Interview zur Situation von LGBTIAQ-Menschen in Tunesien

Robert Teller, Gruppe ArbeiterInnenmacht, Fight, Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, März 2020

Alaa Khemiri ist ein tunesischer
Rechtsanwalt, der auf die Verteidigung von LGBTQ-Menschen vor staatlicher
Repression spezialisiert ist. Er ist seit der Revolution von 2011 ein Aktivist
in der tunesischen Linken.

Hallo Alaa. Du bist Rechtsanwalt und
verteidigst LGBT-Menschen, die in Tunesien von staatlicher Repression betroffen
sind. Wie sieht diese Repression aus?

Die LGBT-Community wird vom tunesischen
Staat mithilfe des Strafrechts verfolgt. Gemäß Artikel 230 des Strafgesetzbuchs
steht auf homosexuellen Geschlechtsverkehr bis zu 3 Jahre Gefängnis und eine
zusätzliche Geldstrafe. Artikel 226 richtet sich gegen Transgender-Personen,
weil diese die „öffentliche Moral“ verletzen. Darüberhinaus sind die
tunesischen Gerichte Homosexuellen gegenüber feindlich eingestellt. Sie wenden
nicht nur die genannten Paragraphen an, sie gehen sogar über die gesetzlichen
Straftatbestände hinaus und behandeln die homosexuelle Identität als
Verbrechen, obwohl Artikel 230 nur den Geschlechtsverkehr kriminalisiert und
nicht bereits die sexuelle Orientierung.

In der Praxis wandern Homosexuelle ins
Gefängnis, ob sie sexuelle Beziehungen hatten oder nicht. Die tunesischen
Gerichte ordnen bei männlichen Homosexuellen Anal-Untersuchungen an, um
sexuelle Kontakte nachzuweisen. Andere Gerichte gehen sogar noch weiter.
Manchmal reicht es aus, dass ein Mann „verweiblicht“ erscheint, damit ein
Gericht ihn als Homosexuellen ansieht und entsprechend bestraft.

Lesbische Frauen und bisexuelle Frauen und
Männer haben es etwas leichter. Gerichte können Homosexualität bei Frauen nur
schwer nachweisen, weil kein medizinischer oder sonstiger „Test“ hierfür
anerkannt ist. Auch bisexuelle Männer können nur schwer der Homosexualität
„überführt“ werden, sofern sie mit einer Frau verheiratet oder verlobt sind.
Die Heirat verleiht ihnen eine soziale Legitimität. Viele Homosexuelle heiraten
aus diesem Grund, um ihre wirkliche Identität zu verbergen und gesellschaftlicher
Stigmatisierung und Ausgrenzung zu entgehen.

Tunesien scheint nach der Wahl von Kais
Saied von einer Welle des Populismus erfasst zu sein, wie auch viele andere
Länder. Denkst du, dass es für LGBT-Menschen schwieriger wird?

Die rechtliche Situation für Homosexuelle
hat sich nicht verändert. Aber die Äußerungen von Kais Saied vor der Wahl waren
homophob und populistisch. Für ihn ist Homosexualität pervers und ein Virus,
das der Westen verbreitet hat, um die tunesische Gesellschaft zu zerstören.

Auf welche Weise sind junge LGBT-Menschen
speziell von Unterdrückung betroffen, etwa in der Schule, an der Uni oder in
ihrer Familie?

Abgesehen von der systematischen
rechtlichen Unterdrückung erfahren Homosexuelle gesellschaftlichen Hass und
Zurückweisung. Viele Familien werfen ihr Kind aus dem Haus, wenn sie von seiner
Homosexualität erfahren – um Einschüchterung durch die erweiterte Großfamilie
oder das soziale Umfeld zu vermeiden. Auch in Schulen werden Homosexuelle Opfer
von Hass und Einschüchterung, und deshalb versuchen sie normalerweise, ihre
sexuelle Identität zu verheimlichen und dem gesellschaftlichen Mainstream zu
folgen, um gesellschaftlicher Ausgrenzung und staatlicher Repression zu
entgehen.

Welche Gründe hat die Diskriminierung von
LGBT-Personen, abgesehen von den gesetzlichen Regelungen?

Die Ausgrenzung entspringt der islamischen
Doktrin und den islamischen Institutionen. Der orthodoxe Islam sieht als Strafe
für Homosexualität die Todesstrafe vor. Der islamische Diskurs in Tunesien ist
hasserfüllt, Homosexuelle werden als pervers oder krank betrachtet. Die
islamischen Institutionen sind das größte Hindernis für Gleichberechtigung.

Staat, Religion und Gesellschaft
akzeptieren in Tunesien Homosexualität nicht, sie verbreiten Propaganda, um deren
sexuelle Identität zu erniedrigen, die sie als Bedrohung für Werte und Moral
der Gesellschaft betrachten. Die tunesische Gesellschaft ist für ihren
Konservatismus bekannt. Sogar viele Abgeordnete betrachten Homosexualität als
Sünde.

Die Tunesische Revolution hat den
Klassenkampf in Tunesien stark bestimmt. Gab es seither Verbesserungen bei den
Rechten von LGBT-Menschen?

Der einzige Fortschritt ist, dass das Thema
nun öffentlich debattiert wird. Vor 2011 war es ein Tabu, man konnte es nicht
öffentlich ansprechen. Das ist der Verdienst von LGBTQ-Vereinigungen, die das
Thema in die Öffentlichkeit gebracht haben.

Welche Positionen gibt es in den
traditionellen Organisationen der tunesischen Linken dazu? Ist sexuelle
Befreiung für sie eine Priorität?

Die traditionelle Linke ist konservativ und
betrachtet LGBTQ-Rechte nicht als Priorität ihres Kampfes. Selbst wenn dieses
Thema diskutiert wird, verteidigen die konservativen Linken die LGBT-Community
nicht. Sie betrachten das als zweitrangig gegenüber der Verteidigung
ökonomischer und sozialer Errungenschaften.

Wie organisieren sich LGBT-Menschen in
Tunesien, um für ihre Rechte zu kämpfen? Was ist deiner Meinung nach notwendig,
um den Kampf voranzubringen?

Nach der Revolution 2011 haben sich viele
Vereinigungen gegründet, die das Ziel haben, die LGBTQ-Community zu verteidigen
– und zwar zum ersten Mal in der Geschichte Tunesiens und der arabischen Welt
überhaupt. Es gibt mehr als 5 verschiedene Organisationen, die sich der
gegenseitigen Hilfe und Verteidigung der LGBTQ-Community verschrieben haben,
etwa die Organisationen „Shams“, „Damj“ und „We exist“.

Diese Organisationen machen kontinuierlich
öffentliche Kampagnen. Eine von ihnen veranstaltet seit 2015 ein jährliches
Festival für Queer-Kultur. Shams hat einen eigenen Radiosender gestartet,
„Shams Rad“, der die Belange der LGBTQ-Community verteidigt.

Dennoch, die Strategie bei den meisten
dieser Organisationen zielt nicht darauf ab, die gesellschaftliche Wahrnehmung
gegenüber LGBTQ-Menschen zu verändern, sondern durch Lobbyarbeit auf die
liberalen Kräfte einzuwirken, um die homophobe Gesetzgebung zu beseitigen. Sie
finden es zu schwer, die gesellschaftlichen Ansichten über die homosexuelle
Identität in der tunesischen Gesellschaft ändern zu wollen.

Sie versuchen durch Öffentlichkeitsarbeit,
die liberalen Kräfte und die ausländischen Stiftungen in Tunesien zu
sensibilisieren, um damit politische Entscheidungen zu beeinflussen. Ich denke,
die Community sollte geschlossen auftreten und Druck auf das Parlament ausüben,
die homophobe Gesetzgebung zu ändern.

Tunesien wird oft als das
fortschrittlichste nordafrikanische Land beschrieben, was Frauenrechte
betrifft. Trifft das zu, und widerspricht das der Situation von LGBT-Personen?

Die tunesische Gesetzgebung in Hinblick auf
die Rechte von Frauen ist tatsächlich die fortschrittlichste in ganz Nordafrika
und dem Nahen Osten, aber das gilt eben nicht für die LGBTQ-Gesetzgebung – die
ist genauso reaktionär wie überall im arabischen Raum.




Tunesien: Revolution in der Sackgasse?

Interview mit Alaa Sartre, einem tunesischen Aktivisten und Mitglied der Studentengewerkschaft UNET, Neue Internationale 180, Juni 2013

artikel_tunesienNI: Die islamistische „Nahdha“ ist Regierungspartei in Tunesien, die Jihadisten bekommen Zulauf. Wie sind die Aussichten für die tunesische Revolution?

Alaa: Seit den Wahlen am 23. Oktober, bei denen „Nahdha“ an die Regierung kam, können wir zwei Dinge beobachten: Erstens hat sich die Wirtschaftslage verschlechtert, selbst nach offiziellen Statistiken geht es für die Bevölkerung rapide bergab. Die Regierung ist in einer Haushaltskrise und musste mit dem IWF einen Kredit über 1,7 Mrd. US-Dollar aushandeln. Die Leute hier haben „Nahdha“ gewählt, weil sie sich von denen Ruhe und Ordnung versprochen haben, aber für die Bekämpfung der Armut hatte sie nie ein Programm. Nicht nur die Arbeiterklasse, sondern auch die Mittelschicht verarmt, weil die Preise steigen.

Zweitens wächst die extreme Rechte. Bei den Wahlen waren die Salafisten noch eine wichtige Unterstützung für „Nahdha“. Danach sind sie zu Gewalt gegen Linke und Oppositionsparteien übergegangen.

NI: Welche Rolle spielt die tunesische Linke?

Alaa: Die Linke insgesamt hat keine Antworten auf die Bedürfnisse der Massen nach der Revolution gegen Ben Ali. Die Kommunistische Partei von Mohammed Hamami etwa – sie war unter Ben Ali eine verbotene Oppositionspartei – weiß nicht, wie sie die offensichtlichen Widersprüche in der Gesellschaft ausnutzen kann, sie hat ihre Analyse nicht weiterentwickelt. Auf der einen Seite spricht sie von sozialer Revolution, auf der anderen beschränkt sie sich völlig auf Wahlen. Was sie sagen, hört sich deswegen recht utopisch an und kann die Massen nicht überzeugen. Am allerwenigsten überzeugt es die Jugend, die damals die Revolution gegen Ben Ali angeführt hat.

Ein Beispiel für ihr Versagen ist der Mord an Chokri Belaid am 6. Februar. Es gab danach große Massendemonstrationen, aber die KP hat das nicht für eine politische Kampagne gegen „Nahdha“ benutzt. Im Endeffekt hat der Mord das Ansehen von „Nahdha“ nicht beschädigt, sondern verbessert, nachdem sie die Regierung umgebildet haben. Sie stellen sich als „ordentlich“ und „gemäßigt“ dar.

NI: Wie ist das Verhältnis zwischen den „gemäßigten“ Islamisten wie „Nahdha“ und den Salafisten wie „Ansaar Sharia“?

Alaa: „Nahdha“ und „Ansaar Sharia“ haben dieselben Grundüberzeugungen, beide wollen die „Herrschaft Gottes“. Sie geben sich aber unterschiedlich. „Nahdha“ hält sich bei Themen wie Säkularität und demokratische Rechte eher bedeckt, während die Salafisten klar ihre fundamentalistischen Positionen äußern. Die Salafisten waren die wichtigste Wahlunterstützung für „Nahdha“. Der Unterschied zwischen beiden ist, dass „Ansaar Sharia“ sich hauptsächlich auf verarmte Schichten stützt, zu denen sie in den Moscheen Zugang finden. „Nahdha“ wurde ursprünglich mehr von wohlhabenden Schichten getragen und hat nach Ben Alis Sturz an ihrem Image als „Opfer des Regimes“ gearbeitet, um populär zu werden. In letzter Zeit haben sie sich scheinbar auseinander entwickelt, die Salafisten beschuldigen die Regierung, dass sie ausländische Einflussnahme zulassen, umgekehrt ist es für „Nahdha“ ein Problem, dass die Salafisten Unterstützung für Al Qaida erklärt haben. Aber beide wollen Zusammenstöße möglichst  vermeiden.

Die Linke hat keine klare Haltung zu den Jihadisten. Sie verurteilen natürlich deren gewalttätige Angriffe, aber sie tun so, als wäre es nicht ihr Problem. Dabei ist es das Ziel der Salafisten, die Linke zu bekämpfen. So lange sie sich dagegen nicht zur Wehr setzt, spielt sie „Nahdha“ in die Hände, weil diese vorgibt, die Gewalt zu stoppen.

NI: Wie hat sich die Situation für die StudentInnen seit 2011 verändert?

Alaa: Es gibt heute mehrere Studentengewerkschaften, die legal an den Universitäten arbeiten können. Die Einschränkungen von Ben Ali sind vollständig aufgehoben. Die wichtigste und älteste Gewerkschaft ist die UGET (Union Génerale des Étudiants Tunisiens, dt. Allgemeine Gewerkschaft tunesischer Studierender). Die soziale Lage der Studenten hat sich nicht verbessert. Wir bekommen vom Staat 70 Dinar pro Monat (etwa 35 Euro) – davon müssen wir leben, wenn wir nichts von unseren Familien bekommen. Wer nicht aus Tunis kommt, kann kostenlos in Wohnheimen übernachten, aber man hat dort keine Ruhe. Ebenso kann man kostenlos in der Mensa essen, aber die Qualität ist schlecht, früher sind viele vom Essen krank geworden. Doch das hat sich gebessert, weil die UGET sich dafür eingesetzt hat.

NI: Du hast mit anderen Aktivisten eine Schüler-Gewerkschaft gegründet. Welche Erfahrungen hast du gemacht?

Alaa: Ich habe am 15. Januar 2011, am Tag nach der Revolution, mit ein paar anderen Aktivisten einen Aufruf verfasst, eine Gewerkschaft für SchülerInnen zu gründen. Es gab zwar viele AktivistInnen an Schulen, aber keine gewerkschaftliche Organisation. Wir hielten dies aber für nötig, damit wir effektiv für unsere sozialen Belange, aber auch für allgemeine politische Ziele nach Ben Alis Sturz eintreten können. Wir hatten dann ein erstes Treffen in Sousse, da waren wir noch nicht viele, aber dafür kamen Aktivisten aus allen Teilen Tunesiens. Am Hochpunkt hatte die UNET (Union Nationale des Étudiants Tunisiens) etwa 3.000 Mitglieder in ganz Tunesien. Wir haben unsere Konferenzen dann in den Räumen der UGTT, dem Dachverband der Gewerkschaften, abhalten können.

Einige Probleme haben wir aber nicht bewältigen können. Einige Parteien, wie die KP und die Baath-Partei, haben sehr stark versucht, uns politisch zu vereinnahmen. Sie haben zu unseren Treffen Delegierte geschickt, die selbst keine SchülerInnen waren, und haben so ihre eigenen Projekte durchgedrückt. Das stand unserem Anspruch entgegen, endlich eine Organisation zu haben, wo wir unsere eigenen Ziele verfolgen können. Außerdem waren unsere Aktivitäten an Schulen verboten. Die KP hat es abgelehnt, sich für eine Legalisierung einzusetzen, wie sie bei UGET erfolgt ist – während sie gleichzeitig die politische Kontrolle zu erlangen versuchte.

NI: Danke für das Interview und viel Erfolg.

Bild: http://www.flickr.com/photos/busy-pochi/ (CC BY-NC-SA 2.0)




Tunesien: Eine zweite Revolution?

Ilona Szernethy, Infomail 671, 11. März 2013

Anfang Februar 2013 begann in Tunesien eine Welle heftiger Proteste. Ausgelöst wurde sie durch die Ermordung des Oppositionellen Belaid.

Belaid, Jurist und Generalsekretär der sich marxistisch-panarabisch nennenden „Bewegung der Demokratischen Patrioten“ (MOUPAD) und deren Volksfront-Bündnis wurde am 6. Februar vor seinem Haus erschossen. Kurz nach Bekanntwerden des Attentats versammelten sich spontan wütende Massen vor dem Innenministerium, in mehreren Städten gab es Demonstrationen, in manchen wurden die Büroräume der islamistischen Ennahda-Partei verwüstet, in Tunis wurde sogar ein Ennahda-Bürogebäude in Brand gesetzt.

Belaid war Anwalt und kommt aus der Arbeiterbewegung. Er lebte bis zu seiner Ermordung in einem proletarischen Stadtteil. Unter Ben Ali war er als mutiger Verteidiger von GewerkschafterInnen bekannt, insbesondere der Bergarbeiter aus der Region Gafsa. Nach dem Sturz des Diktators war er ein scharfer Kritiker der regierenden „Troika“, in der, abgesehen von Ennahda, die mit 41,47% der Stimmen führt, auch noch die sozialdemokratische „Ettakatol“ und – bis vor kurzem – der liberale „Kongress für die Republik“ (CPR) sitzen.

Die gewählte Verfassunggebende Versammlung wurde im Oktober 2011 durch die ersten freien Wahlen seit Ben Ali beauftragt, innerhalb eines Jahres eine Verfassung zu erstellen und Parlamentswahlen zu organisieren. Diese Aufgabe steht jedoch noch immer aus.

In den letzten Monaten kam es verstärkt zu Übergriffen auf Veranstaltungen und Lokale der Opposition und der Gewerkschaften, zivilgesellschaftliche Gruppierungen und Frauenorganisationen.Warum sich die Proteste so gezielt gegen die Ennahda richten, wird klar, wenn man sich die Entwicklungen der letzten Monate ansieht. Es kam verstärkt zu Übergriffen auf Veranstaltungen und Lokale der Opposition und der Gewerkschaften, zivilgesellschaftliche Gruppierungen und Frauenorganisationen. Diese sind der „Liga zum Schutz der Revolution“ zuzuschreiben, ein  ironischer Name für die der Ennahda nahestehenden gewalttätigen Milizen, die fortschrittliche und oppositionelle Kräfte angreifen. Weitere Terroraktionen kamen von den tunesischen Salafisten, die sogar Theater und Ausstellungen überfielen sowie Synagogen.

Ennahda weist natürlich die Verantwortung entschieden von sich. Der ehemalige Ministerpräsident Hamadi Jebali, als „gemäßigt“ bekannt, verurteilte mit scharfen Tönen den „Terrorakt gegen ganz Tunesien“. Er und seine Regierungspartei warnen vor der „Kriminalitätsfalle“ und vor Chaos und Unruhen im Land. Der Grund dafür ist ihre Angst – könnte sie die erneute Protestwelle doch um ihre Macht bringen.

Generalstreik

Doch die TunesierInnen lassen sich nicht beirren. Sie schreiben „Dégage“ („Hau ab!“) auf ihre Banner – wie schon vor zwei Jahren, als sie Diktator Ben Ali vertrieben. Jetzt richtet sich diese Losung gegen die Ennahda – sie fordern den Rücktritt der Troika. Ennahda-Chef Ghannouchi antwortete auf den Vergleich der aktuellen Situation mit der Revolution 2011, dass Belaid nicht Bouazizi ist und er selbst nicht Ben Ali. Doch die Ähnlichkeiten lassen sich nicht leugnen.

Schon 2012 gab es immer wieder Proteste gegen die mittlerweile sehr unbeliebte gemäßigt-islamistische Regierungspartei Ennahda, die sich gern mit der türkischen AKP vergleicht.

Das Volk will eine neue Revolution.Für den 8. Februar 2013 riefen die Oppositionsparteien und die größte Gewerkschaft zu einem Generalstreik auf – am selben Tag wurde Belaid beigesetzt, es gingen insgesamt 1,4 Millionen Menschen auf die Straße – bei 11 Millionen EinwohnerInnen! Es sollte ein „friedlicher Streik gegen Gewalt“ sein, so die Gewerkschaft. Dennoch marschierte in Tunis die Armee auf, aus Angst vor Ausschreitungen. Die DemonstrantInnen riefen „Das Volk will eine neue Revolution“. Sie machten klar, dass sie den Kampf Belaids fortsetzen werden. Als Antwort darauf organisierte auch die Ennahda eine Demonstration, die aber nur ein lächerlicher Versuch von Machtdemonstration wurde, denn sie brachte gerade einmal 15.000 auf die Straße.

Die Ennahda hat viele Rückschläge hinnehmen müssen – angefangen beim Rücktritt ihres Ministerpräsidenten Jebali, der die von ihm geforderte Expertenregierung nicht durchsetzen konnte und daraufhin zurücktrat. Vor allem aber verlor sie das Vertrauen und die Beliebtheit in weiten Teilen der Bevölkerung. Die Verfassunggebende Versammlung steckt in einer Krise, viele Mandatare sind zurückgetreten, sogar der CPR hat die Troika verlassen, die Opposition hat das vorläufige Einstellen der Mitarbeit angekündigt. Es bleibt fast nur die Ennahda, die aber krampfhaft an ihrer Macht festhält.

Das Land, in dem sich der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi im Januar 2011 selbst in Brand gesteckte und damit den Arabischen Frühling ausgelöst hatte, erlebt eine erneute Protestbewegung. Die tunesische Bevölkerung hatte sich nach der Revolution ein besseres Leben erhofft, doch ihre ökonomische und politische Lage hat sich kaum geändert. Noch immer herrscht massive Arbeitslosigkeit, die Polizei prügelt immer noch, die Lebensmittelpreise steigen, genau wie die Inflationsrate, die Regierung antwortet auf Protest mit Repression – so wurden viele Demonstrationen verboten oder niedergeschlagen.

Die alten Diener des Imperialismus wurden durch die Revolutionen im arabischen Raum gestürzt, doch inzwischen durch neue reaktionäre Marionetten des Kapitals ersetzt. Keine der regierenden Parteien will wirklich an den dringenden Problemen der armen Bevölkerung etwas ändern. Im Gegenteil, besonders die Ennahda in Tunesien fährt einen absolut neoliberalen Kurs, den sie nicht einmal, wie andere reaktionär-religiöse Parteien als „anti-imperialistisch“ zu tarnen versucht. Sie verkauft die tunesische Wirtschaft ganz offen an ausländische Investoren.

Doch die tunesische Arbeiterklasse und die Jugend haben aber das Kämpfen nicht verlernt. Im letzten Jahr hatten sie in ganz Tunesien zahlreichen Streiks, Aufstände und Demonstrationen organisiert, um ihre Rechte einzufordern. Einer der größten Proteste, welcher aber von den westlichen Medien weitgehend ignoriert wurde, war ein 5-tägiger Generalstreik der besonders  ausgebeuteten ArbeiterInnen in Siliana im Dezember 2011/Januar 2012, die u.a. bessere Löhne und reguläre Arbeitsverträge verlangten. Dieser Protest wurde brutal niedergeschlagen. Die Gewerkschaft, welche die Proteste geführt hatte, hatte sich aber schlussendlich mit der Regierung geeinigt, weitere Protestmaßnahmen desorganisiert und damit den berechtigten Aufstand der kämpfenden ArbeiterInnen verraten.

Eine halbe Revolution?

Doch wie die aktuelle Entwicklung zeigt, kommt Tunesien nicht zur Ruhe, weil die ökonomische Lage Tunesiens sich weiter verschlechtert und das tunesische Proletariat zugleich Mut beweist, um ein freies und würdiges Leben zu kämpfen.

Die arbeitenden Massen und Jugend müssen sich gegen die Regierung und zugleich gegen das kapitalistische System erheben.Die revolutionäre Welle, die 2011 begann, hat den TunesierInnen zwar formale politische Freiheiten und Rechte gebracht, aber die grundlegenden politischen und sozialen Probleme, die zur  Revolution führten, sind geblieben. Mehr noch: selbst die formalen Freiheiten werden jetzt von reaktionären Islamisten und neoliberalen Kräften bedroht. Eine zweite Revolution ist notwendig! Die arbeitenden Massen und Jugend müssen sich gegen die Regierung und zugleich gegen das kapitalistische System erheben.

Wie bei den anderen Revolutionen des Arabischen Frühlings sind auch in Tunesien die  demokratischen und sozialen Aufgaben noch weitestgehend ungelöst:

  • Auflösung und Zerschlagung der brutalen Polizei- u.a. Repressionskräfte, die noch vom alten Regime stammen und vom neuen übernommen wurden, und ihre Ersetzung durch Milizen der ArbeiterInnen und armen Massen! Zerschlagung der halb-faschistischen islamistischen Banden!
  • Enteignung der reichen parasitären Nutznießer des alten und neuen Regimes, Übertragung des Landes an jene, die es bebauen, Verstaatlichung der Unternehmen unter Arbeiterkontrolle!
  • Freilassung aller politischen Gefangenen! Festnahme der Mörder Belaids u.a. AktivistInnen, der korrupten Richter und der Folterknechte in den Gefängnissen sowie ihrer Hintermänner! Sie müssen vor von den Massen gewählte Tribunale gestellt und von diesen abgeurteilt werden!

Die tunesischen Massen müssen sich an das bekannte Diktum des französischen Jakobiners Saint Just erinnern, nachdem sich eine Revolution, die auf halbem Weg stehen bleibt, ihr eigenes Grab schaufelt.

Heute droht die tunesische Revolution tatsächlich auf halbem Weg stecken zu bleiben und in einer ganzen Konterrevolution zu enden. Die Massendemonstration und der Generalstreik nach der Ermordung Belaids zeigen aber auch, dass die Massen spontan darauf drängen, die Revolution weiter zu treiben und zu vollenden.

Aber um das zu tun, ist es notwendig, die Mobilisierung voranzutreiben. Die Arbeiterklasse und die Gewerkschaften müssen einen Generalstreik organisieren, um die Regierung zu stürzen und die Einrichtung einer „Übergangsregierung“, die von den Parteien der „Troika“ ernannt wird, zu verhindern und die „Konstituierende Versammlung“, die nicht vom Fleck kommt, aufzulösen.

Zweifellos setzen auch heute noch viele TunesierInnen ihre Hoffnungen in eine „echte“, bürgerlich-demokratische Verfassunggebende Versammlung. Doch wenn diese von den herrschenden Parteien kontrolliert wird, kann sie entweder zu einer kompletten Farce oder zu einem Machtmittel werden, das – wie in Ägypten – nur eine neue autoritäre Herrschaftsform legitimiert.

Arbeiter- und Bauernregierung

Daher ist es notwendig, dass die Einberufung und Wahl einer solchen Versammlung unter der Kontrolle der ArbeiterInnen und Jugendlichen, der revolutionären Massen, organisiert in räte-ähnlichen Komitees in den Betrieben und Stadtteilen stattfindet. Dabei muss die Arbeiterklasse  immer für ihr eigenes Programm kämpfen: für die Errichtung einer Arbeiter- und Bauernregierung, deren Hauptaufgabe es sein muss, zunächst die unmittelbaren Bedürfnisse der Massen zu befriedigen – durch ein Programm öffentlicher Arbeit, durch die Einführung von Mindestlöhnen und -einkommen durch die Besteuerung der Reichen und die Enteignung der Großgrundbesitzer, der tunesischen, europäischen, US-amerikanischen und sonstigen KapitalistInnen und die Umsetzung eines Notplans zur Reorganisation der Wirtschaft unter Arbeiterkontrolle.

Eine solche Arbeiter- und Bauernregierung wird sich natürlich nur halten können, wenn sie den repressiven Staatsapparat, der aus der Diktatur stammt, zerschlägt und durch Arbeiter- und Soldatenräte und durch eine Arbeitermiliz ersetzt. Kurzum: nur eine sozialistische Revolution wird in der Lage sein, sowohl die demokratischen Forderungen der Massen wie ihre sozialen Interessen zu sichern und zu erfüllen.