeutet, dass die Demokrat:innen einerseits versuchen, Druck auf republikanische Gesetzgeber:innen auszuüben, damit diese entweder in bestimmten Fragen mit ihnen stimmen oder aus der Reihe tanzen und die Partei ganz wechseln. Andererseits beschwören sie diese republikanischen „Gemäßigten“ sowie Unabhängige und unentschlossene Wähler:innen, für die Demokratie, und das bedeutet genauer gesagt, für die Demokratische Partei zu stimmen.

Für uns Revolutionär:innen ist es wichtig festzustellen, dass die Arbeiter:innenklasse – wenig überraschend – in dieser Strategie keine Rolle spielt. Statt sich an der Arbeiter:innenklasse zu orientieren, um den Aufstieg der extremen Rechten und des Trumpismus in den USA zu bekämpfen, versuchen die Demokrat:innen, uns davon zu überzeugen, sich mit Leuten zusammenzutun, die für den politischen Rechtsruck, mit dem wir es zu tun haben, mitverantwortlich sind. Das demokratische Establishment nimmt zudem eine Haltung ein, die den Interessen der Arbeiter:innenklasse zuwiderläuft, indem es diese Debatte derzeit nutzt, um den progressiven Flügel innerhalb der Demokratischen Partei anzugreifen, weil er „zu radikal“ und in Wirklichkeit nicht besser als die radikalen Republikaner:innen sei – eine widerliche Form der Gleichsetzung „beider Seiten“. Auch wenn wir die politische Strategie dieses progressiven Flügels ebenfalls grundlegend ablehnen, sehen wir es als notwendig an, auf diesen Angriff hinzuweisen und die Mitglieder dieses Flügels aufzufordern, die richtigen Schlüsse zu ziehen und mit der Demokratischen Partei zu brechen!

Die bürgerliche Demokratie – der Klebstoff, der sie zusammenhält

Die DemokratIsche Partei verkündet natürlich nicht offen, dass ihre Strategie eigentlich nicht darin besteht, den Trumpismus im Namen der Arbeiter:innen zu bekämpfen. Sie behauptet, dass der Kampf für Demokratie der wichtigste sei und sich alle um ihn scharen sollten. Wer sich gegen die Demokratische Partei stellt, auch wenn er/sie von links kommt, gehört zum falschen Lager und ist es daher nicht wert, mit jenen Kräften zusammenzuarbeiten. Dieser Aufruf, „unsere Demokratie“ zu verteidigen, ist der Klebstoff, der diese Strategie zusammenhalten und die Aktivist:innen der Arbeiter:innenbewegung an die Demokratische Partei binden soll, auch wenn  diese nicht auf der Seite der Arbeiter:innenklasse steht.

Doch niemand erwähnt den Charakter dieser „Demokratie“. Sie wird als abstraktes, natürliches Gesetz dargestellt statt als das, was sie wirklich ist: ein Form der Demokratie, die der herrschende Klasse, der Bourgeoisie nützt! Eine gesellschaftliche Struktur, die dazu da ist, den Kapitalismus und seine zerstörerischen Kräfte zu beherrschen und zu verteidigen. Eine „Demokratie“, die die Krisenlast auf die Schultern der Arbeiter:innenklasse legt, während sie dafür sorgt, dass die Profite für die Kapitalist:innen weiter fließen. Kurz gesagt, eine Demokratie, die wir als Revolutionär:innen überwinden und durch eine Arbeiter:innendemokratie und einen Arbeiter:innenstaat ersetzen wollen! Einen Staat, der wirklich vom Volk und für das Volk geführt wird und nicht durch ein Marionettenspiel, das die Kapitalist:innen vollständig begünstigt.

Wir brauchen eine Arbeiter:innenpartei!

Der Kampf für eine abstrakte Demokratie, in Wirklichkeit einer für eine bürgerliche Herrschaftsform, liefert keine Option für US-Arbeiter:innen. Anstatt innerhalb der Demokratischen Partei zu arbeiten und versuchen, für fortschrittlichere Positionen und Einfluss innerhalb einer Partei zu kämpfen, die sie nicht will – wie Bernie Sanders, die DSA oder Vertreter:innen wie die Squad uns glauben machen wollen –, brauchen wir einen offenen und sauberen Bruch mit der Demokratischen Partei. Dieser sollte zu einer Arbeiter:innenpartei führen, einer Partei, die wirklich die Perspektive der Arbeiter:innenklasse und ihre Kämpfe in den Vordergrund stellt, nicht nur, wenn es darum geht, mehr Einfluss oder Stimmen bei Wahlen zu gewinnen, sondern die auch die täglichen Kämpfe der arbeitenden Menschen in den USA führen kann. Eine Partei, die sich mit den laufenden Streikwellen, den Kämpfen gegen die Abschaffung der reproduktiven Rechte, der Wahlrechtsbeschränkungen, der Homo-Ehe und all den anderen Angriffen auf die demokratischen Rechte, die derzeit stattfinden, befasst. Eine Partei, die eine Koalition aus Vertreter:innen all unserer aktuellen Kämpfe für einen vereinten Gegenschlag bilden wird. Eine Partei, die den Arbeiter:innen endlich die Möglichkeit gibt, über ihre Politik und ihr politisches Programm selbst zu entscheiden.

Organisationen wie die Demokratischen Sozialist:innen Amerikas oder das Arbeiter:innennetzwerk Labor Notes sollten eine solche Initiative anführen und lokale Zweigstellen bilden, um eine Struktur für eine politische Debatte zu schaffen, die sich auf die Ausarbeitung eines Programms und eines Kampagnenplans konzentrieren sollte. Diese Debatten sollten nicht nur die Basisorganisationen der Arbeiter:innenklasse einbeziehen, sondern auch die Gewerkschaften auffordern, sich zu beteiligen, ihre Verbindungen zu der Demokratischen Partei zu lösen und sich einer solchen Initiative mit voller Kraft anzuschließen. Auch wenn wir wissen, dass sich die Gewerkschaftsführung nicht freiwillig an einer solchen Initiative beteiligen oder sie gegebenenfalls sabotieren wird, sollten wir zu ihrer Beteiligung aufrufen. Auf diese Weise wird  der Mitgliedschaft der faule Kern der Gewerkschaftsführung vor Augen geführt und liefert uns die perfekten Argumente, um mit ihr zu brechen und sich unserer Sache anzuschließen.

Wir Revolutionär:innen müssen uns in einer solchen Initiative engagieren und für eine revolutionäre Perspektive kämpfen. Wir sollten uns als revolutionäre Strömung innerhalb einer solchen Initiative organisieren, basierend auf einem revolutionären Aktionsprogramm. Wir argumentieren für dieses Programm und versuchen, so viele Mitglieder wie möglich zu sammeln, um für dieses Programm sowohl innerhalb als auch außerhalb der Partei zu kämpfen. Eine solche Taktik würde unweigerlich zu zwei möglichen Ergebnissen führen: Entweder wir gewinnen am Ende die Mehrheit der Partei für unser revolutionäres Programm und schaffen so eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei, oder sie führt zu einer offenen Spaltung innerhalb der Initiative mit reformistischen und zentristischen Kräften. Eine Spaltung, die jedoch eine stärkere und gezieltere revolutionäre Organisation in den USA hervorbringen würde. Eine Organisation, die es uns Revolutionär:innen ermöglichen würde, in den aktuellen Kämpfen der Arbeiter:innenklasse mit einer stärkeren Stimme für unsere revolutionären Ideen zu streiten, z. B.: die Notwendigkeit der Überwindung der bürgerlichen Demokratie durch die Einführung der Arbeiter:innendemokratie und Bildung eines Arbeiter:innenstaates!




Taiwan – ein Zeichen der Zeit

Peter Main, Infomail 1194, 5. August

Der 4. August, der Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs, scheint kein günstiges Datum für China zu sein, um seine Streitkräfte zu mobilisieren und Taiwan zu umzingeln. Xi Jinpings Ankündigung von Sperrzonen, die jeglichen Zugang zu den Häfen der Insel blockieren sollen, um eine „Live-Feuer“-Übung zu ermöglichen, birgt das sehr reale Risiko einer Eskalation, ob beabsichtigt oder nicht.

Abgesehen von diesem Risiko bedeutet das Fehlen einer umfassenden Mobilisierung auf der chinesischen Seite der Meerenge, dass alles Gerede über eine mögliche Invasion nur Kriegshetze ist, aber deswegen nicht weniger gefährlich.

Die wirkliche Parallele liegt nicht im Jahr 1914, sondern in der Zeit unmittelbar davor. Im ersten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts, dem Beginn der imperialistischen Epoche, kam es zu einer Reihe von Krisenherden, die auf direkte imperialistische Rivalität, Aufstände gegen imperialistische Besatzung oder nationalistische Revolten innerhalb der seit langem bestehenden großen Imperien zurückzuführen waren.

Heute sind die inter-imperialistische Rivalität und das Kriegspotenzial auf das Entstehen neuer imperialistischer Mächte – Russland und China – nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Restauration des Kapitalismus zurückzuführen. In einer Welt, die bereits von älteren imperialistischen Mächten beherrscht wird, kann eine weitere Expansion im Falle Chinas sowie vielleicht ein weiteres Überleben im Falle Russlands nur auf Kosten dieser etablierten Mächte gewährleistet werden.

Ebenso können sich die Staaten, die an globale Macht gewöhnt sind, nur erhalten, indem sie ihre neuen Rivalen behindern, sei es durch die Einbindung in bestehende Bündnisse, durch wirtschaftliche Zwangsjacken oder letztlich durch Krieg. Wie in der Zeit vor 1914 gibt es auch in der heutigen Welt zahlreiche Beispiele dafür.

Pelosi-Besuch

Der besondere Auslöser für die Auseinandersetzung um Taiwan, der vielbeachtete Besuch von Nancy Pelosi in Taipeh, erscheint auf den ersten Blick fast komisch trivial. Eine alternde Politikerin, hinter dem Präsidenten und der Vize-Präsidentin Dritte in der offiziellen Hierarchie der US-Politik, die bei den Zwischenwahlen im November vor dem Ende ihrer Karriere steht, wollte ein letztes Mal über die Weltbühne stolzieren und vielleicht sogar ein paar chauvinistische Stimmen einsammeln. Aber was sagt es über den Zustand der US-Innenpolitik aus, dass der amtierende Präsident Joe Biden sie nicht aufhalten konnte?

Warum hat Xi Jinping auf der anderen Seite des Pazifiks diesen eher traurigen Versuch der Selbstverherrlichung nicht einfach abgetan? Wie in den USA sind es innenpolitische Gründe, die die Antwort liefern. Angesichts einer allenfalls nur noch stagnierenden Wirtschaft, einer weit verbreiteten Unzufriedenheit über die Auswirkungen seiner Pandemiepolitik und eines bevorstehenden Parteitags, auf dem er eine dritte Amtszeit anstrebt, musste Xi selbst die chauvinistische Trommel rühren.

Seine Behauptung, Taiwan gehöre zu Chinas Staatsgebiet, zeugt von der Arroganz einer imperialistischen Macht, die die Bestrebungen einer kleineren Nation zurückweist. Taiwan war in der Tat ein Territorium, das vor langer Zeit Tribut an das chinesische Kaiserreich zahlen musste, was übrigens auch für Japan galt. Das kaiserliche China war jedoch kein Nationalstaat, in seiner langen vorkapitalistischen Geschichte kamen und gingen viele verschiedene Völker und Territorien unter seiner Kontrolle.

Die Behauptung, dass Taiwan, das in der kapitalistischen Epoche der Nationalstaaten eine von Festlandchina völlig getrennte Geschichte hatte, immer noch Peking untersteht, ist so sinnvoll wie die Forderung, dass all die europäischen Staaten, die einst Teil des Heiligen Römischen Reiches waren, jetzt Deutschland angegliedert werden sollten. Ob das taiwanesische Volk ein unabhängiger Staat oder ein Teil Chinas sein will, muss das taiwanesische Volk selbst entscheiden. Bislang hat es niemand gefragt.

Strategische Zweideutigkeit

Es gibt noch ein letztes Rätsel: Warum hat keine US-Regierung die taiwanesische Unabhängigkeit unterstützt, obwohl sie so viel über Taiwans Rechte geredet und Pekings Vorgehen lautstark verurteilt hat? Warum verstecken sie sich hinter der „strategischen Zweideutigkeit“, nur eine chinesische Regierung in Peking anzuerkennen, während sie gleichzeitig Taiwans „demokratische Rechte“ verteidigen?

Angesichts der neuen wirtschaftlichen und militärischen Stärke Pekings könnte man meinen, dass es sich hierbei einfach um Realpolitik handelt, aber das war in der Vergangenheit, als die US-Position erstmals formuliert wurde, nicht der Fall. Damals brachte die „Ein-China“-Politik die Absicht der USA zum Ausdruck, eines Tages das Regime der Kommunistischen Partei Chinas zu stürzen und das Regime von Chiang Kai-shek und seinen Nachfolgern wieder einzusetzen – zweifellos immer noch, ohne das Volk von Taiwan zu fragen.

Dieses Ziel ist in Washington nicht in Vergessenheit geraten, und bei den Parlamentswahlen 2020 in Taiwan hat Chiangs Partei, die Kuomintang, die die Position Washingtons in der nationalen Frage vertritt, ein Drittel der Wählerstimmen erhalten. Rein formal ist der Flügel der Kuomintang, der 1948 von Chiangs Regime abtrünnig wurde, immer noch in der Regierung in Peking vertreten.

Unter der neuen chinesischen Kapitalist:innenklasse, die nun unter dem Druck von Xis Politik steht, mag es sogar einige geben, die Vorteile in einem „wiedervereinigten“, vielleicht sogar „demokratischen“ China sehen. Sollte dies jemals der Fall sein, hätte die Bevölkerung Taiwans immer noch das Recht zu entscheiden, ob sie ein Teil davon sein möchte.

Genau wie vor 1914 sind diese Provokationen und Konflikte die Frühwarnzeichen eines Systems, das auf einen Krieg zusteuert. Wie damals muss sich die Arbeiter:innenklasse gegen jegliches Säbelrasseln, militärische Vorbereitungen und Wettrüsten mobilisieren, die nur zu einem größeren Gemetzel führen können. Weder die „demokratischen“ Großmächte noch ihre „autokratischen“ Rivalen können den Frieden sichern.

Nur der Sturz des gesamten Systems der kapitalistischen Großmachtkonkurrenz, des Imperialismus, und seine Ersetzung durch eine internationale sozialistische Ordnung, die die Freiheit und Selbstbestimmung der Völker garantiert, kann dies leisten. Nur dann kann eine rationale und demokratische Planung der Weltressourcen die Menschheit in die Lage versetzen, die Krisen der Armut, der Pandemien und der Umweltzerstörung zu überwinden, die der Imperialismus verursacht hat.




Proteste gegen Abtreibungsverbote in den USA

Interview mit einer Aktivistin, REVOLUTION (Zuerst veröffentlicht auf www.onesolutionrevolution.de), Infomail 1194, 28. Juli 2022

In den USA hat der Oberste Gerichtshof im Juni dieses Jahres ein Urteil erlassen, welches den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen einschränken und sogar verbieten kann. Mehrere Bundesstaaten haben bereits angekündigt, die Rechte auf Abtreibungen massiv anzugreifen. Als Reaktion kam es in vielen US-amerikanischen Städten zu Massenprotesten. Wir haben in diesem Interview mit der Aktivistin Lara (Instagram @Lara.islinger) vor Ort gesprochen.

Wer bist du? Wo bist du organisiert?

Ich bin Lara (sie/ihr) und wohne eigentlich in Hamburg. Ich verbringe den Sommer damit, in New York für Shout Your Abortion (SYA) zu arbeiten. SYA ist eine Organisation, die sich für die Entstigmatisierung des Schwangerschaftsabbruchs einsetzt – mit kreativen Aktionen und dadurch, dass wir Menschen eine Plattform geben, um ihre Erfahrungen zu teilen. Aufgrund der aktuellen Situation, also des Urteils des Supreme Court und der Abtreibungsverbote in vielen Staaten, fokussieren wir uns aktuell auf den Zugang zu sicheren Abtreibungen insbesondere durch Abtreibungspillen – egal ob legal oder nicht.

Seit einigen Wochen, bin ich bei New York City For Abortion Rights aktiv, ein sozialistisch-feministisches Kollektiv, das Demos und sogenannte Clinic Defenses organisiert.

Inwiefern bist/warst du Teil der Proteste gegen die neuen Abtreibungsverbote? Was ist dein Ziel?

Gemeinsam mit New York City For Abortion Rights und anderen linksfeministischen Gruppen habe ich einen Protest am Tag der Supreme-Court-Entscheidung organisiert, zu dem 20.000 Leute gekommen sind. Mir ging es bei der Demo vor allem darum, Solidarität auszudrücken mit Menschen in republikanischen Bundesstaaten, in denen nun Abtreibungsverbote und Einschränkungen gelten. Abgesehen von einem erhöhten Andrang in den Abtreibungskliniken wird sich in New York durch das Urteil wenig ändern. Trotzdem spüren wir auch hier den Einfluss von Abtreibungsgegner:innen, da wir sogenannte Clinic Defenses organisieren. Das sind Proteste und Blockaden gegen Abtreibungsgegner:innen, die zu Kliniken prozessieren, eskortiert vom NYPD, und dort Patient:innen belästigen – mitten in New York City.

Am Montag, dem 4. Juli, war ich mit Shout Your Abortion in Washington DC. Wir haben vor dem Supreme Court einen Stand aufgebaut, an dem wir Limonade verschenkt und Informationen zu Abtreibungspillen verbreitet haben, die man in allen 50 Staaten über die Organisation Aid Access bestellen kann – auch ohne schwanger zu sein (sog. advanced provision). Unser Motto lautet ,Fuck SCOTUS. We’re doing it anyway’. Dieses illegitime, undemokratische Gericht kann uns nicht aufhalten.

Dazu will ich unbedingt betonen, dass das Urteil natürlich Konsequenzen hat, die grausam und ungerecht sind. Unter der Kriminalisierung von Abtreibung (und Fehlgeburten) leiden am meisten Menschen, die marginalisierten Gruppen angehören – insbesondere Schwarze; Indigene und weitere People of Color; die LGBTQ+-Community; Menschen mit Behinderung; Menschen, die im ländlichen Raum leben; junge Menschen und arme Menschen.

Wie nimmst du die Proteste wahr? Welche Gruppen sind am Start?

Mir geben die Proteste Kraft. Ich finde es gut, dass wir uns den öffentlichen Raum nehmen, um unserer Wut Ausdruck zu verleihen, und als Zeichen der Solidarität mit allen Menschen, die von den Abtreibungsverboten betroffen sind. Die feministische Bewegung nehme ich als zersplittert wahr. Viele linke Aktivist:innen wenden sich vom liberalen, weißenMainstreamfeminismus ab. Andererseits spüren wir in New York eine starke Solidarität von anderen linken Gruppen sowie von den neu gegründeten Gewerkschaften (z. B. der Starbucks-Gewerkschaft), die sich unseren Protesten anschließen.

Wir distanzieren uns von Gruppen, die sogenannte die-ins organisieren, sich mit Blut beschmieren oder Kleiderbügel zu Protesten mitbringen. Unser Punkt ist ja: Wir gehen nicht zurück in die 1960er und frühen 1970er Jahre, bevor Roe entschieden wurde, und als viele Menschen aufgrund unsicherer, illegaler Abtreibungen gestorben sind. Wir wollen keine Angst schüren, sondern Hoffnung machen. Der große Unterschied ist, wir haben heute Zugang zu Abtreibungspillen und wir haben ein Netzwerk von Abortion Funds, das finanzielle Unterstützung leistet. Wir werden dieses Urteil nicht befolgen. Wir werden nicht aufhören abzutreiben. Wir werden nicht aufhören, uns gegenseitig zu helfen, und wir werden nicht aufhören, für reproduktive Gerechtigkeit zu kämpfen.

Kamala Harris hat als Antwort der Demokraten dazu aufgerufen, diese Entscheidung mit der Stimmabgabe bei den Zwischenwahlen doch noch zu kippen – hältst du das für realistisch?

Die Biden-Regierung und die Demokrat:innen betonen, dass sie Abtreibungsrechte verteidigen wollen, aber ihre Bemühungen auf Bundesebene halten nicht Schritt mit dieser Rhetorik. Die Tatsache, dass die Demokrat:innen in Washington nicht in der Lage sind, Abtreibungsrechte zu stärken, obwohl sie das Weiße Haus und beide Kammern des Kongresses kontrollieren, hat viele Wähler:innen enttäuscht. Ich spüre deutlich die Frustration über die Untätigkeit der Demokrat:innen auf Bundesebene und höre in linken, feministischen Kreisen immer wieder das Wort ‚desillusioniert‘.

Es stimmt: Das Supreme-Court-Urteil hat das Thema Abtreibung in den Mittelpunkt mehrerer wichtiger Zwischenwahlen katapultiert. Die Wahlen in den Bundesstaaten (etwa von Gouverneur:innen, Generalstaatsanwält:innen, Richter:innen und der Legislative) könnten nun darüber entscheiden, ob Millionen von Amerikaner:innen Zugang zu legalen Abtreibungen haben oder nicht. Viele haben aber das Gefühl, dass die Demokrat:innen – angesichts der hohen Inflation und der niedrigen Zustimmungsraten für Präsident Biden – den Unmut über das Urteil ausnutzen, um Wähler:innenstimmen zu erhaschen, ohne einen konkreten Plan zu haben, wie sie den Zugang zu Abtreibung in den USA gewährleisten und FLINTAs unterstützen werden.

Wenn aber doch noch nicht alles verloren ist: Welche Perspektive siehst du dann noch für FLINTAs in den USA?

Ich lege große Hoffnung in feministische Solidarität und Netzwerke – national und international. Anders als die Demokrat:innen haben wir uns spätestens seit dem Leak des Entwurfs im Mai darauf vorbereitet, dass Roe fallen wird. Wir verbreiten Informationen zu Abtreibungspillen, die per Post in alle 50 Staaten verschickt werden können und sehr sicher sind. Dabei hilft uns Plan C und die europäische Organisation Aid Access. Außerdem gibt es ein solides Netzwerk von regionalen Abortion Funds, das finanzielle Unterstützung für Abtreibungen leistet. Ich habe auch mitbekommen, dass als letzter Ausweg Abtreibungspillen aus Mexiko geschickt werden – kostenlos von dortigen feministischen Kollektiven als Akt der Solidarität mit FLINTAs in den USA. Unser Motto lautet: ‚We will save us.‘ Wir retten uns selber.

Was wünschst du dir von der Bewegung? Und wie können wir hier in Deutschland/der EU sie unterstützen?

Ich wünsche mir von der Bewegung, dass wir uns mehr auf praktische Fragen konzentrieren. Unser Fokus sollte sein: Wie können wir Menschen dabei helfen abzutreiben? Die vollständige Legalisierung von Abtreibung ist dabei natürlich ein wichtiger Faktor – aber nicht der einzige.

Wenn ihr wen aus den USA kennt, könnt ihr Ressourcen zu Abtreibungspillen und Advanced Provision teilen, zum Beispiel Plan C oder Aid Access. Ein großes Problem ist, dass nur 1 von 5 Amerikaner:innen darüber Bescheid weiß. Wenn ihr Geld übrig habt, könnt ihr spenden. Dafür empfehle ich das National Network of Abortion Funds, das Spenden auf regionale Abortion Funds aufteilt und Aid Access bzw. die europäische Mutterorganisation Women on Web. Meine DMs sind immer offen für Fragen. Bitte nicht vergessen: Wir kämpfen in Deutschland den gleichen Kampf: Der §218 muss weg, genau wie weitere Schikanen für ungewollt Schwangere wie Pflichtberatung, Wartezeit und die Gehsteigbelästigung durch Abtreibungsgegner:innen vor Praxen. Der Zugang muss verbessert werden, insbesondere durch die Schließung von Versorgungslücken. Wir sind nicht frei und gleichberechtigt ohne den bedingungslosen und legalen Zugang zu Abtreibung.

Für eine ausführlichere Analyse des Gerichtsurteils und dessen Folgen, aber auch der Frage, warum Abtreibungsrechte eigentlich so stark umkämpft sind und wie wir sie verteidigen können, schaut gerne in unseren Artikel dazu:http://onesolutionrevolution.de/usa-wie-wir-abtreibungsrechte-wieder-zurueck-erkaempfen-koennen/ .




Nahost: US-Präsident Bidens Besuch bei zwei Paria-Staaten

Dave Stockton, Infomail 1193, 21. Juli 2022

US-Präsident Joe Biden hat seine viertägige Reise in den Nahen Osten mit wenig vorzuweisen außer einem weiter beschmutzten Ruf als Verfechter der Menschenrechte.

Die beiden von ihm besuchten Staaten, Israel und Saudi-Arabien, sind nach wie vor von entscheidender Bedeutung für die fortgesetzte Hegemonie der USA über die Region, eine Vorherrschaft, die durch die Ereignisse des letzten Jahrzehnts zwar erschüttert, aber nicht gestürzt wurde. Die Störfaktoren waren nicht nur die Nachbeben des Arabischen Frühlings in Libyen, Sudan und Syrien und die Feindseligkeit von Staaten wie Iran, sondern auch der Trotz von US-Verbündeten wie der Türkei und Saudi-Arabien.

Saudi-Arabien

Der schwindende Einfluss Amerikas wurde in seinem zweiten Zielland, Saudi-Arabien, unter seinem streitbaren Kronprinzen Mohammed bin Salman deutlich sichtbar. Er hat die unabhängige Rolle des Königreichs in der Region gestärkt und führt im Jemen einen blutigen Krieg gegen die Huthis, die vom Iran unterstützt werden. Intern hat er zwar kosmetische Reformen durchgeführt, wie z. B. die Zulassung von Frauen zum Autofahren, aber seine Gegner:innen eingesperrt, darunter auch genau jene Frauenaktivistin, die sich für diese Reformen eingesetzt hat.

Besonders rachsüchtig war er gegenüber Journalist:innen, die ihn kritisierten. Der für Amerika ungeheuerlichste Fall war der von Jamal Khashoggi, einem Kolumnisten der Washington Post und amerikanisch-saudischen Staatsbürger mit Wohnsitz in Virginia. Als scharfer Kritiker des Kronprinzen wurde er in das Konsulat des Königreichs in Istanbul gelockt, brutal ermordet und sein zerstückelter Körper entsorgt.

Während seiner Präsidentschaftskampagne 2020 versprach Biden, das repressive Königreich in einen weltweiten „Paria“ zu verwandeln, falls Khashoggis Mörder:innen nicht vor Gericht gestellt würden. Das ist aussichtslos. Vor einem Jahr kamen die US-Geheimdienste zu dem Schluss, dass es bin Salman selbst war, der die Operation „zur Entführung oder Tötung“ des Journalisten genehmigt hatte.

Jetzt hat sich Biden von einem strengen Kritiker im Wahlkampf, der um liberale Wähler:innen wirbt, die sich um die Menschenrechte sorgen, in einen hartgesottenen „Realisten“ für internationale Beziehungen verwandelt. Obwohl er behauptet, er habe bin Salman bezüglich seiner Verantwortung für die Ermordung des Journalisten angesprochen, hat er mit ihm öffentlich seine Freundschaft bekundet. Dies unterstreicht, dass seine wahren Prioritäten darin bestanden, das Ansehen Amerikas im Nahen Osten zu stärken und die Saudis zu drängen, die Ölproduktion zu erhöhen, um die Weltwirtschaft vor den eskalierenden Treibstoffpreisen zu retten. Es scheint, dass seine Ergebnisse in beiden Punkten vernachlässigbar waren.

Israel

Ein weiterer Beweis dafür, dass für diesen Präsidenten Machtpolitik jedes Mal über Ethik geht, ist seine Reaktion auf den Tod einer anderen Journalistin, Shireen Abu Akleh, deren Mörder:innen Biden nicht beim Namen nennt, weil sie Israelis sind. Die bekannte Al-Jazeera-Journalistin, eine Palästinenserin und US-Bürgerin, wurde von einem israelischen Scharfschützen in den Kopf geschossen, während sie über Razzien im Flüchtlingslager Dschenin berichtete, bei denen mehrere Demonstrant:innen getötet wurden. Biden weigerte sich, ihre Familie auf seiner Reise zu treffen, lud sie jedoch nach Washington ein und vermied es so, sich mit seinen israelischen Gastgeber:innen anzulegen.

Der Grund für das Schweigen des US-Präsidenten wurde in dem Moment deutlich, als er auf dem Ben-Gurion-Flughafen landete und vom israelischen Interimspremierminister Jair Lapid begrüßt wurde. Biden rief aus: „Man muss kein Jude sein, um Zionist zu sein. Die Verbindung zwischen dem israelischen und dem amerikanischen Volk ist tief verwurzelt“. Lapid ließ sich nicht lumpen und lobte ihn als „großen Zionisten“. „Ihre Beziehung zu Israel war immer persönlich“, sagte er und nannte den Präsidenten „einen der besten Freunde, die Israel je hatte“. Beide Männer haben in diesem Punkt Recht.

Die jüngste Frucht von Bidens Zionismus bildete eine „Jerusalemer Erklärung“, die er und der israelische vorläufige Premierminister unterzeichneten. Damit wird die mit dem Ex-Präsidenten Obama unterschriebene 38-Milliarden-Dollar-Vereinbarung über die „Verteidigung“ Israels erweitert. Die palästinensische Frage wurde im Haupttext der Erklärung nicht erwähnt, sondern nur in einem Kodizill (Zusatzverfügung), in dem „die langjährige und konsequente Unterstützung der USA für eine Zwei-Staaten-Lösung“ bekräftigt wird, die, wie ein hochrangiger US-Beamter betonte, nicht von Israel unterzeichnet wurde.

In der Erklärung heißt es auch, dass sich beide Seiten verpflichten, dem Iran niemals zu erlauben, eine Atomwaffe zu erhalten. Lapid nutzte die Gelegenheit, um anschließend zu betonen, dass Israel nicht beipflichte, dass dies mit diplomatischen Mitteln erreicht werden könne. Mit anderen Worten: Er bekräftigte das „Recht“ Israels, die iranischen Atomanlagen anzugreifen. Die beiden Staatsoberhäupter werden ihre Unterstützung für das „Abraham-Abkommen“ der Ära Trump zum Ausdruck bringen, das 2020 zwischen Israel, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain unterzeichnet wurde.

Obwohl Biden kurz mit Mahmud Abbas, dem Leiter der Palästinensischen Autonomiebehörde (PNA), zusammentraf, zeigen seine Prioritäten, dass die Verfolgung der auf unbestimmte Zeit verschobenen „Zweistaatenlösung“ weit unten auf der Liste steht und weit hinter der Stärkung der Beziehungen zu ihren Unterdrücker:innen. Unter Trump wurden die US-Beiträge, die einen großen Teil des PNA-Budgets ausmachen, gekürzt, um Mahmud Abbas unter Druck zu setzen, sich dem „ultimativen Deal“ anzuschließen, den Trumps Schwiegersohn Jared Kushner mit dem damaligen israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu ausgehandelt hatte. Biden hat diese Zahlungen wiederaufgenommen, um sicherzustellen, dass die PNA ihr feindlich gesonnene Organisationen wie den Islamischen Dschihad unter Kontrolle halten kann.

Ein Teil von Trumps Vermächtnis, das Biden immer noch verfolgt, besteht darin, weitere arabische Staaten dazu zu bewegen, Israel anzuerkennen und jegliche aktive Unterstützung für die palästinensische Sache einzustellen. Trumps Pläne sahen die Schaffung einer israelfreundlichen Achse in der Region vor, zu der auch die saudische, jordanische und emiratische Monarchie gehören. Hinzu kommt die ägyptische Militärdiktatur, die von einer enormen gemeinsamen Rente aus den USA und Saudi-Arabien lebt und Tausende von politischen Gefangenen in ihren Gefängnissen hält, die gefoltert und misshandelt werden, ohne dass Washington sich beschwert.

In der Zwischenzeit ist Israel entschlossen, die Palästinenser:innen durch wiederholte Terroranschläge der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) in einem Zustand der apartheidähnlichen Trennung und wirtschaftlichen Verelendung zu halten. Sieben Millionen der insgesamt 14 Millionen Palästinenser:innen leben als Exilant:innen in den umliegenden Staaten der Region. Die Zahl derjenigen, die noch innerhalb der Grenzen von Palästina von 1948 leben, entspricht in etwa der der jüdischen Bürger:innen Israels.

Die Tatsache, dass die Palästinenser:innen in den von Israel kontrollierten Gebieten über weitaus weniger politische Rechte und wirtschaftlichen Wohlstand verfügen, ihnen aber das Recht auf Selbstbestimmung verweigert wird, ist ein unwiderlegbarer Beweis dafür, dass Israel ein rassistischer Siedler:innenstaat ist, der versucht, die Palästinenser:innen als Nation auszulöschen. Dieses Projekt kann nur durch mörderische Gewalt aufrechterhalten werden, wie die Äußerungen von Israels letztem Ministerpräsidenten Naftali Bennett zeigen, der als liberaler als Netanjahu gilt, aber 2013 sagen konnte: „Ich habe in meinem Leben viele Araber:innen getötet – und damit habe ich kein Problem“.

Der Widerstand von Dschenin

Eine wichtige Quelle des anhaltenden Widerstands befindet sich in Dschenin im Westjordanland, wo Shireen Abu Akleh ermordet wurde. In den letzten Monaten hat Israel eine Welle von Razzien im gesamten Westjordanland durchgeführt und damit Zusammenstöße mit militanten Palästinenser:innen ausgelöst, bei denen mindestens 25 Menschen getötet wurden.

Die westlichen Unterstützer:innen Israels, die den Umschwung ihrer eigenen öffentlichen Meinung gegen Israel spüren, insbesondere nach dem Blitzkrieg gegen Gaza und dem Abbruch jeglicher vorgetäuschter Verhandlungen über die chimärische Zweistaatenlösung, haben eine Lügenkampagne gestartet, in der behauptet wird, dass diejenigen, die Palästina unterstützen, Antisemit:innen seien. Dies zeigte sich in der erbitterten Kampagne gegen den lebenslangen antirassistischen Labour-Führer Jeremy Corbyn, dem Verbot der BDS-Bewegung in verschiedenen Ländern und dem Verbot propalästinensischer Demonstrationen durch die deutsche Regierung.

Doch wie das Schicksal der Apartheid in Südafrika gezeigt hat, wird ein reaktionäres rassistisches Projekt nicht ewig Bestand haben. Eines Tages wird Palästina frei sein, als ein säkularer und sozialistischer Staat für Palästinenser:innen und israelische Juden und Jüdinnen, die in Frieden und Gleichheit leben wollen.




USA: Oberster Gerichtshof versetzt Frauenrechten härtesten Schlag seit Generationen

Internationales Sekretariat, Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1191, 28. Juni 2022

Nun haben die reaktionären Kräfte es geschafft. Am 24. Juni wurden die amerikanischen Frauen nach fünfzig Jahren eines begrenzten verfassungsmäßigen Rechts auf Abtreibung dieses Rechts beraubt. Unter dem obszönen Slogan „Recht auf Leben“ und der wissenschaftsfeindlichen Behauptung, Abtreibung bedeute die Tötung von Babys, wurde den Frauen die Souveränität über ihren eigenen Körper entzogen. Kein Wunder, dass Frauen in dem Land, das fast einen halben Kontinent umfasst, auf die Straße gingen, um ihrer Wut und Ablehnung Ausdruck zu verleihen.

Mit einer 5:4-Mehrheit hat der Oberste Gerichtshof das von seinen Vorgänger:innen gefällte Urteil Roe versus Wade aus dem Jahr 1973 aufgehoben, das allen Frauen in den USA das Recht einräumte, eine ungewollte Schwangerschaft zu beenden. Dieses war bereits durch andere Entscheidungen und durch Bundesstaaten mit reaktionären Mehrheiten in ihren Gesetzgebungen und Gerichten eingeschränkt worden, doch nun haben dieselben Kräfte freie Hand.

Sie werden zweifelsohne dazu übergehen, die schwächeren und partiellen Errungenschaften der LGBTIAQ-Menschen und der People of Color in Bezug auf den Grundsatz der persönlichen Autonomie zu beschädigen. Dies ist ein großer Triumph für die religiösen Fanatiker:innen aller Glaubensrichtungen, die die amerikanische Politik bevölkern, trotz einer der ältesten und fortschrittlichsten Errungenschaften der Verfassung, der Trennung von Kirche und Staat.

Die knappe Mehrheit der Fanatiker:innen in dem nicht gewählten Gericht wurde von Donald Trump geschaffen, dem dreistesten sexistischen Präsidenten seit vielen Jahrzehnten, einem Mann, der stolz zugab, dass er Frauen mehrmals sexuell belästigt hatte. Er besaß die Unverfrorenheit zu behaupten, dass „Gott die Entscheidung getroffen hat“ und dafür verantwortlich sei. Dass dieser obszöne Clown nicht wegen offener Aufwiegelung zum Umsturz der Anerkennung seines ordnungsgemäß gewählten Nachfolgers durch den Kongress im Gefängnis sitzt, sagt viel über den Anspruch der USA aus, das weltweite Vorbild für Demokratie darzustellen.

Wenn die fast zwei Drittel der Amerikaner:innen, die sich gegen die Aufhebung des Urteils Roe vs. Wade ausgesprochen haben, es durchgehen lassen, wird das Leben realer, lebender US-Bürgerinnen gefährdet sein. Das Urteil wird nicht das Ende von Abtreibungen bedeuten, sondern nur das Ende legaler und sicherer. Frauen werden in dem Moment sterben, in dem jeder Staat diese ekelhaft falsch benannten „Pro-Leben-Gesetze“ einführt.

Staaten mit republikanischer Mehrheit können nun Gesetze erlassen, die den Schwangerschaftsabbruch weiter einschränken oder ganz verbieten. 13 haben bereits Gesetze im voraus verabschiedet, die ihnen dies praktisch sofort ermöglichen. Einige, darunter Arkansas, Kentucky, Louisiana, Missouri, Oklahoma und South Dakota, haben dies bereits in Kraft gesetzt, und weitere 22 werden ihnen in Kürze folgen. Frauen in diesen Staaten werden versuchen müssen, in Staaten mit liberaleren Regelungen zu gehen, obwohl die reaktionären Staaten Gesetze vorbereiten, die selbst dies schwer bestrafen.

Abtreibungen werden in den meisten Teilen des Südens und des Mittleren Westens illegal sein, wo es für die Ärmsten, oft Women of Color, schwierig sein wird, in einen Staat zu reisen, in dem sie weiterhin legal bleiben. In vielen Staaten werden Gesetze erlassen, die die Frauen selbst kriminalisieren. Mehr als die Hälfte, 58 Prozent, aller US-Frauen im gebärfähigen Alter, etwa 40 Millionen Menschen, leben in diesen Staaten, und ihre Partner:innen und sogar Taxifahrer:innen die ihnen helfen, werden ebenfalls mit hohen Geldstrafen belegt. Der so genannten „Pille danach“ wird die Illegalisierung angekündigt, und sogar die Empfängnisverhütung wird von den Abtreibungsgegner:innen bedroht.

Es liegt auf der Hand, dass diese rechten Kräfte die Frauen in ihren reproduktiven Fähigkeiten einschränken wollen. Sie sind sich bewusst, dass die fehlende Kontrolle darüber durch die Frauen selbst die Grundlage für die Aufrechterhaltung einer patriarchalischen Gesellschaft ist, und dass sie die Uhr auf ihre archaischsten Versionen zurückdrehen. Die Religionen spüren instinktiv, dass das Leiden der Frauen unter diesem System die Zuflucht zu ihrem spirituellen Opium fördert und die Stimmen für die Rechten erhöht.

Aus all diesen Gründen ist das Recht der Frau auf körperliche Autonomie ein Menschenrecht, das historisch mit demselben Prinzip verbunden ist, das auch der Abschaffung der Sklaverei zugrunde lag: der persönlichen Freiheit. Kein Wunder also, dass die Staaten, die sich darauf vorbereiten, Frauen auf diese Weise erneut zu versklaven, oft diejenigen sind, in denen weiße Vorherrschaft und Polizeimorde an Schwarzen immer noch extrem stark ausgeprägt sind.

Aus demselben Grund sollte der Kampf um die Aufhebung dieses Urteils die Unterstützung aller Unterdrückten und Ausgebeuteten in den USA finden, einer Mehrheit, die sich im Obersten Gerichtshof überhaupt nicht widerspiegelt und im Senat, im Repräsentantenhaus und in den Verfassungen der Bundesstaaten, in denen die Unterdrückung der Wähler:innenschaft grassiert, in keiner Weise anerkannt wird.

Auf internationaler Ebene müssen die Frauen- und Arbeiter:innenbewegung und alle fortschrittlichen Kräfte zur Unterstützung unserer Schwestern in den USA mobilisieren. Die jüngsten Bewegungen in Spanien, Polen, Irland und Argentinien zeigen, was getan werden kann. Überall auf der Welt gibt es die gleichen reaktionären Mächte, die durch die Siege ihrer Gesinnungsfreund:innen in den USA ermutigt werden.

Die Botschaft von Vizepräsidentin Kamala Harris bringt die Antwort der Demokratischen Partei auf den Punkt: „Es ist noch nicht vorbei; die Wähler:innen werden das letzte Wort haben“. Mit Blick auf die Zwischenwahlen, die voraussichtlich die Kontrolle der Republikanischen Partei über den Senat stärken und ihr sogar das Übergewicht im Repräsentantenhaus verleihen werden, lautete ihre Botschaft: „Sie haben die Macht, Führer:innen zu wählen, die Ihre Rechte verteidigen und schützen werden.“

Nein! Die US-Frauen müssen antworten: „Wir haben eine viel größere Macht als das. Wir können dieses erzreaktionäre Urteil kippen und unsere Rechte auf der Straße und am Arbeitsplatz wiederherstellen, indem wir Kliniken und ihre Patient:innen, Pflegepersonal und Ärzt:innen durch direkte Massenaktionen verteidigen.“

Eine Massenbewegung von Frauen und ihren männlichen und transsexuellen Unterstützer:innen gegen das Urteil des Obersten Gerichts vom 24. Juni muss in einem ähnlichen Ausmaß ausbrechen wie die Black Lives Matter-Bewegung im Jahr 2020. Sie sollte sich auf die Forderung nach einer Revolution erstrecken, die alle reaktionären Organe und Gesetze hinwegfegt, die sogar den Anspruch der USA, eine demokratische Republik zu sein, entstellen.

Es ist die amerikanische Arbeiter:innenklasse, die diesen Kampf anführen muss, indem sie Massendemonstrationen mit Massenstreiks unterstützt, insbesondere in den Bundesstaaten, die diese abscheuliche Entscheidung anwenden – Staaten, die oft auch über drakonische gewerkschaftsfeindliche Gesetze verfügen.

Es geht dabei um mehr als nur um „Sicherheit in Zahlen“. Es gibt die Kraft, alle Säulen des Hauses der Unfreiheit zu stürzen, das von Republikaner:innen und Demokrat:innen gleichermaßen errichtet wurde, als sie die wirklichen Errungenschaften der amerikanischen Geschichte einschränkten und rückgängig machten: die Abschaffung der Sklaverei, die große Gewerkschaftsbewegung der 1930er Jahre, die Errungenschaften der Bürgerrechte der 1960er Jahre und die Errungenschaften der Frauen und LGBTQI in den 1970er Jahren. Aber nichts wird von Dauer oder sicher sein, bis die Klasse und das System, das diese Monster hervorgebracht hat, der sexistische und rassistische Kapitalismus, endlich auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt werden.




Die Kriegsziele des westlichen Imperialismus in der Ukraine

Dave Stockton, Infomail 1191, 16. Juni

Die Weltlage im Jahr 2022 ist durch mehrere Krisen gekennzeichnet – die unmittelbarste und in ihren globalen Folgen weitreichendste ist der Krieg in der Ukraine, der die Aufrüstung, die Ausweitung der NATO, des weltweit größten kriegführenden Bündnisses, und damit die globale Hegemonie der USA massiv vorangetrieben hat, gepaart mit einer globalen Nahrungsmittelkrise.

Zu diesen Faktoren, die die globalisierte Weltwirtschaft destabilisieren und fragmentieren, kommen noch die Schließungen und Unterbrechungen der internationalen Lieferketten infolge der Covid-Pandemie in den letzten zwei Jahren sowie das Versagen von COP26, des Klimagipfels in Glasgow, etwas gegen die drohende Klimakatastrophe zu unternehmen, das sich in der zunehmenden Serie von Dürren, Überschwemmungen und Waldbränden manifestiert.

Jede dieser Krisen hat ihre Wurzeln im kapitalistischen Profitsystem und im Wirtschaftskrieg zwischen den Großmächten, der sich in Sanktionsregimen und Blockaden ausdrückt. Diese Faktoren sowie die zerstörerischen regionalen Kriege in Syrien, im Jemen, am Horn von Afrika und jetzt in der Ukraine sind alle Ausdruck der höchsten Stufe des Kapitalismus – des Imperialismus.

Die Erweiterung der NATO

In den Jahren 1989 – 1991 hätte man meinen können, dass mit dem Zerfall des Warschauer Paktes und der Wiedervereinigung Deutschlands die Aufgabe der Nordatlantischen Paktorganisation NATO, wie sie von ihren Gründer:innen definiert wurde, abgeschlossen sei. In der Tat stellte Russland in den folgenden 10 Jahren – nach einem massiven Rückgang seines Bruttoinlandsproduktes und dem Ausscheiden der drei baltischen Staaten, der Ukraine und Georgiens – trotz seiner Kriege in Tschetschenien kaum eine Bedrohung für die NATO-Staaten dar.

Unter US-amerikanischem Druck wuchs das Bündnis jedoch weiter und nahm Polen, die Tschechische Republik und Ungarn auf, während Boris Jelzins und später Wladimir Putins Vorschläge, auch Russland beitreten zu lassen oder das Bündnis durch einen gesamteuropäischen Sicherheitsvertrag zu ersetzen, abgelehnt wurden.

Die Interventionen der NATO auf dem Balkan und ihre spätere Beteiligung an Amerikas Kriegen im Nahen Osten zeigten, dass sie weit davon entfernt war, ein defensives oder friedliches Bündnis darzustellen. In der Zwischenzeit erholte sich Russland dank der steigenden Öl- und Gaspreise von seiner Demütigung und begann, sein „Recht“, als „Großmacht“ behandelt zu werden, wieder geltend zu machen und diese Macht im Nahen Osten zu demonstrieren.

Prorussische und sogar neutrale Regime wurden von den so genannten „farbigen Revolutionen“ in Georgien (2003) und der Ukraine (2004) getroffen. Diese hatten zwar echte innenpolitische Ursachen in der Unzufriedenheit mit den oligarchischen Regimen, aber US-Diplomat:innen und „Nichtregierungsorganisationen“ spielten eine offensichtliche Rolle. Diese Putsche zeigten die Gefahr eines ähnlichen Schicksals für Putins zunehmend autoritäres bonapartistisches Regime auf, insbesondere als der Boom der Öl- und Gaspreise mit der Rezession zu Ende ging.

Russischer Imperialismus

Angesichts der wiederholten Weigerung der USA, das kapitalistische Russland mit demselben Respekt zu behandeln wie die Sowjetunion, obwohl es den USA und ihren Verbündeten bei der Besetzung Afghanistans im Jahr 2001 logistisch geholfen hatte, versuchte Wladimir Putin ab 2008, sein Prestige mit Nachdruck wiederherzustellen.

Russland ist mit seiner herrschenden Klasse von milliardenschweren Oligarch:innen, die sich auf einen Rentierkapitalismus stützen, sowie mit der von der Sowjetunion geerbten und von Putin entwickelten Raumfahrt-, Nuklear- und Waffentechnologieindustrie wirtschaftlich in den imperialistischen Club aufgestiegen. Putins Regime beschnitt die unabhängige Macht der Oligarch:innen und stellte die staatliche Kontrolle über strategische Industrien wieder her.

Im Jahr 2008 reagierte Putin auf die prowestliche Ausrichtung Georgiens mit einem kurzen, aber entschiedenen Einmarsch in die autonomen Regionen Abchasien und Südossetien. Dies bildete das Muster für seine Interventionen im Jahr 2014, als der prorussische ukrainische Präsident Janukowytsch durch den Maidan-Putsch gestürzt wurde, was die Einnahme der Krim und das Eingreifen russischer Streitkräfte zur Unterstützung der Separatist:innen in den Gebieten Luhansk und Donezk zur Folge hatte.

Die Invasion der Ukraine

Beim Maidan-Putsch von Dezember 2013 bis Februar 2014 wurde der gewählte prorussische Präsident Wiktor Janukowytsch von einer Allianz aus ukrainischen Neoliberalen, rechtsextremen Nationalist:innen und Faschist:innen mit Hilfe von US-Diplomat:innen und Nichtregierungsorganisationen gestürzt. Auf diese Weise wurde die Ukraine aus der Umlaufbahn Putins in die der NATO gebracht und zu einer Halbkolonie des Westens, die unter wirtschaftlicher Kontrolle des Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Union steht und Waffen und Ausbildung durch die NATO erhält.

Als Reaktion darauf beschlagnahmte Putin die Krim mit ihrem riesigen Marinestützpunkt und unterstützte – zunächst etwas widerwillig – eine De-facto-Abtrennung von Teilen von Luhansk und Donezk, die von den nationalistischen Maßnahmen des neuen Regimes in Kiew und den von Faschist:innen begangenen Gräueltaten entfremdet waren.

Die russische Invasion am 24. Februar dieses Jahres hat die Situation noch verschärft. Die Gräueltaten, die wir in Falludscha und Aleppo gesehen haben, sehen wir jetzt in Butscha, einem Vorort von Kiew, und die Verwüstung von Mariupol als Ergebnis eines dreimonatigen erbarmungslosen Bombardements, bei dem 95 Prozent der Stadt zerstört wurden und Tausende ums Leben kamen. Dies wiederholt sich nun in anderen Städten in den östlichen Provinzen Luhansk und Donezk.

Die Flucht von fünf Millionen Flüchtlingen über die Westgrenzen der Ukraine und die Vertreibung von über sieben Millionen Menschen innerhalb des Landes zeigen das Ausmaß der Zerstörung. Dies ist der Krieg einer imperialistischen Macht, die die Souveränität einer Nation verletzt, die nach Ansicht des russischen Diktators kein Recht hat zu existieren.

Auch wenn Putin und sein Regime die unmittelbaren Aggressor:innen sind, so haben doch die Handlungen der Vereinigten Staaten und ihrer europäischen Verbündeten seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und insbesondere seit 2013 diesen Krieg ebenfalls provoziert. Zusätzlich zu den Übergriffen der NATO auf Osteuropa haben die USA und andere westliche Länder die Ukraine seit 2014 mit Raketensystemen und kleinen Drohnen bewaffnet, die in der Lage sind, russische Panzer auszuschalten, sowie mit Boden-Luft-Raketen, um russische Flugzeuge abzuschießen, und ihre Streitkräfte für eine asymmetrische Kriegsführung umgeschult.

Allein die USA haben der Ukraine in diesem Zeitraum mehr als 2,5 Mrd. US-Dollar an Militärhilfe zur Verfügung gestellt und seit Februar weitere 3 Mrd. an Rüstungsgütern, darunter 1.400 Stinger-Flugabwehrraketen und 5.100 Javelin-Panzerabwehrraketen sowie Mi-17-Hubschrauber, Patrouillenboote, Langstreckenartillerie, Radarsysteme zur Drohnenabwehr und Küstenschutzschiffe. Am 19. Mai brachte Präsident Biden einen Gesetzentwurf ein, der der Ukraine weitere 40 Mrd. US-Dollar an Unterstützung verspricht.

Washingtons Ziel ist es nicht nur, Russland strategisch zu schwächen, sondern auch seine Vorherrschaft über die eigenen Verbündeten, wie Deutschland und Frankreich in Europa, und die untergeordneten Länder in der ganzen Welt zu behaupten. Der Beweis, dass sich niemand mit den USA anlegt und ungeschoren davonkommt, ist eine Lektion, die sich vor allem an den strategischen Rivalen China unter Xi Jinping richtet.

Der neue Kalte Krieg

Teil dieser Strategie ist die Rückkehr zur Politik des Kalten Krieges gegenüber Russland, die in der beispiellos harten Sanktionsblockade gegen dieses Land zum Ausdruck kommt. Als Reaktion darauf hat es die ukrainischen Getreideexporte über Odessa blockiert, was zu einer weltweiten Nahrungsmittelknappheit geführt hat. Russland hat eine Lockerung der Sanktionen im Gegenzug für die Aufhebung der Blockade gefordert. Unterdessen drohen die NATO-Länder unter Führung Großbritanniens mit der Entsendung von Kriegsschiffen, um den Hafen zu öffnen, wobei es zu einem direkten Zusammenstoß mit der russischen Marine kommen könnte.

Die US-Strategie besteht in der Ausweitung der NATO auf ganz Skandinavien, kombiniert mit dem Aufbau eines NATO-Äquivalents im asiatisch-pazifischen Raum, einer von den USA dominierten Allianz für die Konfrontation mit China. Sie versuchen, den „unaufhaltsamen Aufstieg“ Chinas zu verhindern, den sie in den 1990er Jahren und im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts unterstützt haben. Doch als China, das den Kapitalismus wiederhergestellt hat, wenn auch unter einer vermeintlich kommunistischen Partei, sich zu einer eigenständigen imperialistischen „Großmacht“ entwickelte, drohte dies, ein „zweites amerikanisches Jahrhundert“ zu beenden.

Aus diesem Grund haben die USA unter Barack Obama und Hillary Clinton eine „Hinwendung zu Asien“ angekündigt. Dies wurde durch Trumps chaotische Präsidentschaft etwas unterbrochen, aber Joe Biden hat die Strategie seines  Vorgängers von der Demokratischen Partei noch einmal aufgegriffen. Zusammen mit Australien und dem Vereinigten Königreich hat er AUKUS gegründet, einen Pakt zur Lieferung von Atom-U-Booten an Australien.

Biden ist auch dabei, die so genannte Quad (den vierseitigen Sicherheitsdialog) – Australien, Japan, Indien und die USA – sowie den Indo-Pazifischen Wirtschaftsrahmen aufzuwerten. Washington bemüht sich intensiv darum, Indien enger in sein System einzubinden, obwohl Premierminister Narendra Modi sich weigert, sich den Sanktionen gegen Russland, einem wichtigen Waffenlieferanten Indiens, anzuschließen. Bidens Versprechen, Taiwan im Falle eines Angriffs durch China militärisch zu verteidigen, basiert auf diesem neuen Militärbündnis, das gerade im Entstehen ist.

Deutschland, das sich lange Zeit dem Druck der USA widersetzte, seine Verteidigungsausgaben auf das NATO-Niveau von 2 % zu erhöhen, das sich zunächst weigerte, das Nord-Stream-2-Pipeline-Abkommen aufzugeben, und weiterhin auf russische Gas- und Öllieferungen angewiesen ist, sieht sich nun gezwungen, seine Militärausgaben massiv zu erhöhen und sich um Treibstofflieferungen aus Quellen in oder nahe den USA und ihren Verbündeten im Nahen Osten zu bemühen.

All dies wurde unter dem sozialdemokratischen Bundeskanzler Olaf Scholz erreicht, dessen Partei lange Zeit die Fortsetzung der Wirtschaftsbeziehungen zu Russland als Teil einer größeren Autonomie der EU gegenüber Washington verteidigt hat, ein Ziel, das Frankreich noch unverblümter verfolgt. Diese Politik liegt nun in Trümmern, ebenso wie die jahrhundertelange Neutralität Finnlands und Schwedens.

Das Ziel der USA und ihrer Verbündeten bildet nicht die Befreiung der Ukraine oder der Schutz der Demokratie in Taiwan, sondern Putin und Xi Jinping davon abzuhalten, Amerika und seine untergeordneten Verbündeten und Halbkolonien in der ganzen Welt in Schwierigkeiten zu bringen.

Krieg und Revolution

Die Schrecken und das Elend, die durch Putins Invasion verursacht wurden, und das wirtschaftliche Chaos, das durch die Antwort der NATO droht, werfen die Frage auf, wie ein solcher Krieg beendet werden kann. Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj hat verschiedentlich angedeutet, dass ein Waffenstillstand und sogar eine Friedensregelung möglich sein könnten, einschließlich des Verzichts des Landes auf einen NATO-Beitritt im Gegenzug zu einer gesamteuropäischen Verteidigungsregelung, aber Sprecher:innen der USA sowie der Druck von ukrainischen Rechtsnationalist:innen und Faschist:innen schlossen dies schnell aus.

Sicher ist, dass keiner der Kombattanten, ob Putin, Selenskyj, Biden, Johnson oder die Staats- und Regierungschefs und -chefinnen der EU, diesen Krieg auf eine Weise lösen wird, die eine stabile und dauerhafte Regelung für die Völker in der Region gewährleistet. Auf keine/n von ihnen ist Verlass, wenn es darum geht, eine demokratische und dauerhafte Lösung zu suchen oder anzubieten.

Seit über einem Jahrzehnt sind wir in eine neue Periode der innerimperialistischen Rivalität eingetreten, des Afghanistan- und Irakkrieges sowie der anderen Interventionen im Kampf gegen den Terror.

Außerdem endete die Boomphase der Globalisierung mit dem Einbruch von 2008. Die Senkung der Zinssätze auf nahezu null in den 2010er Jahren, um den Aufschwung zu fördern, führte nicht zu einer Rückkehr zu ernsthaftem Wachstum. Jetzt heizen selbst vorsichtige Erhöhungen der Zentralbankzinsen eine Inflation ohne Wirtschaftswachstum (Stagflation) an. Der Krieg und die Sanktionen könnten durchaus eine ausgewachsene Rezession auslösen.

Die Politik der Arbeiter:innenbewegungen aller Länder gegenüber dem aktuellen Konflikt sollte derjenigen entsprechen, die revolutionäre Sozialist:innen wie Karl Liebknecht und Lenin während des Ersten Weltkriegs verfolgten: Der Hauptfeind steht im eigenen Land! In den westlichen Ländern müssen wir uns gegen alle weiteren militärischen Interventionen und den Anspruch des Westens wenden, eine gerechtere oder demokratischere Version des Kapitalismus zu vertreten, im Gegensatz zu den autoritären Regimen von Putin oder Xi. Die jahrhundertelange globale Unterdrückung durch unsere eigenen kapitalistischen Oberherr:innen, die sich bis in die Gegenwart erstreckt, entlarvt solche Behauptungen als völlig haltlos.

Heute kämpfen wir für den Abzug aller russischen Streitkräfte aus der Ukraine, die Beendigung des G7-Sanktionsregimes und der russischen Blockade der ukrainischen Häfen, die Auflösung sowohl der NATO als auch der Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit (OVKS) und dafür, den Krieg in der Ukraine in eine Revolution gegen die Herrscher:innen beider Länder zu verwandeln und den Weg zu den sozialistischen Vereinigten Staaten von Europa zu öffnen.