Weder neu, noch internationalistisch: Die LINKE und der „neue Internationalismus“

Leo Drais, Neue International 279, Dezember 2023/Januar 2024

„Wir setzen dagegen auf Deeskalation, globale Gerechtigkeit und zivile Konfliktlösung, um der sich zuspitzenden Blockkonfrontation eine friedliche Alternative entgegenzusetzen. Das meint eine Politik, die nicht der Logik des Militärischen folgt, die die Bedrohung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit von innen und außen ernst nimmt, aber grenzübergreifend Ausgleich, Abrüstung und sozialer Gerechtigkeit verpflichtet ist. Eine Entspannungspolitik, die internationales Recht und den Weg der Diplomatie und Verhandlung stärkt. Die endlich die Fluchtursachen bekämpft – nicht die Geflüchteten. Die solidarischen Handel und gemeinsame Entwicklung stärkt, statt Standortkonkurrenz und neokoloniale Ausbeutung zu verschärfen. Die aktiv jene Menschen, Organisationen, Gewerkschaften und Bewegungen unterstützt, die für Demokratie und Gerechtigkeit eintreten, anstatt weiter Deals mit Diktatoren zu machen. Die dafür sorgt, dass die EU nicht ein Treiber des Wettrüstens bleibt, sondern eine Friedensunion wird.

Das kann gelingen mit einem neuen Internationalismus, der ohne Doppelstandards Völkerrecht und Menschenrechte achtet – und überall für Gerechtigkeit, Kooperation und Demokratie eintritt. Die Grenzen verlaufen zwischen oben und unten, unser Kampf für Gerechtigkeit ist universell. Denn es braucht weltweit soziale Gerechtigkeit, eine klimagerechte Wirtschaft und Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und handlungsfähige internationale Strukturen.“ (Linkspartei, Wahlprogrammentwurf zur Europawahl 2024)

Alt und bricht sofort

Das, was sich weiter Linkspartei nennt, in das über 1.000 neue Genoss:innen nach dem ersehnten Weggang Sahra Wagenknechts und ihrer Sänftenträger:innen eingetreten sind, wird nicht müde zu betonen, dass jetzt alles besser würde. Aufbruchstimmung, alles neu, beziehungsweise: Back to the roots. Und das trifft es. Denn der oben zitierte „neue Internationalismus“ ist gar nicht so neu. Vor zehn Jahren hätte das Ganze mehr oder weniger genauso im Wahlprogramm der LINKEN stehen können und damals wie heute wäre auch eine Sahra Wagenknecht damit zufrieden. Hinter floskelhaft Unkonkretem kann sich weiterhin fast alles und jede/r sammeln. Es ist ein Internationalismus, der außer dem Namen wenig Internationalistisches in sich trägt, eine Klammer, die Regierungssozialist:innen, Bewegungslinke und den Rest wie mit einem porösen Einweckgummi zusammenhält.

Und während der Gummi alt und ausgeleiert ist und nur durch den Weggang des Wagenknechtflügels eine gewisse Entlastung erfährt, wiegt die veränderte Weltlage so schwer. Die Linkspartei spricht ja selbst von einem „Epochenbruch“. Doch aus dieser Erkenntnis folgt keine Revision des Programms. Die alten Antworten sollen auch in der neuen Zeit die richtigen sein, dabei waren sie es in der „alten“ schon nicht.

Denn was so schön und einfach klingt – „friedliche Alternative“, „Ausgleich“, „Abrüstung“, „solidarischer Handel“, „soziale Gerechtigkeit“, „Menschenrechte“ – das ist fromm im religiösesten Sinn. Es wird geglaubt, versprochen und nicht analysiert. Fest geglaubt daran, dass Kapitalismus „fair“ und „friedlich“ gehen könne. Ein fortgesetzter Gottesdienst, der die Illusion streut, das Hier und Jetzt könnte einfach so anders werden. Das steht so zwar nicht da, aber es ist, worauf die Politik der Linkspartei wie eh und je hinausläuft. Oder besser: nicht hinausläuft. Denn nur weil sich etwas gewünscht wird, wird es nicht passieren. Die kapitalistische Welt ist eben eine ganz konkrete, von Widersprüchen durchzogene, in der Konkurrenz überhaupt das ist, worin sie sich verwirklichen kann. Selbst wenn die Linkspartei an der Regierung wäre, mit absoluter Mehrheit, würde alles, was sie sich wünscht, an diesen Sachzwängen zerrreißen und zerbrechen. Es gibt keinen Kapitalismus ohne Ausbeutung und Konkurrenz, die die Ausbeutung immer weiter zuspitzt und eben zu Neokolonialismus führen muss.

Das weiß sie vielleicht auch selbst. Aber ihr Wahlprogramm ist ja auch erst mal nur ein Stimmenfänger und dann sieht man, was möglich ist, innerhalb des Systems, mit ein bisschen sozialer Bewegung und Parlamentarisieren. Wenn aber die Welt nicht grundsätzlich infrage gestellt wird, was ist dann die Politik der LINKEN anderes als eine nationale, kapitalistische? Ihre „friedliche Alternative“ ist eine Lösung des Ukrainekrieges am Verhandlungstisch der Großmächte Russland und NATO, keine des Selbstbestimmungsrechts der Menschen, die in der Region leben. Ihr „Völkerrecht“ ist das der UNO und damit einer imperialistischen Institutionen schlechthin. Ihr „solidarischer Handel“ ist immer noch Ausbeutung.

So wenig neu wie das Programm für ein „Comeback“ ist, so wenig neu ist eigentlich auch unsere Kritik daran. Wir haben die Programme der Linkspartei in den letzten Jahren wiederholt Kritiken unterzogen, auch hinsichtlich des Internationalismus, der nur so halbgar daherkommt. Was sich jedoch mit der „Epochenwende“ durchaus verändert, ist, dass Ansprüche früher mit der Realität kollidieren, wobei die kapitalistische Realität bei diesem Zusammenprall keinen Schaden nimmt, wohl aber die Linkspartei und die, die an sie glauben oder doch wenigstens ein kleines bisschen in Ermangelung von Alternativen auf sie hoffen. Die Partei ist getrieben von der Welt.

Offene Grenzen

Als Beispiel dafür dient die Forderung nach offenen Grenzen, inzwischen entsorgt und opportun durch ihre Negation ersetzt, nämlich der Absage an Grenzkontrollen (Beschluss des Parteivorstandes vom 23. Oktober 2023). Natürlich war das mit den offenen Grenzen nie wirklich ernstgemeint. Solange es eine im Vergleich zu heute überschaubare Migration gab (die schon 2014 für Tausende den Tod im Mittelmeer bedeutete), war das etwas, womit man sich gut schmücken konnte.

Dann kam 2015, dann die AfD und es stellte sich wirklich die Frage, wie mit Millionen Geflüchteten umgegangen werden soll. Die Antwort oben: Fluchtursachen bekämpfen. Das ist zwar an sich richtig, aber es verkommt zur Phrase, wenn es als Ersatz für eine konkrete Antwort herhalten soll, ob Hunderttausende Geflüchtete aufgenommen werden sollen oder nicht. Man weicht also aus und setzt auf „Gerechtigkeit“ usw., also auf Plattitüden.

Das ist einfacher, als offene Grenzen wirklich mal konsequent weiter zu denken und jenen zu vermitteln, die tatsächlich eine damit verbundene Angst haben, jedoch noch nicht in den Fängen der AfD oder von BSW stecken. Dies nicht zu tun, heißt ansonsten, dass sich DIE LINKE im Endeffekt unter jene einreiht, für die Grenzkontrollen usw. alternativ sind. Sie mag zwar die Politik der Regierung in einzelnen Fällen kritisieren, aber selbst formuliert sie in dieser einen Grenzfrage eben keine Alternative.

Dass offene Grenzen mit der bestehenden Realität nicht vereinbar sind, ist dabei der Linkspartei selbst klar, sonst würde sie an der Idee festhalten. Aber obwohl, ja weil sie mit der imperialistischen Weltordnung unvereinbar ist, halten z. B. wir an der Idee fest. Sie führt im Grunde sofort zu der Frage: Wie soll die Gesellschaft, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit aussehen? Wer antirassistisch sein will, der muss dafür sein, dass alle Menschen das Recht haben, überall auf der Welt zu leben. Alles andere ist geheuchelt. Den Weg zu so einer Welt zu zeichnen und vorstellbar zu machen, das macht einen wirklichen Internationalismus aus. Daher muss Antirassismus als integraler Teil des Klassenkampfes verstanden werden. Verteilung der Arbeit auf alle, Sicherung von Wohnraum und soziale Absicherung für alle, Enteignung internationaler Konzerne, ein Plan zur Reparation der Schäden in der halbkolonialen Welt, multilinguale Ämter usw. sind davon genauso Eckpunkte wie eben die offenen Grenzen.

Ukraine

Ein anderes Beispiel für den halbgaren Internationalismus ist die Haltung zur Ukraine. Hier offenbart sich außerdem, dass der in der Partei weit verbreitete Pazifismus keine Antwort auf die Kriegsgefahr bietet. Zwar muss zugutegehalten werden, dass diese Pazifist:innen nicht so wie viele andere vom Krieg einfach umgeworfen wurden und auf der Seite der NATO landeten. Trotzdem stellt sich die Frage: Wenn man der Ukraine das Recht auf Selbstverteidigung zugesteht, wie soll sie dieses dann wahrnehmen? Zu sagen, dass mehr Waffen keinen Frieden bringen, dieser nur diplomatisch erreichbar sei, und an Putin, Biden und Scholz zu appellieren, sich doch an einen Tisch zu setzen, bedeutet im Grunde nur, den Großmächten der Welt zuzugestehen, dass sie über Krieg und Frieden und über die „Friedensordnung“ entscheiden. Das heißt jene, die sich nicht nur auf militärischem Gebiet im Kampf um eine Neuaufteilung der Welt befinden, sollen entscheiden, wie die Ukraine neu aufgeteilt wird. Ein solcher imperialistischer Frieden würde allenfalls die geostrategische Konfrontation, die den Krieg um die Ukraine auch, wenngleich nicht ausschließlich prägt, in neue Formen gießen. An der Aufrüstung, der Expansion der NATO wie ihrer imperialistischen Rivalität mit Russland und China würde das nichts ändern. Aber alles ist, was und wie es ist, so scheiße es auch ist.

Allgemein gesteht DIE LINKE zwar der Ukraine das Recht auf Selbstverteidigung gegen die imperialistische Invasion Russlands zu. Aber die Frage, wie die Anerkennung dieses Selbstbestimmungsrechts, das ohne die Mittel zur seiner Umsetzung nichts wert ist, mit dem Kampf gegen jede imperialistische Einflussnahme in der Ukraine verbunden werden kann, stellt sie sich erst gar nicht.

Als Revolutionär:innen gestehen wir zwar der Ukraine zu, sich die Mittel für ihre Verteidigung zu beschaffen, wir lehnen aber Forderungen an die westlichen imperialistischen Mächte, sich einzumischen, ab und treten offensiv für ein Ende der Sanktionen gegen Russland ein, weil diese integraler Teil eines neuen Kalten Krieges zwischen den Großmächten sind.

Bezüglich der Waffenlieferungen an die Ukraine geht es vor allem darum: Wie kann dafür gesorgt werden, dass diese nicht zur Aufrüstung der NATO in Polen oder im Baltikum genutzt werden? Im Endeffekt bedeutet es zu fordern, dass Waffentransporte nicht durch die Armeen und NATO-Staaten kontrolliert werden, sondern durch die Transportarbeiter:innen selbst. Immerhin gibt es in Europa kleine Beispiele, wo sowas passierte. Es verweist aber auch auf das, was wirklich dem Krieg das Handwerk legen kann.Nicht die Diplomatie der Imperialist:innen, sondern eine internationale Antikriegsbewegung auf Straßen, Gleisen und in Rüstungsfabriken. Nur diese wäre in der Lage die Unterstützung des ukrainischen Selbstbestimmungsrechtes und den Kampf gegen die Imperialist:innen auf allen Seiten miteinander zu kombinieren. Eine solche Bewegung müsste in klarer Opposition zur Selenskyj-Regierung stehen und die linken und gewerkschaftlichen Kräfte in der Ukraine unterstützen und zwar vor allem jene, die für von allen bürgerlichen und imperialistischen Kräften unabhängige Arbeiter:innenpolitik einstehen. Klar sind wir davon weit weg. Wäre trotzdem die Aufgabe der Linkspartei, vermittelt über ihren Einfluss in Gewerkschaften, so etwas aufzubauen. Es ist allemal sinnvoller, als für ein Ende der Kriege durch UNO, Diplomatie und Pazifismus einzutreten. Es wäre die Bereitschaft zum Klassenkampf: sich darauf vorzubereiten, allem, was ist, glaubwürdig den Krieg zu erklären.

Palästina

Und damit kommen wir zu Palästina, heute der Gretchenfrage, wenn es um internationale Solidarität deutscher Linker geht. Im Bundestag hatte sich die Linkspartei allen anderen Parteien schnell angeschlossen, als es um die Verurteilung des Hamasterrors und die Solidarität mit Israel ging.

Auch wir verurteilen die Ermordung unschuldiger Zivilist:innen am 7. Oktober und lehnen die Politik und Strategie der Hamas ab. Aber das ändert nichts daran, dass der palästinensische Widerstand gegen die seit Jahrzehnten andauernde Vertreibung und Besatzung auch unter einer schlechten, reaktionären Führung wie jener der Hamas legitim ist.

Wenn, wie Gregor Gysi sagt, die Palästinenser:innen die Unterdrückten sind, dann stellt sich für Linke die Frage: Wie kann diese Unterdrückung beendet werden? Dieser Weg führt darüber, dass eine linke Alternative zur Hamas aufgebaut werden muss, die den Kampf nicht einfach für sich selbst und eine Zwei-Staaten-Lösung führt, sondern wirklich ein Programm bietet, was jede Unterdrückung in der Region beendet. Die der Palästinenser:innen durch Israel. Die palästinensischer Frauen in einer extrem konservativen Gesellschaft. Die der rassistisch unterdrückten Israelis durch den Zionismus. Der Weg dahin führt nicht über eine Unterstützung des Staates, der wesentlich die Ursache für die heutige Situation darstellt. Man kann solidarisch mit ermordeten und entführten Zivilist:innen sein, ohne sich auf die Seite des Staates zu stellen, der auf ihrem Pass steht.

Das aber hat die Linkspartei nicht getan. Sie bietet auch heute keine Perspektive und keine klare Unterstützung der Unterdrückten, weder vor Ort noch in Palästina. Sie landet maximal dort, wo wir sie schon oben kritisierten: bei der Illusion eines Völkerrechts, einer gerechten Weltordnung in einer grundsätzlich ungleichen Welt. Bei zähen Debatten, bei verwundenen Begründungen, warum man da steht, wo man steht. Damit ist die Linkspartei noch weniger glaubwürdig als alle anderen Parteien.

Denn während diese den Boden, auf dem sie agieren – den deutschen Imperialismus  –, auch verbal gar nicht in Frage stellen und sich eben für diesen strategisch in die Bresche werfen, wenn auch mit unterschiedlichen Ideen, so bezeichnet sich die Linkspartei ja schon als eine demokratisch-sozialistische Partei. Weder in Palästina noch der Ukraine noch sonst wo ist jedoch ersichtlich, wie ihr Selbstverständnis zu einer demokratisch-sozialistischen Welt werden kann. Und, das sei mal unterstellt, auch wenn der Traum davon bei vielen Mitglieder ein aufrichtiger ist, in der Realität ist das nur eine verschwommene Erinnerung an die letzte Nacht und genauso viel wert.




Freiheit für Boris Kagarlitsky!

Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1229, 29. Juli 2023

Am 25. Juli wurde der russische Marxist, Soziologe und linke Kritiker des Putin-Regimes, Boris Kagarlitsky, vom russischen Geheimdienst FSB (Föderaler Dienst für Sicherheit der Russischen Föderation; Inlandsgeheimdienst) festgenommen und inhaftiert. Das Gericht in Syktywkar (Hauptstadt der Republik Komi; Nordwestrussland) ordnete eine Untersuchungshaft bis zum 24. September an. Nach Berichten des linken Internetportals Rabkor (Arbeiter:innen-Korrespondenz) wird ihm die Rechtfertigung des Terrorismus und Propaganda für diesen vorgeworfen, wofür ihm bis zu fünf Jahre Haft drohen.

Die Anklage ist an den Haaren herbeigezogen. Sie wirft auch ein grelles Licht auf die Methoden des russischen Regimes, die an die Fabrikationen des Zarismus und Stalinismus erinnern. Als Vorwand für seine Verhaftung dient ein Telegram-Post, das Kagarlitsky am 8. Oktober 2022 nach dem Anschlag auf die Krimbrücke veröffentlicht hatte und wo er das Objekt als strategisch und symbolisch bezeichnet, das die Größe und Macht des Putin-Regimes manifestieren sollte – ein Prestigeprojekt, das die Fähigkeit des russischen Staates zeigen sollte, trotz Ineffektivität, Korruption und Plünderung der Massen „Großes“ zu leisten.

Der Anschlag auf eines der bestbewachten Bauwerke der Welt war daher, so Kagarlitsky, auch ein Schlag, der die Schwächen und Verwundbarkeit des russischen Despotismus offenbarte.

Das reichte als Vorwand für die Festnahme und Anklageerhebung. Es ist kein Zufall, dass einer der wenigen im Land verbliebenen offenen Kritiker:innen des Putin-Regimes und des reaktionären imperialistischen Angriffskriegs jetzt festgenommen wurde. Seit dem Wagner-Putsch verschärft der Staatsapparat die Verfolgung von Oppositionellen aller Richtungen, darunter rechten, monarchistischen, aber auch linken Kräften.

Zweifellos handelt es sich dabei um einen politischen Akt, der nicht nur Boris Kagarlitsky zum Schweigen bringen, sondern die gesamte linke und sozialistische Opposition weiter einschüchtern soll. Kagarlitsky selbst ist nicht nur ein marxistischer Soziologe und Analyst, sondern war auch einer der wenigen bekannten linken Oppositionellen, der sich von Beginn an eindeutig gegen den russischen Angriff auf die Ukraine aussprach und die sog. Spezialoperation Krieg nannte. Er verwies von Beginn an besonders stark auf die

inneren Widersprüche des russischen Kapitalismus, die zum Krieg geführt hätten. Dabei legte er unserer Meinung nach zu wenig Augenmerk auf andere Kriegsursachen, insbesondere auf den Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen alten und neuen Großmächten, der sich gerade in der Ukraine manifestierte. Doch das war und ist für das Putin-Regime zweifellos nebensächlich. Ihm gelten alle Kriegsgegner:innen als Vaterlandsverräter:innen.

Anders als viele eher liberal eingestellte russische Linke kritisierte Kagarlitsky 2014 das prowestliche, aus dem Maidan hervorgegangene reaktionäre Regime in Kiew, das sich auf rechte und faschistische Kräfte stützte, scharf. Er solidarisierte sich zu Recht mit den Gewerkschafter:innen, die in Odessa ermordet wurden, wie auch mit dem Widerstand in Donezk und Luhansk. Das macht ihn jedoch nicht blind gegenüber dem reaktionären imperialistischen Angriff Russlands, den er von Beginn an scharf verurteilte.

Genau diese Haltung machte ihn zu einem Ziel des Putin-Regimes – und zwar schon lange vor dem Krieg. 2018 wurde das von ihm geleitete Institut für Globalisierung und soziale Bewegungen als ausländische Agentur eingestuft. Im April 2022 wurde er persönlich auch vom russischen Staat als „ausländischer Agent“ kategorisiert – und damit seine Arbeit drastisch eingeschränkt.

Auch wenn sich Kagarlitsky nach anfänglichen Sympathien für den Trotzkismus in den 1980er und 1990er Jahren vom revolutionären Marxismus entfernte und die marxistische Staats- und Revolutionstheorie, insbesondere die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats, ablehnte, so blieb er immer ein lesens- und überdenkenswerter Analytiker und Kämpfer. Schon unter dem Stalinismus betätigte er sich oppositionell, was noch unter Breschnew zu Festnahmen und Haft führte. Ähnlich erging es ihm unter der Jelzin-Ära. 2021 saß er wegen Protesten gegen die Dumawahl 10 Tage im Gefängnis. Offenkundig schloss er auch mit dem Putin-Regime keinen Frieden.

Die Festnahme und Anklage gegen Boris Kagarlitsky hat zu einer breiten internationalen Solidarisierung geführt, der sich alle linken, kommunistischen, sozialistischen und Organisationen der Arbeiter:innenbewegung anschließen sollten. Doch nicht nur Boris, die gesamte russische Antikriegsbewegung und insbesondere alle linken Kräfte, die sich gegen die Diktatur Putins, gegen Terror und Repression im Inneren und den Krieg gegen die Ukraine wenden, brauchen unsere Unterstützung!

  • Freiheit für Boris Kagarlitsky! Solidarität mit der russischen Antikriegsbewegung! Freilassung für alle festgenommen Kriegsgegner:innen!

  • Rücknahme aller sog. Antiterrorgesetze und Einschränkungen des Demonstrations- und Versammlungsrechts!



Tragödie und Farce – der „Wagner“-Putsch

Martin Suchanek, Infomail 1226, 26. Juni 2023

Fast so schnell wie der Spuk begonnen hatte, war er auch vorbei. Am 23. Juni verkündete der Chef und Eigentümer der paramilitärischen russischen Gruppe Wagner, Prigoschin, einen „Marsch für Gerechtigkeit“ auf Moskau an. Auch wenn es hieß, dass sich nicht direkt gegen Putin, sondern „nur“ gegen Verteidigungsminister Sergei Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow richte, stand ein Putsch im Raum.

Bis zu 25.000 Soldaten mobilisierte die Wagner-Gruppe. Innerhalb weniger Stunden besetzte sie die militärischen Kommandostellen in Rostow/Don, dem Kommandozentrum der Armee im Ukrainekrieg, und rückte auf Moskau vor.

Putin erklärte die Wagner-Truppe zu „Verrätern“ und drohte mit allen erdenklichen Mitteln, um sie zu stoppen und bestrafen. Prigoschin seinerseits kündigte an, alle zu vernichten, die sich einen Söldern in den Weg stellten.

Rund 200 Kilometer vor der Hauptstadt endete der Vormarsch so überraschend, wie er begonnen hatte – mit dem Rückzug der Wagner-Truppen. Vermittelt hatte dieses Ende der Präsident von Belarus, Aljaksandr Lukaschenka. Eine große bewaffnete Konfrontation blieb aus. Die Anklage gegen Prigoschin wurde fallengelassen, die „Aufständischen“ pardoniert. Schließlich hätten sie ja in der Ukraine, in Syrien, Mali und bei sonstigen Schlächtereien „Großes“ für Russland geleistet.

Konflikt im Regime

Der ebenso überraschende wie überraschend abgeblasene Putsch erwischte nicht nur Putin auf dem falschen Fuß. Die gesamte Weltöffentlichkeit spekulierte, immer neue „Nachrichten“, Verlautbarungen, Insider(des)informationen und widerstreitende „Expert:innen“ warten mit ihren Einschätzungen auf. Der amerikanische Geheimdienst sollte schon vorab informiert gewesen sein, heißt es. Andere meinen, auch der russische hätte etwas gewusst. Die einen sprachen von einem Putschversuch, andere meinten, es wäre eher eine inszenierte Auseinandersetzung gewesen. Und wie der Beginn, so gab und gibt auch das Ende des „Marsches für Gerechtigkeit“ Raum zur Spekulation.

Fakt ist, dass die Episode den bisherigen Zenit eines Konfliktes zwischen zwei Flügeln des russischen imperialistischen Militärapparates und Regimes darstellt. Schon seit Monaten hatte Prigoschin den Spitzen der Armee vorgeworfen, in der Ukraine zu versagen, die Lage zu beschönigen, nicht brutal genug vorzugehen und seinen Kämpfern Nachschub vorzuenthalten. Außerdem hätte die Armee die Abzugsrouten von Wagner-Soldaten aus Bachmut vermint. Am 23. Juni beschuldigte Prigoschin das Verteidigungsministerium, einen Angriff auf seine Truppen gestartet zu haben.

Zweifellos zeigt der gesamte Konflikt eine innere Schwäche des russischen Regimes. Der Aufmarsch, die Passivität von Teilen der Armee, der, wenn auch nur zeitweilige, Kontrollverlust über Teile des Landes sind natürlich ein Zeichen der Schwäche für jedes Regime, zumal für ein bonapartistisches, das so sehr auf die „Allmacht“ eines Mannes zugeschnitten ist.

Dazu bedarf es keiner sonderlichen Kenntnisse. Verschärft wird das Problem dadurch, dass der Konflikt nicht gelöst, sondern nur befriedet wurde. Er dürfte zwischen der Armeeführung und der Wagner-Gruppe also weitergehen.

Und auch wenn Putin angeblich schon vor Monaten versucht hatte, ihn durch Vermittlung beizulegen, so darf man nicht vergessen, dass er in mehrfacher Hinsicht selbst eine Ausgeburt des Systems Putin darstellt.

Ursprung und Veränderung der Gruppe Wagner

Der russische Imperialismus hat über Jahre private, paramilitärische, eng mit dem Regime verbundene „Sicherheitskräfte“ aufgebaut. Die Wagner-Gruppe ist sicherlich die bekannteste, aber keineswegs die einzige. Für die Außerpolitik Russlands erfüllten sie über Jahre wichtige Funktionen, erledigten die besonders barbarische Drecksarbeit „privat“, so dass Putin und die Armee für diese „Exzesse“ keine Verantwortung übernehmen, ja sich zur Not sogar davon distanzieren konnten.

Über Jahre agierte u. a. die Wagner-Gruppe am Rande der russischen Legalität. Ironischer Weise war ihr heutiger Intimfeind Gerassimow einer der Inspiratoren ihrer Gründung. Prigoschin selbst bestritt noch bis 2019 irgendwelche Verbindungen zu dieser Organisation.

Die Gruppe Wagner selbst rekrutierte und rekrutiert sich bis heute vornehmlich aus ehemaligen Soldaten und Offizieren der russischen Armee. Auch wenn sie keine offizielle Ideologie hat, so war sie von Beginn an von völkisch-nationalistischen Kräften bis hin zu offenen Faschisten geprägt. Der Name Gruppe Wagner geht auf den ehemaligen Oberstleutnant Dmitri Uktin zurück, der selbst eine Teileinheit der privaten Söldnergruppe Slawisches Korps befehligte und dort den Kampfnamen Wagner führte. Uktin selbst war nicht nur ein Bewunderer des deutschen Komponisten, sondern auch von Adolf Hitler und des Dritten Reiches. Auch wenn die Wagner-Gruppe in ihre Gesamtheit keine faschistische Organisation darstellt, so tummeln sich seit ihrer Gründung russische Rechte darin.

Im Zuge des Ukrainekrieges veränderte sich aber die Größe und Rolle der Söldnertruppe. Es wurden zunehmend auch schlechter ausgebildete Soldaten wie auch Kriminelle in großer Zahl aufgenommen, die oft selbst als Kanonenfutter in der „Truppe“ fungieren. Insgesamt wir die Zahl der Kämpfer im Ukrainekrieg nach unterschiedlichen Quellen auf 30.000 bis 50.000 Mann geschätzt.

Putin als Geburtshelfer

Mit dem rasanten Wachstum veränderte sich zugleich auch die Stellung im System Putin und es steigerte sich auch die Konkurrenz mit dem Militärapparat, der ursprünglich deren Gründung angeregt hatte. Die Verluste im Ukrainekrieg verschärften diese Gegensätze.

Es wäre jedoch verkürzt, diese inneren Widersprüche unter den bewaffneten Kräften des russischen Imperialismus nur als Konflikte zwischen einzelnen Personen oder Institutionen zu betrachten. Das bonapartische Herrschaftssystem Putin hat lange selbst Konflikte und  Konkurrenz unter seinen Gefolgsleuten befeuert. Das funktioniert auch solange, als diese über ein gewisses Maß nicht hinausgehen. Putin kann dann als der „neutrale“, „vernünftige“ Schlichter auftreten und sich so als unersetzlicher Garant für Stabilität nicht nur für seine Gefolgsleute, sondern auch für die Bevölkerung beweisen.

Doch diese Konflikte haben im Ukrainekrieg eine gefährliche Eigendynamik entwickelt, die am 23. Juni für einige aus dem Ruder gelaufen ist und – letztlich entgegen der Intention aller Beteiligten – auch das Herrschaftssystem des russischen Imperialismus als schwach erscheinen ließ.

Dass der Putschversuch unblutig endete, gibt ihm nicht nur einen unfreiwillig komödiantischen Touch. Der Ausgang verdeutlicht auch, dass letztlich alle Beteiligten das System Putin nicht ersetzen, sondern nur ihre Position darin behaupten wollen. Beschädigt wurde es jedoch.

Die Unternehmung der Gruppe Wagner verdeutlicht, dass Teile des bewaffneten Apparates wie auch der wirtschaftlichen Elite auch über Alternativen zu Putin nachzudenken beginnen – inklusive solcher, die einen womöglich noch barbarischeren Kurs verfolgen. Zweitens verweist sie auf eine tief sitzende Unzufriedenheit unter Soldaten an der Front, was für jedes Regime eine Gefahr darstellt. Für den Krieg in der Ukraine bedeutet das keineswegs eine Entspannung von russischer Seite. Kurzfristig ist es durchaus wahrscheinlich, dass die Kriegsanstrengungen des russischen Imperialismus eher noch verstärkt werden, um die eigenen Eroberungen gegen die ukrainischen Gegenangriffe zu halten. Davon hängt heute das Regime Putin noch mehr ab als vor dem „Wagner“-Putsch.




Holodomor: Propaganda und historische Wirklichkeit

Frederik Haber, Infomail 1209, 7. Januar 2023

Der Deutsche Bundestag hat beschlossen, dass die Hungersnot in der Sowjetunion der frühen 30er Jahre ein Völkermord am ukrainischen Volk gewesen sei. Der stalinistischen Zwangskollektivierung fielen Millionen Tote zum Opfer, besonders in der Ukraine und in Kasachstan. Zugleich ist der Begriff Holodomor politisch fragwürdig, weil er die stalinistische Politik mit einem bewussten Völkermord gleichsetzt.

Tatsächlich ist diese Phase der sowjetischen Geschichte sehr lehrreich. Sie war eine Etappe der Machteroberung der Stalin-Fraktion im Kampf um die Partei, gegen die Arbeiter:innenklasse und gegen die Bäuer:innen. In dem Buch „The Degenerated Revolution“, das demnächst auch auf deutsch erscheinen wird, wird diese Phase beschrieben, die einsetzte, nachdem die Stalin-Gruppe, die politische Vertretung der Staatsbürokratie, um 1927 die Linke Fraktion (Bolschewiki-Leninst:innen) geschlagen und mit Zehntausenden Kommunist:innen aus der Partei gedrängt hatte. Im folgenden veröffentlichen wir den ersten Abschnitt des dritten Kapitels von „Degenerated Revolution“ (Seite 47 – 50), der sich mit der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik der Bürokratie beschäftigt. Er nimmt die inneren Widersprüche der führen Sowjetunion zum Ausgangspunkt und betrachtet die Politik-Stalin-Fraktion in diesem Kontext.

Bürokratische Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik

D. Hughes/Peter Main

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Gruppe um Stalin also mit dem restaurativen Flügel zusammengearbeitet und damit auch das Wachstum der Kulaken-Landwirtschaft, niedrige industrielle Wachstumsraten und eine ineffektive Planungsmaschinerie toleriert. Bis zu diesem Punkt der Entwicklung kann man sie als eine politische Tendenz definieren, die im isolierten russischen Staat die politische Macht dadurch zu behalten trachtete, dass sie die bewusstesten Schichten der ArbeiterInnenklasse systematisch politisch enteignete.

Sie unterschied sich von der Rechten darin, dass sie unter bestimmten außergewöhnlichen Umständen, wenn ihre politische Kontrolle über den Sowjetstaat in Gefahr geriet, in der Lage war, sich in bürokratischer Weise gegen das Privateigentum zu wenden und eine Form wirtschaftlicher Planung zu entwickeln und auszuweiten, die mit dem Wertgesetz in Konflikt stand. Ihr Interesse, Formen der Planung zu entwickeln, ergab sich aus der Notwendigkeit, die an sich gerissene politische Macht zu behalten, nicht aus einer sozialistischen Zielsetzung heraus.

Im Laufe des Jahres 1927 kam es dann im Sowjetstaat zu Schwierigkeiten, Getreide in gleicher Menge wie im Jahr zuvor von der Bauernschaft zu bekommen. Ähnliche Probleme hatten die Requirierungsbehörden 1928. Die Thermidorianer:innen ernteten nun die bitteren Früchte industrieller Unterentwicklung und der Zugeständnisse an die Kulak:innen. Die zentristische Stalin-Gruppe vollzog ihre entscheidende Wendung gegen den Bucharin-Flügel und gegen die Politik der späten Neuen Ökonomischen Politik, NÖP. Die Voraussetzung für diesen Linksschwenk war die vorherige vollständige Entfernung der revolutionären Linken aus allen Machtpositionen.

Im Dezember 1927 wurden die lokalen Organisationen der kommunistischen Partei angewiesen, ihre Anstrengungen zur Getreidebeschaffung zu erhöhen – mit geringem Erfolg. Zur gleichen Zeit erklärte Stalin noch immer: „Der Ausweg ist die langsame und stetige Vereinigung der Klein- und Kleinstbauern zu großen Betrieben auf Grundlage der gemeinsamen kooperativen Bewirtschaftung des Landes – nicht durch Druck, sondern durch Überzeugung und das gute Beispiel“ (Zitiert nach Alex Nove, An Economic History of the USSR, Harmondsworth 1972, S. 148). Der Entwurf des Fünfjahresplans, der 1928 angenommen wurde, setzte als erstrebenswertes Ziel, während seiner Laufzeit den Anteil an kollektivierten Betrieben in der Landwirtschaft auf 15 % zu erhöhen.

Von Januar bis März 1928 fanden dann gewaltsame Getreidebeschlagnahmungen unter der Leitung von führenden Stalinist:innen statt – Stalin persönlich, Schdanow, Kossior und Mikojan. Als unvermeidliche Reaktion fuhren die Kleinbauern und -bäuerinnen ihren Anbau von Weizen und Roggen im Jahr 1928 herunter. Die Stalinist:Innen mussten sich entscheiden: entweder Zugeständnisse an die private Landwirtschaft machen, die Preise erhöhen und billige Konsumgüter aus dem Westen importieren und damit ihre politische Macht in Gefahr bringen – oder sich gegen das Privateigentum auf dem Lande wenden. Sie entschieden sich für die Kollektivierung der sowjetischen Landwirtschaft – allein mit dem Ziel, ihre bürokratische Macht zu behalten, nicht im Sinne irgendwelcher langfristiger Pläne zur Kollektivierung oder möglicher kurzfristiger Vorteile im Agrarsektor. Die sowjetische Industrie war allerdings hoffnungslos schlecht darauf vorbereitet, die kollektivierte Landwirtschaft mit der Ausrüstung zu versorgen, die sie brauchte, um bessere Erträge zu erzielen. 1928 verfügte die UdSSR nur über 27.000 Traktoren statt der eigentlich benötigten 200.000 (H.C. D’Encausse, Stalin, Order through Terror, London 1968, S. 17).

Die Kollektivierung der Landwirtschaft wurde ohne jede formelle Diskussion oder Entscheidungsfindung einer offiziellen Parteistruktur durchgeführt. Sie war das Werk der siegreichen Stalin-Fraktion und Ausdruck ihrer Kontrolle über die Partei zu dieser Zeit. Am 7. November 1929 druckte die Presse einen Artikel Stalins ab, in dem er die „spontane Hinwendung der breitesten Massen der klein- und mittelbäuerlichen Haushalte zu kollektiven Formen der Landwirtschaft“ lobte. Im Dezember begann Stalin eine Kampagne zur Liquidierung der Kulak:innen „als Klasse“, was durch ein Dekret vom 5. Januar 1930 unterstrichen wurde, welches das staatliche Ziel der „vollständigen Kollektivierung“ proklamierte.

Schon sieben Wochen nach dem Erlass waren 50 % der sowjetischen Kleinbauern und -bäuerinnen Mitglieder in rudimentären und zusammengestümperten Kollektiven geworden. Aktiver Widerstand führte automatisch dazu, dass Kleinbauern und -bäuerinnen von den Parteiorganen als „Kulaken“ abgestempelt wurden. Bis Juli 1930 waren 320.000 vermeintliche Kulakenfamilien enteignet und deportiert worden – eine Zahl, die bei weitem die am Vorabend der Kollektivierung veröffentlichten stalinistischen Statistiken zu den Kulak:innen überstieg.

Die Mitgliederzahlen der landwirtschaftlichen Kollektive von 1930 widerlegen die durchsichtigen Lügen der Stalinist:innen, die Kollektivierung sei eine spontane Bewegung der Masse der Kleinbauern und -bäuerinnen gewesen. Ein vager Hinweis Stalins, dass der Druck gelockert werden sollte, den er in einem Prawda-Artikel mit dem Titel „Siegestrunken“ im März 1930 formuliert hatte, löste eine wahre Fluchtbewegung aus den kollektiven Betrieben aus. Anfang März 1930 waren 58 % der sowjetischen Kleinbauern und -bäuerinnen in Kollektive eingetreten. Bis Juni fiel diese Zahl wieder auf 23%! In der fruchtbaren zentralrussischen Schwarzerde-Region fiel der Anteil im gleichen Zeitraum sogar von 81,8% auf 15,7%.

Die entwurzelten Bäuer:innen fanden in den neuen Kollektiven weder Ressourcen noch Ausrüstung vor. Angesichts des Tempos der industriellen Entwicklung der 1920er Jahre und auch angesichts der Ziele des ersten Fünfjahresplans konnte Kollektivierung zu diesem Zeitpunkt nichts anderes bedeuten, als schlicht und einfach den Mangel, das Elend und die Rückständigkeit der russischen Landwirtschaft zu verallgemeinern. Der Widerstand der Kleinbauernschaft nahm den Charakter eines Bürger:innenkrieges an. Dort, wo sie keinen anderen Widerstand leisten konnten, schlachteten sie ihr Vieh als letztes Mittel, sich den staatlichen Behörden zu entziehen. Dies belegt der dramatische Rückgang des sowjetischen Nutztierbestandes zwischen 1929 und 1934. In diesem Zeitraum verringerten sich die Bestände an Pferden und Schweinen um 55 %, an Rindern um 40 % und an Schafen um 66 %. Gab es 1930 noch eine gute Ernte, ging die landwirtschaftliche Produktion in den ersten Jahren der Kollektivierung deutlich zurück. 1932 lag die Getreideerzeugung 25 % unter dem Durchschnitt der NÖP-Jahre und die Hungersnot kehrte in schrecklichem Ausmaß in die ländlichen Regionen der Sowjetunion zurück.

Aufgrund des Widerstandes und der desaströsen Wirkung der Kollektivierung auf die landwirtschaftliche Produktion ordneten die Stalinist:innen 1930 eine temporäre Rücknahme ihrer Maßnahmen an. Aber 1931 wurde die Kollektivierungskampagne wieder aufgenommen als Mittel der Stalinist:innen, die landwirtschaftlichen Produktivkräfte der Sowjetunion fest unter Kontrolle zu bekommen. Sie waren bereit, einen Rückgang der Agrarproduktion in Kauf zu nehmen, um diesen für ihr bonapartistisches Regime gewünschten Effekt zu erzielen. Bis 1932 waren 61,5 % der Anbaufläche kollektiviert, es gab 211.100 Kooperativen (Kolchosen) und 4.337 staatliche Landwirtschaftsbetriebe (Sowchosen) (H.C. D’Encausse, Stalin, Order through Terror, London 1968, S. 19).

Obwohl die Kolchosen formell als Genossenschaften gegründet wurden, wurden ihre Sekretär:innen und Führungskomitees von lokalen Parteiorganen ernannt. 1935 erhielt das Kolchos-System seine endgültige Form. Landwirtschaftliche Maschinen, Agrarspezialist:innen, Mechaniker:innen, Ausbildungspersonal und Tiermediziner:innen sollten alle in staatlichen Maschinen-Traktor-Stationen (MTS) konzentriert werden. Die Überwachung der Landwirtschaft durch das NKWD (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) sollte ebenfalls in den MTS angesiedelt werden. Die Kolchosen sollten Maschinen und Expertise von der MTS erhalten. Auf diese Weise wurde eine Schicht privilegierter Arbeiter:innen in den MTS und zugleich ein perfekter Überwachungs- und Repressionsapparat gegen die bäuerlichen Massen geschaffen.

Das Einkommen der Bauern und Bäuerinnen wurde in Abhängigkeit des Ertrags ihrer Kolchosen bestimmt, nachdem der Staat das Getreide gekauft hatte und die Steuern von der Kolchose eingetrieben hatte. 1935 verdiente ein Durchschnittshaushalt 247 Rubel für ein Jahr Arbeit in der Kolchose – den Preis für ein Paar Schuhe! Zusätzlich wurde den Bauern und Bäuerinnen deshalb erlaubt, eine kleine Fläche von höchstens einem halben Hektar selbst zu bewirtschaften, auf der die bäuerliche Masse das Nötigste für ihren miserablen Lebensunterhalt mühsam erarbeitete. Die Wiedereinführung eines internen Ausweissystems für die Kolchosen-Angehörigen 1933 band diese sehr wirksam an die Kolchosen. Ein Gesetz vom 17. März 1933 legte fest, dass kein Kolchosmitglied ohne Genehmigung der Bürokratie den Kolchos verlassen durfte.

Die sowjetischen Kleinbauern und -bäuerinnen erlebten die Kollektivierung daher als Verlust ihrer „Oktobererrungenschaften“. Die bonapartistische Bürokratie hatte ihre politische Macht und ihre materiellen Privilegien bewahrt, indem sie die Basis für beschränkte Warenproduktion der Kulak:innen und der NÖP-Leute zerstört hatte. Die Kleinbauern und -bäuerinnen  verloren jede Möglichkeit, die politische Herrschaft der Bürokratie durch einen Lieferstreik herauszufordern. Das Ergebnis waren nicht nur die Stagnation und Ineffizienz der Landwirtschaft, die der sowjetischen Bürokratie bis zu ihrem Ende zu schaffen machte. Es erzeugte auch eine trotzige und rebellische Bäuer:innenschaft, die durch drastische Repression niedergehalten wurde. Der Sieg der Stalinist:innen über die Landbevölkerung war eine enorme Sprengladung im Fundament des Arbeiter:innenstaates und machte einen riesigen Repressionsapparat nötig, einschließlich Zwangsarbeitslagern, die parallel zur Kollektivierung entstanden, um die Landwirt:innen in den kollektivierten Betrieben zu halten.

Nachsatz der Redaktion

Dieser Repressionsapparat schritt dann auch zur physischen Vernichtung der Kommunist:innen, der bewusstesten Arbeiter:innen, aber auch von Vertreter:Innen aller anderen Schichten, die die persönliche Diktatur Stalins gefährden konnten. Sie traf Angehörige von nationalen Minderheiten im Vielvölkerstaat Sowjetunion oft härter als den russischen Teil der Bevölkerung, da diese Repression natürlich auch mit der Durchsetzung des großrussischen Chauvinismus einhergingen. Die Ukraine war in dieser Hinsicht sowohl aufgrund der großen Bedeutung ihrer Bäuer:innenschaft und Agrarproduktion, aber auch als größte nicht-russischer Republik im Fokus der Stalin-Fraktion. In der Tat führte die Bürokratie einen Krieg gegen die Bäuer:innenschaft, um ihre eigene Herrschaft durchzusetzen und zu sichern, einen Bürger:innenkrieg bei dem sie bereitwillig den Tod von Millionen in Kauf nahm. Ihr historisches Ziel bestand darin, den Sieg der Oktoberrevolution auszulöschen und alle Errungenschaft in ihr Gegenteil zu verkehren. Sie war ein Schlag nicht nur gegen die Bäuer:innen, sondern auch gegen die Proletarier:innen aller Länder.




Ein halbes Jahr Ukraine-Krieg: Putins Endspiel?

Martin Suchanek, Neue Internationale 268, Oktober 2022

Die massiven Geländeverluste der russischen Armee im September 2022 haben Putin und sein Regime auf die Verliererstraße gebracht. Innerhalb weniger Wochen musste sie mindestens 6.000 Quadratkilometer im Osten und Süden des Landes räumen. Der rasche Vorstoß der ukrainischen Armee, die mancherorts geradezu panikartige Flucht der russischen Einheiten und die weitere militärische und finanzielle Unterstützung des Kiewer Regimes haben im Kreml die Alarmglocken schrillen lassen – und zugleich eine weitere Runde der Eskalation eröffnet.

Verkalkuliert

Schon heute steht fest: Putin hat sich bezüglich der Invasion gleich in mehrfacher Hinsicht verkalkuliert. Das Ziel, das Land selbst unter Kontrolle zu bringen, Kiew zu erobern und einen prorussischen Regimewechsel zu erzwingen, scheiterte innerhalb weniger Wochen am entschlossenen Widerstand der ukrainischen Armee, die seit 2014 vom Westen umstrukturiert und massiv aufgerüstet worden war. Der reaktionäre Angriffskrieg und die brutale Vertreibung von Millionen Menschen, der Mord an tausenden Zivilist:innen und die Zerstörung ziviler Infrastruktur trieb die Bevölkerung zum Widerstand gegen die Besatzer:innen.

Auf der anderen Seite wurde deutlich, dass die Invasionsstreitmacht Russlands schlecht vorbereitet war. Sie überdehnte ihre Nachschublinien, kam nur in den südlichen Landesteilen rasch voran, während der Tross vor Kiew langsam zermürbt wurde. Darüber hinaus erwies sich bald, dass die russischen Soldat:innen in den ersten Wochen oft aus jungen Rekrut:innen bestanden, die meist selbst nicht wussten, wofür und wo sie eigentlich eingesetzt wurden.

Kurzum, die russische Führung hatte die ukrainische Armee ebenso unter- wie die eigenen Truppen überschätzt.

Darüber hinaus verkalkulierte sie sich bezüglich der Reaktion des Westens. Dabei hatte die russische Regierung seit Jahren den USA, den anderen westlichen imperialistischen Mächten und ihren osteuropäischen Vasall:innen vorgeworfen, die NATO und ihre Einflusssphäre immer weiter gegen Russland auszudehnen und die Ukraine spätestens mit dem Maidanputsch in ihren Orbit gebracht zu haben. Durchaus zurecht warf der russische Imperialismus dem Westen vor, in die von ihm beanspruchten halbkolonialen Einflussgebiete in Georgien oder eben in der Ukraine vorzudringen.

Ganz zu Unrecht, wenn auch nicht anders als z. B. andere imperialistische Mächte in ihrem „Hinterhof“, leitete Putin daraus ab, dass nur ein militärischer Präventivschlag, also eine Invasion, das ökonomisch und politisch ansonsten Unvermeidliche abwenden könnte, nämlich die Westintegration der Ukraine. Und ganz zu Unrecht spekulierte das russische Regime darauf, dass die „verweichlichten“ USA und EU keine signifikante Hilfe leisten würden.

Ironischer Weise hat Putins Angriffskrieg, der zuerst noch als „antifaschistische Spezialoperation“ verharmlost wurde, all das beschleunigt. In jedem Fall aber unterschätzte er, dass der Westen der Ukraine mit massiven ökonomischen und militärischen Hilfen beispringen und seinerseits einen Wirtschaftskrieg mit einschneidenden Sanktionen gegen Russland starten würde. Hätte die russische Armee, wie deren politische Führung erhofft hatte, rasch einen Sieg errungen, wäre Putins zynisches Kalkül vielleicht aufgegangen.

So aber nahmen die westlichen imperialistischen Mächte den Fehdehandschuh auf. Dies kam nicht von ungefähr. Schon seit der sog. orangenen Revolution 2004 und vor allem seit dem Maidanputsch 2014 stand die Ukraine im Zentrum des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt zwischen den USA, der EU und Russland.

Der reaktionäre Krieg Russlands eröffnete die Möglichkeit, der eigenen Machtpolitik demokratische Legitimation, die eigenen Ziele wie Osterweiterung der NATO, Ausweitung von Rüstungsbudgets und Sanktionen gegen Russland als quasi uneigennützigen Akt der Unterstützung von Demokratie und Selbstbestimmung hinzustellen.

Vor allem aber bot die Widerstandskraft der Ukraine die Chance, dem russischen Rivalen eine schwere Niederlage zu bereiten – sei es militärisch in der Ukraine, vor allem aber politisch und ökonomisch.

Dafür nahmen und nehmen die westlichen Mächte auch massive eigene Schäden und eine Verschärfung der Weltwirtschaftskrise, Inflation, Engpässe bei Energie und Lebensmittelversorgung für zahlreiche Länder in Kauf. Für die USA bot sich zusätzlich die Gelegenheit, selbst die Führungsrolle im westlichen NATO-Lager, die unter Trump massiv in Frage gestellt worden war, wieder herzustellen. Die EU und deren Hauptmächte Deutschland und Frankreich werden für die nächste Zeit eine weltpolitisch betrachtet untergeordnete Rolle spielen . Darüber hinaus tragen sie auch die Hauptlast des wirtschaftlichen Bruchs mit Russland und der Sanktionen.

Unter Führung der USA setzte der Westen auf eine nachhaltige Schwächung Russlands – und darüber vermittelt auch auf eine geostrategische Chinas.

Der Krieg mag zwar enorme Kosten verursachen – eine spätere Konfrontation wäre jedoch angesichts des seit mehr als einem Jahrzehnt anhaltenden, stetigen Niedergangs der US-Hegemonie und der Dauerkrise der EU womöglich noch viel teurer.

Die Ukraine wurde und wird daher mit Milliarden gestützt und militärisch aufgerüstet, weil sie einen Stellvertreterkrieg für den Westen führt, der letztlich den Kampf um die Selbstverteidigung des Landes überlagert, ja den Charakter des Konflikts prägt. Wie weit sie dabei militärisch letztlich gehen kann, hängt folgerichtig nicht vom eigenen Regime, sondern vom Westen, genauer von den USA ab.

Die Niederlagen der russischen Armee im September haben dabei auch die Möglichkeit oder jedenfalls Drohung eines militärischen Sieges der Ukraine aufgeworfen.

Die Logik hinter der Eskalation

In jedem Fall haben sie den Kreml in Alarm versetzt. Von einer „Spezialoperation“ sprechen Putin und seine engsten Gefolgsleute schon lange nicht mehr. Im Gegenteil: Der Krieg wird nun als solcher mit dem Westen, um die Weltordnung benannt. Außenminister Lawrow sieht das Land von Feinden umkreist, die Russland, seine Nation, seine Kultur, vor allem aber seine Stellung in der Welt zerstören wollen. Die Existenz einer ukrainischen Nation und deren Selbstbestimmungsrecht werden geleugnet und von Putin als bolschewistische Konstruktion „entlarvt“. Lassen wir den russisch-nationalistischen und völkischen Plunder beiseite, so tritt dahinter hervor, dass es um die Neuaufteilung der Welt geht. Und die will Russland zu seinen Gunsten verändern, auch wenn es dabei im Moment ziemlich schlechte Karten in der Hand hält.

Der Überfall auf die Ukraine erweist sich dabei schon jetzt als politisches Abenteuer, in das sich der Kreml nur noch tiefer zu verstricken droht. Um die Lage zu wenden, wird sie verschärft.

In den vier von Russland kontrollierten ukrainischen Verwaltungsbezirken Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson wurden Ende September Referenden über den Beitritt zu Russland durchgeführt. Im Land selbst ordnet das Regime eine Teilmobilmobilisierung von 300.000 Reservist:innen an.

Die Referenden im Donbass (Donezbecken) und im Südosten des Landes stellen dabei eine krude Mischung aus Symbolpolitik und Annexion dar. Die Symbolpolitik besteht darin, dass sich der russische Staat mit einer pseudodemokratischen Farce ein bisschen Legitimität für seine Eroberungen beim russischen Publikum erkaufen will. Mit der inszenierten Zustimmung von 90 – 100 %, die nach der Vertreibung Hunderttausender v. a. aus Saporischschja und Cherson mit vorgehaltenen Maschinengewehren erzwungen wird, mag vielleicht notdürftig ein nationaler Erfolg in Russland präsentiert werden. Ob dieser über die nationalistische Fangemeinde hinaus auf viel Zustimmung stößt, mag angesichts des massiven Unmuts über die Teilmobilmachung zur Verteidigung des neuen Staatsgebietes bezweifelt werden.

Mögen viele auch den Sieg und die Stärke Russlands wollen, so möchten sie dafür nicht mit ihrem Leben bezahlen. Die Teilmobilmachung hat dazu geführt, dass Zehntausende fluchtartig das Land in Richtung Georgien, Kasachstan oder Westen verlassen, weil sie für Putins Krieg verständlicherweise nicht krepieren wollen. Trotz der massiven Repression, trotz Prügelpolizei und tausender Verhaftungen hat allein schon die Ankündigung der Teilmobilmachung die größte Oppositionsbewegung seit dem Angriff entfacht.

Die Macht des scheinbar allmächtigen Putin gerät ins Wanken. Der reaktionäre Krieg mag populär oder wenigstens geduldet sein, solange er den Sieg verspricht. Doch worin soll der bestehen, zumal für die russische Bevölkerung? Zehntausende russische Soldat:innen sind für Nation und Weltmachtstellung draufgegangen, zehntausenden Reservist:innen droht bei einem möglichen lang anhaltenden Stellungskrieg gegen eine stärker werdende ukrainische Armee dasselbe.

Militärisch kann die russische Armee allenfalls noch halten, was sie am Beginn der Invasion erobert hat. Die gefakten Referenden erlauben dabei allenfalls die Legitimation des Krieges als Verteidigung des erweiterten „Vaterlandes“ und umso drastischere Drohgebärden gegenüber der Ukraine und der Welt, bis hin zum Einsatz von Nuklearwaffen zur vaterländischen Verteidigung.

Wirtschaftlich befindet sich Russland in einer tiefen Rezession. Dabei hat das Land schon in den letzten zehn Jahren gegenüber seinen imperialistischen Konkurrent:innen an Boden verloren. Die hohen Öl- und Gaspreise halten zwar den Staatshaushalt über Wasser, aber bedeutende Teile der industriellen Produktion stehen still oder arbeiten mit geringer Kapazitätsauslastung. Das BIP schrumpft seit dem 2. Quartal 2022 massiv und dürfte im Jahresdurchschnitt um mindestens 6 % einbrechen. Jedenfalls in dieser Hinsicht wirken die westlichen Sanktionen, die die Bevölkerung mit Einkommensverlusten und Knappheit an Konsumgütern zu tragen hat. Hinzu kommt, dass selbst ein Kriegsende keineswegs einen Stopp der Sanktionen und wirtschaftlichen Isolierung bedeuten würde.

Geostrategisch wird Russland ebenfalls geschwächt werden, selbst wenn es, was selbst überaus fraglich ist, alle vier annektierte Verwaltungsbezirke und die Krim halten und in den russischen Staatsverband einverleiben sollte. Schon jetzt hat sich Russland als unfähig erwiesen, in dem von ihm kontrollierten halbkolonialen Umfeld seine Ordnung durchzusetzen. Nicht nur in der Ukraine, auch im Kaukasus drohen Russland, wie der jüngste Ausbruch des Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan zeigt, die Felle davonzuschwimmen. Natürlich versucht Russland, in Syrien oder Mali weiter seine Positionen zu halten, aber eine Niederlage in der Ukraine würde weltweit den russischen Imperialismus schwächen, gerade weil er auf ökonomischem Gebiet nicht viel zu bieten hat.

Während Russland seinen Einfluss in der Westukraine und Osteuropa vollständig an den Westen verloren hat, weitet der Verbündete China aufgrund seiner enormen ökonomischen Überlegenheit seinen Einfluss in den noch von Russland kontrollierten asiatischen ehemaligen Sowjetrepubliken wie Kasachstan aus. Doch dieser Entwicklung muss der Kreml mehr oder weniger tatenlos zusehen, weil der Krieg Russland von China viel abhängiger gemacht hat als zuvor – und sollte das Regime Putin den Krieg überdauern, so wird dies umso größer werden.

Schwächstes Glied

In der imperialistischen Kette entpuppt sich Russland nicht nur als das zurzeit aggressivste, sondern auch schwächste Glied. Wie angeschlagene Boxer:innen einen Befreiungsschlag versuchen, so legt der russische Imperialismus seine Reserven in die Waagschale. Zweifellos verfügt das Land noch über weitere militärische Ressourcen.

Doch was nützt eine riesige Armee, was nützen riesige Reservist:innenzahlen, wenn die Menschen nicht in den Krieg ziehen wollen, wenn sie die Flucht aus dem Land oder gar den Widerstand vorziehen? Teilweise bewusst, teilweise instinktiv, teilweise aus dem „egoistischen“ Motiv, nicht sterben und morden zu wollen, verweigern größer werdende Teile der Bevölkerung den Waffengang.

Die „Pannen“ bei der Mobilisierung verschärfen den Unmut und die Angst, dass es wirklich jede/n treffen kann. Zugleich scheint sich auch das Regime bewusst zu sein, dass sich die Kriegsbegeisterung trotz medialer Indoktrination in Grenzen hält. Daher sollen die Reservist:innen auch nicht aus städtischen Zentren wie Moskau oder St. Petersburg rekrutiert werden, sondern vor allem aus Regionen wie Jakutien (Sacha; Nordostsibirien) oder Dagestan (Nordkaukasus). Das Kanonenfutter für die „russische Nation“ sollen vorzugsweise Angehörige nationaler Minderheiten liefern.

Auch das bringt den zutiefst reaktionären Charakter des Krieges auf Seiten Russlands und die von den Interessen des Finanzkapitals und der imperialistischen Weltmachtstellung diktierten Kriegsziele zum Ausdruck.

Mittlerweile flohen rund 250.000 Menschen vor der möglichen Einberufung vor allem nach Kasachstan und Georgien, aber auch nach Finnland, wobei andere europäische Länder diesen Menschen die Einreise verweigern. Darauf wird Russland wohl mit Ausreiseverboten und verschärften Grenzkontrollen reagieren.

Noch bedrohlicher könnte es für Putin werden, wenn sich der Widerstand gegen die Teilmobilmachung ausweitet, landesweit organisiert und mit der explosiven sozialen Frage verbindet. Während die Reservist:innen als Kanonenfutter ihren Kopf für ein Vaterland hinhalten sollen, das von einer kleinen oligarchischen und bürokratischen Elite mit dem Despoten Putin an der Spitze kontrolliert wird, verarmen die Arbeiter:innen in Stadt und Land, verlieren ihre Jobs, ihr Einkommen und, wenn es besonders dumm läuft, ihr Leben.

Schließlich ist schon jetzt absehbar, dass auch die aktuelle Teilmobilisierung nicht ausreichen wird. Hinzu kommt, dass sie auch die Stimmung an der Front nicht gerade hebt, besteht doch ein Effekt der Teilmobilisierung darin, dass jene kriegsmüden Soldat:innen in der Ukraine, deren Zeitverträge ablaufen, weiter an der Front bleiben müssen.

In dieser Situation muss sich die internationale Arbeiter:innenbewegung ohne Wenn und Aber mit den Protesten in Russland solidarisieren und die Freilassung aller politischen Gefangenen fordern. Auch wenn wir dafür eintreten, dass Oppositionelle in Russland gegen das Regime in den Betrieben oder auch in der Armee politisch kämpfen, so fordern wir von den westlichen Regierungen die Öffnung der Grenzen für alle, die aus dem Reich Zar Putins fliehen wollen.

Wir lehnen die Pseudoreferenden in der Ukraine kategorisch ab, die nur eine Eroberung unter russischen Panzern und Maschinengewehren rechtfertigen sollen. Wir verteidigen das Selbstbestimmungs- und Existenzrecht der Ukraine ebenso wie das Recht der Donbassregion und anderer Bezirke, selbst darüber zu entscheiden, ob sie eigene Staaten bilden, Russland oder der Ukraine angehören wollen. Aber Referenden auf Basis von Vertreibung und Besatzung können nur eine Farce sein. Sie diskreditieren das Recht der russischen und russischsprachigen Minderheit in der Ukraine auf Selbstbestimmung, statt ihm zu helfen. In der Ukraine müssen Revolutionär:innen jedoch dafür eintreten, dass über das Schicksal der Krim und Donbassregion weder Russland noch die ukrainischen Nationalist:innen, sondern die dort lebende Bevölkerung entscheiden muss.

Eine solche freie Entscheidung setzt jedoch das Ende der Besatzung voraus und zugleich eine entschiedene Opposition gegen den ukrainischen Nationalismus und seine westlichen Geld- und Taktgeber:innen.

Im Westen, in der EU und den USA, muss die Arbeiter:innenbewegung vor allem aber gegen die imperialistischen Ziele des „eigenen“ Imperialismus mobilmachen. Das bedeutet Kampf gegen Waffenlieferungen und vor allem Sanktionen, gegen den Wirtschaftskrieg gegen Russland. Die US-amerikanische, deutsche und andere westliche Regierungen verfolgen damit keine demokratischen und humanitären Interessen. Das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine und erst recht deren Demokratie sind ihnen völlig egal, wie das jahrelange Paktieren mit Ultrarechten beweist. Für sie ist die Ukraine vor allem eine Frontlinie auf dem geostrategischen Schlachtfeld und außerdem ein Reservoir billiger Arbeitskräfte und Ressourcen.

Konkret findet dieser Kampf heute auf dem Boden der Mobilisierung gegen die Preissteigerungen, Kosten des Krieges und der Krise statt.

Konkret muss er aber auch die Solidarisierung mit der russischen Protestbewegung in den Vordergrund rücken. In Russland kann in den nächsten Monaten eine Bewegung entstehen, die das Regime Putin selbst von unten erschüttern, ja stürzen kann. Eine solche Entwicklung wird angesichts der zunehmend schwierigen Lage des russischen Imperialismus und eines drohenden Fiaskos in der Ukraine sogar wahrscheinlicher. Es ist dabei durchaus möglich, dass die Stützen des Regimes einem Sturz Putins zuvorkommen wollen und eine/n „moderatere/n“ Bonapart:in an seine Stelle setzen wollen. Auch darum wird es von entscheidender Bedeutung sein, sich mit der Protestbewegung in Russland zu solidarisieren und für den Aufbau einer politischen Alternative, einer revolutionären Arbeiter:innenpartei zu kämpfen.




Parteiordnungsverfahren gegen Schröder scheitert: Genosse der Bosse bleibt SPD-Mitglied

Martin Suchanek, Infomail 1195, 9. August 2022

Längst ist der einstige SPD-Vorsitzende und Bundeskanzler, Gerhard Schröder, seiner Partei zur politischen Last geworden. Doch so schnell wird die Sozialdemokratie jenen Mann nicht los, der ihr einst den Sieg über Helmut Kohl und eine rot-grüne Regierung einbrachte – und dessen Kabinett uns die Unterstützung der Kriege gegen Jugoslawien und Afghanistan, Hartz- und Agenda-Gesetze bescherte.

Doch wegen der rot-grünen Regierungspolitik im Interesse des deutschen imperialistischen Kapitals stand Schröders SPD-Mitgliedschaft ohnedies nie zur Disposition. Unterordnung unter die Interessen der herrschenden Klasse gehört schließlich seit dem August 1914 zum Wesen sozialdemokratischer Politik.

Schiedskommission

17 SPD-Gliederungen hatten in den letzten Monaten vielmehr die Einleitung eines Parteiordnungsverfahrens gegen Schröder – also faktisch dessen Ausschluss – gefordert wegen seiner prorussischen Politik, seiner Freundschaft zu Putin und seiner geschäftlichen Verstrickung mit russischen Energiemonopolen. Vor der Schiedskommission des SPD-Unterbezirks Region Hannover wurden diese Anträge am 7. August allesamt zurückgewiesen. Weitere Instanzen und möglicherweise der Weg vor bürgerliche Gerichte könnten folgen.

Wie schwer oder leicht der SPD die Trennung vom peinlich gewordenen Ex-Kanzler fallen mag, der sein Parteibuch partout nicht freiwillig abgeben will, interessiert uns ebenso wie die Parteiordnung der Sozialdemokratie nur am Rande. Wie einst beim Rechtspopulisten Thilo Sarrazin mag sich ein Ausschlussverfahren über Jahre hinziehen und der bürgerlichen politischen Konkurrenz ständig leichte Munition gegen die Sozialdemokratie liefern. Insofern würde die SPD-Spitze den Fall wohl am liebsten ad acta legen und hofft wohl darauf, dass das Thema „einschläft“, was freilich wenig mehr als ein frommer Wunsch sein dürfte, solange der Krieg um die Ukraine weiter wütet.

So tröstet sich der Co-Vorsitzende Lars Klingbeil mit der Behauptung, dass „Gerhard Schröder mit seinen Positionen in der SPD isoliert“ wäre. Mag sein.

Nicht bloß eine Personalie

Unter den Tisch soll dabei wohl gekehrt werden, dass es mit der Distanzierung von Schröder keineswegs bloß um eine unliebsame Personalie und einen störrischen Ex-Vorsitzenden und -Kanzler geht, der sich mit „seiner“ Partei entzweit hat. Schröder und seine Kabinette standen – wie übrigens auch jene von Kohl und die ersten Merkels – für die außenpolitische Doktrin einer strategischen Partnerschaft mit Russland.

Diese Ausrichtung stellte keineswegs weder bloß Schröders Privatmeinung dar noch beruhte sie, wie es heute die Weißwäscher:innen des aktuellen Kurses der Bundesregierung darstellen, auf einer „naiven“ Einschätzung Putins oder Russlands – und erst recht nicht auf „Männerfreundschaften“.

Die durchaus immer schon fragwürdige Kumpanei eines Kohl mit Jelzin, eines Schröder mit Putin symbolisierte in Wirklichkeit nur eine andere strategische Ausrichtung des deutschen (wie auch des französischen) Imperialismus in den 1990er Jahren und zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf einen eigenständigeren, zur Weltmacht fähigen, von Deutschland und Frankreich geführten imperialen EU-Block. In diesem Rahmen zielte die Partnerschaft mit Russland immer auf dieses Land als Juniorpartner ab, als militärische und geopolitische Größe, die allerdings ökonomisch immer nur eine zweite oder dritte Geige spielen konnte.

Diese strategische Option des deutschen und französischen Imperialismus stellte damals für die USA eine globale Herausforderung dar – und, wäre sie aufgegangen, keine geringere als das heutige China. Die Ukrainepolitik der USA bildete dabei seit 2004 einen der Hebel, um diese mögliche Allianz zwischen Berlin, Paris und Moskau zum Scheitern zu bringen. Spätestens 2014 waren die USA darin so weit erfolgreich, dass die „Partnerschaft“ mit Russland aufgekündigt werden musste. Mit dem Krieg 2022 ist an eine Rückkehr zu diesem Kurs, jedenfalls für die absehbare Zukunft, nicht mehr zu denken.

Derweil müssen die imperialistischen Ambitionen Deutschlands und der EU daher im Rahmen einer US-geführten westlichen Kooperation und NATO-Kriegsallianz verfolgt bzw. bewältigt werden. Für Schröder und anderer Vertreter:innen seines außenpolitischen Kurses findet sich im bürgerlichen politischen Establishment auf absehbare Zeit kein Platz. Daher ging er einiger seiner Privilegien als Ex-Kanzler Verlust, daher will heute in der SPD niemand oder jedenfalls niemand, der/die einen Posten an der Spitze ergattern will, Schröders Namen auch nur in den Mund nehmen.

Doppelmoral

Zweifellos. Schröders zynisch-makabere Unterstützung der russischen Aggression, seine Tätigkeit für das Monopolkapital, die Kumpanei mit dem von ihm zum „lumpenreinen Demokraten“ verklärten Bonaparten Putin empören zu Recht Tausende, wenn nicht Zehntausende sozialdemokratische Parteimitglieder. Sicherlich wollen viele von ihnen aus ehrlichen, gerechtfertigten Motiven endlich den Genossen der Bosse loswerden – nicht nur wegen seiner Russland-, sondern gerade auch wegen der Regierungspolitik unter und seit seiner Amtszeit.

Afghanistan-, Jugoslawienkrieg, EU-Austeritätspolitik und Spardiktate, Hartz-Gesetze, Agenda 2010 und massive Ausweitung des Billiglohnsektors – dafür stand und steht Schröder. Doch nur er? Wohl nicht. Vom Kanzler Scholz abwärts exekutieren die Spitzen der SPD seit Jahren und Jahrzehnten diese Politik des Altkanzlers. Gewandelt hat sich im Wesentlichen „nur“ die außenpolitische, imperiale Ausrichtung.

Doch die zynische Beschönigung der russischen Invasion in der Ukraine darf nicht vergessen machen, dass der NATO-Krieg gegen Afghanistan nicht minder barbarisch war. Wer Schröder wegen seiner menschenverachtenden Pro-Putin-Politik anklagt und vor das SPD-Schiedsgericht bringt, muss sich zumindest die Frage gefallen lassen, warum niemand wegen des nicht minder reaktionären Afghanistankrieges, der Zustimmung zum 100-Milliarden-Sondervermögen, zur NATO-Aufrüstung und –Expansion ein Parteiordnungsverfahren fürchten muss(te).

Die Antwort fällt wenig schmeichelhaft aus – auch wenn es manche SPD-Mitglieder nicht hören wollen: Wer die „richtige“, d. h. westliche imperialistische Politik unterstützt, ist in der SPD gut aufgehoben.




Ukraine: Zwei-Klassen-Migration

Karl-Heinz Hermann, Infomail 1180, 1. Juni 2022

Der Ukrainekrieg hat das weltweite Flüchtlingsproblem drastisch verschärft. Doch nicht nur die neuen Rekordzahlen an Geflüchteten empören, sondern auch ihre ungleiche Behandlung. Dabei müssen wir nicht nur an durch kriegerische Gewalt Vertriebene denken, sondern auch an durch Klimawandel und Armut Verdrängte. Was tun die Verantwortlichen in den Aufnahmeländern und warum ist das unzureichend?

Zahlen

100 Millionen Menschen sind weltweit vor gewaltsamen Konflikten geflohen, so viele wie nie seit Beginn der Aufzeichnungen des UN-Flüchtlingshilfenetzwerks UNHCR. Hungerkatastrophen drohen, weil seit dem Krieg die Ukraine als Kornkammer für die Welternährung ausfällt. Hinzu vertreibt der Klimawandel Menschen aus ihren angestammten Regionen.

Durch den Krieg sind bereits acht Millionen innerhalb der Ukraine und mehr als sechs Millionen außer Landes vertrieben worden. Weitere Herde gewaltsamer Auseinandersetzungen stellen Äthiopien, Burkina Faso, Myanmar, Nigeria, Afghanistan und die Demokratische Republik Kongo (ehem. Zaire) dar. Zu den Zahlen des UNHCR gehören allein 53,2 Millionen Binnenflüchtlinge.

Somalia ist ein Beispiel, wo sich Krieg und Klimakrise paaren: anhaltende Dürre mit der Folge wachsender Armut gesellt sich hier mit einem de facto Bürgerkrieg der Regierung gegen die islamistische Terrormiliz Al-Shabaab.

„Unsere Stimmen sollen endlich gehört werden“

So äußerte sich ein Teilnehmer einer Demonstration am 14. Mai 2022 in Frankfurt (Oder) unter dem Motto „Fight Fortress Europe – Solidarität mit allen Geflüchteten an den EU-Außengrenzen“, organisiert von Seebrücke Jena und Potsdam sowie den Gruppen „No Border Assembly“ und „Borderline Europe“. Die Aktivist:innen bemängelten, dass nach Beginn des Ukrainekriegs plötzlich die seit 2001 geltende EU-Massenzustromrichtline aus dem Ärmel gezaubert wurde, aber nicht 2015 oder angesichts der unhaltbaren Zustände jüngst an der polnisch-belarussischen Grenze. Mit ihr entfallen viele Einschränkungen, die den Behördenhindernislauf durchs Asylverfahren normalerweise begleiten. Mit „Festung Europa“ sprachen sie nicht nur die EU- Außen-, sondern auch strukturelle Grenzen an, die beispielsweise das Recht, zu gehen und zu bleiben, nach Hautfarbe  unterschiedlich verteilten. Darunter fallen auch solche aus der Ukraine.

Thema Wohnen: Viele Asylsuchende und ausländerrechtlich einstweilen Geduldete sind manchmal über Jahre gezwungen, in Lagern zu leben. Hier erfolgen Eingangs- und Zimmerkontrollen, Übergriffe seitens des Wachpersonals und von außen. Für Frauen und queere Menschen gibt es keinen Schutz. In Brandenburg liegen vier Erstaufnahmezentren in ehemaligen Kasernen, schlecht an den Verkehr angebunden und weit ab vom Schuss.

82 % der „richtigen“ Geflüchteten aus der Ukraine sind hier dagegen privat untergebracht. Sozialministerin Nonnenmacher (Grüne) kündigte Unterstützung bis zu 7000 Euro Pauschale pro Wohnung an.

Thema Arbeit: Diese Personengruppe soll ab Tag 1 arbeiten dürfen. Viele Asylsuchende in Erstaufnahmeeinrichtungen sowie sog. Geduldete unterliegen dagegen zum Teil über Jahre einem Beschäftigungsverbot. Nach dem Asylbewerberleistungsgesetz fristen sie ein Leben unterhalb des Existenzminimums, während Geflohene mit ukrainischem Pass ab Juni reguläre Sozialgelder beziehen können sollen. Selbst Geduldete dürfen also weder ihre Wohnung frei wählen oder regulär mieten noch sich Arbeit suchen.

Trostpflaster gegen Überausbeutung

Doch auch Ukrainer:innen mit „richtiger“ prowestlicher Gesinnung und Hautfarbe unterliegen rassistischer Segregation auf dem Arbeitsmarkt. Berlins Sozialsenatorin Katja Kipping warnt Geflüchtete vor dem Krieg vor dubiosen Stellenanzeigen. Arbeiten ohne Pass, Zwang in die Scheinselbstständigkeit, Schuften ohne offiziellen Vertrag: Das ist für viele Arbeitsalltag. So hat Fleischganove Tönnies in Auffanglagern an der polnisch-ukrainischen Grenze Anwerbungsversuche gestartet. Die Reinigungsbranche und subunternehmerische Paketzustelldienste erweisen sich als Horte prekärer Beschäftigung. Europol und Zoll warnen lt. Philipp Schwertmann, Fachbereichsleiter des Berliner Beratungszentrums für Migration und Gute Arbeit (Bema), vor Menschenhandel und Arbeitsausbeutung. Marxist:innen würden es Überausbeutung nennen, denn schließlich wird jede, auch die reguläre Form von Lohnarbeit (Normalarbeitsverhältnis) ausgebeutet.

Mehrwert ist kein Randprodukt des Arbeitsmarkts, sondern sein Kern. Schwertmann weist auch zu Recht auf das relativ bessere Schicksal von Flüchtigen hin, die unter die Massenzustromrichtline fallen (s. o.), im Unterschied zu denen, die z. B. 2015 aus Syrien oder Afghanistan kamen. Anzubieten hat er Aufklärung und Beratung, v. a. durch seine Behörde – hoffentlich in den jeweiligen Landessprachen der Klient:innen, denn mit ausländerrechtlichem Beamtendeutsch kommen selbst deutsche Jurist:innen oft nicht klar.

Allerdings tangiert das nicht das Problem der Berufsanerkennung, was zur Entscheidung drei bsi vier Monate braucht – mit ungewissem Ausgang, versteht sich. Gen. Sozialsenatorin schiebt denn auch die Verantwortung für die Lösung des Problems, das sie niedlich auf Staus in den Anerkennungsstellen verkürzt, gleich auf den Bund, genauer die Bildungsminister:innenkonferenz ab. So sind sie, unsere Beamt:innenseelen! Wir schlagen Schaum, wir seifen ein, wir waschen unsere Hände wieder rein!

Herz für Migration – oder Scherz?

In der Aktuellen Stunde des Berliner Abgeordnetenhauses am 19. Mai 2022 kam u. a. heraus, dass seit Beginn des Ukrainekriegs 250.000 Menschen in der Hauptstadt angekommen waren und zwischenzeitlich untergebracht werden mussten. Ohne den uneigennützigen Einsatz vieler ehrenamtlicher Helfer:innen wäre die Bewältigung dieses Zustroms nicht möglich gewesen. Ihnen sei gedankt.

Was gedenkt man, für die 800.000 Personen ohne deutschen Pass, mehr als ein Fünftel der Hauptstadtbewohner:innen, zu tun? Man will die Einbürgerungsquote von jährlich 6.000 auf 20.000 erhöhen, was das Verfahren von 133 auf 40 Jahre verkürzen würde. Trotzdem werden viele ihren Pass erst posthum erhalten können. Die neue Zentralstelle, die das Verfahren so rasant beschleunigen, mit 200 Stellen besetzt werden und rund 10 Millionen Euro kosten soll, wird wohl erst in zwei Jahren tätig werden können. Das sei ein zäher Prozess, wurde geäußert. Aber das ist in unserem Beamt:innenstaat ja nahezu alles. So wundert es nicht, dass ca. 14.200 Menschen teils seit Jahrzehnten im Rahmen sogenannter Kettenduldungen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus in der Spreemetropole verbringen dürfen – ein „zäher Prozess“ eben!

Volle demokratische Rechte für alle Geflüchteten erleichtern ihre Integration in die Arbeiter:innenbewegung

Wir treten für offene Grenzen, volle Staatsbürger:innenrechte für alle, die hier leben wollen, und Abschaffung aller Ausländersondergesetzgebung ein, weil die Legalisierung aller Migrant:innen die vom imperialistischen System befeuerte Spaltung in einheimische und ausländische Arbeitskräfte zu überwinden erleichtert. Damit kann ein erster Schritt gemäß der proletarischen Losung „Arbeiter:innen aller Länder, vereinigt euch!“ zurückgelegt werden. Dies erleichtert die Integration in Gewerkschaften und andere Arbeiter:innenorganisationen, die Unterschiede in Herkunft, Nationalität, Geburtsland, Geschlecht, Religions- und Parteizugehörigkeit sowie sexueller Orientierung ignorieren müssen, wollen sie für die ökonomischen und politischen Interessen so wirksam wie möglich kämpfen, die Konkurrenz innerhalb der Klasse so weit wie möglich unterm kapitalistischen System minimieren. Dazu gehören auch kostenlose Sprachkurse, durch progressive Besteuerung bezahlte Dolmetscher:innen, Anstellung in den gelernten Berufen. Ferner sollen die Auswanderungsländer eine nach Dauer der Auswanderung ins „Exil“ anteilig bemessene Rückerstattung ihrer Ausbildungskosten erhalten, wie sie für die Aufnahmeländer entstanden wären, bezahlt aus Unternehmensbesteuerung.

Nur ein sozialistisches Weltsystem kann jedoch nach und nach die Unterschiede in Lebensstandards mittels gleichmäßiger Verteilung von Industrie und Technik über den gesamte Erdball nivellieren. Wiederum ist es der Imperialismus, der nämlich mithilfe des Finanzkapitals die vom europäischen Kolonialismus ausgeraubten und von europäischen Siedler:innen unterdrückten, wenn nicht ausgelöschten Völker täglich weiter bestiehlt. Das Wertgesetz wirkt ja bekanntlich auf dem Weltmarkt ungleichmäßig und ungleichzeitig, degradiert die nationale Durchschnittsarbeit der Halbkolonien immer weiter im Verhältnis zu den imperialistischen Metropolen. Diese Schere zu schließen, einen wirklich weltweiten Entwicklungs-, Reparations- und Wiedergutmachungsplan zur Herstellung gleicher Lebensverhältnisse umzusetzen, ist eine der vordringlichsten Aufgaben jedes zukünftigen Arbeiter:innenstaats und erhält bereits heute einen vorrangigen Platz im Programm revolutionär-kommunistischer Organisationen, die sich der Herkulesaufgabe des Aufbaus einer neuen, revolutionären Fünften Internationale verschrieben haben.




Unsere strategische Position ist nicht zu unterschätzen

Interview mit einem Bahnbeschäftigten, ursprünglich veröffentlicht auf klassegegenklasse.org, Infomail 1188, 12. Mai 2022

Frage: Lieber Genosse, danke, dass du uns ein Interview gibst. Magst du dich zu Beginn kurz vorstellen und erzählen, welchen Beruf du ausübst?

Antwort: Hi, freut mich auch. Ich bin A. und arbeite als Fahrdienstleiter bei der Deutschen Bahn. Wir machen so etwas Ähnliches wie Fluglotse:innen, nur eben mit Zügen. Wir überwachen und steuern den Bahnbetrieb in unseren Bahnhöfen und auf den Strecken, stellen Weichen und Signale und ohne unsere Zustimmung findet keine Zugfahrt statt.

Politisch bin ich Unterstützer der Gruppe Arbeiter:innenmacht. Außerdem bin ich aktiv beim Aufbau der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) und versuche, mich mit Kolleg:innen bei der Bahn zu vernetzen (bei Interesse können sich Eisenbahner:innen und andere Beschäftigte im ÖPNV an info@bahnvernetzung.de wenden). Soweit zu mir. Wichtig ist vielleicht noch, dass ich hier nur sehr begrenzt für meine Kolleg:innen von der VKG oder der Bahnvernetzung sprechen kann. Deswegen bitte ich die Leser:innen, das Interview vor allem als meine eigene Meinung zu verstehen.

Frage: In Belarus, Italien und Griechenland haben Beschäftigte im Transportsektor Waffenlieferungen sabotiert bzw. blockiert. Welche Rolle können Eisenbahner:innen im Kampf gegen den Militarismus strategisch einnehmen?

Ich denke, dass unsere strategische Position im Krieg nicht zu unterschätzen ist. Osteuropa ist durch die NATO seit Jahren hochgerüstet worden, was ohne den Schienenweg so kaum möglich gewesen wäre. Gerade wenn es um den groß angelegten Transport schwerer Waffen wie Panzer geht, bleibt auf dem Landweg fast nur die Schiene. Genauso hat Russland seine Panzer in Richtung der Ukraine geschickt, was die Kolleg:innen in Belarus ja zumindest etwas sabotieren konnten.

Sie und die Kolleg:innen in Pisa und bei der OSE haben gezeigt, dass Krieg keine Katastrophe ist, der wir uns einfach ergeben müssen. Der Krieg kann gestoppt, Kriegsgerät und Truppentransporte können aufgehalten werden – in Russland und in der NATO. Das setzt aber ein hohes Bewusstsein bei den Beschäftigten voraus und vor allem eine gute, militante Organisierung, sei es gewerkschaftlicher oder politischer Art.

Gleichzeitig bin ich natürlich dagegen, einfach jeden Zug in die Ukraine zu stoppen. Hilfsgüter und Geflüchtete – egal woher – müssen transportiert werden.

Frage: Warum sollten sich auch Eisenbahner:innen in Deutschland gegen den Krieg positionieren? Warum, denkst du, fällt es vielen Kolleg:innen so schwer, den internationalen Beispielen zu folgen?

Antwort: Egal ist der Krieg wahrscheinlich kaum wem und gegen den Krieg an sich sind sicher die meisten. Aber was heißt das schon, gegen den Krieg zu sein? Für viele bedeutet es, auf der Seite der Ukraine zu stehen. Die Deutsche Bahn und die Gewerkschaften EVG und GDL verbreiten das auch mehr oder weniger genauso. Das ist auf den ersten Blick auch irgendwo ziemlich gut zu verstehen, weil Russland eben den Überfall gestartet hat, Millionen in die Flucht treibt und die russische Armee Massaker wie in Butscha verübt hat.

Aber diese Idee, dass die Unterstützung der Ukraine und ein Sieg Selenskyjs Frieden bedeuten, die halte ich für brandgefährlich – zumal die Regierung in Kiew seit acht Jahren Krieg im Donbass führt, auch gegen die Zivilbevölkerung dort.  Und versteh‘ mich nicht falsch: Natürlich hat jede:r meine:r ukrainischen Kolleg:innen das Recht, sich zu verteidigen, und ich rufe hier nicht zur Kapitulation auf. Gleichzeitig ist es jedoch so, dass uns jede Waffenlieferung an Kiew dem Abgrund eines Dritten Weltkrieges näher bringt.

Das Ganze eskaliert deshalb so, weil die Politik des Westens hier alles andere als selbstlos ist. Im Gegenteil. Es geht der BRD, der EU, den USA und der NATO überhaupt um die Neuaufteilung der Ukraine. Gewinnt sie in deren Interesse gegen Russland, hätte sie sich auch die noch krassere Abhängigkeit von Berlin, Brüssel und Washington erkämpft. Davon kann vielleicht ein Selenskyj sehr gut leben, aber eine nationale Selbstbestimmung im Interesse der breiten Bevölkerung sieht für mich anders aus. So weit mal zur Position gegen den Krieg, die eigentlich bedeutet müsste, gegen die NATO oder eben Scholz sein zu müssen – so wie die Arbeiter:innen in Russland in Putin ihren Hauptfeind erkennen müssen.

Was meine Kolleg:innen hier angeht, ist es jetzt auch nicht so, dass alle stramm hinter der westlichen Politik stehen. Natürlich dominiert die Angst und die Einbindung in die westliche Ideologie. Deshalb gibt es auch Kolleg:innen, die stolz posten, dass sie Waffen Richtung Osten transportiert haben, oder Leute, die mehr Aufrüstung fordern – ganz klar. Aber es gibt schon auch viel Skepsis gegenüber der Regierungspolitik, die sich jetzt auch mit der Sorge über die horrenden Preise vermischt. Viele sehen zum Beispiel auch die NATO-Osterweiterung kritisch.

Unterm Strich und definitiv sind wir zur Zeit aber leider weit davon entfernt, dass meine Kolleg:innen und ich Waffentransporte stehenlassen.

Die internationalen Beispiele zeigen da, denke ich, auch ein bisschen, was hier fehlt. In Belarus stehen die Menschen unter dem Eindruck von Massenaufständen in den letzten Jahren. Das Regime dort ist alles andere als stabil und ziemlich verhasst. Auf irgendeine Weise muss das für meine Kolleg:innen dort auch eine Rolle gespielt haben, sonst wären sie Putin und seinem Freund Lukaschenko nicht in den Rücken gefallen. Am Flughafen von Pisa wurde die Blockade von militärischen Gütern möglich, weil dort mit der Unione Sindacale di Base eine Gewerkschaft existiert, die sich in einer gewissen kommunistischen Tradition sieht. In Griechenland sah das ähnlich aus. Den Kolleg:innen dort ist die Rolle der NATO einfach klarer und sie sind militanter organisiert. Die deutschen Gewerkschaften EVG und GDL betreiben das Gegenteil: Sie sorgen für eine ideologische Einbindung in den NATO-Imperialismus und seinen angeblichen demokratischen Werten – über die viele aus Afghanistan, Palästina und dem Irak wahrscheinlich nur wütend lachen können.

Frage: Du hast gerade die deutschen Gewerkschaftsführungen erwähnt. Kannst du noch mal genauer auf ihre Rolle zur Zeit eingehen?

Antwort: Die Führung des DGB, aber auch die Spitze der GDL sind für den deutschen Kapitalismus systemrelevant, und zwar weil sie entscheidend sind, wenn es darum geht, die Arbeiter:innenklasse ruhig zu halten, beziehungsweise sie in die nationalen Interessen der Bosse oder der Ampel-Regierung einzubinden. Bei der GDL passiert das mehr durch passive Zustimmung zur Kriegspolitik der BRD: Erst hat sie wochenlang überhaupt nichts von sich hören lassen. Dann gab es ein Statement, das im Grunde auch vom DGB hätte stammen können.

Der DGB, worin die EVG eine Mitgliedsgewerkschaft ist, hat wiederum viele seiner sowieso bescheidenen Grundsätze über Bord geworfen. Eigentlich stimmt er der Regierung im Großen und Ganzen zu, solange noch ein kleines bisschen Geld für soziale Angelegenheiten übrig bleibt.

Der Erste Mai hat das auch nochmal unterstrichen. In Düsseldorf hatte der DGB gleich Kanzler Scholz eingeladen, um seine Kriegspropaganda zu verbreiten. In Berlin hat der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann satte zwanzig Minuten lang gelabert und wären aus der Versammlung nicht Pfiffe und Buhrufe gekommen, hätte er wahrscheinlich noch mehr über „europäische Sicherheit und Werte“ geschwatzt. So warf er ein paar mehr soziale Floskeln als gewollt ein.

Dabei ist wichtig zu verstehen, dass die Gewerkschaftsspitzen – die Gewerkschaftsbürokratie – nicht einfach nur eine falsche Politik machen, die nur korrigiert werden müsste. Das Ganze hat System. Hoffmann, Weselsky, Hommel und die ganzen anderen sind ziemlich privilegiert und stehen den Konzernspitzen, dem Staat und den Berufspolitiker:innen sehr nah – auch gehaltstechnisch.

Sie haben von ihrer gesellschaftlichen Position aus überhaupt kein Interesse daran, der deutschen Kriegspolitik in den Rücken zu fallen, weil sie – nennen wir‘s beim Namen – im Imperialismus der BRD einfach sehr gut leben können und selbst an dessen Werte usw. glauben. Von den EVG- und GDL-Spitzen ist nicht zu erwarten, dass wir dazu aufgerufen werden, Panzerzüge stehenzulassen. Im Gegenteil. Sie halten die Gewerkschaftsmitglieder passiv und die Panzerzüge für Teil einer gerechten Sache, den Kampf für Demokratie und zur Verteidigung der überfallenen Ukraine, obwohl es doch eigentlich der extrem gefährliche Kampf um die Neuaufteilung der Welt ist.

Frage: Was können Beschäftigte konkret im Kampf gegen Krieg und die Gewerkschaftsbürokratie tun?

Antwort: Allgemein gesprochen braucht es, denke ich, einen politischen Kampf für eine klassenkämpferische Opposition in den Gewerkschaften, die zum Beispiel die Tarifrundenrituale kritisiert und fordert, dass der Lohn  der Inflation entsprechend steigen muss oder dass wir Gewerkschaften wollen, die direkt und demokratisch von der Basis kontrolliert werden und wo ein/e Vorsitzende/r nur den Durchschnittslohn kriegt und über die eigene Politik rechenschaftspflichtig ist. Ein wichtiger Ansatzpunkt ist, die Preissteigerung und Lohnverluste mit den Kriegsausgaben der Regierung, den Sanktionen und der direkten Aufrüstung zu verbinden.

Ein kleiner –  sehr kleiner – Startpunkt, aber immerhin ein Anfang für so etwas wie eine organisierte Opposition ist die eben erwähnte VKG, an die sich Kolleg:innen wenden können, die keinen Bock mehr auf die offizielle Gewerkschaftspolitik haben und in ihren Gewerkschaften etwas verändern wollen.

Das ist zugegeben etwas abstrakt.

Konkrete Ideen habe ich aber auch. Als Bahnvernetzung haben wir zum Beispiel vor einigen Wochen vor dem Berliner Hauptbahnhof eine Kundgebung gegen den Krieg veranstaltet, die zwar nicht groß, aber dafür sehr sichtbar war. Dabei solidarisierten wir uns auch mit den Kolleg:innen in Belarus oder forderten unsere Gewerkschaften auf, dass sie für das Recht einstehen, keine Militärgüter transportieren zu müssen – sprich keine Abmahnung und keine Kündigung weil z. B. ein/e Lokführer:in sich weigert, einen Panzerzug zu fahren. Wichtig ist in dem Zusammenhang auch das  Recht, überhaupt in die Ladung schauen zu dürfen, um zu überprüfen, was wir da eigentlich bewegen sollen.

So eine kleine Kundgebung können Kolleg:innen schon mit wenigen Kräften starten und vielleicht mehr werden.

Als Bahnvernetzung treffen wir uns außerdem einmal im Monat, um uns über betriebliche Fragen auszutauschen, wobei wir offen sind für Kolleg:innen aus dem gesamten Bundesgebiet. Es gibt ja Internet. Es ist egal, welches Eisenbahnunternehmen oder welche Gewerkschaft – wir wollen ja die Spaltung zwischen EVG und GDL überwinden.

Wenn du keinen Bock darauf hast, was Weselsky und Hommel treiben, und eine linke Perspektive in die Gewerkschaften tragen willst, musst du nicht alleine anfangen, sondern kannst uns anschreiben. 🙂

Frage: Danke für das Interview.

Antwort: Gerne!




Krieg dem Krieg! Keinen Cent für die imperialistische Politik!

Gruppe Arbeiter:innenmacht, Neue Internationale 264, Mai 2022

Vorschläge für eine Antikriegsbewegung

  • Nein zu Putins Angriffskrieg! Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung und Antikriegsbewegung in Russland!
  • Sofortiger Abzug der russischen Armee! Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung, Anerkennung ihres Rechts auf Selbstverteidigung gegen die Invasion!
  • Solidarität mit der Antikriegsbewegung und der Arbeiter:innenklasse in Russland; Verbreitung der Aktionen gegen den Krieg; Freilassung aller Festgenommenen!
  • Aufnahme aller Geflüchteten, Bleibe- und Staatsbürger:innenrechte für alle – finanziert durch den Staat; Integration der Geflüchteten in den Arbeitsmarkt, Aufnahme in die Gewerkschaften!
  • Nein zu jeder NATO-Intervention! Gegen alle Sanktionen, Aufrüstung, NATO-Truppenverlagerungen und Waffenlieferungen! Gegen NATO-Ausweitung, sofortiger Austritt aus der NATO!
  • Keinen Cent für die imperialistische Politik, für die Bundeswehr! Nein zum 100-Milliarden-Programm der Ampel-Koalition!
  • Die Kosten der Preissteigerung müssen die Herrschenden zahlen! Enteignung des Energiesektors und anderer Preistreiber:innen unter Arbeiter:innenkontrolle! Übernahme gestiegener Lebenshaltungskosten der Arbeiter:innenklasse, der Rentner:innen, von Erwerbslosen durch Besteuerung des Kapitals! Verstaatlichung der Rüstungsindustrie und Konversion unter Arbeiter:innenkontrolle!
  • Politischer Massenstreik und Massendemonstrationen gegen jede direkte NATO-Intervention!

Die Ablehnung jeder Klassenzusammenarbeit, jeder Unterstützung der Regierung und ihrer militärischen und wirtschaftlichen Interessen ist nicht nur unerlässlich im Kampf gegen den „eigenen“ Imperialismus, den Hauptfeind im eigenen Land. Sie schafft zugleich auch die besten Voraussetzungen für den Aufbau einer internationalen Antikriegsbewegung – insbesondere auch in Russland und in der Ukraine.




Der Krieg in der Ukraine und der Kampf um die Neuaufteilung der Welt

Internationales Sekretariat der Liga für die 5. Internationale, 7. März 2022, Infomail 1181, 9. März 2022

Der russische Einmarsch in die Ukraine hat eine neue Etappe im Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen den Großmächten eingeleitet. Der Krieg um die Kontrolle der Ukraine ist der jüngste und schärfste Ausdruck dieses Konflikts, der die Welt mit einem dritten Weltkrieg zwischen den imperialistischen Staaten und ihren Bündnissen bedroht.

Putins Angriff auf die Ukraine, seine Leugnung der Nationalität und Souveränität dieses Landes, bestätigt voll und ganz den imperialistischen und räuberischen Charakter des Staates und der herrschenden Klasse, der er vorsteht. Die Politik der NATO-Verbündeten, insbesondere der Vereinigten Staaten, die Ukraine in die EU und die NATO zu ziehen, hat Putin den Vorwand, wenn auch nicht die Rechtfertigung, geliefert, die Ukraine anzugreifen.

Die Darstellung des Krieges in den westlichen Medien als Fortsetzung eines langen Krieges Russlands gegen die Ukraine, der 2014 begann, ist völlig falsch. Der Sturz des damaligen Präsidenten Wiktor Janukowytsch war ein Versuch des US- und EU-Imperialismus, mit Hilfe pro-europäischer ukrainischer Oligarch:innen und Ultranationalist:innen die Ukraine endgültig in die Sphäre der westlichen imperialistischen Ausbeutung zu überführen. Dies löste eine Reaktion Russlands zur Verteidigung seiner imperialistischen Interessen aus – die Annexion der Krim, um seinen Marinestützpunkt im Schwarzen Meer zu sichern, und die Unterstützung einer separatistischen Rebellion mit dem Ziel, ein Veto gegen den Beitritt der Ukraine zur EU und NATO einzulegen.

Die Frage, wer den ersten Schuss abgefeuert hat oder wessen Aktionen „defensiv“ oder „aggressiv“ sind, ist nicht entscheidend für die Bestimmung des wesentlichen Charakters des Konflikts: ein von Putin offen und vom Westen verdeckt geführter Kampf darum, welche Imperialist:innen in der Ukraine herrschen werden. Der Konflikt ging und geht nicht darum, ob die Ukraine ein unabhängiger Staat ist, sondern ob sie eine Halbkolonie Russlands oder der NATO-Imperialist:innen sein soll. Kurzum, die Ukraine ist heute der europäische Schauplatz des Kampfes zwischen den rivalisierenden imperialistischen Mächten um die Aufteilung und Neuaufteilung der Welt. Und sie hat eine neue Phase dieses Kampfes eröffnet, indem sie die Bildung von kriegführenden Blöcken beschleunigt hat, die leicht in einen direkten militärischen Konflikt, d. h. einen zwischenimperialistischen Krieg, münden könnte.

Die USA und die ukrainischen Nationalist:innen haben systematisch jede Verhandlungslösung vereitelt, da sie auf einen eventuellen Beitritt des Landes zur NATO setzten. In der Zwischenzeit hat die NATO das Land mit massiver militärischer Hilfe und Ausbildung versorgt – was die lächerliche Behauptung widerlegt, dass „die NATO nicht in den Konflikt verwickelt ist“. Diese Aktionen sind Teil eines Prozesses der Einkreisung Russlands durch das westliche imperialistische Bündnis. Seit 1991 haben die USA wiederholt und systematisch versucht, Russland aus der NATO oder einem alternativen europäischen Sicherheitssystem auszuschließen. Sie haben dies nicht nur mit dem langfristigen Ziel getan, die eurasische Macht zu zerschlagen, sondern auch, um die Entwicklung eines unabhängigen europäischen Imperialismus unter der Führung Frankreichs und Deutschlands zu behindern. Mit dem Krieg und einer beispiellosen Runde von Sanktionen haben sie die Aussicht auf eine Neuausrichtung mit Russland unter Putin, die von Teilen der deutschen und europäischen herrschenden Klassen befürwortet wird, begraben. Dies wird die Hegemonie der USA über die NATO und ihre imperialistischen Verbündeten zumindest kurzfristig stärken, aber auch als Vorwand für die Militarisierung und Aufrüstung der westeuropäischen Mächte auf eigene Rechnung dienen.

Die ukrainischen Machthaber:innen waren weder bloße Zuschauer:innen in dieser Rivalität der Großmächte um das Schicksal ihres Landes, noch sind sie Verfechter:innen der „Demokratie“. Das Regime nach 2014 wurde durch einen reaktionären Sturz Janukowytschs im Auftrag der USA an die Macht gebracht, der von rechtsextremen und faschistischen Milizen angeführt wurde. Indem sie die verfassungsmäßige Neutralität des Landes durch ein Bekenntnis zur NATO-Mitgliedschaft ersetzt, den östlichen Regionen das demokratische Selbstbestimmungsrecht verweigert und auf der Rückgabe der Krim besteht – unabhängig von den Wünschen der Bevölkerung –, kämpft die führende Fraktion der ukrainischen herrschenden Klasse nicht für die nationale Souveränität, sondern für das Recht, die ukrainischen Arbeiter:innen unbehelligt von den von Russland unterstützten Rival:innen auszubeuten, an der gemeinsamen Ausplünderung der europäischen Arbeiter:innen durch die Architektur der Europäischen Union teilzuhaben und dies unter der Deckung des nuklearen Schutzschirms der NATO zu tun.

Die Taktik in der Ukraine

Putins imperialistische, großrussisch-chauvinistische Verweigerung des Rechts der Ukraine auf Unabhängigkeit, seine Invasion und sein Versuch, ein Klientelregime zu installieren, wenn nicht sogar Teile des Landes zu besetzen und zu annektieren, führt jedoch dazu, dass große Teile der ukrainischen Arbeiter:innen, Bauern, Bäuerinnen und Armen sich der Besetzung widersetzen und ihre Städte verteidigen wollen.

Diese berechtigte Antwort auf die nationale Unterdrückung, die ein Haupthindernis für den Vormarsch der russischen Truppen darstellt, verdient die Unterstützung der Revolutionär:innen. Die ukrainischen Massen haben das Recht, sich und ihr Land gegen die russische Besatzung zu verteidigen. Aber das ist nicht dasselbe wie die Unterstützung der reaktionären Kriegsziele der ukrainischen Bourgeoisie, einschließlich der Einheit der Ukraine ohne Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts ihrer Minderheiten sowie der Mitgliedschaft in der NATO und der Europäischen Union.

Deshalb darf die Arbeiter:innenklasse in der Ukraine kein Vertrauen in eine Regierung setzen, die den Beitritt zum Kriegsbündnis der NATO zum Ziel hat. Sie sollte daran arbeiten, die größtmögliche politische Unabhängigkeit von der Regierung, von der herrschenden Klasse der Oligarch:innen und den NATO-Imperialist:innen zu erlangen. Das Ziel muss sein, die Kräfte der Arbeiter:innenklasse in den Widerstand einzubinden, Organe unter der Kontrolle der Massen zu schaffen, mit dem Endziel, die Kräfte zu bilden, die diese Regierung stürzen können.

Sowohl der großrussische als auch der ukrainische Nationalchauvinismus sind reaktionäre politische Linien, die die räuberische Ausbeutung und Verelendung sowohl der ukrainischen als auch der russischen Arbeiter:innenklasse vertiefen würden. Sie ziehen die Völker Europas in eine katastrophale militärische Konfrontation zwischen den atomaren Großmächten hinein. Die Strategie und Taktik einer proletarischen Verteidigung gegen die russische Besatzung muss daher dieser drohenden Gefahr eines globalen Krieges zwischen Russland und der NATO Rechnung tragen. Sie darf auf keinen Fall zu einer bloßen Hilfstruppe der westlichen Imperialist:innen werden, wie es die Regierung Selenskyj anstrebt.

Die ukrainische Bourgeoisie in Form ihres Staates, ihrer Regierung und ihrer Armee kann den Kampf für echte Selbstbestimmung oder Unabhängigkeit der Ukraine nicht anführen, denn ihre Politik ist das genaue Gegenteil: Sie macht die Ukraine militärisch, wirtschaftlich und politisch vom europäischen und nordamerikanischen Kapitalismus abhängig!

Aus diesen Gründen ist die Parole „Verteidigung der Ukraine“, losgelöst von der Frage, welche Klasseninteressen verteidigt werden, in Wirklichkeit eine Aufforderung an die NATO-Mächte, ihre neue Klientin noch energischer zu unterstützen. Die ukrainische Selbstbestimmung kann nicht durch einen Sieg der ukrainischen Bourgeoisie errungen werden, der ihren Würgegriff über die ukrainischen Arbeiter:innen verstärken würde, sondern nur durch den Abzug der russischen Truppen, die Auflösung des NATO-Bündnisses, die Enteignung der ukrainischen Oligarch:innen und den Kampf für die sozialistischen Vereinigten Staaten von Europa, denen sich jedes Land anschließen kann, wenn es dies will.

Wir treten für eine Politik der Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse und des Widerstands ein. Diese besteht in erster Linie in der Bewaffnung der Arbeiter:innen, ihrer Organisation in Selbstverteidigungsmilizen in den Betrieben und Stadtvierteln, die unabhängig vom Generalstab der Armee oder der rechtsextremen Nationalgarde sind, in Sabotage und Betriebsstörungen der Besatzung, in Agitation und Propaganda, um den Betrug aufzudecken, dass die Oligarch:innen der Ukraine das Vaterland verteidigen, indem sie es dem europäischen Imperialismus schenken, und vor allem in der Solidarisierung mit ihren russischen Klassengenoss:innen, um die Lügen, die den russischen Truppen erzählt werden, zu untergraben und sie für den Widerstand gegen Putin zu gewinnen.

Unser Ziel ist es, die imperialistische Kriegstreiberei in einen Klassenkrieg zu verwandeln, der die Niederschlagung des russischen Angriffs und den Sturz des bonapartistischen Regimes von Putin zum Ziel hat, aber auch die Pro-NATO-Ambitionen von Selenskyj zu verhindern und sein Marionettenregime zu stürzen. Wir kämpfen dafür, diese reaktionäre „Verteidigung des Vaterlandes“ in einen fortschrittlichen Kampf für eine unabhängige sozialistische Ukraine umzuwandeln, die auf der freiwilligen Vereinigung aller ihrer Bewohner:innen beruht.

Revolutionärer Defätismus

Revolutionär:innen in Russland, Europa und den USA müssen deutlich machen, dass sie in dem Kampf zwischen Russland und den NATO-Mächten um die Neuaufteilung der Welt keine der beiden Seiten unterstützen dürfen. Sie müssen eine Politik des revolutionären Defätismus verfolgen. Ihr Hauptfeind ist nicht der eine oder andere imperialistische Konkurrent, der Hauptfeind steht im eigenen Land! Ihr Hauptziel ist es, zu verhindern, dass der Kampf um die Ukraine zum Auslöser eines offenen globalen Krieges zwischen den imperialistischen Mächten wird. Der Einmarsch Russlands, die Sanktionen, die Russland vom Weltmarkt abschneiden sollen, die Waffenlieferungen und die Aufrufe und ernsthaften Vorbereitungen zur Luftunterstützung der Ukraine (z. B. durch polnische Flugzeuge, die an die Ukraine ausgeliefert werden und die Nutzung polnischer Flugplätze erlauben) sind alles Schritte in diese Richtung.

Revolutionär:innen müssen deutlich machen, dass der Kampf zwischen Russland und den NATO-Mächten um die Neuaufteilung der Welt diesem seinen übergeordneten und prägenden Charakter verleiht. Wir sind nicht nur Zeug:innen eines weiteren brutalen Angriffs eines imperialistischen Landes auf eine Halbkolonie, auch nicht nur eines weiteren Stellvertreterkrieges. Die Brisanz des Krieges wird vielmehr dadurch bestimmt, dass die Erschütterungen, die er in Gang gesetzt hat, zu einem zwischenimperialistischen Krieg zu führen drohen. Und das gilt es zu verhindern. Deshalb muss die Arbeiter:innenklasse in einem Konflikt zwischen ihnen eine revolutionär-defätistische Position gegenüber beiden einnehmen, insbesondere in den imperialistischen Kriegsländern. Ihr Hauptfeind ist nicht einer der beiden imperialistischen Konkurrent:innen, sondern der Hauptfeind ist die herrschende Klasse im eigenen Land!

In Russland heißt das, für die Niederlage des russischen Imperialismus bei seinem Versuch, die Ukraine zu erobern, zu kämpfen, die sofortige Beendigung des Krieges und den Abzug aller russischen Truppen zu fordern. Angesichts des diktatorischen Charakters des Putin-Regimes wird der Kampf für demokratische Rechte, für das Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit, für die Freilassung Tausender politischer Gefangener ein Schlüssel, oft ein Ausgangspunkt des Kampfes sein. Er muss mit dem Ziel verbinden werden zu verhindern, dass Putin und sein Regime die Arbeiter:innen für das durch die Sanktionen verursachte Elend, für Betriebsschließungen, Inflation und die Kriegstreiberei selbst bezahlen lassen. Eine solcher Auseinandersetzung muss in den Betrieben verwurzelt sein und den Kampf gegen den Krieg mit dem dagegen verbinden, dass die Arbeiter:innen dafür bezahlen müssen, mit Massenstreiks, der Blockade von Transportwegen für Waffen und dem Kampf für die Enteignung der Oligarch:innen und der Reichen unter Arbeiter:innenkontrolle. Kurz gesagt, es bedeutet, den imperialistischen Krieg in einen Klassenkampf zu verwandeln, um das Putin-Regime und den russischen Kapitalismus durch eine Arbeiter:innenregierung zu stürzen.

In den imperialistischen Staaten der NAT0 wenden wir uns gegen die Kriegstreiberei, die massive Aufrüstungspolitik des deutschen Imperialismus, die Forderung nach einer eigenen Atommacht EU, die schnelle Stationierung von NATO-Truppen an den russischen Grenzen, die Forderung Japans nach Atomwaffen auf seinem Territorium und alle Versuche, direkt oder indirekt eine Flugverbotszone über der Ukraine einzurichten. Wir lehnen alle Waffenlieferungen der NATO-Mächte an die Ukraine und andere militärische Unterstützung ab. Wir lehnen alle Wirtschaftssanktionen ab. Im Rahmen des Kampfes für die Neuaufteilung der Welt sind zivile Zwangsmittel entweder eine Fortsetzung des Krieges oder ein Vorspiel zu noch zerstörerischerem, militärischem Zwang, zu einer umfassenden imperialistischen militärischen Konfrontation.

Die Parteien der Arbeiter:innenklasse, die Gewerkschaften und die Linke müssen jede „nationale“ Einheit mit den westlichen Regierungen im Namen ihrer gefälschten „Demokratie“ ablehnen. Sie müssen gegen alle reaktionären Gesetze, alle Waffenlieferungen kämpfen, sich auf den Straßen und an den Arbeitsplätzen allen Sanktionen widersetzen, die von „unserer“ Bourgeoisie verhängt werden. Die Abgeordneten der Arbeiter:innenklasse in den Parlamenten müssen die Heuchelei der herrschenden Klasse in den bürgerlich demokratischen Institutionen anprangern. Eine echte Antikriegsbewegung und echte Solidarität mit fortschrittlichen Kräften in der Ukraine muss den wahren, imperialistischen Charakter der westlichen „Unterstützung für die Ukraine“ aufdecken. Revolutionär:innen müssen bereit sein, gegen einen Strom von Sozialpazifismus und Sozialchauvinismus unter diesem Deckmantel anzuschwimmen. Revolutionäre und internationalistische Organisationen müssen den Sozialpazifismus der Gewerkschaften und der sozialdemokratischen oder sogar linken Parteien entlarven, die zur Aufrüstung der NATO aufrufen, die Sanktionen gegen Russland fordern. Es zeigt sich, dass die Pazifist:innen von gestern schnell zu Sozialchauvinist:innen werden, zu Verteidiger:innen „ihres“ kapitalistischen Staates.

Die Revolutionär:innen müssen jedoch unterscheiden zwischen den Illusionen der Massen, die ein von der russischen Armee bombardiertes Volk unterstützen wollen, und dem sozialen Pazifismus der reformistischen Führer:innen, die sich in imperialistische Patriot:innen und sogar Kriegstreiber:innen verwandeln. Sie müssen letztere als Unterstützer:innen der Bourgeoisie entlarven. Gleichzeitig müssen sie den Massen geduldig den wahren Charakter des Krieges erklären, sie zum Kampf gegen die Militarisierung ihres eigenen Imperialismus auffordern und dagegen, sie für die Kosten dieser „Sicherheit“ und „Freiheit“ aufkommen zu lassen. Sie müssen für den Aufbau einer internationalistischen Antikriegsbewegung kämpfen, die den Kampf gegen die Kriegsgefahr in einen gegen die Kapitalist:innenklasse verwandelt.