Neujahrserklärung der Chinesischen Revolutionären Sozialist:innen (Trotzkist:innen)

Chinesische Revolutionäre Sozialist:innen (Trotzkist:innen), 30. Dezember 2023, Infomail 1240, 1. Januar 2024

Wir veröffentlichen die folgende Erklärung in Solidarität mit ihren Verfasser:innen und als Beitrag zur Entwicklung revolutionärer Gruppen in China.

Das Jahr 2023 geht zu Ende und die Welt steht vor einer Krise, die möglicherweise tiefer ist als die Finanzkrise von 2008. Der russisch-ukrainische Krieg ist noch nicht beendet. Der Lebensstandard der Arbeiter:innenklasse in den europäischen und amerikanischen Ländern ist von der höchsten Inflation seit Jahrzehnten betroffen. Der palästinensisch-israelische Konflikt droht den gesamten Nahen Osten in einen Krieg zu stürzen, während die ohnehin schon schwachen Volkswirtschaften der meisten Länder der Dritten Welt unter dem Doppelschlag von Pandemien und geopolitischen Rivalitäten am Rande des Bankrotts stehen.

In China verschlechtert sich die wirtschaftliche Lage, und das parteistaatliche System steuert stetig auf Instabilität zu. Die zwangsläufig ungleiche Entwicklung des Kapitals innerhalb Chinas in Verbindung mit den Verzerrungen der bürokratischen Kontrolle haben nicht nur zu sinkenden Wachstumsraten, sondern auch zu Spaltungen innerhalb der herrschenden bürokratischen Kaste geführt. Zu einem solchen historischen Zeitpunkt ist es nach Ansicht der chinesischen Trotzkist:innen an der Zeit, ihre Ansichten, Grundsätze und Positionen zur chinesischen Revolution öffentlich zu machen, sich von den Programmen der Maoist:innen (Mao-Linken) und der Liberalen abzugrenzen und die Strategie und Taktik für die bevorstehende Massenbewegung zu klären.

Als aufrichtige Marxist:innen-Leninist:innen halten wir diese Wahrheit für selbstverständlich, dass aufeinanderfolgende Produktionsweisen die menschliche Produktivität bis zu dem Punkt gesteigert haben, an dem ihre eigenen sozialen Strukturen eine weitere Entwicklung unmöglich machten. Damit die Produktion ein höheres Niveau erreichen konnte, mussten diese sozialen Strukturen in einer sozialen Revolution umgestürzt werden. Der Kapitalismus, der die Produktivkräfte bis zu einem globalen System der wirtschaftlichen Produktion entwickelt hat, hat nun den Punkt erreicht, an dem seine soziale Struktur die Gesellschaft vor die Alternative Sozialismus oder Barbarei stellt. Das Ziel des Sozialismus ist Freiheit, Gleichheit und die nachhaltige Entwicklung der Menschheit, und um diesem Ziel zu dienen, soll die Arbeiter:innenklasse, die selbst das Produkt des modernen Kapitalismus ist, die bürgerliche Staatsmaschinerie zerschlagen und durch einen Arbeiter:innenstaat ersetzen, um das kapitalistische System zur Erzielung von Profit zu stürzen und es durch eine Planwirtschaft zur Befriedigung der Bedürfnisse zu ersetzen, die den Weg zu einer staatenlosen und klassenlosen kommunistischen Gesellschaft ebnet.

Die Herrschaft von demokratisch rechenschaftspflichtigen Arbeiter:innenräten ist das entscheidende Merkmal eines Arbeiter:innenstaates, der den Weg zum Sozialismus und Kommunismus eröffnen kann. Dieses grundlegende Axiom des Marxismus wurde erstmals aus den Erfahrungen der Pariser Kommune von 1871 formuliert und von den Bolschewiki in der Russischen Revolution von 1917 weiterentwickelt. Es wurde durch die Erfahrungen der Sowjetunion, Chinas und der anderen degenerierten Arbeiter:innenstaaten, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind und von denen keiner in der Lage war, seine Wirtschaft auf ein höheres Niveau als die fortgeschrittenen imperialistischen Staaten zu entwickeln, auf der negativen Seite bestätigt.

Die Kommunistische Partei Chinas (im Folgenden KPCh) war bei ihrer Gründung 1921 eine echte revolutionäre Arbeiter:innenpartei. Dennoch sah sich die KPCh infolge der falschen Führung durch die stalinistische Dritte Internationale und der historischen Niederlage des chinesischen Proletariats im Jahr 1927 mit ungeheuer harten Bedingungen konfrontiert, als alle städtischen Arbeiter:innenorganisationen und die Vorhut vernichtet wurden. Weit davon entfernt, ihre soziale Basis in der Arbeiter:innenklasse aufrechtzuerhalten, war die KPCh gezwungen, auf dem konservativen und rückständigen Land zu überleben, und rekrutierte ihre Soldat:innen aus der revolutionären Bauern- und Bäuerinnenschaft. Der Klassencharakter der Partei änderte sich allmählich in qualitativer Hinsicht. Als Mao Zedong und die Rote Armee 1936 in Yan’an (Yenan) eintrafen, war die KPCh bereits zu einer konterrevolutionären Partei einer militärisch-bürokratischen Kaste geworden, die bereit war, ihre Macht um jeden Preis zu verteidigen. Hier entstand der Maoismus, der „Stalinismus mit chinesischen Merkmalen“.

1949 kam die KPCh an der Spitze einer Volksfront an die Macht, deren ursprüngliches Programm eine längere Periode der kapitalistischen Entwicklung vorsah. Als sich dies als unmöglich erwies, stürzte die KPCh, die in der Staatsbürokratie verwurzelt war, die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und schuf einen degenerierten Arbeiter:innenstaat. Obwohl die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse durch bürokratische Maßnahmen umgestürzt worden waren, wurde der Fortschritt hin zu qualitativ höheren Produktionsniveaus und sozialer Gleichheit durch die Herrschaft einer bürokratischen Kaste verhindert. Der Übergang zum Sozialismus erforderte daher den Sturz der KPCh durch eine politische Revolution.

Heute, 30 Jahre nach dem Beschluss der KPCh von 1992, den Kapitalismus wiederherzustellen, hat sich der Klassencharakter Chinas von einem kapitalistischen Land zu einem imperialistischen kapitalistischen Land mit globalen Ambitionen entwickelt. Die Aufgabe des chinesischen Proletariats ist daher nicht mehr die politische Revolution, sondern die soziale Revolution – mit anderen Worten, die proletarische Revolution müsste sowohl der Einparteiendiktatur als auch den kapitalistischen Eigentumsverhältnissen, die vom Parteistaat verteidigt und gefördert werden, ein Ende setzen.

In der Epoche des Imperialismus – dem höchsten und letzten Stadium des Kapitalismus – sind die objektiven Voraussetzungen für eine proletarische Revolution überall auf der Welt reif. Die Geschichte zeigt jedoch immer wieder, dass die subjektiven Bedingungen für eine Revolution ebenso wichtig sind wie die objektiven. Deshalb verkünden wir, die chinesischen Trotzkist:innen, auf der Grundlage der Prinzipien und Erfahrungen des Bundes der Kommunist:innen, der Ersten Internationale, des linken Flügels der Zweiten Internationale, der Dritten Internationale in der Ära Lenins und der Vierten Internationale in der Ära Trotzkis den Bürger:innen in China und der Welt die folgenden 10 Punkte als unsere Haltung:

1. Nieder mit der bürokratischen Diktatur! Abschaffung der „führenden Rolle“ der KPCh.

China ist ein kapitalistisches Land, wir fordern die sofortige Anerkennung aller demokratischen Forderungen, die mit dem Kapitalismus vereinbar sind, wie Vereinigungs-, Rede-, Bewegungsfreiheit, das Recht, unabhängige Gewerkschaften und Parteien zu bilden. Die öffentliche Verwaltung ist notwendig, aber die bürokratische Herrschaft ist es nicht: Alle Parteikomitees und Posten der KPCh in allen Bereichen des Lebens, in der Wirtschaft, in der Politik und im sozialen Bereich müssen aufgelöst werden. Die bürokratische Herrschaft hat die grundlegende Spaltung der Gesellschaft zwischen den Arbeiter:innen und der Kapitalist:innenklasse verschleiert, die die bürokratische Herrschaft unterstützt, solange sie die Kapitalakkumulation garantiert. Kein Vertrauen in die Kapitalist:innen und ihre Verbündeten im Kampf für die Rechte der Arbeiter:innen.

2. Für die Wahl von Betriebsausschüssen, die dann als Grundlage für Arbeiter:innenräte sich aus abwählbaren Delegierten zusammensetzen.

Aufgrund des Charakters des stalinistischen Regimes würde jede unabhängige Organisierung der Arbeiter:innenklasse sofort in Konflikt mit dem Staatsapparat geraten, welches Problem auch immer ihre Mobilisierung auslösen mag. In allen Betrieben und Fabriken sind die demokratisch gewählten betrieblichen Ausschüsse aller Arbeiter:innen die oberste Instanz. Die im Betriebsrat sitzenden Abgeordneten müssen jederzeit von einer Vollversammlung abberufen werden können. Abschaffung des Geschäftsgeheimnisses, Offenlegung aller Management-Informationssysteme, Bücher und Konten zur Kontrolle durch die Arbeiter:innendeputierten.

Fabrikausschüsse sollen die Arbeiter:innenkontrolle in allen Aspekten der Produktion durchsetzen, einschließlich der Gewährleistung des Streikrechts und des Vetorechts gegen Entscheidungen der Unternehmensleitung – ob es um Löhne, Arbeitsbedingungen oder Entlassungen geht. Gegen die Privatisierung des Bankwesens und der staatlichen Monopolindustrien! Für Arbeiter:innenkontrolle über die People’s Bank of China (Chinesische Zentralbank), die Enteignung aller Geschäftsbanken und ihre Zusammenlegung zu einer einzigen Staatsbank, ein wesentlicher Schritt zur Einführung einer demokratischen Planung, die von einem staatlichen Planungsrat überwacht wird, wie es sowohl Lenin als auch die sowjetische linke Opposition in den frühen 1920er Jahren vorschlugen! Für Arbeiter:innenkontrolle über die staatlichen Industrien, einschließlich, aber nicht beschränkt auf Energie, Wasser, Elektrizität, Telekommunikation, Eisenbahn, Luftfahrt und Mineralien.

3. Außerhalb des Arbeitsplatzes muss das Proletariat unabhängige Gewerkschaften als zentrales Element seiner Klassenorganisation haben.

Entweder durch die Umgestaltung der bestehenden „staatlichen“ Gewerkschaften oder Schaffung neuer Gewerkschaften in der demokratischen Bewegung müssen unabhängige Gewerkschaften ihren Mitgliedern gegenüber rechenschaftspflichtig sein und von ihnen kontrolliert werden. Gewerkschaftsfunktionär:innen müssen von den Gewerkschaftsmitgliedern direkt gewählt und abwählbar sein; die „führende Rolle der Partei“ wird abgeschafft; Gewerkschaftsfunktionär:innen erhalten das Durchschnittsgehalt ihrer Mitglieder.

4. Gegen die Zensurgesetze der KPCh-Bürokratie sollten die Lohnabhängigen selbst entscheiden, was sie veröffentlichen wollen.

Unterstützung der freien Verbreitung aller literarischen und künstlerischen Werke. Öffnung des Zugangs zu Presse, Zeitungen, Radio und Fernsehen für alle Arbeiter:innenorganisationen und unabhängigen Gewerkschaften. Beseitigung der Zensur in den sozialen Medien und Abschaffung der Internetzensur Great Firewall. Die Arbeiter:innen sollen das Recht haben, ohne staatliche Einmischung über jede Art von Gesetzgebung zu diskutieren. Wahl von Richter:innen und Prozessen an Arbeiter:innengerichten.

5. Die Freiheit aller werktätigen Schichten, politische Parteien zu gründen, das Recht jeder Gruppe von Arbeiter:innen und Klein:bäuerinnen, bei jeder Wahl ihre eigenen Kandidat:innen aufzustellen.

Alle Einwohnner:innen haben das Recht, politische Parteien zu gründen, die die demokratischen Rechte respektieren (und damit die Faschist:innen ausschließen). Transparente Wahl der jederzeit abberufbaren Dorfbevollmächtigten. Offenlegung der Buchführung und Konten jedes Dorfes. Vollständige Entschädigung der Opfer von Landbeschlagnahmungen und illegalen Landverkäufen. Wahl ländlicher Räte, die von einer bäuerlichen Miliz bewacht werden und die über die Nutzung der kollektiven Landressourcen, das Verkehrswesen, den Betrieb öffentlicher Einrichtungen und den Umweltschutz entscheiden werden. Widerstand gegen die Privatisierung von Grund und Boden in den Städten und auf dem Land. Forderung nach kostenlosen Krediten für Landwirt:innen zum Kauf von Maschinen und Düngemitteln sowie nach Anreizen für einzelne Bewirtschafter:innen, sich Genossenschaften sowie Versorgungs- und Vermarktungsgemeinschaften anzuschließen. Kontrolle großer kapitalisierter Unternehmen durch die Beschäftigten, die sich seit der Privatisierung der Kolchosen und Produktionsgenossenschaften im Zuge der Reform von Deng Xiaoping entwickelt haben. Aufbau moderner staatlicher Großbetriebe als Modell für die freiwillige Umstellung der individuellen/familiären Landwirtschaft. Massive Investitionen zur Verbesserung der kostenlosen Gesundheitsversorgung, des Verkehrswesens und der kulturellen Dienstleistungen in ländlichen Gebieten. Bereitstellung von kostenlosem öffentlichem Wohnraum für Landlose. Schrittweise Beseitigung des Stadt-Land-Gefälles durch die „Kombination von Land- und Industriearbeit“. Abschaffung des Systems der „Landfinanzierung“ und entschädigungslose Verstaatlichung des Immobiliensektors. Bereitstellung von angemessenem und kostenlosem öffentlichem Wohnraum für Familien mit geringem Einkommen.

6. Im Zuge der Revolution werden die Polizei, die bewaffnete Polizei und die nationale Sicherheitsbehörde aufgelöst und durch ein Komitee für öffentliche Sicherheit nach dem Vorbild der Tscheka in der frühen Sowjetära ersetzt.

Wie die Erfahrungen des Arabischen Frühlings zeigen, werden Revolutionen in autoritären Ländern mit demokratischen Forderungen beginnen, können aber nur dann erfolgreich sein, wenn sie über das demokratische Stadium hinausgehen, die Soldat:innen von ihrem Oberkommando lösen und Teile von ihnen für die Revolution gewinnen. Das Massaker von Tian’anmen hat auch gezeigt, dass selbst bei einer Spaltung innerhalb der Bürokratie, wenn die dominierende Fraktion noch immer die Streitkräfte kontrolliert, diese zur Abwehr von Volksaufständen eingesetzt werden. In dieser Hinsicht besteht der Kern des revolutionären Programms daher darin, die Versammlungs-, Organisations- und Meinungsfreiheit der Soldat:innen zu unterstützen und ihre eigenen Befehlshaber:innen in Soldat:innenausschüsse zu wählen, die dann zum Soldat:innenrat werden.

Alle Arbeiter:innen erhalten eine militärische Ausbildung, bewaffnen sich und organisieren sich in betriebseigenen Milizen als Hüter:innen von Arbeiter:innenräten. Aufhebung des Gesetzes über die nationale Sicherheit in Hongkong. Sofortige Einführung des allgemeinen Wahlrechts. Einberufung verfassunggebender Versammlungen sowohl auf Provinz- als auch auf nationaler Ebene. Die Bestimmungen des Grundgesetzes über die Beziehungen zwischen der Region Hongkong und den Zentralbehörden werden der verfassunggebenden Nationalversammlung zur Überprüfung oder Änderung vorgelegt. Abschaffung der Todesstrafe. Für die bedingungslose Freilassung aller politischen Gefangenen.

7. Für die Rätedemokratie.

Um die bürokratische Diktatur zu stürzen, muss die Arbeiter:innenklasse ihre eigenen Mittel zur Ausübung der Staatsgewalt schaffen. Die unabhängigen Organisationen, die im Kampf gegen die Bürokratie entstanden sind, die Fabrikkomitees, müssen zu Arbeiter:innenräten (Sowjets) zusammengefasst werden. Die Sowjets werden die Arbeiter:innenklasse und ihre Verbündeten aus der armen Landbevölkerung organisieren, um einen Massenaufstand gegen den bürgerlichen Staat durchzuführen. Der Arbeiter:innenrat hat sowohl exekutive als auch legislative Funktionen. Der Arbeiter:innenrat und der Soldat:innenrat werden zusammengelegt, um die Sowjetregierung (Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung) als Form der proletarischen Diktatur zu bilden. Die Sowjetregierung setzt ein Preisüberwachungskomitee ein, das die Qualität und die Preise von Konsumgütern überwacht und die gleitende Skala der Löhne sicherstellt. Schaffung einer landesweiten Arbeitslosengewerkschaft, um den Arbeitslosen eine Berufsausbildung zu ermöglichen und die vorhandenen Arbeitsplätze anteilig auf die gesamte Erwerbsbevölkerung aufzuteilen.

8. Nieder mit jeder Art von sozialer Unterdrückung.

Ein typisches Merkmal der stalinistischen Regime ist, dass die Frauenbewegung und die Bewegung zur Befreiung der Homosexuellen tagtäglich von der Bürokratie unterdrückt und sogar verfolgt werden. In der Sowjetunion bedeutete die politische Konterrevolution der 1920er Jahre nicht nur die Errichtung einer bürokratischen Diktatur über Wirtschaft und Politik, sondern auch die Rückgängigmachung der nach 1917 eingeführten Reformen zur Bekämpfung der sozialen Unterdrückung. Der enorme Beitrag der Oktoberrevolution zur Befreiung der Homosexuellen und Frauen ist seit langem völlig zunichtegemacht worden. Reaktionäre Gesetze und Moralvorstellungen wurden wieder eingeführt. Überall in China verstärkte die stalinistische Bürokratie das bürgerliche Familienkonzept und diktierte weiterhin die Größe der Familie nach den unmittelbaren wirtschaftlichen Bedürfnissen. Die Restauration des Kapitalismus und die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen seit den 1990er Jahren haben die Unterdrückung der Frauen erheblich verschärft, und die chinesischen Frauen sind gezwungen, die dreifache Last von Arbeit, Haushalt und Kindererziehung zu tragen. Gleichzeitig wird die Jugend in Schulen und Klassenzimmern mit dem „Sozialismus mit chinesischen Merkmalen in der neuen Ära von Xi Jinping“ indoktriniert, und sie wird nicht nur durch eine reaktionäre patriotische Moral getäuscht, sondern auch ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung beraubt. In diesem Zusammenhang sollten wir die folgenden Forderungen aufstellen:

  • Sozialisierung der Hausarbeit und Einrichtung von 24-Stunden-Kinderkrippen. Verbot der geschlechtsspezifischen Diskriminierung bei Einstellungen und Zulassungen. Kampf für eine unabhängige proletarische Frauenliga. Umfangreiche Investitionen und Ausbau von Frauenhäusern, Waisenhäusern, öffentlichen Kantinen und Wäschereien, kostenlosen Kliniken usw.

  • Aufhebung aller aufgezwungenen Familienpläne. Abschaffung der „Bedenkzeit für die Scheidung“ und vollständige Freigabe des Scheidungsrechts. Härtere Strafen für Unzucht mit Kindern, Frauen- und Kinderhandel und Vergewaltigung.

  • Gleichstellung von LGBTIAQ-Personen. Gegen Belästigung und Gewalt aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Ausrichtung.

  • Unterstützung der demokratischen Kontrolle von Schulen und Bildungssystemen durch Schüler:innen, Eltern, Lehrer:innen und Psycholog:innen. Erhöhung der Investitionen in die Bildung durch Erlass aller Studiengebühren, Honorare und Kosten für Unterkunft und Verpflegung von der Grundschule bis zur Universität, unabhängig von der Nationalität. Jugendverbände werden von keiner politischen Partei reguliert und üben die Kontrolle über ihre eigenen Kultur-, Verlags- und Verbreitungsorgane aus.

  • Abschaffung der Zensur, die der Jugend den Zugang zum bestehenden kulturellen Erbe der Welt verwehrt. Dies wird nur ihren Intellekt und ihren Kampfgeist schwächen und sie zum Opfer reaktionärer Ideen machen.

  • Abschaffung der Diskriminierung junger Menschen in der Arbeitswelt und in der Gesellschaft. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit für Auszubildende, Zeitarbeiter:innen und Festangestellte.

9. Das Recht der unterdrückten Völker auf Selbstbestimmung ist ein absolutes und unbedingtes demokratisches Recht, das die Stalin-Maoist:innen jedoch ständig leugneten.

Trotz des föderalen Charakters Sowjetrusslands seit seiner Gründung behielt der Stalinismus, wie auch bezüglich anderer Aspekte der politischen Praxis der bolschewistischen Partei, die Form bei und beraubte sie ihres revolutionären Inhalts. In der Sowjetunion und in allen degenerierten Arbeiterstaaten, die folgten, waren weder der föderale Charakter (UdSSR und Jugoslawien) noch der Einheitsstaat (China) unter dem Deckmantel der „autonomen Regionen“ eine freiwillige Föderation der Völker, sondern ein gemeinsames Gefängnis für alle Völker.

Der Marxismus vertritt die Auffassung, dass die Nation ein neuzeitliches politisches Konzept ist, das aus der Bildung eines gemeinsamen Marktes im Prozess der kapitalistischen Entwicklung unter Berücksichtigung einer Reihe von Faktoren wie Geographie, Sprache, religiöse Überzeugungen usw. hervorgegangen ist. Daher bildet das Territorium Chinas während der dynastischen Periode ungeachtet seiner Grenzstreitigkeiten und historischen Veränderungen keine Quelle der Legitimität für den Anspruch auf „souveräne Integrität“. Im 19. und 20. Jahrhundert, in dieser kritischen Phase der nationalen Formierung in der kapitalistischen Entwicklung, haben Xinjiang (Sinkiang), Tibet und Taiwan entweder ihre Unabhängigkeit erklärt oder sich für lange Zeit von China abgespalten und sollten unter den Bedingungen der nationalen Formierung das Recht auf Selbstbestimmung genießen.

Nachdem die KPCh 1949 an die Macht gekommen war, marschierte die Volksbefreiungsarmee in Xinjiang und Tibet ein und beraubte die beiden ethnischen Gruppen ihres Selbstbestimmungsrechts. Seit den 1990er Jahren erlebten die Gebiete der ethnischen Minderheiten aufgrund der sozialen Konterrevolution, die durch die Restauration des Kapitalismus ausgelöst wurde, den Aufstieg religiöser Ideologien und Nationalismen. Wie die sozialen Gegenrevolutionen, die in anderen Bereichen des nationalen Lebens stattfanden, führte die Wiederherstellung des Kapitalismus einerseits zu separatistischen Gefühlen und andererseits zu eskalierenden Konflikten zwischen der von der KPCh unterstützten Han-Bevölkerung und den ethnischen Minderheiten. In den letzten Jahren ist Xinjiang zum typischsten Fall geworden.

Die proletarische Revolution muss zunächst das Selbstbestimmungsrecht der indigenen Bevölkerung in Xinjiang und Tibet anerkennen, was das Recht auf Abspaltung durch ein Referendum einschließt. Vor allem, welche Form der Selbstbestimmung das sein könnte und ob sie dieses Recht ausüben wollen, hängt vom Willen der Indigenen ab. Dies ist nicht nur prinzipiell richtig, sondern auch in der Praxis die einzige Möglichkeit, die Spannungen zwischen der Han-Mehrheit und ethnischen Minderheiten aufgrund staatlicher Unterdrückung abzubauen. Daher ist die nationale Selbstbestimmung der einzige Weg, um die Unterstützung des Proletariats der nationalen Minderheiten für die chinesische Revolution zu gewinnen.

In der Zwischenzeit müssen alle Sozialist:innen, ob Han-Chines:innen oder ethnische Minderheiten, die Bildung einer sozialistischen Föderation Asiens fordern, der die Mitgliedsstaaten freiwillig beitreten und wieder austreten können, und dass Han-Chines:innen, die sich im Rahmen des staatlichen Kolonialprogramms in Xinjiang und Tibet niedergelassen haben, das Recht haben zu wählen, ob sie bleiben und sich gemeinsam mit den ethnischen Minderheiten entwickeln oder in ihre Heimat im chinesischen Stammland zurückkehren wollen, unabhängig von der Zukunft von Xinjiang und Tibet.

Die Forderungen der Sozialist:innen lauten:

  • Auflösung des Produktions- und Baukorps von Xinjiang.

  • Abzug der in Tibet stationierten Truppen.

  • Freilassung aller Uigur:innen und Abschaffung der „Umerziehungslager“.

  • Für Religionsfreiheit, Freiheit der einheimischen Sprachen und Kultur.

  • Für das Recht auf nationale Selbstbestimmung.

  • Lang lebe eine Föderation der asiatischen Arbeiter:innenstaaten!

10. Eine Rückkehr zum proletarischen Internationalismus von Lenin und Trotzki.

Westliche Sozialist:innen haben die Auflösung der NATO, der Weltbank und des IWF gefordert, während chinesische Sozialist:innen die Auflösung der Asiatischen Infrastrukturinvestitionsbank (AIIB), den Erlass aller Schulden der Entwicklungsländer, die Abschaffung der Gürtel- und Straßeninitiative (Neue Seidenstraße) und die kostenlose Schenkung von Infrastrukturprojekten in Afrika und Südostasien an die lokale Bevölkerung fordern. In Ländern, die zu Halbkolonien des chinesischen Imperialismus geworden sind (z. B. Pakistan), sollten alle Truppen von den Militärbasen in Übersee abgezogen, alle ungleichen Privilegien abgeschafft und ein Plan zur Kompensation der durch die Verlagerung von Produktionskapazitäten verursachten Umweltschäden angekündigt werden. Anerkennung der Souveränität eines Arbeiter:innenstaates bei der Festlegung der Kontrolle und Entwicklung der chinesischen Unternehmen in Übersee. Abschaffung der Geheimdiplomatie. Offenlegung aller mit dem Ausland abgeschlossenen Geheimverträge. Verurteilung des vom russischen Imperialismus geführten Krieges in der Ukraine. Hände weg von Taiwan. Aufhebung aller Sanktionen oder Gegensanktionen. Ablehnung aller Militärausgaben des Parteienstaates. Verurteilung des israelischen Siedlerkolonialismus und Unterstützung eines einheitlichen, säkularen und sozialistischen Staats in Palästina. Stopp der offiziellen Fremdenfeindlichkeitspropaganda und der militärischen Aufrüstung mit nuklearen oder konventionellen Waffen. Volle und gleiche Rechte für ausländische Einwohner:innen. Abgabe der revolutionären Erklärung an die Regierungen aller Länder und Aufruf zur Weltrevolution.

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Am Vorabend der Amerikanischen Revolution im Jahr 1776 schrieb Thomas Paine: „Die Sache Amerikas ist in hohem Maße die Sache der gesamten Menschheit. Viele Umstände sind eingetreten und werden eintreten, die nicht lokal, sondern universell sind und durch die die Prinzipien aller Menschenfreund:innen betroffen werden und an deren Zustandekommen ihre Zuneigung interessiert ist.“ Heute ist die Sache des chinesischen Proletariats in erster Linie auch die Sache der gesamten Menschheit, weil der internationale Charakter einer proletarischen Revolution natürlich die Grenzen des bürgerlichen Nationalstaates überwindet und die chinesische Revolution ein Glied in der Weltrevolution und im Übergang zu einer sozialistischen Weltföderation sein wird. Obwohl die chinesische Bourgeoisie derzeit ihre eigenen Gründe hat, sich dem Parteistaat zu widersetzen, und die Republik China als Banner für eine „demokratische Revolution“ benutzen kann, kann die chinesische Revolution eine echte Revolution sein, wenn und nur wenn sie in einer Machtergreifung durch das Proletariat endet.

Trotzki hat bei der Erläuterung des philosophischen Denkens von Marx und Engels einmal darauf hingewiesen: „Die Menschheit hat die dunklen spontanen Kräfte aus der Sphäre der Produktion und der Ideologie vertrieben und die barbarischen Konventionen durch Wissenschaft und Technik ersetzt. Die Ersetzung der Religion durch die Wissenschaft, die zur Renaissance und Reformation des 15. und 16. Jahrhunderts führte, war das Streben nach intellektueller Rationalität; und dann vertrieb die Menschheit das Unbewusste aus der Politik und stürzte die Monarchie und die Hierarchie durch ein demokratisches, rein rationalistisches parlamentarisches System und dann ein völlig transparentes Sowjetsystem. Es war das Streben nach politischer Rationalität, das mit den bürgerlichen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts begann und in der Oktoberrevolution kulminierte; und schließlich schlugen die blinden, spontanen Kräfte die tiefsten Wurzeln in den wirtschaftlichen Verhältnissen – aber dort trieb die Menschheit diese mit der sozialistischen Wirtschaftsorganisation aus, was alles ermöglichte, die wirtschaftliche Rationalität zu erreichen.“

Das Besondere an China ist, dass es ein Land ist, in dem keine der drei Rationalitäten – ideologisch, politisch, wirtschaftlich – verwirklicht wurde, und daher muss die Mission der proletarischen Revolution die Kombination aller drei sein.

Folglich müssen alle Revolutionär:innen, die die oben genannten Forderungen unterstützen, zunächst in einer einzigen Partei organisiert werden. Eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei muss demokratischen Zentralismus praktizieren – „ein Mitglied – eine Stimme“ für ihre Mitglieder und volle Freiheit in der Diskussion, wobei die Minderheit der Mehrheit gehorchen muss, Demokratie in der Entscheidungsfindung und absolute Disziplin in der Durchführung von Aktionen. Wie Lenin betonte, muss eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei als Vorhut der Arbeiter:innenklasse den Organisationsgrad, die Moral und das Bewusstsein des Proletariats durch jeden einzelnen Kampf anheben, bis sie in der Lage ist, die gesamte Klasse durch einen Aufstand zum Sturz des bürgerlichen Staates zu führen und eine Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung einzusetzen. Jede Arbeiter:innenpartei darf daher ihre Regierung nur durch die Erringung der Mehrheit der Sitze im Arbeiter:innen- und Soldat:innenrat bilden und niemals den Parteiapparat selbst als Regierungsmacht betrachten. Um die revolutionären Bewegungen jenseits der Grenzen zu fördern, zu koordinieren und zu vereinigen, rufen wir schließlich zu einer neuen Revolutionären Internationale auf, die auf dem demokratischen Zentralismus basiert, als Weltpartei für die sozialistische Revolution.

Obwohl wir derzeit eine winzige Minderheit innerhalb des chinesischen Proletariats von insgesamt 400 Millionen sind, obwohl wir der Feindschaft der zweitgrößten imperialistischen Macht und eines völlig totalitären KPCh-Staates gegenüberstehen, glauben wir, dass das chinesische Proletariat in seiner gerechten Macht den absoluten Sieg davontragen wird. Am Vorabend des Neujahrs 2024 bitten wir die kämpferischen Arbeiter:innen zu Hause und in der ganzen Welt, unseren Forderungen Gehör zu schenken und unseren Aktionen zu folgen.

  • Arbeiter :innen und Unterdrückte aller Länder, vereinigt euch!

  • Lang lebe die chinesische Revolution!

  • Lang lebe die Weltrevolution!



Einleitung zum Trotzkistischen Manifest

Das Trotzkistische Manifest, Einleitung, Sommer 1989

Das marxistische Programm basiert auf den Prinzipien des wissenschaftlichen Sozialismus. Es analysiert jede soziale und politische Entwicklung vom Standpunkt des dialektischen Materialismus. Dieser geht davon aus, daß der Klassenkampf der treibende Motor der Geschichte ist, und erkennt in der Arbeiterklasse die einzig durchgängig revolutionäre Klasse. Während jedoch das allgemeine marxistische Programm die theoretische Methode des dialektischen Materialismus und die strategischen Ziele des Sozialismus umfaßt, konzentrieren sich die großen programmatischen Beiträge in der Geschichte der marxistischen Bewegung auf die praktischen Aufgaben, die sich aus diesen grundlegenden Prinzipien ergeben. Sie beinhalten die Strategie und die Taktiken zur Erreichung der allgemeinen Ziele und trennen diese Fragen nicht vom Programm. Im marxistischen Programm besteht keine Mauer zwischen Strategie, Taktiken und Prinzipien. Dies ist vom Kommunistischen Manifest bis zum Übergangsprogramm von 1938 klar. Ausgehend von dieser Methode haben wir das Programm der LRKI entwickelt.

Die Sozialdemokratie geht noch immer mit dem Minimal-Maximal-Programm hausieren, das sich in der kapitalistischen Epoche des freien Wettbewerbs den Weg bahnte und durch die strikte Trennung von Minimalforderungen (wirtschaftlichen oder politischen Reformen, die im Rahmen des Kapitalismus erreichbar sind) und dem Maximalziels des Sozialismus gekennzeichnet war. Diese Trennung der zwei Elemente des Programms, niedergelegt im „Erfurter Programm“ der deutschen Sozialdemokratie, war die Grundlage seiner opportunistischen Auslegung und Anwendung durch den sich entwickelnden reformistischen Flügel der II. Internationale. Die heutige Sozialdemokratie unterscheidet sich von ihren klassischen Vorläufern nur in der immer größeren Schwächlichkeit ihrer Forderungen nach Minimalreformen und in den immer selteneren Sonntagsreden über das Fernziel des Sozialismus.

In der Epoche des Konkurrenzkapitalismus war die Arbeiterklasse, insbesondere in Europa, dazu gezwungen, für eine Reihe von wirtschaftlichen und politischen Rechten zu kämpfen, um eine organisierte Massenbewegung der Gewerkschaften und politischen Parteien aufzubauen. Im diesem Prozeß selbst bildete sich aus der Arbeiteraristokratie eine reformistische Bürokratie heraus, für die ausgewählte Elemente des Minimalprogramms, die durch rein friedliche, legale und parlamentarische Methoden erreicht werden sollten, bloßer Selbstzweck waren. Das stand in scharfem Widerspruch zu der Position Engels‘ und Lenins, die argumentierten, daß diese Reformen nur ein Mittel seien, um einen wirklichen Kampf für den Sozialismus zu entwickeln. Der Anbruch der imperialistischen Epoche stärkte die reformistische Bürokratie beträchtlich. Indem sie die methodische Schwäche des Minimal- Maximal-Programms ausbeutete, verstärkte sie die strikte Trennung des Kampfes um Reformen von jeder revolutionären Perspektive zum Sturz des Kapitalismus. Das strategische Ziel des Reformismus bestand also darin, sich selbst innerhalb des Kapitalismus eine einflußreiche Position zu sichern. Für diesen Zweck versuchten die Reformisten, Arbeiterkämpfe zurückzustellen, indem sie die parlamentarische Wahltaktik zu ihrer zentralen Strategie der Erreichung von Reformen im Kapitalismus umfunktionierten.

Andererseits führten auch der internationale Stalinismus und sogar Teile des kleinbürgerlichen Nationalismus die Massen mit einer Abart des Minimal-Maximal-Programms in die Irre: mit dem Programm der Etappen, das auf der Theorie des „Sozialismus in einem Lande“ aufbaut. Dieses Programm und diese Theorie wurden durch die konservative Bürokratie der UdSSR in den 20er Jahren während der Periode der politischen Konterrevolution gegen die Arbeiterklasse entwickelt. Gemäß diesem Etappenprogramm bedeutet die Existenz der Sowjetunion, daß es für Revolutionen möglich sei, vor einer friedlichen Entwicklung zum Sozialismus eine demokratische Etappe zu durchlaufen. Dabei sei diese demokratische Etappe (verschiedenermaßen fortgeschrittene Demokratie, Volksdemokratie, antiimperialistische Demokratie genannt) streng von einer sozialistischen Etappe getrennt. Der Kapitalismus müsse während dieser demokratischen Etappe aufrechterhalten werden, und dann könne sich der Sozialismus schrittweise und friedlich entwickeln – gemäß den spezifischen Gesetzen, die in jedem Land wirken.

Dieser wiederaufgewärmte Menschewismus ist eine zynische Politik seitens der Bürokratie, um die Kämpfe gegen den Kapitalismus zu beschränken und um für seine Dienste mit einer endlos langen Periode der friedlichen Koexistenz mit dem Imperialismus belohnt zu werden. Diese Abart des Minimal-Maximal-Programms (und da bildet auch die „linkeste“ Form, welche behauptet, daß die Durchführung der demokratischen Etappe nicht der Bourgeoisie überlassen werden könne, sondern vom Proletariat geführt werden müsse, keine Ausnahme) ist eine Schlinge um den Hals des Proletariats und der Unterdrückten. Ihre Konsequenz war und ist immer die Konterrevolution, entweder von seiten einer Kapitalistenklasse, die imstande war, sich während der „demokratischen“ Etappe neu zu gruppieren (Chile, Portugal) oder seitens einer stalinistischen Bürokratie, die gezwungen ist, den Kapitalismus zu liquidieren, um sich selbst zu verteidigen, allerdings nur unter der Bedingung der erfolgreichen politischen Entmachtung der Arbeiterklasse wie in Osteuropa, China, Indochina und Kuba.

Das Minimal-Maximal-Programm, ob in seinem stalinistischen oder sozialdemokratischem Gewand, hat also seine fortschrittliche Rolle überlebt und hat sich in ein Hindernis verwandelt, nicht nur im Kampf um den Sozialismus, sondern sogar im Kampf um die Gewinnung oder Verteidigung erfolgreicher Reformen. Denn der Kapitalismus kann weder permanente systematische soziale Reformen schaffen, noch kann er für eine dauernde und selbständige bürgerliche Demokratie sorgen. Um seine wiederkehrenden Krisen zu lösen, ist die Bourgeoisie daher gezwungen, jede ernste ökonomische Errungenschaft mitsamt den politischen Rechten der Arbeiterklasse anzugreifen. Der Kampf der Bürokratie zur Anpassung an ein solches System kann daher nur die Opferung selbst des Minimalprogramms an die Bedürfnisse des Profitsystems heißen. Die Verteidigung der Interessen der Arbeiterklasse erfordert aber ökonomische und politische Kriegsführung gegen den Kapitalismus – sogar zur Erzielung angemessener Löhne oder zur Sicherung der Arbeitsplätze.

Dabei sind die Grenzen des Minimal-Maximal-Programms in aller Welt erkennbar: Der Imperialismus ist unfähig, radikale und konsequente Agrarreformen zu sichern oder parlamentarische Demokratien in den meisten Halbkolonien aufrechtzuerhalten. Die offensichtliche Rechtfertigung des Minimalprogramms, daß mit Phasen des Aufschwungs die Gewährung von Reformen seitens des Kapitalismus an einige Teile der Arbeiterklasse verbunden sei, ist ebenfalls eine bloß oberflächliche. Selbst das Proletariat in den am höchsten entwickelten Ländern braucht immer mehr ein Programm, das die unmittelbarsten Verteidigungskämpfe mit der Hauptaufgabe der Epoche verbindet, nämlich dem Kampf um die Macht der Arbeiterklasse. Um den spontanen Klassenkampf zu sozialistischen Zielen weiterzuentwickeln, ist aber eine Brücke notwendig. Das Programm von Übergangsforderungen ist eine derartige Brücke.

Derartige Forderungen wurden erstmals systematisch in Trotzkis Übergangsprogramm dargelegt. Doch schon Marx und Engels hatten eine Reihe von Übergangsforderungen im Kommunistischen Manifest 1848 formuliert, später waren es Lenin und die Bolschewiki, gefolgt von der Kommunistischen Internationale (Komintern), die auf den ersten vier Kongressen zugespitzte Aktionsprogramme erarbeiteten. Doch Trotzkis Werk von 1938, die programmatische Grundlage der Vierten Internationale, war der klarste und vollständigste Ausdruck der programmatischen Entwicklung der vorangegangenen 90 Jahre des Marxismus. In jeder Phase wurden die programmatischen Erklärungen des Marxismus bereichert, da sich die kapitalistische Gesellschaft selbst entwickelte. Und in jedem Fall haben die Marxistinnen und Marxisten es für nötig empfunden, das Programm im Lichte der Erfahrung zu verfeinern und wiederzuerarbeiten. Diese ist – in Trotzkis Worten – das oberste Kriterium der Vernunft. 1938 erstellte Leo Trotzki ein scharf zugespitztes Aktionsprogramm, das die Schlüsselfragen des Tages ansprach und sie im Lichte der Erfahrung der vorangegangenen zwei Jahrzehnte des Kampfes und der weltweiten Krise beantwortete. Es verkörperte sowohl die Lehren aus dem Zusammenbuch der ersten drei Internationalen als auch die Weiterführung des Beitrags, den sie in ihren revolutionären Jahren geleistet hatten. Das Übergangsprogramm von 1938 war damit ein wiedererarbeitetes Programm des revolutionären Marxismus.

Mehr als fünf Jahrzehnte an tiefgreifenden Entwicklungen im Weltimperialismus und Weltstalinismus, in den Halbkolonien, den Kämpfen der Arbeiterklasse und der Unterdrückten, all das verpflichtet uns, das Übergangsprogramm wiederzuerarbeiten. Dies haben wir geleistet, und unser Programm ist, wie das von 1938, eine Entwicklung der vorangegangenen Programme des revolutionären Marxismus bis zum heutigen Tag, kein Bruch mit ihnen. Es steht also auf den Schultern der vorangegangenen Errungenschaften des revolutionären Marxismus. Es baut selbst auf dieser Methode auf und schließt alle wesentlichen Merkmale, und ebenso viele ihrer Forderungen, mit ein. Wie die vorangegangenen Programme wird es zu Aktionsprogrammen für einzelne Länder, für bestimmte historische Situationen oder für die jeweiligen Schichten im Kampf aufgegliedert werden müssen. Derartige Aktionsprogramme werden, wie Trotzkis eigenes Aktionsprogramm für Frankreich, alle Schlüsselelemente des allgemeinen Programms selbst enthalten, werden sie jedoch scharf auf eine einzelne Situation oder das betreffende Land zuspitzen.

Unser Programm ist ein Weltprogramm für die Weltpartei der sozialistischen Revolution, zugespitzt auf die brennenden Probleme, die für die krisengeschüttelten Schlußjahre des 20. Jahrhunderts charakteristisch sein werden. Es ist ein Übergangsprogramm zur sozialistischen Revolution, und als solches besitzt es in gleichen Maßen für imperialistische und halbkoloniale Länder die volle Gültigkeit. Aber es ist gleichfalls ein Programm für den Übergang zum Sozialismus in den Arbeiterstaaten. Es spricht die brennenden Aufgaben an, denen sich die Arbeitenden in diesen Staaten gegenübersehen, in denen der Kapitalismus abgeschafft wurde, aber wo die stalinistische Bürokratie die Arbeiterklasse politisch enteignet hat und der eigentliche Übergang zum Sozialismus als Ergebnis dessen aufgehalten wurde. Es ist ein Aktionswegweiser für die Millionen, die um die Lösung der Probleme, denen die Menschheit gegenübersteht, kämpfen. Es ist ein Programm, das den Weg zu einer Gesellschaft, die auf der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse beruht, ebnet und im scharfen Gegensatz steht zu jenen Gesellschaften, die entweder auf der Gier nach Profit beruhen oder auf der Befriedigung der Bedürfnisse einer parasitären Bürokratie.

Während unser Programm in seinem Zentrum ähnlich dem Programm von 1938 ein zugespitztes Aktionsprogramm enthält, ist es heute aber auch notwendig, Probleme anzusprechen, die in diesem Dokument nicht behandelt wurden. Als wiedererarbeitetes Programm muß es der Tatsache ins Auge sehen, daß die Kontinuität der marxistischen Bewegung 1951 mit der Degeneration der Vierten Internationale in den Zentrismus unterbrochen wurde. Eine Periode von vier Jahrzehnten ist seit dieser Degeneration verstrichen. Die Fragen der Perspektiven, der Taktik und der Strategie wurden während dieser vierzig Jahre niemals in einer revolutionären Weise analysiert, geschweige denn in einem konsequent revolutionären Programm beantwortet. Die Lehren der zentralen Ereignisse in dieser Periode, die Schaffung degenerierter Arbeiterstaaten, der lange imperialistische Boom, die anti-imperialistischen Kämpfe, die zentralen Klassenkämpfe und revolutionären Situationen wurden nicht in einer Reihe von Programmen, Thesen und Dokumenten zusammengefaßt. Statt dessen besteht die Geschichte der aus der Vierten Internationale entstandenen Zentristen aus systematischen Irrtümern und verschiedenen opportunistischen oder sektiererischen Entstellungen des marxistischen Programms. Unser Programm basiert daher nicht auf einer ungebrochenen Vergangenheit revolutionärer Positionen und kann sich nicht wie das Programm von 1938 es noch vermochte, auf 15 Jahre von Dokumenten, Positionen, Thesen und Programmen (von der Linken Opposition bis zur Gründung der Vierten Internationale) stützen. Unser Programm ist daher notwendigerweise analytischer und umfassender, als das Programm von 1938 es sein mußte. Wenn Trotzki glaubte, daß es 1938 notwendig war, mehr Kommentare aufzunehmen, als es in einem Programm zweckmäßig ist, so mußten wir das in einem noch weit größeren Ausmaß tun. In diesem Sinne ist es ein Versuch, nicht nur den Kampf von Millionen anzuleiten, sondern ebenso die LRKI klar gegenüber den vielen Spielarten des Zentrismus, die sich auf den Trotzkismus berufen, zu definieren. Es muß auch den Militanten dieser Tendenzen, ebenso wie denen anderer Organisationen innerhalb der Weltarbeiterbewegung, zweierlei aufzeigen: die Lehren, die wir aus der vergangenen Periode ziehen müssen, und ebenso unsere Antworten, die wir auf die Krisen geben.

Klarerweise ist unser Programm weit davon entfernt, das letzte Wort zum internationalen Klassenkampf und zu Strategie und Taktik der Revolution zu sein. Seit 1984 hat die „Bewegung für eine Revolutionäre Internationale“ (jetzt die „Liga für eine Revolutionäre Kommunistische Internationale“ – LRKI) Resolutionen und Thesen zu den wichtigen Fragen des internationalen Klassenkampfs formuliert. Diese bilden eine Ergänzung zu diesem Programm. Zusätzlich erkennen wir an, daß die Diskussion mit Kämpfern aus Ländern, in denen die LRKI bislang nicht vertreten ist, uns zur Bereicherung und Entwicklung des internationalen Charakters unseres Programms weiter befähigen wird. Aber wir sind fest davon überzeugt, daß wir ein Programm erstellt haben, das als Grundstein für eine solche Entwicklung dient. Dieses Programm, das mit seiner Methode, seiner Analyse, seinen Forderungen und Taktiken und seiner Strategie den lebendigen Geist des revolutionären Marxismus verkörpert, legt die Grundlage für die Wiedererrichtung eines authentischen Trotzkismus auf Weltebene.




Esteban Volkov (1926 – 2023)

Per-Olof Mattson, Infomail 1226, 21. Juni

Am Freitag, dem 16. Juni 2023, verstarb Esteban Volkov. Er war der Enkel des russischen Revolutionärs Leo Trotzki und das einzige Mitglied seiner Familie, das den stalinistischen Terror überlebte, abgesehen von Trotzkis zweiter Frau Natalja. Beim ersten Attentat auf Trotzki in Mexiko am 24. Mai 1940, das von dem Künstler David Alfaro Siqueiros geleitet wurde, wurde er selbst von den Kugeln der Attentäter getroffen.

Seine Mutter war Trotzkis Tochter aus erster Ehe, Sinaida, und sein Vater hieß Platon Iwanowitsch Wolkow, beide aktiv in der Linken Opposition. Dieser wurde 1928 zur Verbannung verurteilt, und beide Eltern fielen dem Stalinismus zum Opfer. 1926 kam Esteban als Wsewolod Platonowitsch Wolkow in Jalta, Ukraine, zur Welt. Später änderte er in Mexiko seinen Vornamen in Esteban. Im Alter von fünf Jahren verließen er und seine Mutter Moskau, um sich Trotzki auf der Insel Prinkipo in der Türkei anzuschließen. Im Jahr 1932 zog er mit seiner Mutter nach Berlin. Sie war an Tuberkulose erkrankt und nahm sich aus Verzweiflung das Leben. Anschließend verbrachte Esteban anderthalb Jahre in einer Montessori-Schule in Wien. Auf Trotzkis Bitte hin hatten ihn Anhänger:innen Wilhelm Reichs dort aufgenommen.

Sein Onkel Leo Sedow, ein wichtiger Führer der Opposition in Westeuropa und der Sowjetunion, nahm ihn 1934 zu sich und brachte ihn nach Paris. Als Leo Sedow 1938 ebenfalls unter mysteriösen Umständen starb, musste Trotzki einen langwierigen Rechtsweg beschreiten, um seinen Enkel zu ihm und Natalja nach Mexiko zu holen. Der damals 13-jährige „Sewa“ war der einzige Überlebende von Trotzkis Familie. Im August 1939 kam er nach einem langwierigen Gerichtsverfahren endlich an.

Er war 14 Jahre alt, als sein Großvater ermordet wurde. Sein Enkel kam gerade nach Hause, als Trotzki tödlich verwundet am Boden lag. Die Wachen hinderten ihn daran, sich ihm zu nähern. Trotzki hatte sie angewiesen, Sewa nicht durchzulassen: „Das Kind darf das nicht sehen“.

Nach dem Tod seines Großvaters, der im Spätsommer 1940 von einem stalinistischen Agenten ermordet wurde, blieb er im mexikanischen Exil. Bis 1962, als Trotzkis Frau Natalja in Paris starb, hielt er engen Kontakt zu ihr. Er ließ sich zum Chemiker ausbilden und war in seinem Beruf sehr angesehen. Er heiratete und hinterließ vier Töchter. Esteban, oder Sewa (Wsewolod), wie sein russischer Spitzname lautete, widmete sein Erwachsenenleben der Pflege und Verteidigung von Trotzkis Lebenswerk. Er verwandelte das Haus in Coyoacán in ein Museum, und als der Stalinismus in der Sowjetunion während der Gorbatschow-Ära ins Wanken geriet, trat er häufig in verschiedenen Zusammenhängen auf und forderte die Rehabilitierung seines Großvaters.

Eine seiner letzten Bemühungen, das Andenken an seinen Großvater zu bewahren, war die Petition, die er schrieb, um die russische Serie über Trotzki zu verurteilen und korrigieren, die Netflix vor einigen Jahren ausstrahlte. Die Petition wurde von einer großen Anzahl von Historiker:innen und anderen unterzeichnet.

Esteban Volkovs Bemühungen um die Verteidigung Trotzkis und des Trotzkismus sollten von all jenen gewürdigt werden, die sich als revolutionäre Sozialist:innen verstehen, und von all jenen, die sich der Lügenmaschine des Stalinismus widersetzen. Ein langes Leben ist zu Ende gegangen, ein Leben, das nicht vergeblich war und dessen wir uns mit Dankbarkeit erinnern.




Trotzkistisches Archiv Österreichs online

Arbeiter*innenstandpunkt, Infomail 1211, 23. Januar 2023

Seit Mitte November 2022 ist eine neue Homepage zugänglich: das Trotzkistische Archiv Österreichs. Es ist das Produkt jahrelanger Arbeit und umfasst bereits an die zehntausend Seiten mit Texten linksoppositioneller Organisationen Österreichs aus den Jahren 1933 bis 1976.

Alle Organisationen, von denen hier Publikationen und (interne) Materialien dokumentiert werden, arbeiteten konspirativ, waren also illegal tätig. Das bedeutet auch, dass ein großer Teil der Texte archivalisch nirgends erfasst ist und auf dieser Homepage überhaupt zum ersten Mal zugänglich gemacht wird. In jahrelanger Tätigkeit ist es Manfred Scharinger gelungen, ein umfangreiches (aber immer noch alles andere als vollständiges) Archiv des österreichischen Trotzkismus aufzubauen.

Zusätzlich werden auf dieser Homepage auch eine Reihe weiterer Texte, die sich auf die Geschichte der österreichischen linksoppositionellen Bewegung beziehen, sowie 27 der zwischen 1985 und 2021 erschienenen 28 Nummern der Kleinen Schriftenreihe zur österreichischen Arbeiter:innengeschichte, die zuletzt von der Gruppe Arbeiter*innenstandpunkt herausgegeben wurde, digital zugänglich gemacht.

Das Trotzkistische Archiv Österreichs gliedert sich in drei große Bereiche: Die Kleinen Schriftenreihe zur österreichischen Arbeiter:innengeschichte, diverse Texte (darunter auch die zweibändige Ausgabe Österreichischer Trotzkismus) und das eigentliche Archiv. Darin finden sich in zwei große Sektionen: vor 1945 und ab 1945.

Im Archiv der Jahre 1918-1945 können derzeit die Texte von fünf Organisationen dokumentiert werden: zuerst einmal die der personell und politisch dominierenden Gruppierung, des Kampfbundes zur Befreiung der Arbeiterklasse (1934-1941) mit seiner Zeitschrift Arbeitermacht und einer großen Zahl weiterer Texte und (interner) Materialien. Aus dem Kampfbund gingen die Organisation Proletarischer Revolutionäre (1939-1943) mit ihrer Zeitschrift Iskra und die Linksfraktion des Kampfbundes, die spätere Gruppe ‚Gegen den Strom‘ – 1939-1943 hervor, während die dritte oppositionelle Gruppe, die Proletarischen Internationalisten, derzeit noch nicht ins Archiv aufgenommen werden konnte. Weder der Kampfbund noch diese anderen Organisationen waren anerkannte Teile der (werdenden) IV. Internationale. Die offizielle österreichische Sektion der Internationalen Linksopposition waren die Bolschewiki-Leninisten Österreichs (1933-1936), später die Revolutionären Kommunisten Österreichs (1936-1938), die in diesem Teil des Archivs ebenfalls mit Publikationen und anderen Texten vertreten sind.

Im zweiten Teil, im Archiv ab 1945, sind zwei Strömungen dokumentiert. Zuerst einmal die „offizielle“ Sektion der IV. Internationale mit allen ihren Facetten: der Karl-Liebknecht-Bund (Internationale Kommunisten) (1945-1946) und deren Nachfolgeorganisation, die Internationalen Kommunisten Österreichs (1946-1955), dazu die Internationalen Kommunisten Österreichs (Opposition) (1949-1955). Die zweite Strömung ist der 1945 wieder reorganisierte Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse mit seiner „Vorfeldorganisation“, der Proletarischen Vereinigung Österreichs, und dem aus dem Kampfbund hervorgegangenen Arbeiterstandpunkt (1972-1976). Der Kampfbund, der zwischen 1945 und 1973 ein reges, aber auch nach 1955 immer noch streng illegales Organisationsleben aufwies, war bisher außer einigen Nummern der Zeitschrift Arbeiterblatt archivalisch praktisch überhaupt nicht erfasst. Besonders stolz sind wir, dass wir in der Rubrik Kampfbund auch viele nach 1945 erschienene Texte von Josef Frey aufnehmen konnten, darunter auch seinen mehr als 1.000 Seiten starken Schulungskurs Die internationale proletarische Demokratie und den Schriftverkehr zwischen Josef Frey und den österreichischen Kampfbund-Mitgliedern. Insgesamt liegen jetzt in unserem Archiv ab 1945 mehr als 2.400 Seiten von KLB / IKÖ / IKÖ-Opposition vor, vom Kampfbund sogar fast 5.600 Seiten.

Natürlich ist das Trotzkistische Archiv Österreichs alles andere als vollständig. Aber es ist ein großer Schritt zur Dokumentation der Geschichte der trotzkistischen Bewegung Österreichs. Klarerweise wollen wir auch in Zukunft das Archiv weiter ausbauen und vervollständigen – wir, das sind die Gruppe Arbeiter*innenstandpunkt, unter deren Schirmherrschaft das Projekt umgesetzt wurde, Genosse B., der für die technische Umsetzung des Projekts verantwortlich zeichnete, und Manfred Scharinger, der praktisch das gesamte Material digitalisierte und die Homepage mit Leben erfüllte.

Wir wollen mit dem Archiv mehrere Ziele erreichen. Zuerst einmal geht es darum, die vielfach in keiner Bibliothek archivierten Dokumente vor dem Vergessen-Werden zu bewahren. Zum anderen soll damit eine Basis dafür geboten werden, dass sich möglichst viele Genoss:innen auf einfache Weise intensiver mit der reichhaltigen und facettenreichen Geschichte des österreichischen Trotzkismus beschäftigen können. Schließlich bitten wir auch um Mithilfe, denn wir haben es schon gesagt: Wir wollen auch in Zukunft das Archiv weiter ausbauen und vervollständigen. Sollten Genoss:innen Zugang zu interessantem Material haben, das wir noch nicht publizieren konnten, bitten wir um Zusammenarbeit. Und natürlich sind wir daran interessiert, dass die Homepage auch in einem breiterem Umfang bekannt gemacht wird. Hier daher nochmals die Internet-Adresse:




Die Dauerkrise der NPA

Martin Suchanek, Infomail 1153, 18. Juni 2021

In den letzten Jahren war es um die NPA (Nouveau Parti Anticapitaliste; Neue Antikapitalistische Partei) still geworden. Zum Zeitpunkt ihre Gründung im Jahr 2009 galt sie bei europäischen Linken als Hoffnungsträgerin und Modell antikapitalistischer Einheit. Heute macht sie vor allem durch innere Krisen, Konflikte, angedrohte und wirkliche Abspaltungen von sich reden.

Schon im August 2020 veröffentlichte Le Monde einen Artikel, der von einer bevorstehenden Spaltung und Auflösung der NPA berichtete. Demzufolge strebe die traditionelle Führung um Besancenot und Poutou eine „einvernehmliche Scheidung“ auf einem Kongress an.

Dieser fand, sicher auch aufgrund der Pandemie, nie statt. Doch auch der Plan selbst scheint bis auf Weiteres in den Schubladen verschwunden zu sein. Dafür spitzte sich in den letzten Wochen der innere Konflikt mit einer der größten, wenn nicht der größten Minderheitsfraktionen, der CCR (Courant Communiste Révolutionnaire; Revolutionäre Kommunistische Strömung) zu, die auf internationaler Ebene mit der Fracción Trotskista (FT) verbunden ist.

Der angebliche Ausschluss der CCR

Am 10. Juni veröffentlichte die CCR ein Schreiben, in dem sie die Mehrheit der NPA beschuldigt, sie aus der Organisation ausgeschlossen zu haben: „Wenige Tage vor der nationalen Konferenz, die die Ausrichtung und den/die Kandidaten/Kandidatin der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) für die nächsten Präsident:innenschaftswahlen festlegen soll, sind wir gezwungen, unseren faktischen Ausschluss aus dieser Organisation anzunehmen.“ (https://www.klassegegenklasse.org/frankreich-fast-300-von-der-npa-ausgeschlossene-aktivistinnen-rufen-zum-aufbau-einer-neuen-revolutionaeren-organisation-auf/)

Es bliebe der CCR, so die Versammlung von fast 300 ihrer AnhängerInnen, keine andere Wahl, als den Kampf für eine revolutionäre ArbeiterInnenpartei und Kandidatur zur Präsidentschaftswahl 2022 außerhalb der NPA zu führen: „Deshalb beginnen wir heute, nachdem wir aus der NPA ausgeschlossen wurden, sofort mit dem Prozess der Gründung einer neuen Organisation, mit der Perspektive, eine revolutionäre Partei der Arbeiter:innen aufzubauen, sowie mit der Suche nach den 500 notwendigen Unterschriften, damit Anasse als Kandidat für die Präsidentschaftswahlen 2022 antreten kann.“ (Ebenda)

Die CCR stellt die Zuspitzung so dar, als hätten sich alle anderen Strömungen und Fraktionen gemeinsam gegen sie verschworen und würden sie gezielt aus der Organisation drängen. Der rechte Flügel um Poutou und Besancenot gebe dabei den Ton an und alle (!) anderen linkeren Fraktionen würde das stillschweigend akzeptieren.

Die Vehemenz, mit der die CCR die Anschuldigung erhebt, erweckt auf den ersten Blick den Eindruck, dass sie wegen ihrer Positionen und ihres unermüdlichen Kampfes gegen die rechte Führung der NPA ausgeschlossen worden sei. Doch schon eine nähere Betrachtung des Textes wirft die Frage auf, wann, wo und von wem sie ausgeschlossen worden wäre. Eine weitere Recherche, die Durchsicht der Protokolle und Berichte von NPA-Sitzungen ergeben freilich: diesen Beschluss gab es nicht. Es fand kein Ausschluss statt.

Im Gegenteil. Betrachten wir die Belege, die die CCR für ihren „de facto“ Ausschluss anführt, wird die Suppe immer dünner. Die Webseite der Gruppe verweist darauf, dass der faktische Ausschluss ein Resultat der Beschlüsse der NPA-Leitung vom 22. und 23. Mai gewesen wäre. Doch diese, nachzulesen in deren Vorkonferenzbulletin (https://nouveaupartianticapitaliste.org/sites/default/files/bicnmai2021.pdf), enthalten nichts von einem solchen Ausschluss. Die Leitung der NPA nahm vielmehr eine Resolution an, die Antragsfristen, Modalitäten der Delegiertenwahl usw. festlegt – und zwar mit 54 Pro-Stimmen bei 10 Enthaltungen und ohne eine einzige Gegenstimme. Die VertreterInnen der CCR enthielten sich bei einer Resolution der Stimme, die angeblich ihrem faktischen Ausschluss gleichkam! Diese Inkonsistenz hätte die CCR zumindest erklären müssen.

So bleibt nur der Fakt, dass es keinen Ausschluss gab. Die Frage bleibt aber: Warum behauptet sie diesen so hartnäckig?

Die Entwicklung der NPA

Bevor wir diese Frage beantworten, müssen wir aber die Entwicklung der NPA in den letzten Jahren kurz Revue passieren lassen. In diesen gelang es der CCR, ihre Stellung deutlich zu stärken. Das lag vor allem am Austritt tausender Mitglieder sowie der Passivität der tradierten Mehrheit und auch der anderen linken Strömungen. Die CCR bildete zumeist den dynamischsten Flügel in der NPA, der aktiv in die sozialen Bewegungen und Kämpfe der ArbeiterInnenklasse intervenierte und dort sichtbarer war als die anderen (was nicht notwendigerweise bedeutet, dass er mehr Verankerung in diesen Kämpfen aufwies oder eine größere Rolle als andere spielte).

Von den rund 9000 Mitgliedern zur Gründung der NPA 2009 sind heute nur noch 1000 bis 1500 verblieben. Der größere Einfluss der CCR geht also sowohl auf ihr Wachstum in absoluten Zahlen, vor allem aber auf den extremen Niedergang der NPA selbst zurück.

2020 spitzte sich die Lage weiter zu, insbesondere als die NPA-Führung bei den Regionalwahlen prinzipienlose Blöcke mit der linkspopulistischen La France Insoumise (Widerspenstiges Frankreich; FI) und anderen, weniger bedeutenden reformistischen oder kleinbürgerlichen Gruppierungen einging. Die, vom Standpunkt der NPA erfolgreichste Kandidatur stellte dabei „Bordeaux en lutte“ (Bordeaux im Kampf) dar. Diese von Poutou angeführte Liste erhielt über 12 % der Stimmen und war, weil sie stark von der NPA geprägt war, vergleichsweise links. Andere Listenverbindungen dominierte der Linkspopulismus offen, die NPA wurde zu deren regionalen Wasserträgerin.

Einige linke Fraktionen in der NPA (z. B. L’Etincelle; Der Funke) lehnten diese Verbindung von Beginn an ab. Die CCR stimmte dem Projekt ursprünglich zu, kritisierte es jedoch später vehement. Um diesen Schwenk zu rechtfertigen, stellte sie das ursprüngliche Konzept von „Bordeaux en lutte“ als grundsätzlich verschieden von den anderen Wahlbündnissen mit dem Linkspopulismus dar.

Zugleich wurde an diesen Fragen ein grundlegendes, bis heute ungelöstes Problem deutlich: Wie charakterisiert die NPA FI? Welche Taktik verwendet sie ihr gegenüber? Und noch grundlegender: Wie verhält sich die NPA zu nicht-revolutionären Organisationen, Gewerkschaften und Bewegungen?

Fast alle Strömungen in der NPA charakterisieren FI als reformistische, nicht als linkspopulistische Kraft. Der politische Bruch, den Mélenchon mit der Wende von der Parti de Gauche (Partei der Linken; PdG) zur FI vollzog, wird damit jedoch nicht ausreichend begriffen. Gegenüber dem Linkspopulismus wird im Grunde dieselbe Taktik verfolgt wie gegenüber reformistischen Parteien.

Das zweite Problem bestand darin, dass bei allen diesen Wahlblöcken die NPA auf ihr eigenes Programm zugunsten eines „Einheitsfrontprogramms“ verzichtete, das einmal „linker“, einmal direkt populistisch war.

Zweifellos stellt die Anpassung an den Linkspopulismus eine nach rechts dar. Damit sollte wahrscheinlich auch die Möglichkeit weiterer Bündniskandidaturen bis hin zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen sondiert werden. Wie so oft bei opportunistischen Manövern rücken mittlerweile sogar viele der ehemaligen BefürworterInnen, also der langjährigen Mehrheit, von weiteren Bündnissen mit FI ab, da diese die NPA offenkundig in den meisten Listen über den Tisch gezogen hat.

Bei „Bordeaux en lutte“ und den anderen Kandidaturen wird darüber hinaus ein weiteres Problem deutlich, das die NPA von Beginn an prägt: ihr mangelndes Verständnis des Reformismus und der Taktiken ihm gegenüber.

Exkurs zu einem Gründungsproblem der NPA

Bei Gründung der NPA ging die damalige Parteiführung davon aus, dass der Reformismus in Frankreich und auch international abgewirtschaftet hätte und tot wäre. Die große Rezession und die historische Krise der Weltwirtschaft würden keinen Spielraum für reformistische Politik der graduellen Reformen mehr erlauben und damit auch keinen für die Entstehung neuer reformistischer Parteien oder die Wiederbelebung alter. Diese impressionistische und oberflächliche Sicht der Dinge schien im Jahr 2009 jedoch zumindest in Frankreich eine gewisse Plausibilität zu besitzen. Die Parti Socialiste schien im freien Fall. Sie verlor 2009 bei den Europawahlen 12,4 % der Stimmen und erhielt desaströse 16,5 % (über die sie sich heute freuen würde). Die KP war als elektorale Kraft überaus geschwächt, auch wenn sie damals und heute noch immer Zehntausende Mitglieder hat und ein Vielfaches an gewerkschaftlicher Verankerung der gesamten radikalen Linken.

Vor allem aber hatte die NPA nicht mit einer linksreformistischen Neugründung und Konkurrenz, der PdG, von Melénchon gerechnet, die 2016 durch FI abgelöst wurde. Seither ist die NPA von einem stetigen Streit um die Haltung zum Linksreformismus (und auch zum Linkspopulismus) geprägt, in der zwei grundlegend falsche Positionen einander gegenüberstehen. Entweder wird eine Politik der Anpassung verfolgt bis hin zum Übertritt zahlreicher Mitglieder und ganzer Strömungen. Der Opportunismus nimmt verschiedene krasse Formen bis hin zur programmatischen Unterordnung an. Fast immer geht er mit einem Verzicht auf Kritik an zeitweiligen Verbündeten einher.

Der Anpassung wird in der NPA aber andererseits allzu oft eine sterile und letztlich sektiererische Haltung der scheinbar unversöhnlichen Abgrenzung, des faktischen Verzichts auf die Politik der Einheitsfront gegenüber reformistischer Basis und Führung gegenübergestellt und dies zur „Unabhängigkeit“ hochstilisiert.

In der gesamten Geschichte der NPA bildet die Frage des Verhältnisses zu reformistischen (oder linkspopulistischen) Parteien einen immer wieder kehrenden Punkt von inneren Auseinandersetzungen, politischer Konfusion und des Schwankens. Dies trifft letztlich auf alle Strömungen der NPA zu.

Bei den Regionalwahlen und in der Listenverbindung mit FI ging die Führung der NPA weit nach rechts. Die Kritik an diesen prinzipienlosen Verbindungen durch die CCR und andere linke Strömungen in der NPA trifft also zweifellos einen wichtigen und richtigen Punkt. Nicht minder richtig ist die Feststellung, dass gegen diese Anpassung ein politischer Kampf geführt werden muss. Damit die NPA diesen Geburtsfehler überwindet, reicht die Kritik an den opportunistischen Seiten ihrer Methode jedoch nicht aus. Die Organisation und ihre Mitglieder müssen vielmehr die Ursachen für diese Anpassung, aber auch das immer wiederkehrende Schwanken zwischen Opportunismus und Sektierertum in der Frage der Einheitsfront begreifen, um diese Fehler bewusst zu überwinden.

Das Manöver der CCR

Angesichts veränderter Mehrheitsverhältnisse in der Leitung der NPA und des Rechtsschwenks bei den Wahlblöcken mit den LinkspopulistInnen schien die Situation günstig für die linken Plattformen und Strömungen. Rein zahlenmäßig hätten sie die Führung der Organisation übernehmen können. Aber sie taten dies nicht – und konnten das auch nicht tun, weil sie selbst über kein gemeinsames Konzept zum weiteren Aufbau verfügten. Ihre Gemeinsamkeit beschränkte sich in der Regel auf ein Nein zur langjährigen Führung.

Die CCR entschied sich in dieser Lage zu einem gewagten Manöver. Zuerst startete sie eine Kampagne zur „Einheit der revolutionären Kräfte“ in der NPA gegen alle jene, die einen Wahlblock mit der FI anstrebten. Nachdem sich dieser Block jedoch nicht zu ihrer Zufriedenheit entwickelte, versuchte die CCR Fakten gegenüber allen andere Strömungen, linken wie rechten, zu schaffen.

Ohne jede Diskussion in der NPA präsentierte sie einen Genossen aus den eigenen Reihen, den jungen Eisenbahner und lokalen Streikführer Anasse Kazib, öffentlich als Vorkandidaten der Partei zur Präsidentschaftswahl 2022. Mit diesem Manöver sollte den anderen Strömungen ein Kandidat ohne vorhergehende Diskussion aufgezwungen werden. Auch wenn die CCR diese Aktion als uneigennützigen Vorschlag und Angebot vor allem gegenüber den anderen linken Strömungen präsentierte, so durchschauten diese natürlich das durchsichtige und abenteuerliche Manöver.

Es scheiterte verdientermaßen. Keine Tendenz, keine Plattform innerhalb der NPA war bereit, diesen Schritt zu gehen und sich dem Druck zu beugen. Vielmehr wiesen alle den undemokratischen Affront zurück, der NPA ohne innere Diskussion, ohne Debatte unter den Mitgliedern und in deren Gremien einen Kandidaten aufzudrücken. Nachdem sich die anderen Strömungen der NPA, also die deutliche Mehrheit der Partei, nicht öffentlich unter Druck setzen ließen und das Manöver gescheitert war, war freilich auch jede Aussicht dahin, eine Mehrheit für Anasse als Präsidentschaftskandidaten zu gewinnen.

Nachdem die CCR ihren Kandidaten nicht durchsetzen konnte, nahm sie selbst offenkundig den Kurs auf einen Bruch mit der NPA. Sie trat die Flucht nach vorne an und erklärte ihrerseits alle, die ihre Manöver nicht mitmachen wollten, zu Kräften, die ihren Ausschluss vorbereiteten oder hinnehmen wollten. Teile der NPA haben in dieser Situation zwar auch mit einem Ausschluss der CCR gedroht oder darauf gedrängt. Fakt ist jedoch, dass kein Gremium der NPA den Ausschluss dieser Plattform oder auch nur eines einzigen ihrer Mitglieder beschlossen hat. Der angebliche Ausschluss fand nicht statt. Dennoch wird die CCR nicht müde, von einem „de facto“ Ausschluss zu sprechen oder von einer politischen Entwicklung, die einem solchen gleichkomme. Sie könne in der NPA nicht mehr arbeiten usw.

Ob eine weitere Arbeit in der NPA für sie Sinn macht oder nicht, muss natürlich die CCR, so wie jede andere Strömung und jedes Mitglied, für sich selbst entscheiden. Ein Ausschluss ist das jedoch nicht, und diese Fragen bewusst zu verwischen, bedeutet nur, politische Nebelkerzen zu werfen, die einzig der eigenen Legendenbildung dienen.

Die Rhetorik erfüllt die Funktion, den Bruch mit der NPA einem angeblichen undemokratischen und bürokratischen Manöver ihrer Führung (und aller anderen Strömungen) zuzuschieben. Wahrscheinlich hatte die CCR selbst auf einen richtigen Ausschluss spekuliert, um so ihrem Narrativ Glaubwürdigkeit zu verleihen. Nachdem dieser jedoch nicht stattfand, berichten CCR und ihre Schwesterorganisationen dennoch so, als ob einer stattgefunden hätte.

Diese Legendenbildung läuft auf eine bewusste Manipulation der Mitglieder der NPA, aber auch der eigenen Strömung und der internationalen Linken hinaus. Solche Manöver, die für kleinliche fraktionelle Interessen durchgezogen werden, tragen nicht nur zur längerfristigen Diskreditierung einer Strömung bei, sondern sind auch Wasser auf die Mühlen reformistischer, populistischer und anarchistischer GegnerInnen des Aufbaus einer revolutionären Organisation.

TrotzkistInnen haben ihre Spaltungen leider traurige Berühmtheit erlangt, und eine weitere wird zweifellos Ironie und Hohn von professionellen ZynikerInnen und BesserwisserInnen in aller Welt hervorrufen. Diese setzen dem die angeblich „große Breite“ der sozialdemokratischen Parteien oder des demokratischen Sozialismus entgegen. In diesen können miteinander unvereinbare Strömungen koexistieren, weil die eigentliche Politik der Partei von einer Elite parlamentarischer KarrieristInnen und BürokratInnen bestimmt wird.

Zu ihrer Zeit wurden auch die russische Sozialdemokratie und der Bolschewismus für ihre Spaltungen verspottet. Ernsthafte KämpferInnen werden daher nicht alle Spaltungen als schlecht und alle Fusionen als gut in einen Topf werfen. Jede Spaltung wirft jedoch für beide Seiten die Frage auf: Hat sie wichtige Fragen der Strategie und Taktik geklärt, die nach der Debatte dringend in der Klasse angewendet werden mussten und deshalb einen organisatorischen Bruch erforderten? Eine Spaltung, die keine solche Grundlage hat, ist prinzipienlos; erst recht, wenn es um eine Präsidentschaftswahl geht, bei der es höchst fraglich ist, ob eine der beiden Seiten überhaupt kandidieren kann.

Darüber hinaus haben beide Seiten, oder besser gesagt, alle Seiten, über zehn Jahre lang eine prinzipienlose Einheit aufrechterhalten, ohne entweder ernsthaft zu versuchen, die programmatischen Fragen zu lösen oder diszipliniert zusammenzuarbeiten. Hätten sie das getan, hätten sie eine kleine, aber effektive Kampfpartei aufbauen können, die an den entscheidenden Wendepunkten des Klassenkampfes eine echte Alternative zu den reformistischen Parteien und Gewerkschaften hätte bieten können. Selbst zu dieser späten Stunde könnten die zerstörerischen Auswirkungen des drohenden Zusammenbruchs der Partei rückgängig gemacht werden, wenn die Tendenzen in und um die NPA sich endlich der Frage zuwenden würden, ein Programm (nicht nur eine Wahlplattform) und einen konkreten Aktionsplan für den Kampf gegen Macron und Le Pen auf der Straße und in den Betrieben in den kommenden Jahren auszuarbeiten.

Der kommende Kongress und die Plattformen in der NPA

Die Abspaltung der CCR ist nach ihren eigenen Erklärungen ein Fakt. Die NPA verliert damit weitere 20–25 % ihrer AktivistInnen. Wahrscheinlich hat das gerade auch wegen des prinzipienlosen und manipulativen Schachzugs eine demoralisierende Auswirkung auf etliche Militante. Im Grunde bezweckt die CCR auch diesen Effekt, weil es dem Narrativ dienlich ist, dass sie den kleineren, aber dynamischeren Teil der Aktiven organisiere und die Demoralisierung weitere AktivistInnen anderer Strömung als Zeichen für die Richtigkeit des eigenen Manövers dargestellt wird.

Eine solche Darstellung mag zeitweilig der Festigung der eigenen Reihen dienen. Schließlich stellt der Gewinn von hunderten AnhängerInnen und dutzender betrieblicher KämpferInnen in den letzten Jahren für die CCR wie für jede Propagandaorganisation einen beachtlichen Erfolg dar. Betrachten wir jedoch das Kräfteverhältnis der Klassen in ihrer Gesamtheit, so bleibt er jedoch eine Marginalie, letztlich nebensächlich, verglichen mit dem Niedergang der „radikalen“ Linken im letzten Jahrzehnt und der tiefen Krise der NPA. Dass sich die CCR selbst in dieser Phase stärken konnte, ändert an der Gesamtdiagnose nichts. Es macht aber den leichtfertigen Optimismus ihre Erklärung fragwürdig, jetzt ohne den NPA-Ballast richtig durchstarten zu können.

Dies umso mehr, als nicht nur die Legendenbildung verlogen ist, sondern auch die politische Substanz der Spaltung fragwürdig. Die CCR behauptet, dass es in der NPA grundlegende, nicht weiter tragbare Differenzen über die politische Ausrichtung gab und gibt, die eine weitere Zusammenarbeit unmöglich machen würden. Nun wird niemand grundlegende Differenzen in Abrede stellen wollen. Betrachten wir freilich das Diskussionsbulletin, das die Entwürfe aller Plattformen in der NPA zur Konferenz Ende Juni enthält, so ergeben diese ein anderes Bild. 5 von 6 Entwürfen sprechen sich für eine eigenständige Präsidentschaftskandidatur aus, nur eine kleine Plattform (Plattform 4) nicht.

Die CCR titelt ihren Vorschlag „Rompre avec la politique d’alliances avec la gauche institutionnelle, pour une candidature 100 % révolutionnaire du NPA à la présidentielle“ (Mit der Politik von Allianzen mit der institutionellen Linken brechen! Für eine 100 %ig revolutionäre Kandidatur der NPA zu den Präsidialwahlen!). Die Plattform 5, die von den beiden großen linken Strömungen – L’Etincelle und Anticapitalisme & Révolution – gemeinsam vorgelegt wird, lautet: „Pour une candidature ouvrière, anticapitaliste et révolutionnaire du NPA à la présidentielle“ (Für eine antikapitalistische und revolutionäre ArbeiterInnenkandidatur der NPA zu den Präsidentschaftswahlen!). Und der Vorschlag von Plattform 2, der größten Strömung um Poutou und Besancenot, trägt die Überschrift: „Face à la crise, il faut une candidature du NPA à la présidentielle: ouverte, anticapitaliste  et révolutionnaire!“ (Angesichts der Krise braucht es eine offene, antikapitalistische und revolutionäre Präsidentschaftskandidatur der NPA!).

Nicht nur die Namen, auch die Inhalte – ihre Stärken und Schwächen – sind verblüffend ähnlich. 5 von Plattform sprechen sich nicht nur für eine eigene, revolutionäre und antikapitalistische Kandidatur aus. Alle lehnen jede Anpassung an die bürgerliche Mitte (Macron) als kleineres Übel gegenüber Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen ab. Alle unterziehen auch die „institutionelle Linke“ – ein Sammelbegriff für FI, KP und Grüne – einer scharfen Kritik und betonen die Notwendigkeit eines eigenständigen Profils und einer eigenen Kandidatur und Plattform bei den Wahlen.

Sicherlich repräsentiert diese Einheit nur eine Momentaufnahme. Doch ändert das nichts daran, dass die Plattform 2 anscheinend einen Schwenk nach links vollzogen hat. Nachdem sie einen oder mehrere Schritte nach links ging, unterscheidet sich ihre Plattform nicht grundlegend vom Vorschlag der CCR oder von L’Etincelle und Anticapitalisme & Révolution. Letztere (Plattform 5) ist eigentlich der inhaltlich abgerundetste und klarer und präziser als jener der CCR.

Praktisch alle Plattformen inkludieren Losungen zur Verbesserung der Lage der ArbeiterInnenklasse (Mindestlohn, Verbot von Entlassungen, Umwandlung prekärer Arbeitsverhältnisse in gesicherte), die Forderung nach Verstaatlichungen unter ArbeiterInnenkontrolle (insbes. im Gesundheitssektor und bei grundlegenden Industrien), gleiche StaatsbürgerInnenrechte für alle, die Legalisierung von Menschen ohne Papiere, eine Ablehnung imperialistischer Interventionen. Alle betonen die Notwendigkeit von Massenstreiks und einer Massenbewegung gegen die Krise sowie, dass nur eine ArbeiterInnenregierung einen Ausweg bieten kann.

Selbst die Schwächen teilen die Dokumente weitgehend. Zu vielen Punkten (Ökologie, Europa, EU, Internationalismus) sind sie sehr allgemein gehalten. So betonen alle durchaus richtig, dass der Kapitalismus die Umweltfrage nicht lösen kann. Es finden sich aber kaum unmittelbare oder Übergangsforderungen zur drohenden ökologischen Katastrophe in den Texten.

Während alle bezüglich der Notwendigkeit einer Massenbewegung gegen die Krise, gegen Regierung, Kapital und die erstarkte Rechte und auch bezüglich der Notwendigkeit einer Revolution und einer ArbeiterInnenregierung übereinstimmen, so findet sich eigentlich nur die Betonung der Selbstorganisation, der Kämpfe „von unten“ als Mittel zu diesem Ziel in den Papieren. Die Frage, wie eine solche Bewegung zustande kommen kann, wie angesichts der Dominanz von kleinbürgerlich-populistischen Kräften, z. B. bei den Gelbwesten, die ArbeiterInnenklasse eine Führungsrolle übernehmen kann, fehlt im Grunde. Bei allen Plattformen suchen wir eine Taktik und eine Politik gegenüber den bestehenden reformistischen Organisationen und vor allem gegenüber den Gewerkschaften vergeblich.

So verbleibt als Hauptdifferenz, dass die verschiedenen Plattformen verschiedene Kandidaten zur Präsidentschaftswahl vorschlagen: Poutou (Plattform 2), Besancenot (Plattformen 1 und 5) und Anasse (Plattform 6).

Auch wenn die Vorschläge zur den Präsidentschaftswahlen nur eine Momentaufnahme der Politik der einzelnen Strömungen darstellen, so sind die vorgeschlagenen Plattformen keineswegs so unterschiedlich, dass sie einen politischen Bruch in der Wahlfage rechtfertigen würden. Die meisten stellen – im Gegensatz zur Behauptung der CCR – eigentlich einen Schritt nach links dar.

Diese Momentaufnahme schließt logischerweise zukünftige opportunistische Schwankungen nicht aus. Aber diese verdeutlichen auch, dass wir es bei der NPA, einschließlich der größten Strömung um Besancenot und Poutou mit keiner reformistischen Kraft, sondern mit einer zentristischen zu tun haben, deren Politik von Schwankungen zwischen opportunistischen, revolutionären und sektiererischen Positionen gekennzeichnet ist.

In dieser Lage müssten RevolutionärInnen versuchen, diese zeitweilige Entwicklung weiterzutreiben und eine gemeinsame Kandidatur auf einem gemeinsamen Aktionsprogramm mit einer systematischen Diskussion der Ursachen der Krise der NPA zu verbinden. Der Name der/s KandidatIn spielt dabei eine zweitrangige Rolle, solange er/sie einigermaßen das Vertrauen der gesamten Organisation genießt, was neben seiner Bekanntheit in der Öffentlichkeit für Besancenot sprechen würde.

In jedem Fall ist es jedoch von entscheidender Bedeutung, dass eine Kandidatur zur Präsidentschaftswahl nicht mit einer Lösung der Krise der NPA verwechselt wird. Schließlich ist es zur Zeit relativ einfach, eine revolutionäre, antikapitalistische Kandidatur zu proklamieren. Mélenchon hat viel an seiner Attraktivität eingebüßt, so dass seine Aussichten, die zweite Runde der Wahl zu erreichen, geringer ausfallen als 2017 und daher eine taktische Stimmabgabe und eine Unterordnung unter seinen Wahlkampf nicht sonderlich viel Sinn ergibt. Zum andern kann eine Kandidatur nicht nur eine radikale Plattform präsentieren, sie kann unter dem Nimbus der Einheit dazu führen, dass politische Probleme und Schwächen weiter aufgeschoben werden, die zum Niedergang der NPA geführt haben und weiter führen werden.

Die Lage in Frankreich und die Probleme der NPA

Dazu gehört unglücklicherweise auch die Einschätzung der politischen Lage und der Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen in Frankreich selbst – ein Problem, das mehr oder minder ausgeprägt bei allen Plattformen auftaucht.

Frankreich machte in den letzten Jahren beachtliche Klassenkämpfe durch, die auch manche Angriffe bremsen konnten, und die Lohnabhängigen sind ungleich streik- und kampfbereiter als in Deutschland, Britannien und den meisten anderen imperialistischen Ländern in Europa. Nichtsdestotrotz profitierte vor allem die Rechte von den Krisen, die die Regierung Macron durchlebte. Die RN (Rassemblement National; Nationale Sammlung) und Marine Le Pen gelten heute als die größten HerausforderInnen Macrons. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie es in die Stichwahlen bei der Präsidentschaftswahl schafft und dort könnte sie 40 % der Stimmen abräumen. Bei Regionalwahlen gehen rechtskonservative Parteien mittlerweile mit der RN einen Block ein. Drei Viertel aller FranzösInnen schließen nicht grundsätzlich aus, ihre Stimme für die RN abzugeben.

Zugleich setzen sich die Agonie der Sozialdemokratie und die öffentliche Marginalisierung der KP fort. Melénchon vollzog 2017 einen Rechtsschwenk vom Reformismus zum Linkspopulismus, hat aber seit 2017 deutlich an Anziehungskraft verloren.

Trotz sozialer Bewegungen und massiver Kämpfe konnte die „radikale“ Linke von dieser Lage nicht profitieren, sondern erlebte selbst einen dramatischen Niedergang, der vor allem einer der NPA ist. Von den ehemals 9000 Mitgliedern sind ca. 80 % verlorengegangen – entweder indem sie sich reformistischen oder populistischen Kräften zuwandten oder überhaupt aus der organisierten Politik ausschieden.

Dieses Kräfteverhältnis wird von der NPA jedoch nicht oder nur unzureichend zur Kenntnis genommen. Ein zentraler Grund dafür ist die falsche Einschätzung der Gilets Jaunes (Gelbwesten). Bei allen Plattformen treten diese als fortschrittliche Massenbewegung gegen die Regierung auf. Ihr kleinbürgerlicher Klassencharakter, ihre populistische Ausrichtung spielen in den Erwägungen keine Rolle. Daher werden auch unangenehmen Tatsachen ausgeblendet wie die überdurchschnittliche Unterstützung der RN von AnhängerInnen der Gelbwesten bei Wahlen. Umfragen zufolge stimmten 44 % der AnhängerInnen der Gelbwesten bei den Europawahlen für RN.

Statt dessen hoffen mehr oder weniger alle Flügel der NPA – die „linken“ zum Teil mehr als die „rechten“ – darauf, dass die Gelbwesten die Basis für eine radikale Bewegung gegen die Regierung und eine Erneuerung der ArbeiterInnenklasse abgeben. Diese impressionistische Methode erlaubt zwar eine „optimistische“, genauer eine beschönigende Einschätzung der politischen Lage. Sie macht aber blind dafür, dass mit den Gelbwesten das KleinbürgerInnentum als prägende Kraft in der politischen Konfrontation hervortrat und die ArbeiterInnenklasse in dieser Bewegung eine untergeordnete Kraft darstellte. Überhaupt fehlt den NPA-Strömungen ein Verständnis des Populismus und seines Unterschieds zum Reformismus, so dass der Rechtsschwenk von Mélenchon im Jahr 2017 überhaupt nicht in seiner Bedeutung zur Kenntnis genommen wird.

Die Stärkung des kleinbürgerlichen Populismus wurde glücklicherweise durch die großen Streiks und Kämpfe gegen die sog. Rentenreform Ende 2019/Anfang 2020 ein Stück weit gebrochen. Hier zeigte sich die Bedeutung und Rolle der ArbeiterInnenklasse. Aber der Streik konnte seine Ziele nicht erreichen und fragmentierte am Ende. Zugleich wurde in dieser Bewegung die zentrale Rolle der Gewerkschaften nicht nur bei Arbeitskämpfen, sondern auch bei politischen Klassenkämpfen mit der Regierung deutlich. Das trifft vor allem auf die CGT zu, die in dieser  Konfrontation faktisch wie eine politische Führung der Klasse agierte.

Während die Dokumente der NPA-Konferenz kein Wort der Kritik, der Problematisierung oder zur Einschätzung des Klassencharakters der Gilets Jaunes verlieren, tauchen die Gewerkschaften und ihre Führungen nur als BremserInnen und VerräterInnen auf. Zweifellos sind das auch viele BürokratInnen. Aber erstens spielen z. B. CGT und SUD/Solidaires in praktisch allen Konfrontationen eine linkere und kämpferischere Rolle als CFDT oder auch FO. Zweitens fehlen in allen Dokumenten Forderungen an die Gewerkschaften. Wie aber sollen in Frankreich politische Massenstreiks, große Klassenkämpfe auf betrieblicher Ebene zustande kommen ohne die Gewerkschaften? Auch wenn diese verglichen mit Deutschland oder Britannien relativ wenige Mitglieder haben, so sind sie viel stärker Vereinigungen aktiver gewerkschaftlicher ArbeiterInnen, also der aktiven KollegInnen in vielen Betrieben und Verwaltungen.

Gerade angesichts der aktuellen Defensive, laufender und drohender Angriffe und des Aufstiegs der Rechten kommt der Bildung einer ArbeiterInneneinheitsfront eine grundlegende Bedeutung zur Organisierung von Abwehrkämpfen zu, um von der Defensive in die Offensive zu kommen. Dies bedeutet aber auch, gerade gegenüber den Gewerkschaften (aber auch gegenüber reformistischen Parteien und selbst gegenüber den AnhängerInnen der FI) eine aktive Politik der Einheitsfront einzuschlagen. Es reicht nicht, diesen den Unwillen zur Mobilisierung vorzuwerfen. Die NPA müsste vielmehr versuchen, diese wo immer möglich in die Aktion, Einheitsfront zu zwingen.

Diese Methode, die natürlich auch auf den Kampf gegen Imperialismus, Rassismus, Sexismus und Umweltzerstörung anwendbar ist, fehlt jedoch in den Dokumenten fast vollständig. Der Ruf nach Aktionskomitees, nach Mobilisierungen und Kontrolle der Kämpfe von unten stellt zwar einen wichtigen Aspekt jeder Einheitsfrontpolitik dar, aber er kann und darf eine systematische Politik gegenüber bestehenden Massenorganisationen nicht ersetzen.

Das Problem der Einheitsfront und des Verhältnisses von Aktionskomitees und Kampforganen der Klasse zu den politischen und gewerkschaftlichen Massenorganisationen taucht aktuell in der NPA nicht auf. Es handelt sich daher auch um keine revolutionäre Antwort auf vorhergehende Anpassung z. B. bei den Regionalwahlen, sondern nur das Ersetzen eines Fehlers durch sein nicht minder problematisches Gegenteil.

Ein falsches Verständnis der Einheitsfrontpolitik, von Reformismus und Populismus sind nur einige der Fehler, die die NPA seit ihrer Gründung begleiten. 2009 proklamierte sie noch richtigerweise, dass es ihre Aufgabe der NPA darin läge, ein Programm zu erarbeiten und zu konkretisieren. Dieser richtige Ansatz, der allein dazu in der Lage gewesen wäre, die Differenzen zwischen den verschiedenen Strömungen zu überwinden, wurde jedoch nicht verfolgt. Vielmehr operierte die NPA als Organisation, in der an allen wichtigen Wendepunkten große und hitzige Differenzen auftauchten, die zu Mitgliederverlusten führten, ohne dass die Streitfragen geklärt wurden.

Hinzu kommt, dass ohne eine Überwindung ihrer programmatischen Differenzen die einzelne Strömungen von Beginn an wie getrennte Organisationen agierten, die Beschlüsse, die ihnen zuwiderliefen, einfach ignorierten. Die Handlungsfähigkeit der NPA wurde dadurch fortschreitend geringer.

Wenn die NPA ihre Krise überwinden will, wenn der aktuelle Kongress und die nächsten Monate nachträglich mehr sein sollen als ein weiteres Kapitel einer langgezogenen Agonie, dann muss sie diese Fragen angehen. Sie muss die Intervention in die Präsidentschaftswahl nutzen zur Kampagne für eine Massenbewegung gegen die Krise, zur Erarbeitung und Verbreitung eines Aktionsprogramms und zur systematischen Diskussion um die Überwindung der Differenzen zwischen den Strömungen. Nur auf diesem Weg kann aus der zentristischen Organisation eine revolutionäre werden.




Die Ermordung von Leo Trotzki

Simon Hardy und Dave Stockton, Infomail 1114, 21. August 2020

Anlässlich des 80. Todestages von Leo Trotzki veröffentlichen wir hier erneut einen Text von Simon Hardy und Dave Stockton über die Geschichte der Ermordung Leo Trotzkis.

Trotzki lebte in einem Haus in Coyoacán, in Mexiko-Stadt, und war nicht nur ein Exilant, sondern auch ein Flüchtling vor den MörderInnen von Stalins Geheimpolizei, dem NKWD (Innenministerium der UdSSR, auch politische Geheimpolizei). Tatsächlich war das „Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten“ (Vorläufer des Innenministeriums in der RSFSR und UdSSR) insofern etwas falsch benannt, als es insbesondere seit dem spanischen BürgerInnenkrieg (1936 – 1939) ein ausgedehntes Netz von AgentInnen in Westeuropa und Amerika aufgebaut hatte.

Trotzki war in den Moskauer Prozessen von 1936 – 1938 wiederholt als der ultimative Organisator und Inspirator von Verbrechen gegen die Sowjetunion angeprangert worden. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Stalin versuchte, sein Leben zu beenden. In der Tat sagte Pawel Sudoplatow, Leiter der Verwaltung für Sonderaufgaben des NKWD, noch in dem Monat, als Trotzki in das Haus in der Calle Viena (Wiener Gasse) einzog, im März 1939, als sein Chef Lawrenti Beria ihn zu Stalin brachte: „Trotzki sollte innerhalb eines Jahres eliminiert werden“.

Damit fügte Stalin dem riesigen Gemetzel der Säuberungen, die nicht nur alle MitarbeiterInnen Lenins, sondern auch viele seiner eigenen AnhängerInnen in der Zeit der Degeneration des Sowjetstaates vernichtet hatten, einschließlich der talentiertesten Chefs der Roten Armee und zahlloser völlig unschuldiger Menschen, einfach das krönende Verbrechen hinzu.

Allein Trotzkis Anwesenheit bedeutete, dass Mexiko-Stadt von NKWD-AgentInnen durchsetzt war. Viele von ihnen waren aus Spanien gekommen, als Franco schließlich triumphierte, wegen der gemeinsamen Sprache. Tatsächlich haben sich Beweise dafür ergeben, dass es in Mexiko-Stadt zwei aktive GPU-Netzwerke (GPU: Geheimpolizei der UdSSR ab Ende 1922) gab, die beide aktiviert werden sollten, um die Ermordung Trotzkis auszuführen.

Netzwerk

Das eine Netzwerk wurde „Pferd“ genannt, der Codename für den berühmten mexikanischen Wandmaler David Alfardo Siqueiros, ein führendes Mitglied der Kommunistischen Partei. „Pferd“ wurde von einem GPU-Agenten namens Josef Grigulewitsch geleitet, der von Alexander Orlow, einem General im NKWD, rekrutiert worden war. Sie waren beide Mitglieder der GPU-„Spezialeinheit“, die in Spanien die Folter am prominenten Führer der POUM, Andreu (Kastilisch: Andrés) Nin, durchführte. Im Sommer 1938 wurde letzterer nach Moskau zurückgerufen, wo er wegen seines Wissens um Stalins Verbrechen Gefahr lief, selbst liquidiert zu werden. Er lief daraufhin über und versuchte tatsächlich, Trotzki vor den AgentInnen zu warnen, die ihm auf den Fersen waren.

Siqueiros war zu dieser Zeit ein fanatischer Antitrotzkist, der den StalinistInnen gegenüber völlig loyal war. Er hatte die Verbindungen und konnte andere dazu bringen, bei einem Angriff zu helfen. Aber was die GPU brauchte, war ein Weg ins Haus. Am 1. Mai organisierten die StalinistInnen einen 20.000 Menschen starken Marsch durch Mexiko-Stadt, in dem die Vertreibung Trotzkis gefordert wurde, und ein Teil der Menge forderte auch seinen Tod. Die stalinistische Politik bestand darin, maximalen Druck auf die mexikanische Regierung auszuüben, um den russischen Dissidenten auszuweisen. Ihre Presse griff Trotzki regelmäßig an und behauptete, er sei in den Versuch verwickelt, entweder die Regierung zu destabilisieren oder, alternativ, unter Verletzung seiner Visa-Vereinbarungen, die Regierung zu beeinflussen.

Um 4 Uhr morgens am Morgen des 25. Mai schlug Siqueiros‘ Bande zu. Als PolizistInnen verkleidet, überraschten sie die PolizistInnen draußen, fesselten und knebelten sie und klopften an die Tür. Die AngreiferInnen betraten das Gelände des Hauses, nachdem einer der amerikanischen WächterInnen, Robert Sheldon Harte, die Tür geöffnet hatte. Als sie in den Innenhof gingen, stellten sie Maschinengewehrposten auf und eröffneten das Feuer auf das Haus, wobei sie über 300 Kugeln durch die Fenster und Wände jagten. Trotzki und Natalja Sedowa (2. Ehefrau Trotzkis) warfen sich unter das Bett, um in Deckung zu gehen. Ihr 14-jähriger Enkel tat das Gleiche und verletzte sich dabei nur leicht an herumfliegenden Glasscheiben.

Einer der Angreifer könnte sogar ins Schlafzimmer gegangen sein, um Schüsse durch die Matratze abzufeuern. Als die Angreifer zur Flucht durch das Tor ansetzten, warf einer von ihnen eine Granate in das Haus und verursachte ein Feuer. Es wurden auch drei Bomben geworfen, aber sie explodierten nicht richtig. Schließlich gelang es Otto Schüssler (Pseudonym: z. B. Oskar Fischer) und Charles Curtiss, zwei der Wach-SekretärInnen, das Haus zu betreten und zu Trotzkis Familie zu gelangen. Als sich der Rauch verzogen hatte, wurde wie durch ein Wunder niemand ernsthaft verletzt, aber sie entdeckten bald, dass Harte verschwunden war.

Kurz nach Ankunft der Polizei wurden Verdächtigungen über den Angriff geäußert. Einen Tag später verhaftete sie einige von Trotzkis Wachen und beschuldigte sie, einen „Selbstangriff“ organisiert zu haben, um zu versuchen, den StalinistInnen etwas anzuhängen. Dies wurde energisch bestritten. Wie Trotzki behauptete, wäre der Preis, der zu zahlen gewesen wäre, zu hoch für das Ansehen der Vierten Internationale gewesen und hätte seinen Aufenthalt in Mexiko gefährdet, wenn diese Verschwörung aufgedeckt worden wäre.

Bald richtete die Polizei ihr Augenmerk auf die Suche nach Harte. Hier wurden in der Folge eine Reihe interessanter Details bekannt. Mehrere Quellen haben auf Beweise hingewiesen, die darauf hinzudeuten scheinen, dass Harte ein NKWD-Agent war. Erstens behauptete Hartes Vater in einem Interview mit der mexikanischen Polizei, dass im Zimmer seines Sohnes ein Bild von Stalin an der Wand hinge. Andere Beweise deuteten darauf hin, dass Harte bei seiner Ankunft in Mexiko Zugang zu einer beträchtlichen Geldsumme hatte, sicherlich viel mehr als sein bescheidenes Gehalt als Wachmann ihm gegeben hätte. Es wurde vermutet, dass Harte von seinen FührungsoffizierInnen angewiesen worden war, die AngreiferInnen ins Haus zu lassen, und dass er dann in einem der Autos weggefahren worden war.

Noch schwerwiegender sind die Behauptungen einiger der AngreiferInnen, die ebenfalls implizieren, dass Harte sie zumindest kannte. Eine Untersuchung der mexikanischen Polizei führte zur Verhaftung mehrerer Personen, die alle in irgendeiner Weise mit der mexikanischen KP verbunden waren. Während des Verhörs gab einer der an dem Angriff beteiligten Männer zu, dass Harte beteiligt gewesen sei, er sei der Insider gewesen, der die Tür öffnen sollte. Nestor Sanchez Hernandez, Mitglied der Kommunistischen Partei und Veteran der Internationalen Brigaden, gab gegenüber der Polizei zu, dass er Harte mit einem nicht identifizierten „französischen Juden“, der einer der Organisatoren des Angriffs war, „nervös und freundlich“ sprechen gesehen habe.

Ein anderer Bericht identifiziert den Mann als Josef Grigulewitsch und beschreibt einen gewaltigen Streit, der zwischen ihm und Harte ausbrach, der sehr aufgeregt und verärgert wurde. Harte war verärgert und behauptete, ihm sei gesagt worden, dass die Absicht der Razzia nur darin bestand, die Archive zu zerstören. Als sie sich davonmachten und erkannten, dass die Absicht des Angriffs tatsächlich darin bestanden hatte, den alten Mann zu ermorden, fühlte sich Harte verraten. Vermutlich entschied die GPU, dass Harte eine tickende Zeitbombe sei und man ihm nicht trauen könne, seinen Mund zu halten. Seine Leiche wurde einen Monat später entdeckt, erschossen und auf dem Gelände einer Villa auf dem Land vergraben.

Trotzki schrieb einen Nachruf auf Harte und dementierte die bereits kursierenden Anschuldigungen, er sei ein stalinistischer Agent gewesen. Die Wahrheit wird vielleicht nie bekannt werden, aber ob Harte ein Agent war oder nicht, es ist klar, dass sich der Kreis um Trotzki schloss. Trotz offizieller Dementis seitens der Kommunistischen Partei Mexikos schickte David Siqueiros einen Brief an die Presse, in dem er erklärte: „Die Kommunistische Partei versuchte mit diesem Angriff lediglich, Trotzkis Vertreibung aus Mexiko zu beschleunigen; alle FeindInnen der Kommunistischen Partei können eine ähnliche Behandlung erwarten.“

Es war zweifellos nur eine Frage der Zeit, bis die amateurhafte Sicherheitsarbeit im Haus wieder überwunden war und die AttentäterInnen ihr Ziel trafen.

Das Haus wird zur Festung

Zu diesem Zeitpunkt wurde Trotzki von mehreren Mitgliedern der SWP bewacht, die für einen längeren Besuch nach Coyoacán entsandt wurden, bewaffnet und als Wachposten organisiert waren. Zu diesen WächterInnen gehörten Jake Cooper, Walter O’Rourke, Charles Cornell und Robert Sheldon Harte. Eine weitere Wache war Joseph Hansen, später ein wichtiger Führer der SWP. Er beschreibt die neuen Maßnahmen, die seit dem verpfuschten Versuch im Mai ergriffen wurden:

„Die Garde wurde verstärkt, schwerer bewaffnet. Es wurden kugelsichere Türen und Fenster eingebaut. Es wurde eine Feldschanze aus bombensicheren Decken und Böden gebaut. Doppelte Stahltüren, die durch elektrische Schalter gesteuert wurden, ersetzten den alten hölzernen Eingang, wo Robert Sheldon Harte von den GPU-AngreiferInnen überrascht und entführt worden war. Drei neue kugelsichere Türme überragten nicht nur den Innenhof, sondern auch die umliegende Nachbarschaft. Stacheldrahtverhaue und bombensichere Netze waren in Vorbereitung.“

Hansen sollte nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem wichtigen Führer der SWP in den USA werden, aber sein erstes Treffen mit Trotzki verlief nicht gut. Als Hansen gebeten wurde, einen Teil des Haushalts durch die Stadt und in die Wüste zu fahren, verirrte er sich hoffnungslos und ließ Trotzki mit der Frage zurück, ob der junge Amerikaner für seinen Posten in Mexiko geeignet sei.

Eine/r der US-TrotzkistInnen empfahl, die Wache nach dem Angriff im Mai zu professionalisieren. Er/Sie schlug einen neuen Anführer der Garde vor, Ray Rainbolt, einen Sioux-Indianer von Abstammung, ehemaligen Soldaten, der der Hauptmann der Teamster von Minneapolis gewesen war. Trotzki legte gegen diese Entscheidung ein Veto ein, da er mit zu vielen Wachen und mit einem Schutz, den er für übermächtig hielt, unzufrieden war.

Alles stand auf dem Spiel, der Tod des alten Mannes wäre eine Katastrophe für die Vierte Internationale gewesen, die damals unter den Hammerschlägen der unvermeidlichen Repression des Zweiten Weltkriegs litt.

Zu diesem Zeitpunkt lebten etwa acht oder neun Menschen dauerhaft in dem Haus, darunter Trotzki, Natalja, ihr Enkel Wsewolod Platonowitsch Wolkow, die Rosmers und andere. Manchmal hielten sich bis zu zwanzig Personen dort auf. Normalerweise gab es etwa vier Wachen.

Ramón Mercader

Nach dem Scheitern des Pferd-Netzwerks wurde ein zweiter Versuch gestartet. Die GPU wandte sich an Ramón Mercader, um die wichtigste Aufgabe von allen zu erledigen. Es war klar, dass Cárdenas (mexikanischer Präsident 1934 – 1940) in der Frage der Abschiebung Trotzkis nicht umkippen würde, und die Kommunistische Partei war in den Skandal um den Angriff im Mai verwickelt worden, nachdem Siqueiros stolz ihre Beteiligung daran zugegeben hatte. Die GPU wandte sich an Mercader, um die Sache zu Ende zu bringen.

Mercader verbrachte viel Zeit damit, sich Trotzki zu nähern. Er war mit Sylvia Ageloff in die USA gereist, mit einem gefälschten kanadischen Pass unter dem Namen Franc Jacson. Sie heirateten und hatten vor ihrer Reise nach Mexiko gemeinsam Zeit in New York verbracht. Er wartete auf den richtigen Augenblick, wartete monatelang, reiste oft zum Haus, um sie abzuholen, ging aber nie hinein. Er behielt seine Fassade als jemand bei, der kein Interesse an Politik hatte, obwohl er immer noch ein Anhänger der Vierten Internationale war.

Er nahm Kontakt zu anderen GPU-AgentInnen auf, die nach Mexiko entsandt worden waren, um mit der mexikanischen KP zusammenzuarbeiten und das Attentat zu orchestrieren. Ramón Mercader war nicht aktiv in die Kommunistische Partei Mexikos involviert, seine Undercover-Identität bot ihm Zeit, ohne jeglichen Druck der Polizei zu handeln. Lynn Walsh (Socialist Party, englische und walisische Sektion des CWI/Komitees für eine ArbeiterInneninternationale, KAI; vorher: Militant Tendency) schreibt 1980:

„Die Kampagne zur Vorbereitung der mexikanischen KP auf die Ermordung Trotzkis wurde von einer Reihe stalinistischer FührerInnen durchgeführt, die bereits Erfahrung darin hatten, die Befehle ihres Herrn in Moskau rücksichtslos auszuführen: Siqueiros selbst, der in Spanien aktiv gewesen war, wahrscheinlich ein GPU-Agent seit 1928; Vittoria Codovila, eine argentinische Stalinistin, die in Spanien unter [Oberst] Eitingon operiert hatte, wahrscheinlich an der Folterung und Ermordung des POUM-Führers Andrés Nin beteiligt; Pedro Checa, ein Führer der Kommunistischen Partei Spaniens im mexikanischen Exil (sein Name basierte auf einem Akronym des Wortes Tscheka); und Carlos Contreras (auch bekannt als Vittorio Vidali), der in der ,Sondereinheit‘ der GPU in Spanien aktiv gewesen war. Ihre Bemühungen wurden von dem allgegenwärtigen Colonel Eitingon koordiniert.“

Die Operation wurde von Pawel A. Sudoplatow, einem hochrangigen Offizier der GPU mit Sitz in Moskau, geleitet und vorbereitet. Er behauptete in seiner Biografie, er habe Ramón Mercader persönlich für die Durchführung des Attentats ausgewählt.

Durch Sylvia Ageloff begann Mercader die langsame und bewusste Aufgabe, sich seinem Ziel zu nähern, indem er sich zunächst bei Alfred und Marguerite Rosmer einschmeichelte. Durch kleine Gefälligkeiten, z. B. indem er die Rosmers herumfuhr oder Botengänge für sie erledigte, kam er seinem Ziel immer näher. Ageloff war jedoch immer sehr vorsichtig, wenn es darum ging, ihm jeglichen Kontakt mit dem Haushalt zu gestatten, wie Deutscher betont:

„Sylvia war vorsichtig genug, ,Jacson‘ [Mercader] niemals in Trotzkis Haus zu bringen – sie sagte Trotzki sogar, dass sein Besuch Trotzki unnötig in Verlegenheit bringen könnte, da ihr Mann mit einem falschen Pass nach Mexiko gekommen war. Tatsächlich wurde sein Zögern an den Türen des Hauses und sein Widerstreben hineinzukommen irgendwann von Trotzki bemerkt, der, da er ,Sylvias Mann‘ gegenüber nicht unhöflich erscheinen wollte, sagte, er solle ins Haus eingeladen werden.“

Mercader war ein geduldiger Mann und wartete seine Zeit am Rande des Trotzki-Kreises ab, um später Zugang zu ihm zu erhalten. Ageloff hegte sogar einige Bedenken gegen ihn. Als sie versuchte, ihn unter der Geschäftsadresse, die er ihr gab, zu kontaktieren, stellte sich diese als fiktiv heraus. Als sie ihn damit konfrontierte, erklärte er, er habe ihr eine alte Adresse gegeben und händigte ihr eine neue aus. Ein Freund besuchte das Objekt eines Tages und erfuhr, dass das Büro „Jacson“ gehöre. Erleichtert, dass seine neue Geschichte wahr zu sein schien, missachtete sie ihren Verdacht.

Mercader besuchte das Haus in Coyoacán zehnmal, wobei er nie versuchte, sich hineinzudrängen oder sich zu Trotzki zu weit vorzudrängen. Er näherte sich den Wachen, freundete sich mit ihnen an, und als er schließlich von den Rosmers eingeladen wurde, trank er bei zwei Gelegenheiten mit Trotzki Tee. Hansen erinnert sich an ein bestimmtes Gespräch:

„In einem Gespräch mit Jacson, an dem Cornell und ich teilnahmen, fragte Trotzki Jacson, was er von der ,Festung‘ halte. Jacson antwortete, dass alles gut arrangiert zu sein schien, aber ,beim nächsten Angriff wird die GPU andere Methoden anwenden‘. ,Welche Methoden?‘ fragte einer von uns.“

Hansen erinnerte daran, dass Mercader bei dieser Frage nur mit den Achseln zuckte.

Nach einiger Zeit machte Mercader seinen Zug. In den Monaten vor dem Angriff war er wiederholt geschäftlich in die USA zurückgekehrt. Jedes Mal, wenn er wiederkam, schien er noch verzweifelter und nervöser zu sein, und er begann auch, verschiedene Wege auszuprobieren, um Trotzki nahezukommen. Trotzki hatte ihn nie gemocht. Er fand „Jacson“ oberflächlich und abrupt, war aber bereit, ihn wegen seiner Beziehung zu Sylvia zu tolerieren. Mercader begann, ein Interesse an der Politik und den Debatten der Vierten Internationale vorzutäuschen. Er erörterte die Möglichkeit, einen Artikel zu schreiben, den er dann Trotzki bat, sich damit zu befassen. Trotzki stimmte dem zu.

Mercader kam am 20. August mit einem maschinengeschriebenen Manuskript eines Artikels ins Haus, einer Polemik gegen die dritte Lagerposition Shachtmans. Er sah Natalja im Garten und bat um ein Glas Wasser. Sie fragte ihn, ob er ihr seinen Hut und seinen Mantel aushändigen wolle, aber er lehnte ab. In seiner Hand, unter dem Mantel, umklammerte er den Eispickel, den er als Mordwaffe benutzen wollte. Er verbarg auch einen Dolch und eine Pistole, als er sich in Trotzkis Arbeitszimmer begab.

Nach dem Angriff gaben die Wachen zu, dass Vorkehrungen getroffen worden waren, um alle BesucherInnen zu durchsuchen und Trotzki nie mit einem Gast allein zu lassen, aber diese Verfahren waren nicht umgesetzt worden. In einem Interview mit Alan Woods im Jahr 2003 gab Trotzkis Enkel zu:

„ … die Vorkehrungen für Trotzkis Verteidigung waren äußerst mangelhaft. Im Augenblick der Wahrheit wurde Leo Dawidowitsch mit einem relativ Unbekannten allein gelassen, dem die Wachen im August in einem schweren Regenmantel, in dem ein Eispickel, ein langer Dolch und eine Pistole versteckt waren, in unglaublicher Weise erlaubt hatten, das Gebäude zu betreten. Die Wachen machten sich nicht einmal die Mühe, ihn zu ,filzen‘, bevor sie ihn in Trotzkis Arbeitszimmer ließen. Eine solch elementare Vorsichtsmaßnahme hätte ausgereicht, um die gesamte Mission abzubrechen. Aber diejenigen, die angeblich Trotzki verteidigen sollten, trafen nicht die elementarsten Vorsichtsmaßnahmen.“

Da nur die beiden im Büro waren, stand er hinter Trotzki. Als der alte Mann begann, den Artikel durchzulesen und Korrekturen vorzunehmen, zog er die Waffe heraus und stieß ihre Spitze gewaltsam in Trotzkis Kopf. Trotzki stieß einen lauten Schrei aus. Mercader beschrieb ihn anschließend der Polizei: „Ich nahm den ,Eispickel‘. Ich hob ihn hoch. Ich schloss meine Augen und schlug mit all meiner Kraft zu … Solange ich lebe, kann ich seinen Schrei nicht vergessen … “

Natalja beschreibt auch, wie sie einen „schrecklichen, markerschütternden Schrei“ hörte und in den Raum stürmte. Als die Wachen den Raum betraten, sahen sie, dass Trotzki Mercader zu Boden gerungen hatte. Charlie Cornell stürmte mit einer Pistole herein. Trotzki rief ihm zu: „Nein … es ist unzulässig zu töten, er muss zum Reden gezwungen werden.“ Hansen, Robins und Cornell hielten Mercader auf dem Boden fest, während die Polizei gerufen wurde. Natalja wiegte Trotzkis Kopf in ihrem Schoß, als sie versuchten, die Blutung zu stoppen. Trotzki flüsterte seiner Frau zu, dass er sie liebte, und sagte: „Jetzt ist es geschehen.“

Im Krankenhaus stand Hansen neben Trotzkis Bett. Der alte Mann rief ihn herbei und flüsterte seinem amerikanischen Genossen einige seiner letzten Worte ins Ohr. Die Worte waren langsam, schwankend und schwierig, er sprach sie auf Englisch, weil Hansen kein Russisch sprach. „Ich bin dem Tod nahe durch den Schlag eines politischen Attentäters … der mich in meinem Zimmer niedergestreckt hat. Ich kämpfte mit ihm … wir gingen hinein, sprachen über französische Statistiken … er schlug mich … Bitte sage unseren FreundInnen … ich bin mir des Sieges der Vierten Internationale sicher. Geht vorwärts!“ Natalja fragte Hansen, was ihr Mann gesagt hatte. Da er sie nicht mit etwas beunruhigen wollte, von dem er wusste, dass es wahrscheinlich Trotzkis letzte Worte sein würden, antwortete er: „Er wollte, dass ich eine Notiz über die französischen Statistiken mache“, und verließ den Raum.

Die ÄrztInnen arbeiteten hart, aber seine Wunde war zu tief und seine Jahre waren zu weit fortgeschritten. Trotzki starb am 21. August. Sein Körper wurde zwischen dem 22. und 27. August durch etwas geehrt, das einer „öffentlichen Aufbahrung“ nahekam. Etwa 300.000 Menschen kamen, um ihn zu sehen. Am 27. August wurde sein Leichnam eingeäschert. Er wollte seinen Leichnam vernichtet sehen, wie Hansen es beschreibt, so dass nur seine revolutionären Ideen übrigblieben. Schon der Gedanke an eine Mumifizierung, wie Stalin den Leichnam Lenins präparieren ließ, hätte den bekennenden Materialisten angewidert. Seine Asche wurde auf dem Gelände des Hauses in Coyoacán beigesetzt, dem Ort, der fast ein Gefängnis gewesen war, aber auch sein endliches Zuhause in den letzten Jahren seines Lebens.

Damit hatten die StalinistInnen den Mann niedergeschlagen, der sein ganzes Erwachsenenleben der Revolution gewidmet hatte. Den jungen Revolutionär, der Lenin am frühen Morgen aufgeweckt hatte, als er zum ersten Mal nach London kam, der während der Revolution von 1905 im Alter von 25 Jahren zum Vorsitzenden des ersten Petrograder Sowjets gemacht worden war. Er hatte für die Revolution drei Perioden Gefängnis und Exil erleiden müssen. Er war der populärste Redner der Bolschewiki unter dem Proletariat bei großen Versammlungen im Cirque Moderne in Petrograd 1917. Er leitete auch das Militärische Revolutionskomitee, das den Sturz der Provisorischen Regierung organisierte und die Losung Lenins verwirklichte: „Alle Macht den Sowjets!“

Trotzki hatte die Bildung der Roten Armee beaufsichtigt und ihre Verteidigung der Revolution gelenkt, als sie die vereinten Kräfte der ImperialistInnen und der Weißen Armeen besiegte. Während der Revolution und zum Zeitpunkt des BürgerInnenkriegs waren Lenin und Trotzki sich so nahe, dass während des größten Teils eines Jahrzehnts, wenn FeindInnen und FreundInnen von der Oktoberrevolution und dem jungen Sowjetstaat sprachen, sie sich immer auf Lenin und Trotzki bezogen. Dennoch war Trotzki das prominenteste Opfer der bürokratischen Degeneration der Russischen Revolution und erklärte eine unnachgiebige Opposition gegen Stalin, den er als den „Totengräber der Revolution“ bezeichnete und später als Kain, den Mörder seines Bruders, beschrieb.

Für diese Opposition bezahlte er mit seinem Leben, aber auch seine Kinder und viele seiner FreundInnen und GenossInnen. Zu seiner von „Kain Stalin“ getöteten Familie gehörte auch seine erste Frau Alexandra Sokolowskaja, die ihn 1897 für den Marxismus gewonnen hatte und 1938 erschossen wurde. Dann gab es seinen unpolitischen Sohn Sergei, der 1937 erschossen wurde, und Trotzkis engsten politischen Mitarbeiter, seinen anderen Sohn, Leo Sedow, der im Februar 1938 mit ziemlicher Sicherheit vom NKWD in einer Pariser Klinik ermordet wurde. Zu seinen jungen politischen KollaborateurInnen in den 1930er Jahren gehörten Erwin Wolf, der 1937 auf einer Mission in Spanien ermordet wurde, und Rudolf Klement, der Sekretär der Vierten Internationale, der im Juli 1938 in Paris ermordet wurde, als er die Gründungskonferenz der Vierten Internationale vorbereitete.

Die SWP organisierte am 28. August ein Treffen in New York. Cannon hielt eine Rede, die von dem tiefen Gefühl um den Verlust ihres politischen Führers und Leiters geprägt war und in der er die festeste Überzeugung der FührerInnen der Vierten Internationale von der Richtigkeit und Gerechtigkeit ihrer Sache darlegte. Cannon erklärte, wie wichtig die Ideen waren, für die Trotzki kämpfte:

„Er erklärte sie uns viele, viele Male. Einmal schrieb er: ,Nicht die Partei macht das Programm, sondern das Programm macht die Partei‘. In einem persönlichen Brief an mich schrieb er einmal: ,Wir arbeiten mit den korrektesten und mächtigsten Ideen der Welt, mit unzureichenden zahlenmäßigen Kräften und materiellen Mitteln. Aber richtige Ideen erobern auf lange Sicht immer die notwendigen materiellen Mittel und Kräfte und stellen sie sich selbst zur Verfügung‘.“

Cannon fuhr fort und verwies auf die Kontinuität des revolutionären Denkens von Marx, über Lenin bis hin zu Trotzki und zur gegenwärtigen Vierten Internationale:

„Wollen Sie eine konkrete Veranschaulichung der Macht der marxistischen Ideen? Denken Sie nur daran: Als Marx 1883 starb, war Trotzki erst vier Jahre alt. Lenin war erst vierzehn Jahre alt. Keiner von beiden konnte Marx oder irgendetwas über ihn wissen. Dennoch wurden beide durch Marx zu großen historischen Persönlichkeiten, weil Marx Ideen in der Welt verbreitet hatte, bevor sie geboren wurden. Diese Ideen lebten ihr eigenes Leben. Sie prägten das Leben von Lenin und Trotzki.“

Mit Absicht sprach Cannon über seinen Glauben an die Zukunft, über die Hoffnung, die er und die anderen RevolutionärInnen in die jüngeren Generationen setzten:

„Ebenso werden die Ideen Trotzkis, die eine Weiterentwicklung der Ideen von Marx sind, uns, seine JüngerInnen, die ihn heute überleben, beeinflussen. Sie werden das Leben weitaus größerer JüngerInnen prägen, die noch kommen werden, die Trotzkis Namen noch nicht kennen. Einige, die dazu bestimmt sind, die größten TrotzkistInnen zu werden, spielen heute auf den Schulhöfen. Sie werden von Trotzkis Ideen genährt werden, wie er und Lenin von den Ideen von Marx und Engels genährt wurden.“

Das Schicksal von Mercader

Mercader wurde für zwanzig Jahre ins Gefängnis gesteckt. Die mexikanischen Behörden waren unglücklich über russische AttentäterInnen, die in ihrem Land operierten, und wollten an ihm ein Exempel statuieren. Seine Mutter, selbst eine Schlüsselagentin der GPU in Spanien, die mit der Geheimpolizeieinheit in Verbindung stand, die auf die „Liquidierung von TrotzkistInnen“ spezialisiert war, erhielt eine Medaille, ebenso wie Mercader, als er schließlich nach Osteuropa zurückkehrte.

Eitingon und andere planten den Versuch, Mercader 1944 aus dem Gefängnis auszubrechen, wie aus den Akten der Nationalen Sicherheitsbehörde hervorgeht. Dieser Versuch hatte offensichtlich keinen Erfolg. Als er schließlich 1960 freigelassen wurde, flog er nach Havanna, wo er von Castros neuer Regierung willkommen geheißen wurde. Danach flog er in die UdSSR und wurde mit einer Medaille ausgezeichnet, dem „Helden der Sowjetunion“. Den Rest seines Lebens lebte er zwischen Osteuropa und Kuba. Celia Hart, eine Marxistin, die sich nach den 1960er Jahren sowohl mit der Kubanischen Revolution als auch mit dem Trotzkismus identifizierte, war besonders entsetzt über die Verbindung von Mercader mit ihrer revolutionären Heimat. „Ich kann nachts immer noch nicht schlafen, wenn ich daran denke, dass Mercader nach dem Triumph der Kubanischen Revolution in mein Land kam“.

Die StalinistInnen hatten eine Spur des Todes hinterlassen, um zu Trotzki zu gelangen, um zu versuchen, seine Ideen und seine kleine Organisation zu zerschlagen: zwei seiner Kinder, seine Ex-Frau, sieben seiner SekretärInnen und schließlich den alten Mann selbst. Dabei wurden die Zehntausenden von linken Oppositionellen, die in Russland ihr Leben verloren, nicht einmal mitgezählt. Nicht mitgezählt sind auch die vielen hundert TrotzkistInnen, die im kommenden Zweiten Weltkrieg ihr Leben verlieren würden, getötet entweder von den FaschistInnen oder den StalinistInnen.

Es ging darum, dass die Bewegung um Trotzki keine Sekte oder eine einfache Gruppe von „AnhängerInnen“ war, die in ihn verliebt waren, als sei er eine Berühmtheit. Sie waren kritisch denkende MarxistInnen, die in Trotzkis Kampf gegen Stalin die Fortsetzung einer marxistischen Politik angesichts einer ungezügelten politischen Reaktion sahen. Der Verlust Trotzkis war ein schwerer Schlag, ja der schwerste, den man sich vorstellen kann, da er der letzte Überlebende der großen Generation klassischer MarxistInnen und RevolutionärInnen war. Aber es war nicht der tödliche Schlag, den sich Stalin erhofft hatte, es war nicht der Gnadenstoß für die Vierte Internationale, so winzig und verfolgt sie auch war.

Während die StalinistInnen jahrzehntelang an der Spitze von Massenparteien und sogar siegreichen bürokratischen Revolutionen in China, Vietnam und Kuba aufblühten, stellten sie die TrotzkistInnen als eine pathetische Irrelevanz dar. Auch AkademikerInnen und westliche KommentatorInnen schlossen sich diesem Urteil an. Wenn Trotzki und die TrotzkistInnen jedoch wirklich keine Gefahr für Stalin gewesen waren, warum hatte er dann seit 1936 alles getan, was er konnte, um zu versuchen, sie durch die politischen Prozesse zu diffamieren, und um dann 1937 zu einer Politik der physischen Liquidierung überzugehen? War es einfach die Paranoia eines geistesgestörten Tyrannen? Wenn ja, warum setzten Stalins NachfolgerInnen diese Diffamierung des Trotzkismus fünfzig Jahre lang fort? Warum verlieh Leonid Breschnew 1961 Ramón Mercader bei einer Zeremonie im Kreml den Goldenen Stern des Lenin-Ordens für die Ausführung einer „besonderen Aufgabe“, der Ermordung Trotzkis?

Es war ganz einfach, weil Trotzki den revolutionären Geist und das befreiende Programm der bolschewistischen Partei, der Oktoberrevolution, der ersten Jahre des Sowjetstaates und der Kommunistischen Internationale repräsentierte. Er repräsentierte Zehntausende von linken Oppositionellen, die gegen die bürokratische Konterrevolution Stalins kämpften und bei dem Versuch umkamen. Nicht zuletzt hatte er das Erbe Lenins in den Kämpfen gegen den Faschismus während der 1930er Jahre weiterentwickelt.

Verkörpert in der 1938 erfolgten Gründung der Vierten Internationale und ihrem Programm „Der Todeskampf des Kapitalismus“ bleibt diese Tradition trotz der politischen Verzerrungen und Verbrechen, die viele so genannte TrotzkistInnen gegen sie begangen haben, ein wertvolles Vermächtnis für all jene, die in den kapitalistischen Krisen, Kriegen und Revolutionen des 21. Jahrhundert revolutionäre Parteien und eine revolutionäre Internationale wieder aufbauen wollen.




Antidogmatismus als Attitüde

Michael Eff,
Infomail 1065, 20. August 2019

Eine kurze Replik zu Manuel Kellners „Wortmeldung“ „Zum Aufbau revolutionärer Organisationen heute“, (scharf links, 12.8.19)

Zugegeben,
das Thema ist umfassend, und es ist durchaus legitim, öffentlich einige
Gedankensplitter zu dieser Problematik zu äußern, ohne gleich ein
„Aufbaukonzept“ aus der Tasche ziehen zu müssen. Aber M. K. hat hier einen ganz
eigenwilligen Argumentationsstil unfreiwilliger Komik entwickelt. Wie geht er
vor?

Zunächst einmal wird versichert: „Es geht nicht um Rechthaberei. Wir so
wenig wie Karl Marx (eine leicht größenwahnsinnige Bezugnahme, M. E.) wollen
hören oder sagen: ,Hier ist die Wahrheit, hier knie nieder!‘ “

Was
sich so bescheiden gibt, entpuppt sich sehr schnell als rituelle Floskel, denn
dann zieht M. K. vom Leder:

Alle Gruppen mit „revolutionärem Anspruch“ (ob sie sich nun selbst für
eine revolutionäre Partei oder nur für einen der Kerne einer zukünftigen
revolutionären Partei halten) – „Alle diese Gruppen irren sich“, verkündet
unser Gegner von Rechthaberei. Und dann erklärt er uns, „was sie in Wahrheit
sind“ (wie sich ihre Mitglieder darstellen und was sie tun):

  • ein
    Trotzki aus der Tube
  • Lenin
    aus der Westentasche
  • ein
    Liebknecht im Reichstag
  • diese
    Gruppen leisteten eine „Interpretation der Überlieferung als einer Enzyklopädie
    von zutreffenden Behauptungen“, die selbstständiges, kritisches Denken ersetze
  • in
    blinder Nachahmung der Bolschewiki „brandmarken“ „Samuel Sekterisch und Kumbert
    Kleingruppenhäuptling“ die „zentristischen und reformistischen Weicheier“
  • der
    Zweifel sei unangebracht
  • „Marx
    und andere komplizierte Sachen müssen sie nicht lesen, kennen sie doch die
    zutreffenden Kurzfassungen“
  • sie
    stünden an Ständen und erzählten den Leuten „ungefragt einen vom Pferd“
  • man
    dürfe die „Kontrolle“ nicht verlieren, „Hauptsache, die eigene
    Selbstreproduktion geht nicht hops und die eigenen Hauptamtlichen bleiben im
    Brot.“
  • wer
    solche Gruppen führe, dem gehe es darum, dass sein „Fußvolk dir aufs Wort
    glaubt“
  • Mitglieder
    müssten „in ihren öffentlichen Äußerungen immer einer Meinung sein“
  • es
    würden „Mitglieder scheinrevolutionärer Gruppen in das Hemd von Verrätern
    gesteckt“, wenn sie Meinungsverschiedenheiten öffentlich machten
  • die
    Mitglieder müssten „strammstehen“
  • gleichsam
    „kanonisierte Texte“ vergangener Erfahrungen dienten als „Blaupausen für das,
    was heute zu… machen ist“
  • sie
    „erziehen neue RekrutInnen so, dass sie ihren FührerInnen zustimmen“
  • die
    Gruppen pflegten mit ihrer Schulungsarbeit „ein hagiographisches
    Geschichtsbild“
  • bestenfalls
    seien diese Gruppen (vorgeblich ,trotzkistischer‘ und vergleichbarer Gruppen)
    ein „Flohzirkus“ und „scheinrevolutionär“.

Vermutlich ist die Liste nicht vollständig.
Nicht, dass es die angesprochenen Probleme gar nicht gäbe (das Papier selbst
beweist es ja…), aber nirgendwo wird etwas belegt, nirgendwo wird beispielhaft
illustriert und vor allem bleibt man im Vagen, weil nirgendwo Ross und ReiterIn
beim Namen genannt werden. Diese Methode des selbsternannten Gegners der
Rechthaberei ist perfide. So pauschal formuliert, so unspezifisch adressiert
bleibt nur eine Einordnung: Es handelt sich um blanke Verleumdungen.

Differenzierung ist nicht sein Ding. Er kann
nur pauschal „alle“ meinen. Doch halt, Rettung naht – es gibt eine
Ausnahme: der eigene Verein:

  • Unsere Vierte Internationale heute schafft
    es…zur gemeinsamen Reflexion, Positionsbildung und Bildungsarbeit auf hohem
    Niveau zusammenzuführen
  • Sie verbreitet nicht die Fiktion, ihre
    führenden Mitglieder hätten die marxistische Weisheit mit Löffeln gefressen
  • Wir haben keine Obermacker
  • Weil wir nicht in doktrinärer
    Selbstgewissheit auftreten
  • Wir geben nie auf und kämpfen bis zum letzten
    Atemzug (wörtlich!! M. E.)

Dort die verspinnerten DoktrinärInnen (eben alle anderen), – hier die
undogmatischen HeilsbringerInnen. M. K. ist um sein schlichtes Weltbild zu
beneiden.

Die Sache hat aber durchaus Methode. Wie schon bei seiner Bilanz der NaO
ersetzen die Verleumdungen anderer die inhaltlichen Auseinandersetzungen
mit ihnen. Auf acht Seiten wird zum Thema „Aufbau revolutionärer Organisationen“
kein einziges inhaltliches/programmatisches Wort verloren. Wir verlangen ja
keine „Lösungen“, aber die wichtigsten Probleme in der Welt und in unserer
Zeit, um deren Klärung (wie unvollständig und vorläufig auch immer) sich
revolutionär verstehende Organisationen bemühen müssten, sollten schon benannt
werden.

In seinem Papier gib es einen Abschnitt mit der Überschrift „Der Umgang
mit der Überlieferung“. Dort werden zwei historische Beispiele angeführt.

1. Die Bedenken, die führende USPD-Mitglieder (Crispien, Dittmann)
äußerten über die Art und Weise, wie die KomIntern organisiert bzw. geführt
werden solle. Da wird´s dann bei M. K. kryptisch. Einerseits lässt M. K. seine
Sympathien (angesichts der späteren Entwicklungen) für diese Bedenken durchblicken,
andererseits heißt es: „Natürlich empfinden wir gleichwohl die Argumente und
Positionen der damaligen Revolutionäre und Revolutionärinnen…für in der Tendenz
(?? M. E.) die besseren.“ Alles klar???

2. Der Fall Paul Levi. Ich persönlich teile Paul Levis Kritik an der
„Märzaktion“ im Wesentlichen. Auch die Umgangsweise der KomIntern mit Levi
halte ich für falsch. Jedenfalls kann man das diskutieren. Aber wozu versteigt
sich M. K.? „…wenn das Denken von überhaupt jemandem dieser Zeit auch heute
noch danach schreit…in Hinblick auf Probleme, die sich Linken heute stellen,
ausgewertet zu werden, dann seines.“ So eine Aussage kann man nicht einfach in
den Raum stellen, ohne zumindest anzudeuten, wieso Paul Levi so ein seltenes
und überragendes Exemplar ist. Ein Schelm, der Böses dabei denkt.

Vermutlich haben die ritualhaften Zeremonien des „Undogmatischen“, das
Vermeiden inhaltlicher Auseinandersetzungen, die Sympathien mit eher
rechtskommunistisch und linkssozialdemokratischen Strömungen ihre Wurzel in der
eigenen Praxis. Auffällig ist jedenfalls, dass in dem Abschnitt des Papiers
„Linke Neuformierung“ über die brasilianische PT diese Partei lobend erwähnt
wird, weil sie „…eine Vielfalt linker Strömungen zum gemeinsamen politischen
Handeln und zur gemeinsamen Meinungs- und Positionsentwicklung zusammenführte.“
Wie harmonisch, aber leider muss auch M. K. konstatieren: „Bekanntlich ist auch
die PT gescheitert.“ Dass dies auch etwas mit der von ihm so gefeierten
Struktur der PT und ihrer inhaltlichen Ausrichtung zu tun haben könnte, kommt
M. K. nicht in den Sinn. Jedenfalls ist in diesem Papier kein Wort davon zu
finden (aber immerhin die Aufforderung, die Gründe für das Scheitern zu analysieren).

Dann kommt er, so nehme ich an, zum Kern seiner Motivation, der Arbeit
in der Linkspartei. Nachdem er, wie ich finde, weitgehend richtig, die beiden
klassischen Ausformungen der Taktik des Entrismus dargestellt hat und beide für
sich zurückweist, folgt seine strategische Ausrichtung: „Die Partei Die Linke
und natürlich ganz besonders ihre antikapitalistisch und mehr oder weniger
revolutionär gesonnenen Strömungen sind keine ,feindliche Umgebung‘, sondern
einfach Teil der zeitgenössischen Neuformierung der Linken, wenn auch unter
starkem Anpassungsdruck (??, M. E.). Wer dazu beitragen möchte, diesem
Anpassungsdruck (?) zu widerstehen, tut gut daran, die Partei und diese
Strömungen mit aufzubauen und zugleich in deren Mitgliedschaft kritische
Reflexion zur genannten Problematik anzuregen und zu befördern.“

Ich habe da einen Präzisierungsvorschlag zu machen, nämlich mit der
„kritischen Reflexion“ des Scheiterns der PT zu beginnen. Vielleicht führt das
ja zur „kritischen Reflexion“ der eigenen Vorgehensweise.

Nur um nicht missverstanden zu werden. Ich bin der Meinung, dass es
durchaus Situationen gibt, in denen es für RevolutionärInnen richtig sein kann,
in der Linkspartei mitzuarbeiten, aber dann mit Sicherheit nicht, um gemeinsam
„kritisch zu reflektieren“.

Eine Stärke hat allerdings das Papier von M. K., nämlich wenn er
verkündet, dass der Gründungsanspruch „ der IV. Internationale endgültig passé
ist, nämlich den offiziellen Kommunismus…als die authentisch
revolutionär-marxistische Führung abzulösen.“ Rechthaberisch, wie wir sind,
möchten wir dazu nur bemerken, dass wir das seit Jahrzehnten wissen.

Am verblüffendsten an M. K.s Papier ist allerdings der Schlussteil „Zur
Assoziierung revolutionärer organisierter Strömungen“. Nachdem er uns auf den
ersten Seiten belehrt hat, dass „Organisationen mit revolutionärem Anspruch“
grundsätzlich falsch lägen, denn „Alle diese Gruppen irren sich…in Hinblick auf
das, was sie sind“, nachdem kübelweise Verleumdungen auf Gruppen „mit
revolutionärem Anspruch“ ausgekippt wurden, ohne Ross und ReiterIn zu nennen,
kommt folgender Vorschlag: „Vielleicht sind Formen der Assoziierung solcher
organisierter Zusammenhänge (,kleine Strömungen der revolutionär gesonnenen
Linken‘) möglich, die die Besonderheiten der verschiedenen Gruppen
respektieren…“ Wer, bitte schön, soll denn das sein, nachdem man alle
Organisationen mit revolutionärem Anspruch für politisch nicht ganz
zurechnungsfähig erklärt hat??

Auch eine Assoziierung (sofern denn so etwas möglich wäre) bräuchte doch
auch einige inhaltliche Gemeinsamkeiten. Es müsste doch geklärt werden,
was man vertagen könnte und was unabdingbar wäre. Dazu von M.
K. kein einziges Wort. Kein Wunder, man müsste sich ja inhaltlich
positionieren.




Trotzkismus im 21. Jahrhundert

9. Kongress der Liga für die Fünfte Internationale, April 2013, Revolutionärer Marxismus 47, September 2015

Grundlegende Prinzipien

1. Die Liga für die 5. Internationale betrachtet sich als internationale leninistisch-trotzkistische Strömung, die eine 5. Internationale auf den marxistischen Grundlagen der vorauf gegangenen vier Internationalen aufbauen will. Unser Programm hat seine Ursprünge in den programmatischen Errungenschaften des Kommunistischen Bundes und der Internationalen Arbeiter-Assoziation, des orthodox-marxistischen und revolutionären Flügels der 2. Internationale (1889-1914), der Iskra- und bolschewistischen Fraktionen der russischen Sozialdemokratie und der Bolschewistischen Partei von 1917 sowie den ersten vier Kongressen der 3. Internationale und den ersten beiden Kongressen der 4. Internationale. Aus der Theorie und Praxis der Begründer des klassischen Marxismus schöpfen wir die folgenden grundlegenden Prinzipien.

2. Das revolutionäre Programm stellt die umfassende Kampfstrategie in der kapitalistischen Gesellschaft dar, die Eroberung der Macht, die Errichtung der Diktatur des Proletariats, die internationale Ausbreitung der Revolution. Auf einem solchen Programm müssen alle nationalen Parteien und eine internationale Partei aufgebaut werden. Nationale und internationale Programme legen die Perspektiven und grundlegenden Strategien über einen längeren Zeitraum fest. Ebenso muss die von Trotzki im Programm von 1938 voll ausgearbeitete Übergangsmethode angewandt werden, um eher konjunkturgebundene Aktionsprogramme als Grundlage für das Eingreifen in kurzlebige, aber bedeutsame Krisen in bestimmten Ländern oder auf beschränkteren Kampffeldern wie der Gewerkschaftsbewegung aufzulegen.

Die revolutionäre Partei

3. Die revolutionäre Partei organisiert die VorhutkämpferInnen der ArbeiterInnenklasse, die Kader für die gegenwärtigen und künftigen Klassenschlachten bis hin zur Machteroberung und darüber hinaus. Sie muss innere Demokratie, d.h. Freiheit der Kritik für Einzelpersonen und Gruppierungen, Fraktionen und Tendenzen, Wahl aller Führungsgremien unter legalen Bedingungen, sowie strenge Disziplin bei der Durchführung der beschlossenen Politik und Taktiken der Partei in sich vereinen.

4. Die Partei muss der Tribun aller ausgebeuteten Klassen, unterdrückten Schichten und Völkerschaften sein, muss deren Kernforderungen nach Freiheit aufgreifen und sie in die ArbeiterInnenbewegung und deren Kämpfe integrieren.

5. Die Partei darf unmittelbare ökonomische und politische Forderungen, die im Kapitalismus erfüllbar sind, nicht außer Acht lassen, darf sich aber auch nicht auf sie beschränken. Sie muss diese Forderungen mit solchen verknüpfen, die das kapitalistische Eigentum und die Kontrolle über die Produktion sowie die staatliche Zwangsmacht angreifen.

6. Die Partei muss in jeder Auseinandersetzung sich für jene Taktiken verwenden, die am ehesten geeignet sind, das Bewusstsein, die Moral und den Organisationsgrad der beteiligten ArbeiterInnen zu heben, selbst wenn sie von den meisten TeilnehmerInnen noch nicht anerkannt sind. Sie muss die Methode des Nachlaufens hinter spontanen Kämpfen oder der Beschränkung auf strategische und taktische Ziele, die nicht über den vermeintlichen Bewusstseinsstand der ArbeiterInnenklasse hinausgehen, zurückweisen. Die Partei muss jene Losungen und Gedanken hervorheben, die objektiv durch den Klassenkampf gestellt werden. Schon das Kommunistische Manifest sagte: „Die Kommunisten kämpfen für die Erreichung der unmittelbar vorliegenden Zwecke und Interessen der Arbeiterklasse, aber sie vertreten in der gegenwärtigen Bewegung zugleich die Zukunft der Bewegung.“ (Dietz-Ausgabe, S. 82) Sie sollte Organisationsformen vorschlagen, z. B. Massenversammlungen, Streikausschüsse, Aktionskomitees, Streikpostenket-ten und Selbstverteidigungskommandos, die nicht nur besser den Sieg sichern, sondern auch den Weg zu einer höheren Ebene der Kämpfe weisen können bis hin zur Eroberung und Verteidigung der Staatsmacht.

7. Ein kleiner revolutionärer Kern darf sich nicht für die Partei halten. Er muss die Aufgaben der revolutionären Propaganda und des beispielhaften Eingreifens in Klassenkämpfe erfüllen, bis er mit der Vorhut der ArbeiterInnenmassen verschmelzen kann. Verschiedene Taktiken der klassischen MarxistInnen führen in diese Richtung (prinzipienfeste Einheit zwischen revolutionären Propagandagruppen, Eintritt in eine reformistische oder zentristische Massenpartei zum Zweck des Kampfs um die Führung, Beteiligung an der Bildung einer ArbeiterInnenpartei in derselben Absicht).

8. Für die taktisch und organisatorisch höheren Formen des Klassenkampfs in Generalstreik, ArbeiterInnenräten, ArbeiterInnenmilizen, bewaffnetem Aufstand muss ansatzweise bei allen Auseinandersetzungen, bei Solidaritätsstreiks, Aktionstagen, Streik- und Aktionsausschüssen, Streikpostenschutz usw. immer wieder gefochten werden. Wir erkennen die Dringlichkeit der Revolution bei jedem ernsthaften Konflikt und stellen demzufolge uns und die ArbeiterInnenklasse darauf ein.

9. Internationalismus darf kein hehres Versprechen oder eine gelegentliche Solidarität mit den Kämpfen der ArbeiterInnen in anderen Ländern bleiben. Er muss sich in organisierter Form im Einsatz für eine internationale Partei der gesellschaftlichen Umwälzung auf Grundlage des demokratischen Zentralismus ausdrücken. Seit dem Zusammenbruch bzw. der Degeneration der vorauf gegangenen vier Internationalen heißt die Aufgabe: Aufbau einer neuen Internationale – der fünften.

10. Wir lehnen das Argument ab, wonach eine Internationale nur gegründet werden kann, wenn sich starke nationale Parteien etabliert haben. Im Gegenteil, nationale Parteien spiegeln unvermeidlich nur ihre eigene, lokal begrenzte Erfahrung im Klassenkampf wider und neigen daher zu Einseitigkeit und Anpassung an die nationale Beschränktheit. Den besten Schutz dagegen gewährt ein international ausgearbeitetes Programm und die Überwachung durch eine internationale demokratisch zentralistische Führung. Das Werkzeug hierfür ist der Aufbau einer programmatisch fundierten demokratisch-zentralistischen internationalen Tendenz. Im folgenden stellen wir die Lehren dar, die von den sich für die Gründung einer 5. Internationale einsetzenden Kräften als wesentlich erkannt werden müssen.

Das Schicksal der 4. Internationale

11. Die Degeneration und Auflösung der 4. Internationale unterschied sich vom Schicksal ihren beiden unmittelbaren Vorgängerinnen. Sie stürzte in den Zentrismus ab, nicht in Sozialpatriotismus oder Reformismus, weil sie nie Massencharakter erlangte. Sie hatte nie die Gelegenheit, eine entscheidende Führungsrolle in großen revolutionären Kämpfen zu spielen. Außer in wenigen Fällen wie Vietnam, Bolivien oder Sri Lanka überstieg sie nie das Stadium von kämpfenden Propagandagruppen oder höchstens kleinen Kaderparteien. Sie stand und fiel mit ihrer Fähigkeit, die besondere geschichtliche Aufgabe zu erfüllen, indem sie Trotzkis Programm gegen den Stalinismus verteidigte und für eine politische Revolution gegen die Bürokratien in allen degenerierten ArbeiterInnenstaaten eintrat. An dieser Aufgabe scheiterte sie.

12. Der Grund für das Scheitern war programmatischer Natur. Bereits desorientiert durch den Ausgang des 2. Weltkriegs, der sich nicht mit Trotzkis Perspektive deckte, antwortete die Führung der 4. Internationale auf die Ausdehnung des Stalinismus und Bildung von neuen degenerierten Arbeiterstaaten mit einer Revision der Analyse des Stalinismus und des revolutionären Programms. Stalinismus hieß für sie Gleichsetzung mit Moskautreue. Daraus schlossen sie, dass Titos Bruch mit der Sowjetführung ihn zu einem Zentristen gemacht hätte, und dass der bürokratische Umsturz der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse einen Arbeiterstaat hervorgebracht hätte, der ohne politische Revolution reformiert werden könnte und von daher ein gesunder Arbeiterstaat wäre.

13. Diese Anpassung an Titos programmatische Version vom Sozialismus in einem Land wurde von allen wichtigen Führern der 4. Internationale auf dem 3. Kongress 1951 geteilt und ebnete den Weg zu einer vollkommenen Revision nicht nur des Programms für die politische Revolution, sondern verwarf auch die ganze Methodologie des Übergangsprogramms. Die Fähigkeit einer stalinistischen Partei zum Sturz des Kapitalismus wurde damit erklärt, dass sie durch den „objektiven revolutionären Prozess” zu revolutionären Maßnahmen gezwungen sei. In der Folge wurde es akzeptiert, dass dieser Prozess auch andere nichtproletarische Kräfte dazu bringen würde, Revolutionen anzuführen.

14. Verschiedene Führer der 4. Internationale passten sich später an diverse politische Tendenzen an, nicht nur an stalinistische wie Mao Tse Tung oder Ho Tschi Minh, sondern auch kleinbürgerliche Nationalisten oder gar Militärjuntas. Doch keiner von ihnen hielt Trotzkis Programm der politischen Revolution im Sowjetblock und das Programm der permanenten Revolution in den kolonialen und halbkolonialen Ländern hoch.

15. Einen gleichermaßen schwerwiegenden Fehler, wenn auch in entgegen gesetzte Richtung,  beging eine Minderheit in der Internationale, die aus der Tatsache, dass die Arbeiterklasse keine Rolle bei diesen Umwälzungen gespielt hatte, schloss, es hätten gar keine sozialen Revolutionen stattgefunden, und demzufolge seien auch keine Arbeiterstaaten in irgendeiner Weise entstanden. Sie behaupteten, damit die entscheidende Rolle der Arbeiterklasse beim  Sturz des Kapitalismus verteidigen zu wollen. In Wahrheit aber leugnet diese normative Methode Trotzkis Erkenntnis, dass es einen konterrevolutionären Sturz des Kapitalismus geben könne, infolge dessen die Eigentumsverhältnisse umgewälzt werden, aber der Arbeiterklasse die politische Macht vorenthalten wird. Trotzki hatte einen solchen Vorgang bei der Invasion in den baltischen Staaten selbst miterlebt. Die Verleugnung von Trotzkis Untersuchung und Methode endete entweder damit, den Sturz des Kapitalismus überhaupt zu bestreiten, wie dies in Tony Cliffs „Staatskapitalismus“-Analyse geschah, oder in der Feststellung, es handele sich um eine Ersetzung durch eine neue Form der Klassengesellschaft wie den „bürokratischen Kollektivismus“, der um nichts progressiver als der Kapitalismus sei. Die programmatische Schlussfolgerung beider Analysen war eine Ablehnung der Verteidigung der „stalinistischen Staaten” in einem Zusammenstoß mit dem Imperialismus.

16. Der 3. Kongress der 4. Internationale 1951 nahm ohne Gegenstimmen Pablos Thesen zu Jugoslawien an und stürzte so in den Zentrismus ab. Die Spaltung 1953 zwischen Internationalem Sekretariat, IS, und der SWP/USA und deren Anhängerschaft, die sich selbst als Internationales Komitee, IK, bezeichneten, ergab sich nicht aus Nichtübereinstimmung mit den programmatischen Revisionen von 1951, sondern es ging um die vom Pablo-Flügel vorgeschlagene Taktik des „Entrismus sui generis“, einer besonderen Form des Eintritts in die stalinistischen Parteien. Die Spaltung war prinzipienlos, denn sie fand im Vorfeld des 1954 geplanten Kongresses statt, wo die Angelegenheiten auf der höchsten Ebene der Internationale hätten debattiert werden können. Keines der Spaltprodukte verkörperte die Kontinuität von Trotzkis Internationale, zumal beide die Beschlüsse des Kongresses von 1951 aufrecht erhielten und von daher keine grundlegende programmatisch prinzipielle Differenz zwischen ihnen bestand. Während das IS die organisatorischen Zusammenhänge und die Kontinuität bewahrte, kritisierte das IK zwar einige Fehler teilweise, aber korrekt. Beide waren aber schuld an wiederholten opportunistischen Abweichungen, die auf die falschen Beschlüsse auf dem Kongress von 1951 zurück gehen.

17. Auf Basis der Methodologie von 1951 passten sich sowohl das IS wie auch die SWP/USA nach 1959 opportunistisch an die Kubanische Revolution an und sahen in Castros Führung eine weitere Kraft, die durch den „historischen Prozess” gezwungen wurde, die Strategie der Permanenten Revolution umzusetzen, auch wenn diese es nicht vermochte, die „Formen der proletarischen Macht“, also Arbeiterräte, zu errichten. Das schuf die Grundlage für den Vereinigungskongress 1963, auf dem sich auch das Vereinigte Sekretariat der 4. Internationale, VS, gründete. Dies zog auch den lateinamerikanischen Hauptteil des IK unter Führung von Moreno an. Die größeren europäischen Sektionen unter Lambert und Healy blieben draußen, aber nicht mehr organisatorisch untereinander verbunden als zuvor. In der Folge wandten sich Moreno und die SWP/USA gegen das VS, als dies zum Guerrillaismus schwenkte. Meinungsverschiedenheiten über die Anpassung der VS-Mehrheit an die sandinistische Regierung in Nikaragua zogen eine weitere Spaltung nach sich. Solche Entwicklungen und das andauernde Auseinanderdriften der Strömungen unter Lambert und Healy verstärkten die Auflösung der einstigen internationalen trotzkistischen Bewegung.

Wiedererarbeitung des Programms

18. 60 Jahre nach der Aufspaltung der 4. Internationale müssen heutige RevolutionärInnen das revolutionäre Programm wieder erarbeiten, so wie es Lenin 1917 getan hat, wie die revolutionäre Kommunistische Internationale in ihren ersten 4 Kongressen vorging und wie Trotzkis dies 1938 geschaffen hat.

Imperialismus

19. In der imperialistischen Epoche können die grundlegenden Aufgaben der bürgerlichen Revolution, das sind die Auflösung der vorkapitalistischen Ausbeutungsformen im Agrarbereich, die demokratischen Rechte, nationale Unabhängigkeit, wirtschaftlicher Fortschritt, nicht im geschichtlichen Interesse der arbeitenden Massen gelöst werden. Das kann nur unter der Diktatur des Proletariats vonstatten gehen, wenn die Arbeiter-, und wo dies angemessen ist, Bauernräte herrschen. Jeder Versuch, den revolutionären Kampf auf die Errichtung einer „demokratischen Etappe” zu beschränken, würde in Wirklichkeit die erneute Festigung der kapitalistischen Gesellschaft bedeuten und die Arbeiterklasse und ihre Bundesgenossen unterdrücken. Ebenso wäre jede Unterstützung von oder gar die Forderung nach einer Regierung aus den Massenparteien eine opportunistische Abweichung, wenn sie sich nicht auf Arbeiterräte beruft und kein Programm der Enteignung des Kapitals durchführt unter dem Vorwand, sie würde die „demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauern” repräsentieren. Das wäre ein Rückfall hinter den programmatischen Fortschritt der Bolschewiki im April 1917. Zwar ist die Permanente Revolution eine objektive Notwendigkeit, doch sie ist kein „objektiver Prozess“. Sie ist vielmehr eine Strategie, die die Bedürfnisse und die schöpferischen Möglichkeiten der Arbeiterklasse ausdrückt. Als solche kann sie nur als bewusstes Kampfziel der Arbeiterklasse verwirklicht werden, wenn die Klasse von einer Partei geleitet wird, die diese Strategie verfolgt.

20. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und noch kürzer zurückliegend der Niedergang der Vereinigten Staaten haben den nationalen Befreiungskampf der unterdrückten Völker, die in „multinationalen” Staaten gefangen waren oder denen die Unabhängigkeit durch die regionalen Polizisten des Imperialismus versagt war, ausgelöst und ermuntert. Wir erkennen das Recht solcher Bewegungen an, die Mittel für ihren Kampf aus welchen Quellen auch immer, selbst von Imperialisten, zu beziehen. In einer „einpoligen“ Welt, in der imperialistische Rivalitäten sich verschärfen, würde dessen Ablehnung solche Bewegungen zu Niederlagen verurteilen. Doch wir sind gegen die Unterordnung  legitimer nationaler Kämpfe unter die räuberischen Strategien jedweder imperialistischen Macht und fordern die bedingungslose Hilfe unter Arbeiterkontrolle.

21. Wir verteidigen die Taktik der „antiimperialistischen Einheitsfront“, wie sie von Lenin, Trotzki und der revolutionären Komintern ausgearbeitet und angewandt wurde. Solange der Imperialismus in den halbkolonialen Ländern seinen Wünschen entsprechende Regierungen unterstützt oder einsetzt und er diese Halbkolonien ökonomisch ausbeutet, werden breite nichtproletarische Schichten, Bauernschaft und städtisches Kleinbürgertum in den Kampf um Slogans für Nationalismus und Demokratie getrieben. Die ArbeiterInnenvorhut muss nach Aktionseinheit mit solchen Kräften streben, selbst wenn es bürgerliche sind, wenn sie sich wirklich gegen militärische, politische oder ökonomische Unterdrückung und Ausbeutung der halbkolonialen und kolonialen Länder durch den Imperialismus stellen. Eine solche Unterstützung ist notwendig und auch dann prinzipienfest, wenn eine antiimperialistische Bewegung um Hilfe bei einem konkurrierenden imperialistischen Land nachsucht oder ihr diese gewährt wird. Wir fordern diese bedingungslos und setzen uns dafür ein, dass sie von den antiimperialistischen Kräften kontrolliert wird. Grundsätzlich sind wir gegen jede imperialistische Einmischung, seien es Besetzungen oder Flugverbotszonen, die objektiv die Kontrolle einer imperialistischen Macht stärken. Eine Intervention ändert jedoch nicht den Charakter des Befreiungskampfes. Bei allen Operationen muss die Arbeiterklasse ihre absolute Unabhängigkeit bewahren und den Grundsatz „getrennt marschieren, vereint  schlagen“ beachten. Die leninistische Position der „bedingungslosen, aber kritischen Unterstützung” bedeutet bedingungslosen Rückhalt für all jene, die gegen den Imperialismus kämpfen, verbunden mit der Pflicht, die Gesamtstrategie und Kampfmethoden dieser Bewegungen politisch zu bekämpfen.

ArbeiterInnen- und Bauernregierungen

22. Die einzige ArbeiterInnen- und BäuerInnenregierung, die für KommunistInnen politisch unterstützenswert ist, oder an der sie sich unter gewissen Umständen sogar beteiligen können, ist eine, die aus einer Periode von siegreichen Massenkämpfen erwächst und auf bewaffneten Kampforganen der ArbeiterInnen und BäuerInnen beruht. Es muss eine Regierung sein, die sich der Verteidigung der ArbeiterInnenorganisationen annimmt und die die politische und wirtschaftliche Krise zu Lasten der Bourgeoisie lösen will. Doch wir weisen die Vorstellung zurück, wonach solche Regierungen eine notwendige oder unvermeidliche Etappe darstellen, ehe eine revolutionäre ArbeiterInnenregierung errichtet werden kann. Ebenso lehnen wir die Charakterisierung von Regierungen bürgerlicher Arbeiterparteien als „ArbeiterInnenregierung” ab. Zwar ist es legitim für RevolutionärInnen, die Massen aufzufordern, diese Parteien an der Regierung auf die Probe zu stellen, aber wir machen stets klar, dass sie bürgerliche Regierungen bleiben.

Unmittelbare und Übergangsforderungen

23. Es ist notwendig, die Massen unter unmittelbaren und Übergangsforderungen entsprechend der konkreten Lage in jedem Land zu mobilisieren. Das Übergangsprogramm besteht aus einer mit einander verknüpften Reihe von Forderungen, die in ihrer Gesamtheit einen offenen und unmittelbaren Angriff auf die kapitalistische Herrschaft darstellen. Diese Forderungen sprechen die grundlegenden objektiven Bedürfnisse der Massen an, u.a. die Notwendigkeit, Formen der ArbeiterInnenorganisation herauszubilden, die die Grundlage für die Kampforgane für die Zerschlagung des kapitalistischen Staats und die Formation eines Arbeiterstaats stellen können. Ihre Gültigkeit hängt weder von ihrer Plausibilität für das bestehende Bewusstsein der Massen ab, noch werden diese Forderungen dadurch entwertet, dass die Kapitalisten oder Bürokraten gezwungen werden, ihnen statt zu geben. Da allen Übergangsforderungen eine Ausweitung der ArbeiterInnenkontrolle gegen die Kapitalisten innewohnt, wird jeder erfolgreiche Kampf erwartungsgemäß die Unternehmer und ihren Staat früher oder später dazu treiben, ihre Niederlage zu rächen. Das Tempo im Klassenkampf wird sich also beschleunigen. Das heißt jedoch nicht, dass eine Logik die Übergangsforderungen automatisch zur Revolution vorwärts peitscht. In allen Stadien müssen RevolutionärInnen vor Selbstgenügsamkeit warnen und die Fähigkeit der Klasse fördern, ihre Errungenschaften sogar angesichts von solchen Gegenoffensiven des Klassenfeindes auszubauen.

24. Wo die herrschenden Klassen demokratische Rechte vorenthalten wollen, mobilisieren wir um revolutionär-demokratische Losungen. Die treibende Kraft solcher Forderungen wie die souveräne Verfassunggebende Versammlung, das allgemeine und geheime Wahlrecht, volle Gleichstellung der Frauen hat sich immer wieder, jüngst während des Arabischen Frühlings, entfaltet. Innerhalb des demokratischen Kampfs streiten wir für die Unabhängigkeit der ArbeiterInnenorganisatio-nen, ergänzen demokratische Losungen mit Übergangsforderungen und Organisationsformen wie die Überwachung der Wahlvorgänge durch Arbeiterräte und ihren Schutz durch ArbeiterInnenmilizen. Die Notwendigkeit der Verbindung von revolutionär-demokratischen Forderungen mit Übergangsforderungen trifft auch zu auf Kämpfe gegen vorkapitalistische Eigentumsverhältnisse auf dem Land, gegen nationale Unterdrückung, militärische oder zivile, rechte oder „linke” Diktatur und Bonapartismus oder Faschismus. Zugleich weisen wir jede Gleichsetzung der Verfassunggebenden Versammlung mit dem Ziel der ArbeiterInnenmacht zurück, die nur auf ArbeiterInnenräten beruhen kann.

ArbeiterInnenräte

25. Die krönende Losung des Übergangsprogramms ist die Forderung nach einer Regierung, die auf ArbeiterInnenräten beruht. ArbeiterInnenräte beziehen die VertreterInnen all jener Gruppen und Schichten ein, die für die Revolution kämpfen, und koordinieren ihre Kämpfe. Sie sind die höchste Organisationsform des Klassenkampfes und Keimorgane der ArbeiterInnenmacht. Der Einsatz für ArbeiterInnen-, und wo dies angebracht ist, für BäuerInnenräte ist eine zentrale Aufgabe in der Anbahnung revolutionärer Situationen. Wo der Klassenkampf neue embryonale Formen der ArbeiterInnenklassenorganisation wie Streikausschüsse, Bezirkskoordinationskomitees, Fabrikräte usw. aufwirft, stellen wir ihnen nicht voll ausgebildete ArbeiterInnenräte entgegen, sondern schlagen ihre Fortentwicklung in räteähnlichen Organe vor. Das geschieht mittels der Anerkennung des Grundsatzes von jederzeit abrufbaren Delegierten, der Einbindung aller anderen ArbeiterInnenorganisationen und der Ausweitung ihrer Befugnisse. In ArbeiterInnenräten stehen wir für die Freiheit aller politischen Strömungen, die einen Rückhalt in der Arbeiterschaft haben, schließen aber Faschisten aus, die von Grund auf die unabhängige Organisation der Klasse ablehnen. Diese spaltet Glauben, Nation und Rasse, für deren ungehinderte Herrschaft sie eintreten. Wir sind gegen alle Bestrebungen, Organisationen als gleichwertig zu Räten darzustellen, die im Grunde von anderen Agenturen kontrolliert werden, sei es vom Staat oder von der Gewerkschaftsbürokratie. Nur Organe, die wirklich von der Basis der ArbeiterInnen- oder BäuerInnenschaft gewählt werden, dürfen ArbeiterInnen- oder BäuerInnenräte genannt werden.

26. Wir verteidigen die leninistisch-trotzkistische Strategie der Machteroberung für die ArbeiterInnenklasse durch einen bewaffneten Aufstand, geleitet von bewaffneten Kräften, die den ArbeiterInnenräten verantwortlich und treu ergeben sind. Nur diese Strategie kann die Niederlage der bewaffneten Einheiten des bürgerlichen Staats besiegeln und gleichzeitig die Errichtung einer neuen Form der Staatsmacht sichern, den revolutionären ArbeiterInnenstaat, der auf ArbeiterInnenräten beruht. Wir stellen diese Strategie allen Formen des Putschismus oder Guerrillaismus entgegen, die die militärische Niederlage der bestehenden Staatsinstitutionen von der Formierung klassenspezifischer Regierungskörperschaften abtrennen. Damit der Aufstand gelingt, muss die revolutionäre Partei die Unterstützung der BäuerInnen, der städtischen Armut und der Mannschaftsdienstgrade der Armee gewinnen.

Gewerkschaften

27. Gewerkschaften sind die grundlegenden Schutzorganisationen für die ArbeiterInnenklasse in Bezug auf Lohn, Rechte und Arbeitsbedingungen. Gegen die soziale Macht der Kapitalisten ist der/die einzelne ArbeiterIn machtlos. Ihre einzige Stärke liegt in ihrer großen Zahl. Daraus ergibt sich, dass Gewerkschaften so viele der Beschäftigten organisieren müssen wie nur möglich. Der ökonomische Kampf zwischen ArbeiterInnen und Unternehmern um die Aufteilung des von den ArbeiterInnen geschaffenen Werts erzeugt zwei Tendenzen im Gewerkschaftswesen. Die eine passt sich an die Bedingungen des Kapitals an und opfert im ärgsten Fall sogar die ArbeiterInneninteressen, um die kapitalistische Produktion aufrecht zu erhalten. Die andere Richtung versucht den größtmöglichen Anteil für die ArbeiterInnen heraus zu holen und bedroht damit das Überleben der kapitalistischen Produktion durch die Ausschaltung des Profits. Doch diese Möglichkeit kann nur ausgeschöpft werden, wenn die Gewerkschaften von einer bewussten revolutionären Führung geleitet werden. Unser Ziel ist die größtmögliche organisatorische Stärke und Widerstandskraft der ArbeiterInnen durch die Schaffung von massenhaften demokratisch kontrollierten Industriegewerkschaften. Politisch versuchen wir die Gewerkschaften für ein sozialistisches Programm zu gewinnen und nutzen Klassenkampfmethoden, um ihre Fähigkeit zu steigern, sich beim Sturz des Kapitalismus und der Einführung sozialistischer Planung hervor zu tun.

28. Die Erreichung dieser Ziele hängt von der systematischen kommunistischen Fraktionsarbeit in den Gewerkschaften ab. Mit Fraktionen meinen wir Organisationen von Gewerkschaftsmitgliedern, die das Parteiprogramm in Hinblick auf die Gewerkschaftsarbeit nach Kräften unterstützen, selbst wenn sie nicht Parteimitglieder sind. Wir machen uns  für den Aufbau von Bündnissen der militanten Gewerkschaftsmitglieder stark, um die reformistischen Bürokraten in der Auseinandersetzung um die Demokratisierung der Gewerkschaften zu stürzen, sie in kämpfende Industriegewerkschaften zu verwandeln und in Verbänden klassenkämpferischer Gewerkschaften zu vereinen. KommunistInnen müssen um die revolutionäre Führung mit dem unverbrüchlichen Ziel ringen, die Gewerkschaften in Kampforgane gegen den Kapitalismus zu verwandeln.

29. Wir treten für die größtmögliche gewerkschaftliche Einheit ein, um die Verhandlungskraft der ArbeiterInnen zu stärken und um zu verhindern, dass RevolutionärInnen von den Massen durch bürokratische Ausschlüsse abgeschnitten werden.  Wo demokratisch gewählte ArbeiterführerInnen ausgeschlossen werden oder militante Teile der Klasse gehindert werden, notwendige Kampfmaßnahmen zu ergreifen, müssen wir darauf eingestellt sein, den bürokratischen Führern zu trotzen, und das, falls nötig, bis hin zur Formierung neuer Gewerkschaften. Selbst dann jedoch werden wir für die Spaltung jene verantwortlich machen, die sie inszenieren, die BürokratInnen, aber weiterhin Aktionseinheit und Wiedervereinigung auf demokratischer Grundlage vorschlagen. Wir sind gegen die Bildung „roter” Gewerkschaften, wie sie in der stalinistischen Dritten Periode Ende der 20er/Anfang der 30er Jahre vorgenommen worden sind, weil ihr Ergebnis die Trennung der KommunistInnen von den ArbeiterInnenmassen war, die unter reformistischer oder noch schlimmerer Führung verblieben.

Einheitsfront

30. Wo die Reaktion in irgendeiner Weise die Rechte und Interessen nicht nur der ArbeiterInnen-, sondern auch anderer Klassen bedroht, befürworten wir gemeinsame Kampagnen und Aktionen um demokratische Forderungen, allerdings nicht auf Kosten von Arbeiterklasseninteressen oder politischer Unabhängigkeit. Wir stellen uns darum der Volksfront-Strategie entgegen, denn in ihr werden ArbeiterInnenklasseninteressen geopfert, um die Beteiligung bürgerlicher Elemente zu sichern oder sie herbeizuführen. Wo solche Volksfronten zustande kommen, unterstützen wir sie nicht politisch, sind aber bereit, in den ArbeiterInnenmassen-organisation auf den Bruch mit bürgerlichen Kräften hinzuwirken und bedienen uns dazu aller Möglichkeiten der Einheitsfronttaktik. Strategisch arbeiten wir für die Niederlage der bürgerlichen Kräfte, sind aber darauf eingestellt, Feindseligkeiten aus taktischen Gründen zurück zu stellen, wenn eine unmittelbarere Gefahr droht, etwa eine Invasion oder ein reaktionärer Putsch, und die ArbeiterInnenklasse noch nicht imstande ist, selbst die Macht zu übernehmen.

Faschismus

31. Faschismus ist nicht nur eine Form bürgerlicher Reaktion, einer militärischen oder bonapartistischen Regierung. Er ist vielmehr eine Massenbewegung plebejischer Schichten, des Kleinbürgertums und des Lumpenproletariats, die durch eine lange politische und ökonomische Krise des Kapitalismus und die Unfähigkeit des von Reformisten oder Zentristen geführten Proletariats, sie zu lösen, „wild“ geworden sind. Diese Bewegung wird von der Bourgeoisie benutzt, um die ArbeiterInnenbewegung zu zerschlagen und die Klasse zu atomisieren. Wesentliche Voraussetzung für den Erfolg von faschistischen Führern bei der Bildung solcher Bewegungen ist die Fähigkeit, die „Straßen zu kontrollieren“, d.h. GegnerInnen gewaltsam einzuschüchtern, Streiks und Demonstrationen zu brechen, ganze Regionen zu terrorisieren und wichtige FührerInnen zu ermorden. Als Produkt der kapitalistischen Krise kann die einzige strategische Antwort auf den Faschismus nur der Sturz der Bourgeoisie und die Errichtung einer Diktatur der ArbeiterInnenklasse sein. Der antifaschistische Kampf muss mit den Mitteln des Klassenkampfs und mit dem bewussten Ziel eines ununterbrochenen Kampfs für ArbeiterInnenmacht geführt werden.

Bürgerliche Demokratie

32. Demokratische Einrichtungen, Parlamente, Gemeinderäte usw. sind Teil der Diktatur der Bourgeoisie. Ihr Zweck liegt darin, die Massen in der Vorstellung zu wiegen, dass die Ausbeuterherrschaft „die Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk” sei. RevolutionärInnen nehmen an Wahlen teil, solange die Massen Illusionen darin hegen, um diesen Irrtum zu erschüttern und sich auf den Sturz des bürgerlichen Staats und seiner parlamentarischen Institutionen vorzubereiten. Wo es materiell möglich ist, stellen RevolutionärInnen KandidatInnen auf ihrem vollen Aktionsprogramm für ArbeiterInnenmacht auf. Wir lehnen alle Auffassungen ab, dass der Wahlkampf sich auf Forderungen nach „unmittelbaren Reformen” beschränken soll, oder auf einem Programm zu kandidieren, das lediglich begrenzte Vereinbarungen zwischen verschiedenen kleinen Sekten verkörpert.

33. Wo die Kräfte des revolutionären Kommunismus zu schwach für eine Eigenkandidatur sind, und wenn die Massen noch reformistischen oder zentristischen ArbeiterInnenparteien ihr Vertrauen schenken, können wir die Taktik der kritischen Wahlunterstützung auf solche KandidatInnen bei Wahlen anwenden. Wir unterstützen in keinem Fall ihr politisches Programm und äußern nicht das mindeste Vertrauen in deren künftige Taten an der Regierung. Unser Ziel ist es, diese Parteien im Amt auf den Prüfstand zu stellen und die ArbeiterInnen dazu zu bewegen, die Forderungen der Klasse an ihre FührerInnen zu stellen und deren Attacken zu widerstehen, wenn sie als bürgerliche Handlanger an die  Regierung kommen. Doch eine solche Unterstützung wäre nicht zulässig, wenn die ArbeiterInnenklasse und ihre Vorhut in offenen und unmittelbaren Konflikt mit der reformistischen Partei geraten, und wo diese sich wählen lässt, um die ArbeiterInnenschaft niederzuschmettern. Wenn die ArbeiterInnen die Wahl zwischen verschiedenen reformistischen oder zentristischen Parteien haben, empfehlen wir eine kritische Unterstützung für jene, die den stärksten Rückhalt unter den kämpferischsten Teilen der Klasse genießt.

Sozialdemokratie und Stalinismus

34. Die sozialdemokratischen und stalinistischen Parteien in den imperialistischen Ländern sind bürgerliche Parteien, genauer gesagt, bürgerliche Arbeiterparteien. Ihre Führung, Organisationen und ihr Programm haben einen politisch bürgerlichen Charakter, diese Parteien sind jedoch organisch durch ihren proletarischen Ursprung, durch Gewerkschaften und Genossenschaften oder durch massenhafte Mitgliedschaft oder Wahlunterstützung durch die Arbeiterschaft mit der Klasse verbunden. Diese Verbindungen unterscheiden jene Parteien auch von den offen bürgerlichen Parteien. Sie erlauben zugleich die Anwendung einer Reihe von Taktiken der Einheitsfront, mit deren Hilfe die Widersprüche zwischen der ArbeiterInnenbasis und den Führern dieser Parteien aufgezeigt und für den Bruch der Basis mit den reformistischen Führern und deren Programm genutzt werden können. Das schließt auch unter Umständen die Arbeit in solchen Parteien ein. Dies kann die Form eines zeitlich begrenzten Eintritts annehmen, in dem eine offen revolutionäre Organisation Seite an Seite mit einer revolutionären Fraktion innerhalb der bürgerlichen Arbeiterpartei arbeitet. Es kann aber auch den vollen Eintritt bedeuten, bei dem die gesamte revolutionäre Organisation der bürgerlichen Arbeiterpartei beitritt, um in einer zugespitzten Krisenlage einzugreifen. In beiden Fällen allerdings bleibt das revolutionäre Programm die Grundlage für unser Vorgehen. Wir lehnen den „Entrismus der besonderen Art” ab, wie er von der zentristischen 4. Internationale praktiziert wird. Dort treten RevolutionärInnen in eine bürgerliche Arbeiterpartei ein, verheimlichen jedoch ihre Politik, um langfristig in der Partei verbleiben zu können.

35. Wir bestätigen aufs Neue Trotzkis Position, dass der Stalinismus eine konterrevolutionäre Kraft innerhalb der ArbeiterInnenbewegung ist. Stalinistische oder stalinisierte Armeen, Parteien oder Volksfrontbewegungen waren zwar in der Lage, den Kapitalismus in Osteuropa, in Jugoslawien, China, Korea, Vietnam und Kuba zu stürzen, doch dies macht weder Trotzkis Charakterisierung des Stalinismus als konterrevolutionär ungültig, noch beweist dies, dass die Umstürzler des Kapitalismus keine Stalinisten gewesen wären.

36. Diese Umstürze unterschieden sich qualitativ von der Oktoberrevolution. Sie brachten bürokratische soziale Umwälzungen mit durchgehend konterrevolutionärem Charakter. Die Arbeiterklasse wurde von Beginn an von der politischen Macht ausgeschlossen. Mit Hilfe von Einrichtungen eines bürgerlichen Staats verhinderte eine schmarotzende Kaste, dass sich unabhängige Organe der ArbeiterInnenmacht entfalten konnten, ArbeiterInnenräte und Milizen, die die Vorbedingung für jeden Fortschritt zum Sozialismus und zur Weltrevolution sind. Ohne politische Revolution, d.h. den Sturz der bürokratischen Herrschaft durch die ArbeiterInnenklasse und ihre BundesgenossInnen, führten die Stalinisten diese Staaten unweigerlich in den Untergang und spielten auch noch eine Schlüsselrolle bei der Restauration des Kapitalismus.

37. Stalinismus ist der Zwilling der Sozialdemokratie, historisch war er der „Agent des Weltimperialismus im Arbeiterstaat” (Trotzki). Sozial wurzelte er in der herrschenden Bürokratie in den degenerierten Arbeiterstaaten, während die Sozialdemokratie ihre Basis in der Arbeiteraristokratie der imperialistischen Länder und auch einiger fortgeschritteneren Halbkolonien hatte. Stalins Programm des „Sozialismus in einem Land” entstand in der revisionistischen Sozialdemokratie, doch ihre charakteristischen Formen von Regierung und Parteiorganisation wurden während der Degeneration der Sowjetunion errichtet und gipfelten in den großen Säuberungen in den 30er Jahren. Der Stalinismus genoss das Ansehen der Oktoberrevolution und hatte wirtschaftliche Errungenschaften trotz des bürokratischen Planregimes sowie den militärischen Sieg über den Nazismus davon getragen. Daher können diese degenerierten Organisationsformen als Modelle für sozialistische Bewegungen missverstanden werden. Dagegen stellt der Trotzkismus den Aufbau von ArbeiterInnenräten und ArbeiterInnenmilizen als Werkzeuge zum Sturz des Kapitalismus und zur Diktatur des Proletariats in den Mittelpunkt.

38. Wir lehnen Stalinophobie, eine  noch größere Feindlichkeit gegen den Stalinismus als gegen die Sozialdemokratie oder andere klassenfremde Einflüsse, ab. Durch Betonung seines angeblich monolithischen Charakters‚ der „durch und durch konterrevolutionär” ist, zeigt diese Wahrnehmung gegen den sozialdemokratischen Reformismus eine weiche Flanke und passt sich ihm an. Ebenso aber lehnen wir die Stalinophilie ab, nämlich die Idee, dass der Stalinismus einen „Doppelcharakter” hätte und manchmal revolutionär, gelegentlich jedoch konterrevolutionär handeln könne, und dass man sich in bestimmten Etappen oder bei besonderen Aufgaben, bspw. der Verteidigung von ArbeiterInnenstaaten, auf ihn verlassen oder ihm eine führende Rolle zubilligen könnte.

Krise des Stalinismus und kapitalistische Restauration

39. Die Kastenherrschaft der stalinistischen Bürokratie beruhte auf einer Diktatur über die ArbeiterInnenklasse und der systematischen Plünderung der geplanten Eigentumsverhältnisse. Aus der Misswirtschaft der Planökonomien der UdSSR und Osteuropas ergaben sich sinkende Wachstumsraten und schließlich Stillstand. Versuche, diese Ökonomien durch „Marktreformen” anzukurbeln, endeten nur in weiterem Verfall. Dies wiederum diskreditierte den Gedanken der Planwirtschaft und rief restaurationistische Kräfte auf den Plan, die die Öffnung der Märkte noch weiter treiben wollten. Das bildete den Hintergrund für die revolutionären Krisen in den Jahren 1989-92, in denen die proletarische politische Revolution die einzige Alternative zur sozialen Konterrevolution war. Wie Trotzki vorausgesagt hatte, begannen diese Krisen mit Massenbewegungen gegen Privilegien und für Demokratie. Ohne eine revolutionäre Führung, die imstande gewesen wäre, sich auf die Massenbewegung zu beziehen und deren Forderungen mit dem Programm der politischen Revolution zu verknüpfen, ergriffen restaurationistische Kräfte die Initiative, aber ihr Sieg war weder sicher noch unvermeidlich.

40. In China nahm die Restauration des Kapitalismus jedoch eine andere Form an. Dort wurden große Schritte zur Privatisierung der Landwirtschaft und zur Schaffung eines freien Marktes auf dem Lande gepaart mit der Einrichtung von wirtschaftlichen Sonderzonen als Anreiz für ausländisches Kapital unternommen. Dadurch wurde die Planwirtschaft in den 80er Jahren untergraben. Die Beibehaltung der Planung in der staatlichen Industrie und im Außenhandel schuf ein äußerst widersprüchliches Produktionssystem und förderte weitreichende Korruption. Als Antwort darauf erhob sich eine Bewegung für Demokratie, die in den studentischen Demonstrationen auf dem Tianmen-Platz im Mai und Juni 1989 gipfelte und auch neue unabhängige ArbeiterInnenorganisationen entstehen ließ. Angesichts rasch wachsender Massenopposition, Verbrüderung mit Truppen und tiefen Spaltungen in den eigenen Reihen wählte die KP-China-Führung unter Deng Xiaoping die Zuflucht zu brutaler Unterdrückung, um ihr Regime zu erhalten. Danach beschloss die Führung 1992, den Kapitalismus unter ihrer eigenen fortwährenden Diktatur durch den Abbau der Planwirtschaft zu restaurieren. Die staatlichen Ressourcen wurden auf verschiedene Weise privatisiert, in staatskapitalistische Konzerne umgewandelt oder völlig stillgelegt, die Rechte der ArbeiterInnen wurden gesetzmäßig abgebaut.

41. Eine politische Revolution zum Sturz der Bürokratie war in allen degenerierten ArbeiterInnenstaaten notwendig. Eng verbunden damit stellte sich die Aufgabe der Verteidigung der geplanten Eigentumsverhältnisse gegen restaurationistische Kräfte. Unabhängige Arbeiterparteien mit leninistisch-trotzkistischem Programm hätten aufgebaut werden müssen, um dies erfolgreich umzusetzen. RevolutionärInnen hätten sich mit den Massen gegen die bürokratische Diktatur wenden und unter ihnen das Programm der politischen Revolution verbreiten müssen. Die Versuche der Bürokratie, ihr eigenes Überleben zu sichern, mit der Verteidigung von Errungenschaften im degenerierten ArbeiterInnenstaat gleichzusetzen, war falsch. Zwar mussten Rechte wie Versammlungsfreiheit, Legalisierung von oppositionellen Parteien und freien Gewerkschaften gefordert werden, doch es war ebenso falsch, die Rufe nach „pluralistischer Demokratie” mit der Forderung nach ArbeiterInnendemokratie oder nach parlamentarischen Institutionen mit ArbeiterInnenräten gleichzusetzen. Genauso war es falsch, ArbeiterInnenselbstver-waltungskonzepten nachzurennen und nicht zu Verteidigung und Kontrolle über den Plan  durch die ArbeiterInnenklasse aufzurufen. Die Aufgabe der politischen Revolution lautete: Errichtung der Diktatur des Proletariats durch Zerstörung der Diktatur der Bürokratie. In Kuba und Nordkorea steht dies nach wie vor ganz oben auf der Tagesordnung.

42. Ungeachtet der jeweiligen restaurationistischen Strategie war der entscheidende Punkt in der politisch revolutionären Krise, an dem das Regime begann, den der Form nach bürgerlichen Staat einzusetzen, um die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse zu restaurieren. Danach konnten diese Staaten nicht mehr als degenerierte ArbeiterInnenstaaten bezeichnet werden, selbst wenn Elemente der Planung oder des Staatsmonopols zeitweise noch aufrecht erhalten wurden, oder wo stalinistische Parteien im Amt blieben. An dem Punkt konnten RevolutionärInnen sie nicht mehr bedingungslos verteidigen, wenn sie von kapitalistischen Staaten angegriffen wurden.

43. Der Zusammenbruch aller degenerierten ArbeiterInnenstaaten in den 90er Jahren mit Ausnahme von zweien, die Restauration des Kapitalismus in ihnen und die Entwicklung von Russland und China zu neuen imperialistischen Mächten sowie die Schrumpfung oder der Zusammenbruch vieler stalinistischer Parteien in den kapitalistischen Ländern beendeten die Weltordnung nach dem 2. Weltkrieg. Obwohl die Art ihres Zusammenbruchs vielfach den Möglichkeiten entsprach, die Trotzki bereits dargelegt hatte, traf dies die meisten Kräfte, die sich international auf den Trotzkismus und die gespaltene 4. Internationale berufen, völlig unvorbereitet, desorientierte sie eine ganze Periode lang und trieb sie in vielen Fällen beschleunigt in die weitere politische Degeneration. Dies ist eine weitere Bestätigung, dass die 4. Internationale nicht mehr als revolutionäre, antistalinistische Internationale, wie Trotzki sie gegründet hatte, bestand.

44. Der Sieg der westlichen imperialistischen Mächte USA und EU im Kalten Krieg verkörpert eine historische Niederlage der Kräfte der ArbeiterInnenbewegung und des Antiimperialismus weltweit, nicht etwa, weil jene Staaten die „Anfangsstadien des Sozialismus“, geschweige denn den „real existierenden Sozialismus” darstellten, sondern weil sie gezwungen waren, die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse umzuwälzen und den Imperialismus von weiten Teilen der Erde ausschlossen. Die Restauration einer nahezu weltumspannenden kapitalistischen Ordnung gestattete es ihren Ideologen nicht nur, den Sieg über den Kommunismus bzw. Sozialismus zu verkünden und andere Gesellschaftsformen als reaktionäre Utopien abzustempeln, sondern versorgte den Imperialismus auch mit riesigen neuen Ressourcen und menschlichem Reservoir für die kapitalistische Ausbeutung.

Imperialismus im 21. Jahrhundert

45. Lenins Imperialismustheorie und die leninistisch-trotzkistische Taktik im Angesicht des imperialistischen Krieges sind immer noch vollauf gültig. Die Wesensmerkmale des Imperialismus, wie sie von Lenin, der revolutionären Kommunistischen Internationale und Trotzkis 4. Internationale charakterisiert wurden, bestehen weiterhin trotz Auflösung der formalen Kolonialreiche von Großbritannien und Frankreich und Veränderungen im Gefüge von Investitionen und dem verhältnismäßigen Aufstieg von bestimmten nichtimperialistischen Ländern. Die kapitalistische Ökonomie ist nun voll global und wird vom Finanzkapital beherrscht. Der Kapitalexport übersteigt in seinen vielfachen Formen bei weitem die Ausfuhr von Gütern, und eine kleine Anzahl von imperialistischen Mächten herrscht über die Ökonomien der übrigen Länder, die tatsächlich zu Halbkolonien herabgedrückt werden. Die imperialistischen Mächte greifen wiederholt überall auf der Welt ein, um Regierungen einzusetzen, die für die Herausholung von imperialistischem Extraprofit förderlich sind.

46. In Kriegen zwischen imperialistischen Mächten nehmen RevolutionärInnen einen defätistischen Standpunkt ein. In Kriegen und Konflikten zwischen imperialistischen Mächten und halbkolonialen Ländern ist es die Pflicht von RevolutionärInnen, defätistisch gegenüber den Imperialisten aufzutreten und die Halbkolonien zu verteidigen. Es ist legitim für RevolutionärInnen, sich an einer antiimperialistischen Einheitsfront mit nichtproletarischen, selbst mit bürgerlichen, Kräften zu beteiligen, wenn diese tatsächlich am antiimperialistischen Kampf teilnehmen. Aber sie dürfen auf keinen Fall „ihre” Bourgeoisie unterstützen. Um den Krieg zu einem folgerichtig antiimperialistischen Krieg zu machen, bedarf es vielmehr des Sturzes der bürgerlichen Herrscher, obwohl dieses Ziel der Landesverteidigung gegen den Imperialismus untergeordnet ist.

47. In Kriegen zwischen halbkolonialen Ländern um wirtschaftliche, politische oder strategische Vorteile einer nationalen Bourgeoisie muss das Proletariat eine defätistische Haltung einnehmen. Verteidigung ist nur statthaft, wenn ein Land besonders als Agent des Imperialismus auftritt oder versucht, die nationale Selbstbestimmung oder die Unabhängigkeit eines anderen Landes zu verletzen. In diesem Fall ist es die Aufgabe des Proletariats, internationale Solidarität mit den Klassengeschwistern im „Feindesland“ zu üben und nicht nationalistische Parolen und Demagogie zu verbreiten.

48. Gegen den imperialistischen Krieg kann nur der proletarische Kampf und sein Sieg die Gefahr einer atomaren Auslöschung bannen. Krieg ist Bestandteil des Imperialismus. Mit der Entwicklung von Atomwaffen hat der Kapitalismus die Mittel zur Zerstörung der menschlichen Zivilisation entdeckt. Die Menschheit steht buchstäblich vor der Wahl „Sozialismus oder Barbarei“, unter Umständen sogar vor der völligen Auslöschung unserer Gattung. Dies verwandelt die Kriegsfrage aber nicht in eine klassenübergreifende oder klassenlose Angelegenheit, die von einer besonderen Ideologie und Bewegung, dem Pazifismus, zu beantworten ist. Diese Ideologie und ihre Bewegungen bleiben wie vor dem Weltkrieg 1914 oder in den 30er Jahren kleinbürgerlicher Natur. Sie sind unfähig, die selbst gesteckten Ziele zu erreichen, die Imperialisten zu überreden, die Waffen zu strecken und friedlich zu leben oder in neuerer Zeit die Supermächte davon zu überzeugen, ihre Nukleararsenale aufzugeben. Wir weisen die Kennzeichnung von Friedensbewegungen als „objektiv antikapitalistisch” von uns. Das ist eine Ausrede, um dem kleinbürgerlichen Pazifismus nicht den proletarischen Antimilitarismus entgegenzustellen. Die beiden können und dürfen nicht miteinander vermischt werden.

Nationale Selbstbestimmung

49. Lenins Position zum Selbstbestimmungsrecht unterdrückter Nationen gilt heute noch voll. Es ist eine Pflicht für das Proletariat von Unterdrückernationen, dieses Recht bis zu und unter Einschluss der Abtrennung zu verteidigen. Die Befreiungskämpfe müssen moralisch und materiell ohne Vorbedingungen und Rücksicht auf das Kampfziel oder den Klassencharakter der Führung unterstützt werden. Umgekehrt ist es aber auch die Pflicht des Proletariats der unterdrückten Nation, im Befreiungskampf die Führung anzustreben und die engsten Verbindungen mit den Klassengeschwistern der unterdrückenden Nation zu unterhalten. Ebenso ist es für beide Sektionen der ArbeiterInnenklasse lebenswichtig, die Einheit in gemeinsamen Kämpfen sowohl in den Gewerkschaften wie den ArbeiterInnenparteien herzustellen und zu pflegen. Beide dürfen keinen Augenblick der bürgerlichen/kleinbürgerlichen Ideologie des Nationalismus erliegen.

50. Das nationale Selbstbestimmungsrecht ist ein bürgerliches Recht. Nichtsdestotrotz  muss die Arbeiterklasse weiterhin dieses Recht in jenen Staaten verteidigen, in denen es die Macht ergriffen hat, um das Proletariat der unterdrückten Nationalitäten für den Rückhalt bei der Schaffung und Ausweitung des ArbeiterInnenstaates zu gewinnen. Die Anerkennung dieses Rechts ist in der ganzen Übergangsperiode anwendbar. Die siegreiche ArbeiterInnenklasse kann, wie Engels sagte, „keine Segnungen einer anderen Nation aufzwingen“. Dennoch können militärische Notwendigkeiten des revolutionären Aufstands, des Bürgerkriegs oder einer imperialistischen Intervention die vorübergehende Verletzung dieses Rechts notwendig machen.

Soziale Unterdrückung

51. KommunistInnen nehmen die Befreiung der Frauen, Jugend, Minderheiten der geschlechtlichen Orientierung und rassisch Unterdrückten von der brutalen Repression in der kapitalistischen Gesellschaft sehr wichtig. Der Rassismus hat seine Wurzeln in den frühen kolonialen Formen kapitalistischer Ausdehnung. In der imperialistischen Epoche sorgt er weiterhin für die Spaltung der ArbeiterInnenklasse und ihrer BundesgenossInnen durch die Illusion einer gemeinsamen Überlegenheit aller Klassen einer beherrschenden „Rasse“. Diese Ideologie der Überlegenheit, die oft durch kleine Privilegien bestärkt wird, ermöglicht so die verschärfte Ausbeutung aller ArbeiterInnen und BäuerInnen.

52. Die übrigen Formen der sozialen Unterdrückung sind alle in der bürgerlichen Form der Familie und der auf ihr fußenden sozialen und sexuellen Stereotypen entstanden. Diese Verwurzelung sorgt für die Fortdauer dieser Formen der Unterdrückung, die in jeder Generation auf die eine oder andere Art weiter getragen wird. Obwohl die Familie ihre frühere Rolle in der Herstellung von Nahrung und Kleidung und anderen Lebensnotwendigkeiten verloren hat, hat sie ihre Funktion bei der Produktion und Reproduktion lebendigen Arbeitsvermögens und damit der Ware Arbeitskraft bewahrt. Durch die Übernahme der untergeordneten Rolle der Frauen von früheren Klassengesellschaften hat der Kapitalismus diese wichtige Aufgabe den Frauen als Privatproblem aufgebürdet. Selbst wenn Frauen in die bezahlte Lohnarbeit eingegliedert werden, führt der ideologische Vorrang der Verantwortung für die Familie dazu, dass sie niedrigere Löhne, schlechtere Aufstiegschancen und eine  allgemeine Beschränkung auf Arbeitsplätze, die als „natürliches Umfeld” ihrer Rolle als Frauen und Mütter angesehen werden, erhalten. Wie beim Rassismus wandeln sich die Vorteile für männliche Proletarier, z.B. durch höhere Löhne und eine größere Auswahl an Möglichkeiten und den sozial anerkannten höheren Status „männlicher” Rollen, die für den einzelnen erfahrbar sind, letztlich aber zu Mitteln bei der Steigerung der Ausbeutung aller.

53. Wir unterstützen Kampagnen und auch Einzelpersonen, die solche soziale Unterdrückung bekämpfen, und tun alles, damit die organisierte ArbeiterInnenbewegung (Gewerkschaften, ArbeiterInnenparteien usw.) dies gleichermaßen bewerkstelligt. Unser Ziel ist Hilfe beim Aufbau von proletarischen Bewegungen der Unterdrückten, auch mit eigenen geschlossenen Treffen in den Organisationen der ArbeiterInnenbewegung und für ihre Rechte aufzutreten. Wir argumentieren, dass diese Bewegungen zwar demokratisch und selbst verwaltend sein sollen, aber so eng wie möglich in die politische und gewerkschaftliche Bewegung eingebunden. Wir lehnen das Modell der politisch autonomen klassenübergreifenden Bewegungen und Ideologien (Feminismus, Queer-Theorie usw.) als Weg zur Befreiung ab. Stattdessen setzen wir uns dafür ein, dass die ArbeiterInnenklasse die Führung der Kämpfe gegen Diskriminierung und Unterdrückung übernimmt.

Die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit

54. Der Kapitalismus zerstört die Umwelt, Gesundheit und die Wohlfahrt der arbeitenden Massen. Begrenzte Sicherheitsmaßnahmen können durch den Klassenkampf erreicht werden, aber nur die ArbeiterInnenmacht kann die dauerhafte Bedrohung der Umwelt durch den Kapitalismus beseitigen. Die Wurzel dieser Gefahr liegt in dem innewohnenden Drang des Kapitalismus zur Profitmaximierung. Die Kleinkapitalisten verstärken die gefährlichen Arbeitsbedingungen und verschmutzen die Umwelt eher, als Kapital für verbesserte Verfahren zu „vergeuden“. Die internationalen Großkonzerne halten umweltschädliche Industrien aufrecht, um die Einkünfte aus vorherigen Investitionen zu erhöhen. Bei beiden Kapitalfraktionen überwiegen immer wieder kurzfristige und sofortige Vorteile langfristige und soziale Interessen.

55. Nur eine demokratisch geplante und internationale Wirtschaftsordnung kann die Produktion mit größtmöglichem Ertrag organisieren, d.h. Produktion in einem Maß, das menschlichen Bedürfnissen entspricht und in Einklang bringt mit der Umwelt, von der alles Leben abhängt. Zwar sind Aktionseinheiten mit nicht-proletarischen Bewegungen wie UmweltaktivistInnen bei spezifischen Themen zulässig, aber wir weisen die Sichtweise zurück, wonach der Umweltschutz eine klassenübergreifende Sache sei und von nicht klassengebundenen oder klassenübergreifenden Organisationen erkämpft werden könnte. Es wäre genau so falsch, solche Fragen auf unbestimmte Zeit zu verschieben, als wären sie nur im Sozialismus lösbar. Stattdessen sollten alle damit verbundenen Angelegenheiten in das ArbeiterInnenprogramm von Übergangsforderungen aufgenommen und dabei die Frage der ArbeiterInnenkon-trolle in den Mittelpunkt gerückt werden.

Die revolutionäre Partei und ihr Werdegang

56. Eine leninistische Vorhutpartei ist unverzichtbar nicht nur für den Aufstand und die Machteroberung, sondern für alle Stadien des Klassenkampfs. Eine solche Partei muss auf einem internationalen Übergangsprogramm aufgebaut sein, das das geschichtliche Ziel und die Grundsätze mit den grundlegenden Taktiken in einer umfassenden Strategie für die ArbeiterInnenmacht vereint. Allein die ArbeiterInnenklasse kann einen gesunden ArbeiterInnenstaat schaffen. Die revolutionäre Partei muss in der Klasse verankert sein und ihre geschichtlichen Ziele zum Ausdruck bringen. Wir lehnen alle Vorschläge zur Bildung von „Arbeiter-Bauern-Parteien“ oder Parteien aus opportunistischen Fusionen zwischen RevolutionärInnen und NichtrevolutionärInnen ab. Ebenso weisen wir die Idee von uns, dass linksrefomistische oder zentristische „breite Parteien” auf unbestimmte Zeit geeignete Organe für die ArbeiterInnenklasse sein können. Diese Position, vertreten von verschiedenen Strömungen der 4. Internationale seit 1951, wurde korrekterweise von der revolutionären Kommunistischen Internationale abgelehnt, die aus den Erfahrungen der 2. Internationale folgerte, dass ein langjähriges Zusammengehen von RevolutionärInnen mit ReformistInnen in derselben Partei in kritischen Momenten des Klassenkampfs nur zu einer Katastrophe führen kann. Zugleich sind wir gegen die Bezeichnung von kleinen Propagandagruppen als „Parteien“, was nicht nur dem Gedanken einer ArbeiterInnenpartei die Grundlage entzieht, sondern auch die RevolutionärInnen selbst in Bezug auf ihre eigenen Aufgaben und Dringlichkeiten desorientiert.

57. Der Kern der marxistischen Strategie für die Erlangung des Sozialismus war stets die Erkenntnis, die theoretischen Errungenschaften der sozialistischen Bewegung, die in der Geschichte von Intellektuellen erarbeitet worden sind, mit den führenden Elementen der eigenen ArbeiterInnenorganisationen und -bewegungen zu verschmelzen. Unterschiedene Etappen oder Phasen sind in diesem Verschmelzungsprozess in der Geschichte beobachtbar. Es beginnt mit einer sehr kleinen Anzahl von revolutionären Intellektuellen, die sich der Sache der ArbeiterInnenklasse verschrieben haben und eine ideologische Strömung formen.  Ihre erste Aufgabe besteht in der Verbreitung eines revolutionären Programms in der Arbeiterklasse. Propagandagruppen bilden dann ArbeiterInnenkader und Kaderparteien heraus, die vorwiegend aus ArbeiteraktivistInnen bestehen und eine anerkannte politische Strömung innerhalb der ArbeiterInnenklasse darstellen. Das Stadium einer revolutionären Massenpartei ist erreicht, wenn ein erfolgreiches Eingreifen einer Kaderpartei in einer zugespitzten gesellschaftlichen Krise darin mündet, die Führung von entscheidenden Teile der Gesamtklasse zu übernehmen.

58. Das Tempo dieses Prozesses ist notwendigerweise verbunden mit der Geschwindigkeit des Klassenkampfs, was auch bedeuten kann, dass einige der Aufgaben einer Etappe in einer anderen erst in Angriff genommen werden oder im Angesicht einer Niederlage, wiederholt werden müssen, wie dies nach dem 2. Weltkrieg der Fall war und dann nach dem Zusammenbruch der degenerierten ArbeiterInnenstaaten. In jeder dieser Entwicklungsphasen besteht die Aufgabe der revolutionären Strömung im Ringen um die Führung der Klasse gegen andere Tendenzen, die in ihrer Politik den Einfluss anderer Klassen innerhalb des Proletariats repräsentieren. Die Führung ist entscheidend in jeder Teilauseinandersetzung von Klassenkonflikten, und wenn die kapitalistischen Krisen die Zukunft der Gesellschaft insgesamt bedrohen und ein weiterer Fortschritt vom Sturz des Kapitalismus abhängt, ist die Fähigkeit der revolutionären Kräfte, die Führung zu erringen, von größter Tragweite, oder wie Trotzkis es in der Periode unmittelbar vor Ausbruch des 2. Weltkriegs ausdrückte: „Die historische Krise der Menschheit reduziert sich auf die Krise der revolutionären Führung.“

59. Obgleich eine Bandbreite von organisatorischen Formen, Diskussionszirkeln, Studiengruppen, Netzwerken und Konferenzen Foren sein können, auf denen RevolutionärInnen ihr Programm klarstellen und ihre Reihen verstärken können, sind sie nur Mittel zum Endzweck, dem nächsten angemessenen Stadium im Aufbau einer revolutionären Partei. Ähnliches gilt, wenn sich uneinheitliche politische Parteien oder Bündnisse mit einem weiten Spektrum politischer Strömungen vom Reformismus bis zum Linkszentrismus bilden. Dort müssen RevolutionärInnen unter Umständen eintreten, um sie für das revolutionäre Programm zu gewinnen. Die Formierung solcher breit angelegten Parteien ist jedoch weder ein Ziel an sich noch eine notwendige Etappe, die der Aufbau einer revolutionären Partei zu durchlaufen hat.

60. Der demokratische Zentralismus in der Tradition von Lenin bleibt die einzig mögliche Grundlage für revolutionäre Parteien und die revolutionäre Internationale. Der Föderalismus in einer Internationale oder nationalen Partei gewährt Sektionen oder regionalen Organisationen Selbstständigkeit mit Auswirkung. Er verneint den demokratischen Zentralismus und schafft potenziell sich gegenüberstehende Blöcke, die unweigerlich zusammenstoßen und sich spalten werden, wie sich am Beispiel Internationales Komitee und Vereinigtes Sekretariat  der 4. Internationale gezeigt hat. Damit der demokratische Zentralismus erhalten bleibt, muss er auf einem revolutionären Programm beruhen, das die Taktik und Strategie einer Organisation festlegt, wodurch die Führung rechenschaftspflichtig gehalten werden kann. Durch strenge politische Praxis, demokratische Bilanz und Verfeinerung des Programms erhöht die demokratisch zentralistische Parteiorganisation ihre eigene Wirksamkeit und verleibt sich die kollektive Erfahrung des Klassenkampfs ein. Damit können Irrtümer korrigiert, neue Erfahrungen verarbeitet und neue Kader geschult werden. Im demokratischen Zentralismus ist das Recht von Gruppierungen von GenossInnen, Fraktionen oder Tendenzen zu bilden, notwendig, um systematische und tiefe Diskussionen von Differenzen zu sichern. Doch das Fortbestehen von Fraktionen auf Dauer würde grundlegende programmatische Differenzen anzeigen, oder noch schlimmer, die Bildung von Cliquen. In einer solchen Lage kann nur die prinzipienfesteste und gründlichste Untersuchung der Sachverhalte die Organisation auf den Weg der Gesundung zurückbringen, falls nötig, auch durch organisatorische Trennung, d.h. Spaltung.

Zentrismus

61. Alle heutigen größeren „trotzkistischen” Strömungen sind zentristischer Art. Ihre unbeugsame Bekämpfung ist notwendig. Einige scheinen weiter links zu stehen als andere, es gibt jedoch keinen stabilen oder widerspruchsfreien linken Flügel des Trotzkismus, mit dem sich wiedervereinigt werden könnte, mit dem gemeinsam die IV. Internationale wieder aufgebaut oder gar wieder begründet werden könnte. Trotzki selbst wäre erzürnt über das Ansinnen der Wiedergründung einer Internationale gewesen, die als revolutionäre Kraft seit 60 Jahren tot ist, jedoch selbst als Bruchstücke die ganze Zeit über aktiv zentristische Verwirrung verbreitet hat. Die Aufgabe stellt sich als Gründung einer neuen Internationale, einer Nachfolgerin und Fortsetzerin der Arbeit der ersten vier auf einem neu erarbeiteten leninistisch-trotzkistischen Programm: einer fünften Internationale.

62. Der Zentrismus irrlichtert zwischen Reform und Revolution. Der Niedergang der revolutionären Organisationen erzeugt einen rechtslastigen Abwärtszug zum Zentrismus. Revolutionäre Krisen und Kämpfe fördern linke Bewegungen weg vom Reformismus, die, wenn sie nicht sofort zur kommunistischen Bewegung kommen, linkszentristische Organisationen bilden können. Wir müssen einen gnadenlosen Kampf gegen den rechten Zentrismus, der sich vom Marxismus entfernt, mit dem ernsthaften Versuch verzahnen, sich nach links bewegende zentristische Organisationen dafür zu gewinnen, in Einklang mit dem Kommunismus zu stehen und die Wiedergeburt einer trotzkistischen Organisation einzuleiten.

63. Jede Spielart des Zentrismus trägt das Zeichen ihrer Herkunft. Dem Zentrismus sozialdemokratischer und stalinistischer Abstammung hat sich ein Zentrismus trotzkistischer Färbung beigesellt. Dieser trägt für gewöhnlich die Züge eines „verknöcherten” Zentrismus., der sich von den Massenkämpfen der Arbeiterklasse abgesondert hat und unfähig und nicht willens ist, seine Politik der Prüfung im Kampf auszusetzen und der verhältnismäßig unempfänglich für Veränderungen ist. Der Zentrismus trotzkistischen Ursprungs ist nicht irgendwie fortschrittlicher als die übrigen zentristischen Arten. In den massiven Erhebungen nach dem Fall des Stalinismus wurden alle Formen des Zentrismus auf die Waage des Klassenkampfs gestellt und für zu leicht befunden. Wir weisen die Idee eines automatischen spontanen Hinüberwachsens des Zentrismus in den revolutionären Kommunismus von uns. Die Bekämpfung des Zentrismus muss bewusst erfolgen und in einem Bruch mit ihm und der Erkenntnis münden, dass er einen veralteten Zustand einer Organisation oder Strömung darstellt; eine selbstkritische Bilanz muss gezogen werden. Wie Trotzki sagte: „Der Zentrismus hasst es, seinen eigenen Namen zu hören.“

Die Globalisierung und ihre Krise

64. Was auch immer die Fürsprecher des Kapitalismus vorbringen mögen, der endgültige Zusammenbruch der degenerierten ArbeiterInnenstaaten hat nicht eine ganz neue Epoche eingeläutet, geschweige denn „das Ende der Geschichte” gebracht. Obwohl die Überbleibsel der Errungenschaften der russischen Revolution von 1917 endgültig ausgelöscht worden sind, bedeutet dies aber nicht das „Ende des Oktobers“. Die grundsätzliche Scheidung von reformistischen und revolutionären Kräften bleibt dennoch bestehen. Der Zusammenbruch setzte jedoch mächtige entgegenwirkende Kräfte frei, die es dem Imperialismus, allen voran den USA, gestatteten, den Beginn einer Krise der Überakkumulation und der fallenden Profitraten seit Anfang der 70er Jahre hinauszuzögern. Die Periode der „Globalisierung” war eine Periode innerhalb der Epoche des Imperialismus. Sie war gekennzeichnet insbesondere durch ein Anwachsen im Zugriffsbereich des US-Finanzkapitals. Der Druck durch den „Washington-Konsens” (Stabilitäts- und Wachstumsmaßnahmen) und die strukturellen Anpassungsprogramme seitens des Internationalen Währungsfonds beseitigten Zollschranken und privatisierten staatliche Sektoren auf der ganzen Welt, sorgten dafür, dass das US-Kapital Profite aufhäufte, ohne den Profitratenfall der eigenen Wirtschaft zu beseitigen.

65. Es gelang den USA zwar, eine unangefochtene Vorherrschaft in der Welt zu erlangen, doch bedeutete dies keinen erdumspannenden „amerikanischen Frieden“. Im Gegenteil, die ökonomische und militärische US-Aggression erzeugte weltweit eine Vielzahl von feindlichen Bewegungen, auch in den USA selbst. Diese reichten von kriegerischen Auseinandersetzungen zu populären Massenbewegungen und schufen insgesamt Möglichkeiten für die Linke, sich zu erholen in einem Ausmaß wie seit Ende der 60er Jahre nicht mehr. Die etablierten Hauptkräfte innerhalb der Arbeiterklasse hatten jedoch kein Programm, das diesen neuen Bewegungen in ihren Kämpfen gegen den Kapitalismus eine Anleitung hätte geben können. Die stalinistischen Parteien waren nicht nur demoralisiert durch den Zusammenbruch des Sowjetblocks, sondern befanden sich bereits in Auflösung. Die Mehrzahl von ihnen wandelte sich zu sozialdemokratischen Parteien, während die angestammten sozialdemokratischen und Labour-Parteien sich nun als die bevorzugten Agentinnen der neoliberalen Politik präsentieren wollten. Solche Führungen waren zusammen mit den zentristischen Strömungen, die nicht mit ihnen brechen wollten, immer noch mächtig genug, die neuen Bewegungen davon abzuhalten, den Kapitalismus wirksam zu bekämpfen. Dies bewirkte eine Führungskrise, vergleichbar mit der, die Trotzki in den 30er Jahren beschrieben hat.

66. Eine trotzkistische Partei, die diesen Namen verdient, hätte in der Lage sein müssen, in diese Bewegungen einzugreifen und alle grundsätzlichen taktischen Anpassungen vorzunehmen, um sich auf jene aufkeimende, politisch noch unfertige Generation von AktivistInnen zu beziehen. Stattdessen zog sich eine Minderheit von ZentristInnen trotzkistischen Ursprungs auf sektiererische Positionen zurück, die sie von den wirklichen Kämpfen abseitsstehen ließen, indem sie z.B. behaupteten, dass die nationale Frage heutzutage überholt sei oder dass die Gewerkschaften völlig verbürgerlicht wären und nur der Täuschung und Irreführung der ArbeiterInnen dienen würden. Die Mehrheit jedoch passte sich kritiklos der Vielzahl von kleinbürgerlichen Programmen an, die von den neuen Bewegungen erzeugt wurden.

67. Erwartungsgemäß erwies sich der ausschweifende Boom des Imperialismus, angeheizt durch Kredite und einen schier endlos scheinenden Nachschub an billigen Waren aus China, bald als Vorspiel zu einer seiner dramatischsten Krisen. Zunehmend unfähig, eine angemessene Rendite aus Investitionen in der Produktion zu erzielen, erzeugte das US-Kapital immer mehr Scheinkapital in Form von immer vielschichtigeren Finanzderivaten. Die „Kreditklemme” von 2007 zeigte die Erkenntnis, dass trotz ihres Nennwertes die meisten dieser Derivate wertlos und die Finanzinstitute, die mit ihnen handelten, praktisch bankrott waren. Bankpleiten von zuvor großen Finanzhäusern wie Bear Stearns und Lehman Brothers folgten dementsprechend. Die nachfolgende Rezession nutzten die Kapitalisten zu einen weltweiten Angriff auf den Lebensstandard der ArbeiterInnenklasse, als die kapitalistischen Staaten ihre Banken „retteten“ oder Anreizprogramme finanzierten und dann die ArbeiterInnen zwangen, die Kosten durch Lohneinbußen, Leistungseinschränkungen und Steuererhöhungen zu zahlen.

68. Land um Land hat trotz Bereitschaft der ArbeiterInnenklasse, sich zur Wehr zu setzen, eine arbeiterfeindliche Regierungspolitik durchgepeitscht, weil die etablierten Führer der ArbeiterInnenorganisationen, Gewerkschaft und Partei, sich geweigert haben, einen entschlossenen und wirkungsvollen Abwehrkampf zuzulassen. Allzu oft haben diese Führer absichtlich bei der Umsetzung solcher Politik ein Auge zugedrückt, um ihre eigene privilegierte Position zu retten oder bestenfalls ein paar Vorteile für eine Minderheit von Lohnabhängigen der ArbeiterInnenaristokratie  zu erreichen. Unter diesen Umständen sollte es die vorrangigste Aufgabe von RevolutionärInnen sein, für die Formation von revolutionären ArbeiterInnenparteien um ein Aktionsprogramm von Sofort- und Übergangsforderungen einzutreten. Doch keine der Parteien, die sich trotzkistisch nennen, hat diese Strategie befolgt. Günstigstenfalls haben sie die Bildung von neuen Parteien auf ungeeigneten Programmen gefördert, indem sie kritiklos den „linken” FührerInnen nachgetrabt sind, statt Forderungen an sie zu richten und ihre AnhängerInnen  zum selbsttätigen Handeln, wenn nötig auch gegen die Führung, zu ermuntern.

69. Nichtsdestotrotz waren der Imperialismus und das Großkapital weder imstande, eine nachhaltige Erholung einzufädeln noch der Arbeiterklasse eine historische Niederlage in einem Ausmaß beizubringen, die einen wirklichen Aufschwung der Profitraten bewirken könnte. Demzufolge liegen noch mehr und größere Klassenschlachten vor uns, und jene werden das Wachstum neuer politischer Strömungen sowohl innerhalb wie außerhalb des „trotzkistischen” Milieus anspornen. Sie werden nicht nur einen wirksamen Widerstand aufbauen, sondern auf den Sturz des Krisen verursachenden Systems drängen. Das ist der Zusammenhang, in dem eine internationale revolutionäre Strömung die Lehren von vier revolutionären Internationalen in die kommenden Klassenkämpfe hineintragen und eine fünfte Internationale aufbauen muss, die endgültig mit dem Kapital abrechnet.