Esteban Volkov (1926 – 2023)

Per-Olof Mattson, Infomail 1226, 21. Juni

Am Freitag, dem 16. Juni 2023, verstarb Esteban Volkov. Er war der Enkel des russischen Revolutionärs Leo Trotzki und das einzige Mitglied seiner Familie, das den stalinistischen Terror überlebte, abgesehen von Trotzkis zweiter Frau Natalja. Beim ersten Attentat auf Trotzki in Mexiko am 24. Mai 1940, das von dem Künstler David Alfaro Siqueiros geleitet wurde, wurde er selbst von den Kugeln der Attentäter getroffen.

Seine Mutter war Trotzkis Tochter aus erster Ehe, Sinaida, und sein Vater hieß Platon Iwanowitsch Wolkow, beide aktiv in der Linken Opposition. Dieser wurde 1928 zur Verbannung verurteilt, und beide Eltern fielen dem Stalinismus zum Opfer. 1926 kam Esteban als Wsewolod Platonowitsch Wolkow in Jalta, Ukraine, zur Welt. Später änderte er in Mexiko seinen Vornamen in Esteban. Im Alter von fünf Jahren verließen er und seine Mutter Moskau, um sich Trotzki auf der Insel Prinkipo in der Türkei anzuschließen. Im Jahr 1932 zog er mit seiner Mutter nach Berlin. Sie war an Tuberkulose erkrankt und nahm sich aus Verzweiflung das Leben. Anschließend verbrachte Esteban anderthalb Jahre in einer Montessori-Schule in Wien. Auf Trotzkis Bitte hin hatten ihn Anhänger:innen Wilhelm Reichs dort aufgenommen.

Sein Onkel Leo Sedow, ein wichtiger Führer der Opposition in Westeuropa und der Sowjetunion, nahm ihn 1934 zu sich und brachte ihn nach Paris. Als Leo Sedow 1938 ebenfalls unter mysteriösen Umständen starb, musste Trotzki einen langwierigen Rechtsweg beschreiten, um seinen Enkel zu ihm und Natalja nach Mexiko zu holen. Der damals 13-jährige „Sewa“ war der einzige Überlebende von Trotzkis Familie. Im August 1939 kam er nach einem langwierigen Gerichtsverfahren endlich an.

Er war 14 Jahre alt, als sein Großvater ermordet wurde. Sein Enkel kam gerade nach Hause, als Trotzki tödlich verwundet am Boden lag. Die Wachen hinderten ihn daran, sich ihm zu nähern. Trotzki hatte sie angewiesen, Sewa nicht durchzulassen: „Das Kind darf das nicht sehen“.

Nach dem Tod seines Großvaters, der im Spätsommer 1940 von einem stalinistischen Agenten ermordet wurde, blieb er im mexikanischen Exil. Bis 1962, als Trotzkis Frau Natalja in Paris starb, hielt er engen Kontakt zu ihr. Er ließ sich zum Chemiker ausbilden und war in seinem Beruf sehr angesehen. Er heiratete und hinterließ vier Töchter. Esteban, oder Sewa (Wsewolod), wie sein russischer Spitzname lautete, widmete sein Erwachsenenleben der Pflege und Verteidigung von Trotzkis Lebenswerk. Er verwandelte das Haus in Coyoacán in ein Museum, und als der Stalinismus in der Sowjetunion während der Gorbatschow-Ära ins Wanken geriet, trat er häufig in verschiedenen Zusammenhängen auf und forderte die Rehabilitierung seines Großvaters.

Eine seiner letzten Bemühungen, das Andenken an seinen Großvater zu bewahren, war die Petition, die er schrieb, um die russische Serie über Trotzki zu verurteilen und korrigieren, die Netflix vor einigen Jahren ausstrahlte. Die Petition wurde von einer großen Anzahl von Historiker:innen und anderen unterzeichnet.

Esteban Volkovs Bemühungen um die Verteidigung Trotzkis und des Trotzkismus sollten von all jenen gewürdigt werden, die sich als revolutionäre Sozialist:innen verstehen, und von all jenen, die sich der Lügenmaschine des Stalinismus widersetzen. Ein langes Leben ist zu Ende gegangen, ein Leben, das nicht vergeblich war und dessen wir uns mit Dankbarkeit erinnern.




Trotzkistisches Archiv Österreichs online

Arbeiter*innenstandpunkt, Infomail 1211, 23. Januar 2023

Seit Mitte November 2022 ist eine neue Homepage zugänglich: das Trotzkistische Archiv Österreichs. Es ist das Produkt jahrelanger Arbeit und umfasst bereits an die zehntausend Seiten mit Texten linksoppositioneller Organisationen Österreichs aus den Jahren 1933 bis 1976.

Alle Organisationen, von denen hier Publikationen und (interne) Materialien dokumentiert werden, arbeiteten konspirativ, waren also illegal tätig. Das bedeutet auch, dass ein großer Teil der Texte archivalisch nirgends erfasst ist und auf dieser Homepage überhaupt zum ersten Mal zugänglich gemacht wird. In jahrelanger Tätigkeit ist es Manfred Scharinger gelungen, ein umfangreiches (aber immer noch alles andere als vollständiges) Archiv des österreichischen Trotzkismus aufzubauen.

Zusätzlich werden auf dieser Homepage auch eine Reihe weiterer Texte, die sich auf die Geschichte der österreichischen linksoppositionellen Bewegung beziehen, sowie 27 der zwischen 1985 und 2021 erschienenen 28 Nummern der Kleinen Schriftenreihe zur österreichischen Arbeiter:innengeschichte, die zuletzt von der Gruppe Arbeiter*innenstandpunkt herausgegeben wurde, digital zugänglich gemacht.

Das Trotzkistische Archiv Österreichs gliedert sich in drei große Bereiche: Die Kleinen Schriftenreihe zur österreichischen Arbeiter:innengeschichte, diverse Texte (darunter auch die zweibändige Ausgabe Österreichischer Trotzkismus) und das eigentliche Archiv. Darin finden sich in zwei große Sektionen: vor 1945 und ab 1945.

Im Archiv der Jahre 1918-1945 können derzeit die Texte von fünf Organisationen dokumentiert werden: zuerst einmal die der personell und politisch dominierenden Gruppierung, des Kampfbundes zur Befreiung der Arbeiterklasse (1934-1941) mit seiner Zeitschrift Arbeitermacht und einer großen Zahl weiterer Texte und (interner) Materialien. Aus dem Kampfbund gingen die Organisation Proletarischer Revolutionäre (1939-1943) mit ihrer Zeitschrift Iskra und die Linksfraktion des Kampfbundes, die spätere Gruppe ‚Gegen den Strom‘ – 1939-1943 hervor, während die dritte oppositionelle Gruppe, die Proletarischen Internationalisten, derzeit noch nicht ins Archiv aufgenommen werden konnte. Weder der Kampfbund noch diese anderen Organisationen waren anerkannte Teile der (werdenden) IV. Internationale. Die offizielle österreichische Sektion der Internationalen Linksopposition waren die Bolschewiki-Leninisten Österreichs (1933-1936), später die Revolutionären Kommunisten Österreichs (1936-1938), die in diesem Teil des Archivs ebenfalls mit Publikationen und anderen Texten vertreten sind.

Im zweiten Teil, im Archiv ab 1945, sind zwei Strömungen dokumentiert. Zuerst einmal die „offizielle“ Sektion der IV. Internationale mit allen ihren Facetten: der Karl-Liebknecht-Bund (Internationale Kommunisten) (1945-1946) und deren Nachfolgeorganisation, die Internationalen Kommunisten Österreichs (1946-1955), dazu die Internationalen Kommunisten Österreichs (Opposition) (1949-1955). Die zweite Strömung ist der 1945 wieder reorganisierte Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse mit seiner „Vorfeldorganisation“, der Proletarischen Vereinigung Österreichs, und dem aus dem Kampfbund hervorgegangenen Arbeiterstandpunkt (1972-1976). Der Kampfbund, der zwischen 1945 und 1973 ein reges, aber auch nach 1955 immer noch streng illegales Organisationsleben aufwies, war bisher außer einigen Nummern der Zeitschrift Arbeiterblatt archivalisch praktisch überhaupt nicht erfasst. Besonders stolz sind wir, dass wir in der Rubrik Kampfbund auch viele nach 1945 erschienene Texte von Josef Frey aufnehmen konnten, darunter auch seinen mehr als 1.000 Seiten starken Schulungskurs Die internationale proletarische Demokratie und den Schriftverkehr zwischen Josef Frey und den österreichischen Kampfbund-Mitgliedern. Insgesamt liegen jetzt in unserem Archiv ab 1945 mehr als 2.400 Seiten von KLB / IKÖ / IKÖ-Opposition vor, vom Kampfbund sogar fast 5.600 Seiten.

Natürlich ist das Trotzkistische Archiv Österreichs alles andere als vollständig. Aber es ist ein großer Schritt zur Dokumentation der Geschichte der trotzkistischen Bewegung Österreichs. Klarerweise wollen wir auch in Zukunft das Archiv weiter ausbauen und vervollständigen – wir, das sind die Gruppe Arbeiter*innenstandpunkt, unter deren Schirmherrschaft das Projekt umgesetzt wurde, Genosse B., der für die technische Umsetzung des Projekts verantwortlich zeichnete, und Manfred Scharinger, der praktisch das gesamte Material digitalisierte und die Homepage mit Leben erfüllte.

Wir wollen mit dem Archiv mehrere Ziele erreichen. Zuerst einmal geht es darum, die vielfach in keiner Bibliothek archivierten Dokumente vor dem Vergessen-Werden zu bewahren. Zum anderen soll damit eine Basis dafür geboten werden, dass sich möglichst viele Genoss:innen auf einfache Weise intensiver mit der reichhaltigen und facettenreichen Geschichte des österreichischen Trotzkismus beschäftigen können. Schließlich bitten wir auch um Mithilfe, denn wir haben es schon gesagt: Wir wollen auch in Zukunft das Archiv weiter ausbauen und vervollständigen. Sollten Genoss:innen Zugang zu interessantem Material haben, das wir noch nicht publizieren konnten, bitten wir um Zusammenarbeit. Und natürlich sind wir daran interessiert, dass die Homepage auch in einem breiterem Umfang bekannt gemacht wird. Hier daher nochmals die Internet-Adresse:




Die Ermordung von Leo Trotzki

Simon Hardy und Dave Stockton, Infomail 1114, 21. August 2020

Anlässlich des 80. Todestages von Leo Trotzki veröffentlichen wir hier erneut einen Text von Simon Hardy und Dave Stockton über die Geschichte der Ermordung Leo Trotzkis.

Trotzki lebte in einem Haus in Coyoacán, in Mexiko-Stadt, und war nicht nur ein Exilant, sondern auch ein Flüchtling vor den MörderInnen von Stalins Geheimpolizei, dem NKWD (Innenministerium der UdSSR, auch politische Geheimpolizei). Tatsächlich war das „Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten“ (Vorläufer des Innenministeriums in der RSFSR und UdSSR) insofern etwas falsch benannt, als es insbesondere seit dem spanischen BürgerInnenkrieg (1936 – 1939) ein ausgedehntes Netz von AgentInnen in Westeuropa und Amerika aufgebaut hatte.

Trotzki war in den Moskauer Prozessen von 1936 – 1938 wiederholt als der ultimative Organisator und Inspirator von Verbrechen gegen die Sowjetunion angeprangert worden. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Stalin versuchte, sein Leben zu beenden. In der Tat sagte Pawel Sudoplatow, Leiter der Verwaltung für Sonderaufgaben des NKWD, noch in dem Monat, als Trotzki in das Haus in der Calle Viena (Wiener Gasse) einzog, im März 1939, als sein Chef Lawrenti Beria ihn zu Stalin brachte: „Trotzki sollte innerhalb eines Jahres eliminiert werden“.

Damit fügte Stalin dem riesigen Gemetzel der Säuberungen, die nicht nur alle MitarbeiterInnen Lenins, sondern auch viele seiner eigenen AnhängerInnen in der Zeit der Degeneration des Sowjetstaates vernichtet hatten, einschließlich der talentiertesten Chefs der Roten Armee und zahlloser völlig unschuldiger Menschen, einfach das krönende Verbrechen hinzu.

Allein Trotzkis Anwesenheit bedeutete, dass Mexiko-Stadt von NKWD-AgentInnen durchsetzt war. Viele von ihnen waren aus Spanien gekommen, als Franco schließlich triumphierte, wegen der gemeinsamen Sprache. Tatsächlich haben sich Beweise dafür ergeben, dass es in Mexiko-Stadt zwei aktive GPU-Netzwerke (GPU: Geheimpolizei der UdSSR ab Ende 1922) gab, die beide aktiviert werden sollten, um die Ermordung Trotzkis auszuführen.

Netzwerk

Das eine Netzwerk wurde „Pferd“ genannt, der Codename für den berühmten mexikanischen Wandmaler David Alfardo Siqueiros, ein führendes Mitglied der Kommunistischen Partei. „Pferd“ wurde von einem GPU-Agenten namens Josef Grigulewitsch geleitet, der von Alexander Orlow, einem General im NKWD, rekrutiert worden war. Sie waren beide Mitglieder der GPU-„Spezialeinheit“, die in Spanien die Folter am prominenten Führer der POUM, Andreu (Kastilisch: Andrés) Nin, durchführte. Im Sommer 1938 wurde letzterer nach Moskau zurückgerufen, wo er wegen seines Wissens um Stalins Verbrechen Gefahr lief, selbst liquidiert zu werden. Er lief daraufhin über und versuchte tatsächlich, Trotzki vor den AgentInnen zu warnen, die ihm auf den Fersen waren.

Siqueiros war zu dieser Zeit ein fanatischer Antitrotzkist, der den StalinistInnen gegenüber völlig loyal war. Er hatte die Verbindungen und konnte andere dazu bringen, bei einem Angriff zu helfen. Aber was die GPU brauchte, war ein Weg ins Haus. Am 1. Mai organisierten die StalinistInnen einen 20.000 Menschen starken Marsch durch Mexiko-Stadt, in dem die Vertreibung Trotzkis gefordert wurde, und ein Teil der Menge forderte auch seinen Tod. Die stalinistische Politik bestand darin, maximalen Druck auf die mexikanische Regierung auszuüben, um den russischen Dissidenten auszuweisen. Ihre Presse griff Trotzki regelmäßig an und behauptete, er sei in den Versuch verwickelt, entweder die Regierung zu destabilisieren oder, alternativ, unter Verletzung seiner Visa-Vereinbarungen, die Regierung zu beeinflussen.

Um 4 Uhr morgens am Morgen des 25. Mai schlug Siqueiros‘ Bande zu. Als PolizistInnen verkleidet, überraschten sie die PolizistInnen draußen, fesselten und knebelten sie und klopften an die Tür. Die AngreiferInnen betraten das Gelände des Hauses, nachdem einer der amerikanischen WächterInnen, Robert Sheldon Harte, die Tür geöffnet hatte. Als sie in den Innenhof gingen, stellten sie Maschinengewehrposten auf und eröffneten das Feuer auf das Haus, wobei sie über 300 Kugeln durch die Fenster und Wände jagten. Trotzki und Natalja Sedowa (2. Ehefrau Trotzkis) warfen sich unter das Bett, um in Deckung zu gehen. Ihr 14-jähriger Enkel tat das Gleiche und verletzte sich dabei nur leicht an herumfliegenden Glasscheiben.

Einer der Angreifer könnte sogar ins Schlafzimmer gegangen sein, um Schüsse durch die Matratze abzufeuern. Als die Angreifer zur Flucht durch das Tor ansetzten, warf einer von ihnen eine Granate in das Haus und verursachte ein Feuer. Es wurden auch drei Bomben geworfen, aber sie explodierten nicht richtig. Schließlich gelang es Otto Schüssler (Pseudonym: z. B. Oskar Fischer) und Charles Curtiss, zwei der Wach-SekretärInnen, das Haus zu betreten und zu Trotzkis Familie zu gelangen. Als sich der Rauch verzogen hatte, wurde wie durch ein Wunder niemand ernsthaft verletzt, aber sie entdeckten bald, dass Harte verschwunden war.

Kurz nach Ankunft der Polizei wurden Verdächtigungen über den Angriff geäußert. Einen Tag später verhaftete sie einige von Trotzkis Wachen und beschuldigte sie, einen „Selbstangriff“ organisiert zu haben, um zu versuchen, den StalinistInnen etwas anzuhängen. Dies wurde energisch bestritten. Wie Trotzki behauptete, wäre der Preis, der zu zahlen gewesen wäre, zu hoch für das Ansehen der Vierten Internationale gewesen und hätte seinen Aufenthalt in Mexiko gefährdet, wenn diese Verschwörung aufgedeckt worden wäre.

Bald richtete die Polizei ihr Augenmerk auf die Suche nach Harte. Hier wurden in der Folge eine Reihe interessanter Details bekannt. Mehrere Quellen haben auf Beweise hingewiesen, die darauf hinzudeuten scheinen, dass Harte ein NKWD-Agent war. Erstens behauptete Hartes Vater in einem Interview mit der mexikanischen Polizei, dass im Zimmer seines Sohnes ein Bild von Stalin an der Wand hinge. Andere Beweise deuteten darauf hin, dass Harte bei seiner Ankunft in Mexiko Zugang zu einer beträchtlichen Geldsumme hatte, sicherlich viel mehr als sein bescheidenes Gehalt als Wachmann ihm gegeben hätte. Es wurde vermutet, dass Harte von seinen FührungsoffizierInnen angewiesen worden war, die AngreiferInnen ins Haus zu lassen, und dass er dann in einem der Autos weggefahren worden war.

Noch schwerwiegender sind die Behauptungen einiger der AngreiferInnen, die ebenfalls implizieren, dass Harte sie zumindest kannte. Eine Untersuchung der mexikanischen Polizei führte zur Verhaftung mehrerer Personen, die alle in irgendeiner Weise mit der mexikanischen KP verbunden waren. Während des Verhörs gab einer der an dem Angriff beteiligten Männer zu, dass Harte beteiligt gewesen sei, er sei der Insider gewesen, der die Tür öffnen sollte. Nestor Sanchez Hernandez, Mitglied der Kommunistischen Partei und Veteran der Internationalen Brigaden, gab gegenüber der Polizei zu, dass er Harte mit einem nicht identifizierten „französischen Juden“, der einer der Organisatoren des Angriffs war, „nervös und freundlich“ sprechen gesehen habe.

Ein anderer Bericht identifiziert den Mann als Josef Grigulewitsch und beschreibt einen gewaltigen Streit, der zwischen ihm und Harte ausbrach, der sehr aufgeregt und verärgert wurde. Harte war verärgert und behauptete, ihm sei gesagt worden, dass die Absicht der Razzia nur darin bestand, die Archive zu zerstören. Als sie sich davonmachten und erkannten, dass die Absicht des Angriffs tatsächlich darin bestanden hatte, den alten Mann zu ermorden, fühlte sich Harte verraten. Vermutlich entschied die GPU, dass Harte eine tickende Zeitbombe sei und man ihm nicht trauen könne, seinen Mund zu halten. Seine Leiche wurde einen Monat später entdeckt, erschossen und auf dem Gelände einer Villa auf dem Land vergraben.

Trotzki schrieb einen Nachruf auf Harte und dementierte die bereits kursierenden Anschuldigungen, er sei ein stalinistischer Agent gewesen. Die Wahrheit wird vielleicht nie bekannt werden, aber ob Harte ein Agent war oder nicht, es ist klar, dass sich der Kreis um Trotzki schloss. Trotz offizieller Dementis seitens der Kommunistischen Partei Mexikos schickte David Siqueiros einen Brief an die Presse, in dem er erklärte: „Die Kommunistische Partei versuchte mit diesem Angriff lediglich, Trotzkis Vertreibung aus Mexiko zu beschleunigen; alle FeindInnen der Kommunistischen Partei können eine ähnliche Behandlung erwarten.“

Es war zweifellos nur eine Frage der Zeit, bis die amateurhafte Sicherheitsarbeit im Haus wieder überwunden war und die AttentäterInnen ihr Ziel trafen.

Das Haus wird zur Festung

Zu diesem Zeitpunkt wurde Trotzki von mehreren Mitgliedern der SWP bewacht, die für einen längeren Besuch nach Coyoacán entsandt wurden, bewaffnet und als Wachposten organisiert waren. Zu diesen WächterInnen gehörten Jake Cooper, Walter O’Rourke, Charles Cornell und Robert Sheldon Harte. Eine weitere Wache war Joseph Hansen, später ein wichtiger Führer der SWP. Er beschreibt die neuen Maßnahmen, die seit dem verpfuschten Versuch im Mai ergriffen wurden:

„Die Garde wurde verstärkt, schwerer bewaffnet. Es wurden kugelsichere Türen und Fenster eingebaut. Es wurde eine Feldschanze aus bombensicheren Decken und Böden gebaut. Doppelte Stahltüren, die durch elektrische Schalter gesteuert wurden, ersetzten den alten hölzernen Eingang, wo Robert Sheldon Harte von den GPU-AngreiferInnen überrascht und entführt worden war. Drei neue kugelsichere Türme überragten nicht nur den Innenhof, sondern auch die umliegende Nachbarschaft. Stacheldrahtverhaue und bombensichere Netze waren in Vorbereitung.“

Hansen sollte nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem wichtigen Führer der SWP in den USA werden, aber sein erstes Treffen mit Trotzki verlief nicht gut. Als Hansen gebeten wurde, einen Teil des Haushalts durch die Stadt und in die Wüste zu fahren, verirrte er sich hoffnungslos und ließ Trotzki mit der Frage zurück, ob der junge Amerikaner für seinen Posten in Mexiko geeignet sei.

Eine/r der US-TrotzkistInnen empfahl, die Wache nach dem Angriff im Mai zu professionalisieren. Er/Sie schlug einen neuen Anführer der Garde vor, Ray Rainbolt, einen Sioux-Indianer von Abstammung, ehemaligen Soldaten, der der Hauptmann der Teamster von Minneapolis gewesen war. Trotzki legte gegen diese Entscheidung ein Veto ein, da er mit zu vielen Wachen und mit einem Schutz, den er für übermächtig hielt, unzufrieden war.

Alles stand auf dem Spiel, der Tod des alten Mannes wäre eine Katastrophe für die Vierte Internationale gewesen, die damals unter den Hammerschlägen der unvermeidlichen Repression des Zweiten Weltkriegs litt.

Zu diesem Zeitpunkt lebten etwa acht oder neun Menschen dauerhaft in dem Haus, darunter Trotzki, Natalja, ihr Enkel Wsewolod Platonowitsch Wolkow, die Rosmers und andere. Manchmal hielten sich bis zu zwanzig Personen dort auf. Normalerweise gab es etwa vier Wachen.

Ramón Mercader

Nach dem Scheitern des Pferd-Netzwerks wurde ein zweiter Versuch gestartet. Die GPU wandte sich an Ramón Mercader, um die wichtigste Aufgabe von allen zu erledigen. Es war klar, dass Cárdenas (mexikanischer Präsident 1934 – 1940) in der Frage der Abschiebung Trotzkis nicht umkippen würde, und die Kommunistische Partei war in den Skandal um den Angriff im Mai verwickelt worden, nachdem Siqueiros stolz ihre Beteiligung daran zugegeben hatte. Die GPU wandte sich an Mercader, um die Sache zu Ende zu bringen.

Mercader verbrachte viel Zeit damit, sich Trotzki zu nähern. Er war mit Sylvia Ageloff in die USA gereist, mit einem gefälschten kanadischen Pass unter dem Namen Franc Jacson. Sie heirateten und hatten vor ihrer Reise nach Mexiko gemeinsam Zeit in New York verbracht. Er wartete auf den richtigen Augenblick, wartete monatelang, reiste oft zum Haus, um sie abzuholen, ging aber nie hinein. Er behielt seine Fassade als jemand bei, der kein Interesse an Politik hatte, obwohl er immer noch ein Anhänger der Vierten Internationale war.

Er nahm Kontakt zu anderen GPU-AgentInnen auf, die nach Mexiko entsandt worden waren, um mit der mexikanischen KP zusammenzuarbeiten und das Attentat zu orchestrieren. Ramón Mercader war nicht aktiv in die Kommunistische Partei Mexikos involviert, seine Undercover-Identität bot ihm Zeit, ohne jeglichen Druck der Polizei zu handeln. Lynn Walsh (Socialist Party, englische und walisische Sektion des CWI/Komitees für eine ArbeiterInneninternationale, KAI; vorher: Militant Tendency) schreibt 1980:

„Die Kampagne zur Vorbereitung der mexikanischen KP auf die Ermordung Trotzkis wurde von einer Reihe stalinistischer FührerInnen durchgeführt, die bereits Erfahrung darin hatten, die Befehle ihres Herrn in Moskau rücksichtslos auszuführen: Siqueiros selbst, der in Spanien aktiv gewesen war, wahrscheinlich ein GPU-Agent seit 1928; Vittoria Codovila, eine argentinische Stalinistin, die in Spanien unter [Oberst] Eitingon operiert hatte, wahrscheinlich an der Folterung und Ermordung des POUM-Führers Andrés Nin beteiligt; Pedro Checa, ein Führer der Kommunistischen Partei Spaniens im mexikanischen Exil (sein Name basierte auf einem Akronym des Wortes Tscheka); und Carlos Contreras (auch bekannt als Vittorio Vidali), der in der ,Sondereinheit‘ der GPU in Spanien aktiv gewesen war. Ihre Bemühungen wurden von dem allgegenwärtigen Colonel Eitingon koordiniert.“

Die Operation wurde von Pawel A. Sudoplatow, einem hochrangigen Offizier der GPU mit Sitz in Moskau, geleitet und vorbereitet. Er behauptete in seiner Biografie, er habe Ramón Mercader persönlich für die Durchführung des Attentats ausgewählt.

Durch Sylvia Ageloff begann Mercader die langsame und bewusste Aufgabe, sich seinem Ziel zu nähern, indem er sich zunächst bei Alfred und Marguerite Rosmer einschmeichelte. Durch kleine Gefälligkeiten, z. B. indem er die Rosmers herumfuhr oder Botengänge für sie erledigte, kam er seinem Ziel immer näher. Ageloff war jedoch immer sehr vorsichtig, wenn es darum ging, ihm jeglichen Kontakt mit dem Haushalt zu gestatten, wie Deutscher betont:

„Sylvia war vorsichtig genug, ,Jacson‘ [Mercader] niemals in Trotzkis Haus zu bringen – sie sagte Trotzki sogar, dass sein Besuch Trotzki unnötig in Verlegenheit bringen könnte, da ihr Mann mit einem falschen Pass nach Mexiko gekommen war. Tatsächlich wurde sein Zögern an den Türen des Hauses und sein Widerstreben hineinzukommen irgendwann von Trotzki bemerkt, der, da er ,Sylvias Mann‘ gegenüber nicht unhöflich erscheinen wollte, sagte, er solle ins Haus eingeladen werden.“

Mercader war ein geduldiger Mann und wartete seine Zeit am Rande des Trotzki-Kreises ab, um später Zugang zu ihm zu erhalten. Ageloff hegte sogar einige Bedenken gegen ihn. Als sie versuchte, ihn unter der Geschäftsadresse, die er ihr gab, zu kontaktieren, stellte sich diese als fiktiv heraus. Als sie ihn damit konfrontierte, erklärte er, er habe ihr eine alte Adresse gegeben und händigte ihr eine neue aus. Ein Freund besuchte das Objekt eines Tages und erfuhr, dass das Büro „Jacson“ gehöre. Erleichtert, dass seine neue Geschichte wahr zu sein schien, missachtete sie ihren Verdacht.

Mercader besuchte das Haus in Coyoacán zehnmal, wobei er nie versuchte, sich hineinzudrängen oder sich zu Trotzki zu weit vorzudrängen. Er näherte sich den Wachen, freundete sich mit ihnen an, und als er schließlich von den Rosmers eingeladen wurde, trank er bei zwei Gelegenheiten mit Trotzki Tee. Hansen erinnert sich an ein bestimmtes Gespräch:

„In einem Gespräch mit Jacson, an dem Cornell und ich teilnahmen, fragte Trotzki Jacson, was er von der ,Festung‘ halte. Jacson antwortete, dass alles gut arrangiert zu sein schien, aber ,beim nächsten Angriff wird die GPU andere Methoden anwenden‘. ,Welche Methoden?‘ fragte einer von uns.“

Hansen erinnerte daran, dass Mercader bei dieser Frage nur mit den Achseln zuckte.

Nach einiger Zeit machte Mercader seinen Zug. In den Monaten vor dem Angriff war er wiederholt geschäftlich in die USA zurückgekehrt. Jedes Mal, wenn er wiederkam, schien er noch verzweifelter und nervöser zu sein, und er begann auch, verschiedene Wege auszuprobieren, um Trotzki nahezukommen. Trotzki hatte ihn nie gemocht. Er fand „Jacson“ oberflächlich und abrupt, war aber bereit, ihn wegen seiner Beziehung zu Sylvia zu tolerieren. Mercader begann, ein Interesse an der Politik und den Debatten der Vierten Internationale vorzutäuschen. Er erörterte die Möglichkeit, einen Artikel zu schreiben, den er dann Trotzki bat, sich damit zu befassen. Trotzki stimmte dem zu.

Mercader kam am 20. August mit einem maschinengeschriebenen Manuskript eines Artikels ins Haus, einer Polemik gegen die dritte Lagerposition Shachtmans. Er sah Natalja im Garten und bat um ein Glas Wasser. Sie fragte ihn, ob er ihr seinen Hut und seinen Mantel aushändigen wolle, aber er lehnte ab. In seiner Hand, unter dem Mantel, umklammerte er den Eispickel, den er als Mordwaffe benutzen wollte. Er verbarg auch einen Dolch und eine Pistole, als er sich in Trotzkis Arbeitszimmer begab.

Nach dem Angriff gaben die Wachen zu, dass Vorkehrungen getroffen worden waren, um alle BesucherInnen zu durchsuchen und Trotzki nie mit einem Gast allein zu lassen, aber diese Verfahren waren nicht umgesetzt worden. In einem Interview mit Alan Woods im Jahr 2003 gab Trotzkis Enkel zu:

„ … die Vorkehrungen für Trotzkis Verteidigung waren äußerst mangelhaft. Im Augenblick der Wahrheit wurde Leo Dawidowitsch mit einem relativ Unbekannten allein gelassen, dem die Wachen im August in einem schweren Regenmantel, in dem ein Eispickel, ein langer Dolch und eine Pistole versteckt waren, in unglaublicher Weise erlaubt hatten, das Gebäude zu betreten. Die Wachen machten sich nicht einmal die Mühe, ihn zu ,filzen‘, bevor sie ihn in Trotzkis Arbeitszimmer ließen. Eine solch elementare Vorsichtsmaßnahme hätte ausgereicht, um die gesamte Mission abzubrechen. Aber diejenigen, die angeblich Trotzki verteidigen sollten, trafen nicht die elementarsten Vorsichtsmaßnahmen.“

Da nur die beiden im Büro waren, stand er hinter Trotzki. Als der alte Mann begann, den Artikel durchzulesen und Korrekturen vorzunehmen, zog er die Waffe heraus und stieß ihre Spitze gewaltsam in Trotzkis Kopf. Trotzki stieß einen lauten Schrei aus. Mercader beschrieb ihn anschließend der Polizei: „Ich nahm den ,Eispickel‘. Ich hob ihn hoch. Ich schloss meine Augen und schlug mit all meiner Kraft zu … Solange ich lebe, kann ich seinen Schrei nicht vergessen … “

Natalja beschreibt auch, wie sie einen „schrecklichen, markerschütternden Schrei“ hörte und in den Raum stürmte. Als die Wachen den Raum betraten, sahen sie, dass Trotzki Mercader zu Boden gerungen hatte. Charlie Cornell stürmte mit einer Pistole herein. Trotzki rief ihm zu: „Nein … es ist unzulässig zu töten, er muss zum Reden gezwungen werden.“ Hansen, Robins und Cornell hielten Mercader auf dem Boden fest, während die Polizei gerufen wurde. Natalja wiegte Trotzkis Kopf in ihrem Schoß, als sie versuchten, die Blutung zu stoppen. Trotzki flüsterte seiner Frau zu, dass er sie liebte, und sagte: „Jetzt ist es geschehen.“

Im Krankenhaus stand Hansen neben Trotzkis Bett. Der alte Mann rief ihn herbei und flüsterte seinem amerikanischen Genossen einige seiner letzten Worte ins Ohr. Die Worte waren langsam, schwankend und schwierig, er sprach sie auf Englisch, weil Hansen kein Russisch sprach. „Ich bin dem Tod nahe durch den Schlag eines politischen Attentäters … der mich in meinem Zimmer niedergestreckt hat. Ich kämpfte mit ihm … wir gingen hinein, sprachen über französische Statistiken … er schlug mich … Bitte sage unseren FreundInnen … ich bin mir des Sieges der Vierten Internationale sicher. Geht vorwärts!“ Natalja fragte Hansen, was ihr Mann gesagt hatte. Da er sie nicht mit etwas beunruhigen wollte, von dem er wusste, dass es wahrscheinlich Trotzkis letzte Worte sein würden, antwortete er: „Er wollte, dass ich eine Notiz über die französischen Statistiken mache“, und verließ den Raum.

Die ÄrztInnen arbeiteten hart, aber seine Wunde war zu tief und seine Jahre waren zu weit fortgeschritten. Trotzki starb am 21. August. Sein Körper wurde zwischen dem 22. und 27. August durch etwas geehrt, das einer „öffentlichen Aufbahrung“ nahekam. Etwa 300.000 Menschen kamen, um ihn zu sehen. Am 27. August wurde sein Leichnam eingeäschert. Er wollte seinen Leichnam vernichtet sehen, wie Hansen es beschreibt, so dass nur seine revolutionären Ideen übrigblieben. Schon der Gedanke an eine Mumifizierung, wie Stalin den Leichnam Lenins präparieren ließ, hätte den bekennenden Materialisten angewidert. Seine Asche wurde auf dem Gelände des Hauses in Coyoacán beigesetzt, dem Ort, der fast ein Gefängnis gewesen war, aber auch sein endliches Zuhause in den letzten Jahren seines Lebens.

Damit hatten die StalinistInnen den Mann niedergeschlagen, der sein ganzes Erwachsenenleben der Revolution gewidmet hatte. Den jungen Revolutionär, der Lenin am frühen Morgen aufgeweckt hatte, als er zum ersten Mal nach London kam, der während der Revolution von 1905 im Alter von 25 Jahren zum Vorsitzenden des ersten Petrograder Sowjets gemacht worden war. Er hatte für die Revolution drei Perioden Gefängnis und Exil erleiden müssen. Er war der populärste Redner der Bolschewiki unter dem Proletariat bei großen Versammlungen im Cirque Moderne in Petrograd 1917. Er leitete auch das Militärische Revolutionskomitee, das den Sturz der Provisorischen Regierung organisierte und die Losung Lenins verwirklichte: „Alle Macht den Sowjets!“

Trotzki hatte die Bildung der Roten Armee beaufsichtigt und ihre Verteidigung der Revolution gelenkt, als sie die vereinten Kräfte der ImperialistInnen und der Weißen Armeen besiegte. Während der Revolution und zum Zeitpunkt des BürgerInnenkriegs waren Lenin und Trotzki sich so nahe, dass während des größten Teils eines Jahrzehnts, wenn FeindInnen und FreundInnen von der Oktoberrevolution und dem jungen Sowjetstaat sprachen, sie sich immer auf Lenin und Trotzki bezogen. Dennoch war Trotzki das prominenteste Opfer der bürokratischen Degeneration der Russischen Revolution und erklärte eine unnachgiebige Opposition gegen Stalin, den er als den „Totengräber der Revolution“ bezeichnete und später als Kain, den Mörder seines Bruders, beschrieb.

Für diese Opposition bezahlte er mit seinem Leben, aber auch seine Kinder und viele seiner FreundInnen und GenossInnen. Zu seiner von „Kain Stalin“ getöteten Familie gehörte auch seine erste Frau Alexandra Sokolowskaja, die ihn 1897 für den Marxismus gewonnen hatte und 1938 erschossen wurde. Dann gab es seinen unpolitischen Sohn Sergei, der 1937 erschossen wurde, und Trotzkis engsten politischen Mitarbeiter, seinen anderen Sohn, Leo Sedow, der im Februar 1938 mit ziemlicher Sicherheit vom NKWD in einer Pariser Klinik ermordet wurde. Zu seinen jungen politischen KollaborateurInnen in den 1930er Jahren gehörten Erwin Wolf, der 1937 auf einer Mission in Spanien ermordet wurde, und Rudolf Klement, der Sekretär der Vierten Internationale, der im Juli 1938 in Paris ermordet wurde, als er die Gründungskonferenz der Vierten Internationale vorbereitete.

Die SWP organisierte am 28. August ein Treffen in New York. Cannon hielt eine Rede, die von dem tiefen Gefühl um den Verlust ihres politischen Führers und Leiters geprägt war und in der er die festeste Überzeugung der FührerInnen der Vierten Internationale von der Richtigkeit und Gerechtigkeit ihrer Sache darlegte. Cannon erklärte, wie wichtig die Ideen waren, für die Trotzki kämpfte:

„Er erklärte sie uns viele, viele Male. Einmal schrieb er: ,Nicht die Partei macht das Programm, sondern das Programm macht die Partei‘. In einem persönlichen Brief an mich schrieb er einmal: ,Wir arbeiten mit den korrektesten und mächtigsten Ideen der Welt, mit unzureichenden zahlenmäßigen Kräften und materiellen Mitteln. Aber richtige Ideen erobern auf lange Sicht immer die notwendigen materiellen Mittel und Kräfte und stellen sie sich selbst zur Verfügung‘.“

Cannon fuhr fort und verwies auf die Kontinuität des revolutionären Denkens von Marx, über Lenin bis hin zu Trotzki und zur gegenwärtigen Vierten Internationale:

„Wollen Sie eine konkrete Veranschaulichung der Macht der marxistischen Ideen? Denken Sie nur daran: Als Marx 1883 starb, war Trotzki erst vier Jahre alt. Lenin war erst vierzehn Jahre alt. Keiner von beiden konnte Marx oder irgendetwas über ihn wissen. Dennoch wurden beide durch Marx zu großen historischen Persönlichkeiten, weil Marx Ideen in der Welt verbreitet hatte, bevor sie geboren wurden. Diese Ideen lebten ihr eigenes Leben. Sie prägten das Leben von Lenin und Trotzki.“

Mit Absicht sprach Cannon über seinen Glauben an die Zukunft, über die Hoffnung, die er und die anderen RevolutionärInnen in die jüngeren Generationen setzten:

„Ebenso werden die Ideen Trotzkis, die eine Weiterentwicklung der Ideen von Marx sind, uns, seine JüngerInnen, die ihn heute überleben, beeinflussen. Sie werden das Leben weitaus größerer JüngerInnen prägen, die noch kommen werden, die Trotzkis Namen noch nicht kennen. Einige, die dazu bestimmt sind, die größten TrotzkistInnen zu werden, spielen heute auf den Schulhöfen. Sie werden von Trotzkis Ideen genährt werden, wie er und Lenin von den Ideen von Marx und Engels genährt wurden.“

Das Schicksal von Mercader

Mercader wurde für zwanzig Jahre ins Gefängnis gesteckt. Die mexikanischen Behörden waren unglücklich über russische AttentäterInnen, die in ihrem Land operierten, und wollten an ihm ein Exempel statuieren. Seine Mutter, selbst eine Schlüsselagentin der GPU in Spanien, die mit der Geheimpolizeieinheit in Verbindung stand, die auf die „Liquidierung von TrotzkistInnen“ spezialisiert war, erhielt eine Medaille, ebenso wie Mercader, als er schließlich nach Osteuropa zurückkehrte.

Eitingon und andere planten den Versuch, Mercader 1944 aus dem Gefängnis auszubrechen, wie aus den Akten der Nationalen Sicherheitsbehörde hervorgeht. Dieser Versuch hatte offensichtlich keinen Erfolg. Als er schließlich 1960 freigelassen wurde, flog er nach Havanna, wo er von Castros neuer Regierung willkommen geheißen wurde. Danach flog er in die UdSSR und wurde mit einer Medaille ausgezeichnet, dem „Helden der Sowjetunion“. Den Rest seines Lebens lebte er zwischen Osteuropa und Kuba. Celia Hart, eine Marxistin, die sich nach den 1960er Jahren sowohl mit der Kubanischen Revolution als auch mit dem Trotzkismus identifizierte, war besonders entsetzt über die Verbindung von Mercader mit ihrer revolutionären Heimat. „Ich kann nachts immer noch nicht schlafen, wenn ich daran denke, dass Mercader nach dem Triumph der Kubanischen Revolution in mein Land kam“.

Die StalinistInnen hatten eine Spur des Todes hinterlassen, um zu Trotzki zu gelangen, um zu versuchen, seine Ideen und seine kleine Organisation zu zerschlagen: zwei seiner Kinder, seine Ex-Frau, sieben seiner SekretärInnen und schließlich den alten Mann selbst. Dabei wurden die Zehntausenden von linken Oppositionellen, die in Russland ihr Leben verloren, nicht einmal mitgezählt. Nicht mitgezählt sind auch die vielen hundert TrotzkistInnen, die im kommenden Zweiten Weltkrieg ihr Leben verlieren würden, getötet entweder von den FaschistInnen oder den StalinistInnen.

Es ging darum, dass die Bewegung um Trotzki keine Sekte oder eine einfache Gruppe von „AnhängerInnen“ war, die in ihn verliebt waren, als sei er eine Berühmtheit. Sie waren kritisch denkende MarxistInnen, die in Trotzkis Kampf gegen Stalin die Fortsetzung einer marxistischen Politik angesichts einer ungezügelten politischen Reaktion sahen. Der Verlust Trotzkis war ein schwerer Schlag, ja der schwerste, den man sich vorstellen kann, da er der letzte Überlebende der großen Generation klassischer MarxistInnen und RevolutionärInnen war. Aber es war nicht der tödliche Schlag, den sich Stalin erhofft hatte, es war nicht der Gnadenstoß für die Vierte Internationale, so winzig und verfolgt sie auch war.

Während die StalinistInnen jahrzehntelang an der Spitze von Massenparteien und sogar siegreichen bürokratischen Revolutionen in China, Vietnam und Kuba aufblühten, stellten sie die TrotzkistInnen als eine pathetische Irrelevanz dar. Auch AkademikerInnen und westliche KommentatorInnen schlossen sich diesem Urteil an. Wenn Trotzki und die TrotzkistInnen jedoch wirklich keine Gefahr für Stalin gewesen waren, warum hatte er dann seit 1936 alles getan, was er konnte, um zu versuchen, sie durch die politischen Prozesse zu diffamieren, und um dann 1937 zu einer Politik der physischen Liquidierung überzugehen? War es einfach die Paranoia eines geistesgestörten Tyrannen? Wenn ja, warum setzten Stalins NachfolgerInnen diese Diffamierung des Trotzkismus fünfzig Jahre lang fort? Warum verlieh Leonid Breschnew 1961 Ramón Mercader bei einer Zeremonie im Kreml den Goldenen Stern des Lenin-Ordens für die Ausführung einer „besonderen Aufgabe“, der Ermordung Trotzkis?

Es war ganz einfach, weil Trotzki den revolutionären Geist und das befreiende Programm der bolschewistischen Partei, der Oktoberrevolution, der ersten Jahre des Sowjetstaates und der Kommunistischen Internationale repräsentierte. Er repräsentierte Zehntausende von linken Oppositionellen, die gegen die bürokratische Konterrevolution Stalins kämpften und bei dem Versuch umkamen. Nicht zuletzt hatte er das Erbe Lenins in den Kämpfen gegen den Faschismus während der 1930er Jahre weiterentwickelt.

Verkörpert in der 1938 erfolgten Gründung der Vierten Internationale und ihrem Programm „Der Todeskampf des Kapitalismus“ bleibt diese Tradition trotz der politischen Verzerrungen und Verbrechen, die viele so genannte TrotzkistInnen gegen sie begangen haben, ein wertvolles Vermächtnis für all jene, die in den kapitalistischen Krisen, Kriegen und Revolutionen des 21. Jahrhundert revolutionäre Parteien und eine revolutionäre Internationale wieder aufbauen wollen.




Die verratene Revolution

Trotzkis Analyse des Stalinismus

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 52, November 2019 (Erstveröffentlichung 2001)

Die russische Revolution war die erste erfolgreiche
proletarische Revolution, die einen ArbeiterInnenstaat errichtete. Sie wurde
somit zum wichtigen Bezugspunkt für alle, welche die kapitalistische
Gesellschaft ablehnen und nach einer Alternative suchen. Sie hat das Leben der
russischen ArbeiterInnenklasse, der Bauern-/Bäuerinnenschaft, der ganzen
Bevölkerung revolutioniert, den Frauen historisch erstmals das allgemeine und
gleiche Wahlrecht zugestanden, Abtreibung und Homosexualität legalisiert und
eine grundlegende Umgestaltung der Ökonomie unter ArbeiterInnenkontrolle und
-verwaltung begonnen.

Die Politik und Herrschaft Stalins sowie des Stalinismus
allgemein bedeuteten einen Bruch mit den revolutionären Zielen der Bolschewiki
und fügten dem Ansehen des Kommunismus in der ArbeiterInnenklasse und bei den
Unterdrückten weltweit immensen Schaden zu, indem er mit dieser reaktionären
Politik gleichgesetzt wurde.

„Die Sowjetunion ist aus der Oktoberrevolution als ein ArbeiterInnenstaat hervorgegangen. Die Verstaatlichung der Produktionsmittel als notwendige Voraussetzung der sozialistischen Entwicklung hat die Möglichkeit eines raschen Anwachsens der Produktivkräfte ermöglicht. Der Apparat des ArbeiterInnenstaates hat unterdessen eine völlige Entartung durchgemacht, wobei er sich von einem Werkzeug der ArbeiterInnenklasse zu einem Werkzeug der bürokratischen Gewalt gegen die ArbeiterInnenklasse verwandelt hat. Die Bürokratisierung eines rückständigen und isolierten ArbeiterInnenstaates und die Verwandlung der Bürokratie in eine allmächtige privilegierte Kaste sind die überzeugendste – nicht nur theoretische, sondern praktische – Widerlegung der Theorie des Sozialismus in einem Lande.

So schließt die Herrschaftsform der Sowjetunion bedrohliche Widersprüche ein. Aber sie bleibt immer noch die Herrschaftsform eines entarteten ArbeiterInnenstaates. Das ist die soziale Diagnose.

Die politische Prognose stellt sich als Alternative: entweder beseitigt die Bürokratie, die immer mehr zu einem Organ des Weltimperialismus in dem ArbeiterInnenstaat wird, die neuen Eigentumsformen und wirft das Land in den Kapitalismus zurück; oder die ArbeiterInnenklasse stürzt die Bürokratie und öffnet den Weg zum Sozialismus.“ (1)

Bevor wir auf Trotzkis Analyse näher eingehen, wollen wir
kurz einige Schwierigkeiten darstellen, die uns bei seinen Arbeiten begegnen.

Womit beginnen?

Erstens hat sich seine Analyse im Laufe der Entwicklung des
Stalinismus selbst verändert. Anders als wir hatte er es nicht mit einem
fertigen Phänomen zu tun, sondern mit einer komplexen, im Werden begriffenen
Erscheinung. Daher ändern sich auch Trotzkis Positionen zur stalinistischen
Bürokratie und seine politisch-programmatischen Schlussfolgerungen.

Zweitens ist Trotzki wie alle großen marxistischen
TheoretikerInnen zugleich Revolutionär, Politiker, Praktiker im besten Sinne
des Wortes. Seine Analyse erarbeitet er im Kontext der polemischen
Auseinandersetzung, der damit einhergehenden Zuspitzung einzelner Punkte und in
praktischer, revolutionärer Absicht. Ein bürgerlicher, anschauender Marxismus
ist ihm fremd.

Die dritte und wichtigste Schwierigkeit liegt im
widersprüchlichen Wesen nicht nur des Stalinismus, sondern des Übergangs vom
Kapitalismus zum Sozialismus selbst begründet. Der bleibende Wert von Trotzkis
Beitrag zum Verständnis der Sowjetgesellschaft und des Stalinismus liegt gerade
darin, den Ausgangspunkt der Betrachtung richtig zu wählen.

Entgegen etlichen zeitgenössischen und heutigen Vorwürfen,
die Trotzkis Theorie als „historisch befangen“ erklären, die seine Konzeption
des degenerierten ArbeiterInnenstaates zurückweisen, weil er „emotional“ an der
Oktoberrevolution hänge (Cliff u. a.) und sich trotz Stalin von der SU
nicht lösen könne oder umgekehrt wegen Stalin deren Entwicklungspotential
übersehen hätte (z. B. Deutscher), ist bei Trotzki ein enormes Maß an
Objektivität zu spüren. Sein Eintreten für die verbliebenen Errungenschaften
der Oktoberrevolution und den revolutionären Sturz der Bürokratie hat – wie wir
zeigen werden – nichts mit persönlicher Eitelkeit oder gar einer „Revanche an
Stalin“ zu tun.

Nach einem vergleichenden Überblick über die soziale und
politische Situation in der Sowjetunion 1935 wendet sich Trotzki der eigentlichen
Analyse der Sowjetgesellschaft zu. Er beginnt dabei nicht bei Stalin, ja
überhaupt nicht mit der Untersuchung einzelner Aspekte der frühen Sowjetunion,
sondern mit grundlegenden Betrachtungen des Übergangs vom Kapitalismus zum
Sozialismus. Der sozioökonomische Charakter der Sowjetunion und der Stalinismus
müssen aus den inneren Widersprüchen dieser Übergangsperiode erklärt werden.
Dieser Methode bleibt Trotzki grundsätzlich treu. Das weist ihn als großen
Vertreter des historischen Materialismus aus.

Er lehnt jede normative Herangehensweise ab. Es reicht, so
Trotzki, nicht aus nachzuprüfen, ob ein ArbeiterInnenstaat oder jedes andere
Phänomen der „Norm“, unseren Idealen entspricht.

„Das übliche Denken arbeitet mit solchen Vorstellungen wie Kapitalismus, Moral, Freiheit, ArbeiterInnenstaat usw. als festgelegten Abstraktionen, wobei es voraussetzt, dass Kapitalismus gleich Kapitalismus, Moral gleich Moral ist usw. Das dialektische Denken untersucht alle Dinge und Erscheinungen in ihrer unablässigen Veränderung, wobei es in den materiellen Voraussetzungen dieser Veränderungen jene kritische Grenze bestimmt, jenseits derer ‚A‘ aufhört ‚A‘ zu sein, ein ArbeiterInnenstaat aufhört, ein ArbeiterInnenstaat zu sein.

Der grundlegende Fehler des üblichen Denkens liegt darin, dass es sich mit bewegungslosen Eindrücken der Wirklichkeit zufrieden gibt, die aus ewiger Bewegung besteht. Durch weitere Annäherungen, Berichtigungen, Konkretisierungen gibt das dialektische Denken Vorstellungen einen reicheren Inhalt und größere Anpassungsfähigkeit (…).“ (2)

Trotzki verdeutlicht das anhand eines Vergleiches mit
Gewerkschaften:

„Die geschichtliche Entwicklung hat uns mit den unterschiedlichsten Gewerkschaften bekannt gemacht: kämpferischen, reformistischen, revolutionären, reaktionären, liberalen und katholischen. Anders verhält es sich mit dem ArbeiterInnenstaat. Diese Erscheinung beobachten wir zum ersten Mal. Daher resultiert die Neigung, die UdSSR ausschließlich unter dem Blickwinkel der Normen des revolutionären Programms zu betrachten. Indessen ist der ArbeiterInnenstaat eine objektive geschichtliche Tatsache, auf die verschiedene geschichtliche Kräfte einwirken und die, wie wir sehen, in vollen Widerspruch zu den ‚traditionellen Normen‘ geraten ist.“ (3)

Hier und an anderer Stelle verweist er darauf, dass wir
wenig gewonnen haben, wenn wir einfach eine Idealvorstellung des
ArbeiterInnenstaates mit dem Phänomen Sowjetunion vergleichen und zur
Schlussfolgerung gelangen, dass sie diesem Modell nicht entspricht.

Die wissenschaftliche Charakterisierung hat immer auch
programmatische und politische Konsequenzen. Ist die Sowjetunion nur ein
anderer, totalitärer, imperialistischer Staat, würde daraus z. B. im Krieg
gegen das faschistische Deutschland eine defaitistische Haltung des
Proletariats folgen.

Hinter der Charakterisierung degenerierter
ArbeiterInnenstaat steht für Trotzki jedoch, dass die Sowjetunion trotz der
Monstrosität der Stalin‘schen Herrschaft noch immer auf der Enteignung der
Bourgeoisie gründet, dass sich keine neue Kapitalistenklasse an die Macht
geschwungen hat und dass eine ArbeiterInnenrevolution gegen Stalin diese
Aufgabe nicht erneut erfüllen muss. Daher traten die TrotzkistInnen vor dem und
im Zweiten Weltkrieg für die Verteidigung der Sowjetunion gegen Nazi-Deutschland
und für den Sieg der UdSSR ein.

Revolutionäre Klasse

Trotzki versucht, das Problem des Übergangs im Anschluss an
Marx, Engels und Lenin sowohl theoretisch zu erschließen wie auch historisch –
in der Analyse der Entwicklung der Sowjetunion. In seinen Arbeiten greift
Trotzki die wichtige Erkenntnis des Marxismus auf, dass der Übergang zur
klassenlosen Gesellschaft, zum Kommunismus, nur über die politische
Machtergreifung der ArbeiterInnenklasse möglich ist.

Sie ist die einzige gesellschaftliche Kraft, die aufgrund
ihrer Stellung im Produktionsprozess zur vollständigen Umwälzung der
Gesellschaft, zur Befreiung der Menschheit von Ausbeutung und Unterdrückung
fähig ist. Der gesellschaftliche Charakter der kapitalistischen
Produktionsweise schafft die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit, das Leben der
Menschen bewusst zu gestalten und jede Form von Ausbeutung und Unterdrückung zu
überwinden.

Möglich ist das aber nur, wenn sich die Arbeitenden, die den
Reichtum der Gesellschaft schaffen, dieser Notwendigkeit bewusst werden. Das
passiert nicht spontan. Das Proletariat ist vielmehr selbst in der
Warenwirtschaft verhaftet, es ist von chauvinistischen, sexistischen, usw.
Vorurteilen geprägt, die sie an die bestehende Gesellschaft fesseln.

Damit diese Klasse wirklich revolutionär wird und einen
konsequenten Kampf für ihre eigene Emanzipation führen kann, muss gegen alle
Formen der Unterdrückung und Ausbeutung agiert werden. Es bedarf dazu des
Kampfes gegen bürgerliches und kleinbürgerliches Bewusstsein und jede Form
unterdrückerischen Verhaltens unter den Ausgebeuteten. Nur durch die Verbindung
von Kampf, Organisierung und Bewusstsein wird das Proletariat befähigt, den
revolutionären Sturz des bestehenden Ausbeutungssystems herbeizuführen und dem
Marktwahnsinn der Profitwirtschaft ein Ende zu bereiten. Das ist die notwendige
Vorbedingung, damit die Potenzen der Gesellschaft zur freien und allseitigen
Entfaltung aller Menschen genutzt werden können. Es gibt nur eine
Gesellschaftsformation, in der das möglich ist: die kommunistische, das Ziel
der proletarischen Revolution.

Diese Erkenntnis muss zusammen mit einem weiteren wichtigen
Unterschied zwischen bürgerlicher und sozialistischer Revolution verarbeitet
werden. Beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus konnte sich die
entstehende Bourgeoisie auf eine lange historische Phase der Entwicklung
kapitalistischer Produktionsverhältnisse im Schoße der Feudalgesellschaft
stützen. Schon lange bevor die Aristokratie ihre politische Macht verlor und
diese an die Kapitalistenklasse abzutreten gezwungen war, begannen die
bürgerliche Produktionsweise, das Vordringen von Geldwirtschaft und Manufaktur,
die feudale Produktionsweise von innen zu zerstören.

Wie Engels zu Recht feststellt, war die Umwälzung der
politischen Verhältnisse, die Zerstörung der feudalen Ordnung nicht einfach ein
„Nachvollzug“ des ökonomischen Voranschreitens, sondern notwendig, um die neue
Produktionsweise von den feudalen Fesseln zu befreien. Dem/r KönigIn musste der
Kopf abgeschlagen werden. Die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse mussten
über die Landesgrenzen ausgedehnt werden – und sei es mit den Bajonetten der
napoleonischen Armee.

In den bürgerlichen Revolutionen gelangte die Bourgeoisie
auf Basis der Mobilisierung der Volksmassen an die politische Macht. Auch dort,
wo es der Feudalaristokratie gelang, diese wieder zu erlangen, wo die
Revolutionen scheiterten und die Exekutivgewalt in den Händen der
konterrevolutionären Aristokratie blieb, war an eine Restauration des
gesellschaftlichen Systems des Feudalismus nicht mehr zu denken. Der
Kapitalismus und erst recht das Fabriksystem hatten die Mauern der alten
Ordnung zu diesem Zeitpunkt schon so gründlich zerstört, dass der ehemals
herrschenden Klasse nur übrig blieb, sich mit der Kapitalistenklasse zu
arrangieren und, wie z. B. in Deutschland oder der Habsburger Monarchie,
die rasch wachsende Angst der BürgerInnen vor dem sich bildenden Proletariat zu
einem möglichst großzügigen Arrangement für KaiserIn, KönigIn und JunkerIn zu
nutzen.

In jedem Fall aber blieb die kapitalistische
Produktionsweise die vorherrschende, weil sie schon in der Feudalgesellschaft
ihre historische Überlegenheit gezeigt hatte, weil sich die Bourgeoisie mit
ihrer Entwicklung zur herrschenden Klasse bereits auf ein überlegenes,
bürgerliches System der Produktion und Distribution stützen konnte.

Die Bedeutung der politischen Machtergreifung

Die ArbeiterInnenklasse kann sich jedoch vor der
revolutionären Machtergreifung auf kein solches System stützen. Der
Kapitalismus entwickelt zwar die Voraussetzungen des Kommunismus und seine
inneren Widersprüche drängen notwendig zum Sturz dieser Klassengesellschaft –
aber im Kapitalismus entwickelt sich keine zukünftige sozialistische
Produktionsweise.

Die Kapitalistenklasse entwickelte sich organisch aus
Geldwirtschaft, Handel und Handwerk im Feudalismus. Sie konnte ihre ökonomische
Vorherrschaft, lange bevor sie zur politisch herrschenden Klasse wurde, auf der
Grundlage einer neuen, historisch überlegenen Produktionsweise vorbereiten, die
sich neben der und gegen die feudale Produktionsweise entwickelte.

Die Kapitalistenklasse entwickelte sich aus den
Zwischenklassen, Mittlerinnen der Feudalgesellschaft, nicht aus der
unterdrückten Produzentenklasse der Leibeigenen, Hörigen oder abhängigen
Bauern/Bäuerinnen. Sie entwickelte sich aus dem Kampf der Stadt gegen das Land,
aus dem Kampf neu entstehender Mittelklassen, die sich oft selbst aus
ehemaligen, entflohenen Leibeigenen rekrutierten. So war es möglich, dass sie
sich nach der politischen Machtergreifung bereits auf die ökonomische
Vorherrschaft stützen konnte.

Für das Proletariat besteht diese Möglichkeit nicht. Gerade
weil die kapitalistische Produktionsweise auf der Ausbeutung der Arbeiterinnen
und Arbeitern als Klasse von LohnrbeiterInnen basiert, die Mehrwert und Kapital
produzieren, kann diese Klasse nicht im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft
ihre eigene Produktionsweise schaffen. Sie muss vielmehr zuerst ihre
gesellschaftliche Stellung zur politischen Machtergreifung nutzen, zur eigenen
Klassenherrschaft gelangen, um auf dieser Grundlage die Gesellschaft gründlich,
bewusst und planmäßig umzugestalten. Nach der Machtergreifung muss sich die
ArbeiterInnenklasse nicht nur mit der bürgerlichen Konterrevolution
auseinandersetzen, sie kann nur über die bewusste Umwälzung der vom
Kapitalismus übernommenen Verhältnisse zur klassenlosen Gesellschaft
voranschreiten.

„In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtische Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen – erst dann kann der bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahnen schreiben: jeder nach seinen/ihren Fähigkeiten, jedem/r nach seinen/ihren Bedürfnissen.“ (4)

Der Sturz der bürgerlichen Herrschaft erfordert eine
bewusste Klassenführung, erfordert ein Bewusstsein von der Aufgaben der Klasse.
Nach der Revolution wird die Frage des Bewusstseins der Klasse nicht weniger
bedeutend. Das Proletariat kann nach Marx´ Auffassung den Staat nicht einfach
„abschaffen“, wie die AnarchistInnen glauben, es muss vielmehr für eine Periode
des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus selbst die Staatsmacht ausüben,
um sich gegen die innere und äußere bürgerliche Konterrevolution zu verteidigen
und diese zu unterdrücken.

„Zwischen der kapitalistischen und kommunistischen Gesellschaft liegt eine Periode der revolutionären Umwälzung der einen in die andere. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts anderes sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats.“ (5)

Welchen Staat braucht das Proletariat?

Schon vor der Revolution von 1848 vertraten Marx und Engels die Auffassung, dass die ArbeiterInnenklasse die politische Macht erringen müsse, um ihre ökonomische Befreiung erwirken, um Ausbeutung und Unterdrückung beseitigen und schließlich den Weg zu einer klassenlosen Gesellschaft ebnen zu können. Das kommt auch im Kommunistischen Manifest zum Ausdruck: „Wir sahen schon oben, dass der erste Schritt in der ArbeiterInnenrevolution die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie ist.“ (6)

Welche Staatsform zur Befreiung des Proletariats notwendig
sei, was mit dem schon existierenden Staatsapparat geschehen müsse – das war
damals noch nicht mit Inhalt gefüllt. Doch schon die Errichtung der
bonapartistischen Diktatur Napoleons III. 1851 in Frankreich führte Marx und
Engels zu wichtigen neuen Erkenntnissen in Bezug auf den Staat. Der bürgerliche
Staat ist nicht einfach eine Institution, die der Herrschaft jeder beliebigen
Klasse – egal ob ausbeutend oder nicht – dienen kann.

Im Gegenteil, er dient in jeder Form – egal ob als
parlamentarische Demokratie oder als Diktatur, ob als Republik oder Monarchie –
der Aufrechterhaltung und Befestigung der Macht des Bürgertums. Das trifft
selbst dann zu, wenn VertreterInnen des Proletariats z. B. die Mehrheit im
Parlament hätten, da das eigentliche Machtzentrum des Staates nicht bei den
Abgeordneten, sondern im Staatsapparat selbst liegt, bei der Bürokratie, der
Justiz vor allem bei Armee und Polizei.

Das Proletariat kann daher die bürgerliche Staatsmaschine,
so die Schlussfolgerung von Marx und Engels, nicht einfach übernehmen. Sie muss
vielmehr zerbrochen oder, wie sich Lenin in „Staat und Revolution“ ausdrückt,
zerschlagen werden. In einem berühmten Brief an Ludwig Kugelmann vom 12. April
1871 macht Marx seine Auffassung besonders deutlich:

„Wenn Du das letzte Kapitel meines ,Achtzehnten Brumaire‘ nachsiehst, wird Du finden, dass ich als nächsten Versuch der französischen Revolution ausspreche, nicht mehr wie bisher die bürokratisch-militärische Maschinerie aus einer Hand in die andere zu übertragen, sondern sie zu zerbrechen, und dies ist die Vorbedingung jeder wirklichen Volksrevolution auf dem Kontinent.“ (7)

Genau das, so Marx, habe die Kommune im Unterschied zu allen
Revolutionen vor ihr gemacht. Sie hat nicht mehr den bestehenden Staatsapparat
einfach übernommen, ihre Leute auf hoch dotierte Bürokratenposten gesetzt und
ihnen damit ermöglicht, sich über jene zu stellen, die sie in diese Position
gebracht haben. Sie hat den Staatsapparat sozusagen vom Himmel auf die Erde
geholt – indem sie ihn zerschlagen und durch einen völlig neuartigen „Staat“,
die Kommune, ersetzt hat.

Die Kommune wurde durch Abgeordnete gebildet, die in den
Bezirken von Paris durch allgemeines Stimmrecht gewählten wurden. Das Besondere
dabei war erstens, dass diese ihren WählerInnen jederzeit verantwortlich und
von diesen absetzbar waren. Anders als in der bürgerlichen Gewaltenteilung
üblich, waren gesetzgebende und ausführende Tätigkeit in einer Körperschaft
vereint. Zweitens durften alle Mitglieder der Kommune und Ausführende sonstiger
öffentlicher Tätigkeiten nicht mehr als einen ArbeiterInnenlohn beziehen, um
dem im bürgerlichen Staat üblichen Karrierismus vorzubeugen.

Alle öffentlichen Funktionen, die auch unter der Herrschaft
des Proletariats notwendig sind, wurden in die direkte Selbstverwaltung der
arbeitenden Bevölkerung überführt. Sie verwirklichte auf ihre Art den
„schlanken Staat“ – ohne MinisterialbeamtInnen, HofrätInnen und tausende andere
HonoratiorInnen, die das „Wohl der Allgemeinheit“ vor allem zum Mittel ihrer
eigenen Bereicherung auf Kosten der Allgemeinheit machen.

Gleich im ersten Dekret, das die Kommune erließ, räumte sie
auch entschlossen mit der bewaffneten Macht des alten Staatsapparats auf. Das
stehende Heer wurde abgeschafft und durch die Bewaffnung des ganzen Volkes
ersetzt. Ebenso wurden alle RichterInnen und sonstigen JustizbeamtInnen ihrer
scheinbaren Unabhängigkeit entkleidet und sollten wie alle übrigen Ämter
gewählt, verantwortlich und jederzeit absetzbar sein.

Die Diktatur des Proletariats

Die Kommune ging natürlich auch daran, die geistigen
Hilfsmächte der alten Ordnung, vor allem den Klerus, in die Schranken zu weisen
und Symbole des Kaiserreichs, der Reaktion und des Chauvinismus zu zerstören.
Die Religion wurde aus den Schulen verbannt und Grundbesitz und sonstige
kommerzielle Unternehmungen der Kirche wurden enteignet. Die Siegessäule
Napoleons und die als Sühne für die Hinrichtung Ludwigs XVI. errichtete
Bußkapelle wurden geschliffen, die Guillotine öffentlich verbrannt.

Nicht zuletzt ging auch die Kommune in den wenigen Wochen
ihres Bestehens daran, in die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse einzugreifen.
Mietschulden der ArbeiterInnen wurden für nichtig erklärt und die Nachtarbeit
bestimmter Berufe wie der BäckerInnen verboten. Am 16. April wurde eine
statistische Erfassung der von den Unternehmern stillgelegten Fabriken und die
Ausarbeitung von Plänen für ihren Betrieb und ihre Leitung durch in
Kooperativen vereinigte Arbeiter und Arbeiterinnen begonnen.

In nur wenigen Wochen hatte die Kommune, getragen vom
arbeitenden Paris, für das Interesse der Massen mehr geleistet als sämtliche
bürgerliche WeltverbessererInnen der Geschichte zusammen. Zweifellos hatte auch
die Kommune ihre Schwächen. Sie hatte es versäumt, rechtzeitig der bürgerlichen
Konterrevolution in Versailles militärisch entgegenzutreten, bevor diese
ähnliche Versuche in großen französischen Städten niederschlagen und
schließlich das Pariser Proletariat im Bürgerkrieg niedermachen konnte. Sie
hatte es versäumt, solche grundlegenden ökonomischen Maßnahmen wie die
Beschlagnahme der Bank von Frankreich durchzuführen und damit der bürgerlichen
Konterrevolution ein wichtiges Machtmittel zu entreißen.

Doch all das ändert nichts an der weltgeschichtlichen
Bedeutung dieser ersten Machtergreifung der ArbeiterInnenklasse, dieser ersten
Errichtung der Diktatur des Proletariats in der Geschichte. Auf den ersten
Blick erscheint es seltsam, diese demokratischste aller Demokratien, die
direkte Selbstverwaltung der arbeitenden Bevölkerung als Diktatur zu
bezeichnen. Doch das ist nur ein scheinbarer Widerspruch. Entgegen den
bürgerlichen ApologetInnen erkennen wir, dass jeder demokratische Staat in
seinem Kern eine Diktatur ist. Der bürgerliche Staat – egal welche Partei auch
an seiner Spitze steht und welche Herrschaftsform er annimmt – bleibt immer ein
Instrument zur Aufrechterhaltung der Profitwirtschaft und des Privateigentums
an den Produktionsmitteln, also ein Instrument zur Diktatur der herrschenden
Klasse, des Kapitals, über die von ihr ausgebeutete Klasse, die
ArbeiterInnenklasse.

In der Diktatur des Proletariats verkehrt sich die Diktatur
einer winzigen Minderheit über die große Mehrheit der Bevölkerung in jene der
überwältigenden Mehrheit über die Minderheit, um deren Ausbeutung und
Unterdrückung national wie weltweit zurückzudrängen. Wenn wir hier von Diktatur
sprechen, anerkennen wir, dass der ArbeiterInnenstaat einen bewussten Kampf
gegen Unterdrückung und Ausbeutung führen muss. Um dabei erfolgreich zu sein,
stützt er sich – wie die Kommune – auf die weitestgehende Demokratie (tagtäglich
und nicht bloß alle vier Jahre) in Form eines Rätesystems. Dies ist die
Herrschaftsform des ArbeiterInnenstaates für die Übergangsperiode zum
Sozialismus, während der in der Gesellschaft der Klassenwiderspruch (etwa in
Form des Kleinbürgertums) noch existiert.

Während die Bourgeoisie wie alle ausbeutenden Klassen die
Unterdrückten zu täuschen versucht, indem sie den Klassencharakter des
bürgerlichen Staats und der Demokratie leugnet, haben KommunistInnen nichts zu
verbergen. Uns geht es darum, den Arbeitern und Arbeiterinnen politische
Klarheit zu vermitteln. Wir treten offen für unsere Auffassungen ein. Wir
bezeichnen den Staat der Übergangsperiode als Diktatur, weil er wie jeder Staat
ein Herrschaftsinstrument einer Klasse gegen eine andere ist und weil wir aus
allen bisherigen Versuchen des Sturzes des Kapitalismus wissen, dass wir ein
solches Instrument zum Kampf gegen die bürgerliche Konterrevolution brauchen.
Wer die proletarische Diktatur ablehnt, ist in Wirklichkeit gezwungen, weiter
die Diktatur der KapitalistInnen zu dulden.

Schon wenige Tage nach der Niederlage der Kommune, am 30.
Mai, präsentierte Marx vor dem versammelten Generalrat der Internationalen
ArbeiterInnenassoziation, die später als die Erste Internationale in die
Geschichte eingehen sollte, die Schrift „Der Bürgerkrieg in Frankreich” (MEW
Bd. 17, S. 313–365). Dort legt er erstmals die wesentlichen Schlussfolgerungen
über die Pariser Kommune nieder.

„Die Mannigfaltigkeit der Deutungen, denen die Kommune unterlag, und die Mannigfaltigkeit der Interessen, die sich in ihr ausgedrückt fanden, beweisen, dass sie eine durch und durch ausdehnungsfähige politische Form war, während alle früheren Regierungsformen wesentlich unterdrückend gewesen waren. Ihr wahres Geheimnis ist dies: Sie war wesentlich eine Regierung der ArbeiterInnenklasse, das Resultat des Kampfes der hervorbringenden gegen die aneignende Klasse, die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte.

Ohne diese letzte Bedingung war die Kommunalverfassung eine Unmöglichkeit und Täuschung. Die politische Herrschaft des/r ProduzentIn kann nicht bestehen neben der Verewigung seiner/ihrer gesellschaftlichen Knechtschaft. Die Kommune sollte daher als Hebel dienen, um die ökonomischen Grundlagen umzustürzen, auf denen der Bestand der Klassen und der Klassenherrschaft ruht.“ (8)

Mit der Kommune war endlich die Form gefunden, durch die die
bürgerliche Staatsmaschinerie in der proletarischen Revolution zu ersetzen ist
– ein Ziel jedes wirklich sozialistischen Programms, das sowohl durch
sozialdemokratische wie durch stalinistische Staatsgläubigkeit fast verloren
ging.

Anders als der bürgerliche Staat ist die Kommune eine
Staatsform, die in dem Maß, wie der Aufbau des Sozialismus im internationalen
Maßstab voranschreitet, die, je mehr die Klassengegensätze planmäßig überwunden
werden, selbst aufhört, ein Staat, ein Mittel einer Klasse zur Unterdrückung
einer anderen zu sein. Gerade weil die Kommune einen Mechanismus darstellt zur
Aufhebung der Trennung von Staat und Gesellschaft (jederzeitige Wahl- und
Abwahl öffentlicher FunktionärInnen, ArbeiterInnengehalt), ist sie eine
Staatsform, die schon die Möglichkeit des Absterbens des Staates in sich trägt.

Mit ihr – nicht mit den stalinistischen Imitationen des
bürgerlichen Staates – ist der Übergang zur klassenlosen Gesellschaft und damit
zur Überwindung des „ganzen Staatsplunders“ (Engels) möglich. Lenin und die
Bolschewiki knüpften an diese Tradition von Marx und Engels an. In seiner Schrift
„Staat und Revolution“ greift Lenin die Erkenntnis auf, nicht nur die
Staatsmacht zu ergreifen, sondern auch die existierende bürgerliche
Staatsmaschinerie zu zerschlagen und durch einen proletarischen Halbstaat zu
ersetzen.

„Beamtentum und stehendes Heer, das sind die ‚SchmarotzerInnen‘ am Leib der bürgerlichen Gesellschaft, SchmarotzerInnen, die aus den inneren Widersprüchen, die diese Gesellschaft zerklüften, entstanden sind, aber eben ParasitInnen, die die Lebensporen ‚verstopfen‘.“ (9)

Das Programm der Bolschewiki

Er schlägt daher in der Tradition der Pariser Kommune
Maßnahmen vor, um die Herausbildung einer neuen Bürokratie und deren
Verfestigung zu einer Kaste zu verhindern:

Erstens tritt er entschieden für die Wahl und jederzeitige
Abwählbarkeit aller staatlichen FunktionärInnen ein; zweitens darf das Gehalt
dieser FunktionärInnen den Lohn der ArbeiterInnen nicht überschreiten; drittens
sollen die Aufsichts- und Kontrollfunktionen unter allen Mitgliedern der
Gesellschaft rotieren, so dass für eine begrenzte Zeit jede/r „BürokratIn“ wäre
– und somit niemand lebenslang BürokratIn werden kann.

Zweifellos haben die Bolschewiki schon zu Lebzeiten Lenins
von diesem Programm viele Abstriche machen müssen. Sie haben, um die russische
Revolution zu verteidigen, sogar in vielen Fällen zu ganz und gar dem Programm
entgegengesetzten Maßnahmen greifen müssen. Deutlich wird das z. B. im
Fall der Gründung der Roten Armee.

Wollte man einen normativen Maßstab an die Russische
Revolution und die Sowjetunion anlegen, so müsste man die Oktoberrevolution vom
ersten Moment der Machtergreifung an für gescheitert erklären. Die
AnarchistInnen tun das konsequenterweise – in totaler Verkennung und Ignoranz
gegenüber den inneren Widersprüchen der Übergangsperiode. Für die AnarchistInnen
und Ultralinken löst sich die Frage im Endeffekt in der Losung nach sofortiger
Umsetzung bestimmter programmatischer „Marotten“ auf. Schaffen wir den Staat ab
– dann hat sich alles gelöst. Dasselbe trifft auf die frühen ultralinken
KritikerInnen zu. Warum wird das Geld, wird der Warentausch nicht einfach
„abgeschafft“? Warum gehen die Bolschewiki gegen die Kronstädter Matrosen vor?
Verletzt das nicht alles die Reinheit der Revolution und ihrer „Prinzipien“?

Das Problem der Übergangsperiode besteht aber gerade darin,
dass wir es hier mit einem Widerstreit zweier gesellschaftlicher Prinzipien –
dem Wertgesetz und bewusster gesellschaftlicher Planung, der alten bürgerlichen
Gesellschaft und der zukünftigen sozialistischen – zu tun haben. Die Übergangsgesellschaft
ist – anders als Sozialismus und Kommunismus – keine eigene
Gesellschaftsformation, sie ist vielmehr ein Übergangsregime, wo sich die alte,
bürgerliche Produktionsweise und die neue, erst embryonal vorhandene
sozialistische einen Kampf auf Leben und Tod liefern.

Die übernommenen, mehr oder weniger starken bürgerlichen
Elemente können nur auf Basis einer Entwicklung der Produktivkräfte, die weit
höher als die des fortgeschrittensten Kapitalismus ist, überwunden werden. Auch
bei günstigen inneren und äußeren Umständen (und die lagen in der frühen
Sowjetunion nicht vor) kann das zur Macht gekommene Proletariat das Wertgesetz
nicht einfach „abschaffen“. Es muss vielmehr die gesellschaftlichen
Bedingungen, und das bedeutet u. a. ein bestimmtes Niveau der
Vergesellschaftung der Produktion, herstellen, um diesen Schritt auch real
durchführen zu können. Ansonsten wird sich das Wertgesetz nur blind zur Geltung
bringen.

Wurzeln der Stalinisierung

Ein typisches Beispiel ist der in den stalinistischen Staaten
florierende Schwarzmarkt, der überall dort wucherte, wo die offizielle
Produktion nicht ausreichte und Engpässe existierten. Ein historisches Beispiel
für einen Kompromiss mit den gesellschaftlichen Bedingungen stellt die
Zulassung von Marktmechanismen im Zuge der Neuen Ökonomischen Politik 1922 dar,
als der Staat nicht fähig war, den Bauern/Bäuerinnen im Tausch für ihre
landwirtschaftlichen Produkte Maschinen anzubieten, und diese daher wenig
Anreiz zur Produktion hatten, solange sie ihre Produkte nicht verkaufe konnten,
sondern an den Staat abliefern mussten.

Trotzki beschreitet auf dieser Linie einen grundsätzlich
anderen Weg als die AnarchistInnen und Ultralinken, einen grundsätzlich anderen
Weg als alle normativen AnalytikerInnen. Er erklärt die bürokratische Entartung
der Diktatur des Proletariats in der Sowjetunion mit der Rückständigkeit und
der internationalen Isolierung des Landes, dem Ausbleiben der internationalen
Revolution.

„Die revolutionäre Nachkriegskrise führte jedoch nicht zum Sieg des Sozialismus in Europa: Die Sozialdemokratie rettete die Bourgeoisie. Die Periode, die Lenin und seine erfahrenen KampfgenossInnen als eine kurze ‚Atempause‘ (gemeint ist der Frieden von Brest-Litowsk und die Phase unmittelbar danach; d. A.) erschien, dehnte sich auf eine ganze historische Epoche aus. Die widersprüchliche gesellschaftliche Situation der UdSSR und der ultra-bürokratische Charakter ihres Staates sind direkte Folgen dieser einzigartigen, ‚unvorhergesehenen‘ historischen Stockung, die gleichzeitig in den kapitalistischen Ländern zum Faschismus oder zur präfaschistischen Reaktion führte.“ (10)

Die Rückständigkeit der Sowjetunion (und in diesem Sinne die
Problematik jedes Landes, das „selbstständig“ den Weg zum Sozialismus
einschlagen wollte) drückt sich in inneren Klassenwidersprüchen aus, den
gegensätzlichen Interessen von Proletariat und Bauern-/Bäuerinnenschaft, in der
Rückständigkeit der Produktivkräfte und damit in der Unmöglichkeit, Preise,
Geld, Wert usw. einfach abzuschaffen. Aus dieser inneren Widersprüchlichkeit
erklärt Trotzki den Aufstieg der Bürokratie in der frühen Sowjetunion.

„Scheiterte der anfänglich unternommene Versuch, einen vom Bürokratismus gereinigten Staat zu schaffen, vor allem an der Unerfahrenheit der Massen in der Selbstverwaltung und am Mangel von dem Sozialismus ergebenen, qualifizierten ArbeiterInnen, so tauchten schon sehr bald hinter diesen unmittelbaren Schwierigkeiten andere, tiefer liegende auf. Die Reduktion des Staats auf die Funktionen eines ‚Revisors und Kontrolleurs‘ bei ständiger Verminderung seiner Zwangsfunktionen, wie es das Programm fordert, setzt doch ein gewisses Maß von allgemeinem materiellen Wohlstand voraus. Gerade diese notwendige Voraussetzung aber fehlte. Die Hilfe des Westens blieb aus. Die Macht der demokratischen Sowjets erwies sich als hinderlich, ja, als unerträglich, als es darum ging, die für Verteidigung, Industrie, Technik und Wissenschaft unentbehrlichen privilegierten Gruppen zu versorgen. Auf Grund dieser keineswegs ‚sozialistischen‘ Operationen, ,zehnen wegnehmen, um einem/r zu geben‘, kam es zur Absonderung und Vermehrung einer mächtigen Kaste von SpezialistInnen an der Futterkrippe.“ (11)

Die frühe Sowjetunion war aufgrund ihrer imperialistischen
Umkreisung, des Bürgerkriegs und v. a. der ökonomischen Rückständigkeit
gezwungen, die Entwicklung der Produktivkräfte voranzutreiben – nicht zuletzt,
um den Gegensatz zwischen ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen, aber auch
innerhalb der ArbeiterInnenklasse – überbrücken zu können. Statt Überfluss und
Reichtum wurde vor allem der Mangel vergesellschaftet – und wo Mangel herrscht,
stellt sich die Notwendigkeit eines/r RegulatorIn der Verteilung ein, eines/r
„SchiedsrichterIn“ über den Klassen. Diese Funktion nahm der Staat wahr. Das
gesellschaftliche Gewicht, und damit auch die Bedeutung der Bürokratie, nahmen
zu.

Bis zu einem gewissen Grad ist das eine innere Notwendigkeit
(auch eines gesunden) ArbeiterInnenstaates. Aber die bürokratischen Tendenzen
führen beim Ausbleiben der internationalen Revolution zu einer inneren
Entartung, zu einer politischen Konterrevolution – gegen Sowjetdemokratie,
gegen die Partei, gegen den Kommunismus. Trotzki greift dabei die Marx‘sche
Sicht auf, dass die Entwicklung zum Sozialismus nicht durch die automatische Entwicklung
der Eigentumsverhältnisse garantiert wird. Anders als beim Übergang vom
Feudalismus zum Kapitalismus haben sich im Kapitalismus keine überlegenen,
sozialistischen Produktionsverhältnisse herausgebildet, die nach der Revolution
den Weg zum Sozialismus unabhängig von bewusster menschlicher Tätigkeit,
Lenkung – d. h. von ArbeiterInnendemokratie und Planung – sichern könnten.

In der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus
bedarf es einer als Staatsmacht organisierten ArbeiterInnenklasse: der Diktatur
des Proletariats. Doch was passiert, wenn die politische Herrschaft dem in
Räten organisierten Proletariat entgleitet, wenn die revolutionäre Vorhut der
Klasse liquidiert, wenn die politische Herrschaft des Proletariats zur
Herrschaft der Bürokratie wird, wenn die revolutionäre Partei selbst entartet?

Der degenerierte ArbeiterInnenstaat

Es findet, so Trotzki, eine politische Konterrevolution
statt. Während die ökonomischen Grundlagen der Oktoberrevolution
(Verstaatlichung, Planwirtschaft, Außenhandelsmonopol) weiter in Kraft sind,
während das Wertgesetzt noch nicht dominierender Regulator der Wirtschaft ist,
wird die politische Macht bei der einstigen „Schiedsrichterin“ im
Verteilungskampf des nachkapitalistischen Mangels konzentriert. Dadurch wird
die Bürokratie aber noch nicht zu einer neuen herrschenden Klasse.

„Die Verstaatlichung von Grund und Boden, industriellen Produktionsmitteln, Transport und Verkehr bilden mitsamt dem Außenhandelsmonopol in der UdSSR die Grundlage der Gesellschaftsordnung. Diese von der proletarischen Revolution geschaffenen Verhältnisse definieren für uns im wesentlichen den Charakter der UdSSR als den eines proletarischen Staates.“ (12)

Die Bürokratie als herrschende Schicht reproduziert sich auf
Grundlage dieser sozialen Verhältnisse, d. h. auf Grundlage der Enteignung
der Kapitalistenklasse. Zweifellos erwachsen daraus soziale Privilegien,
plündert die Bürokratie das gesellschaftliche Mehrprodukt und verteilt es nach
ihren Interessen. Das macht sie zwar zu einer überaus repressiven und
reaktionären Erscheinung, es macht sie jedoch zu keiner neuen herrschen Klasse
oder einer „kollektiven“ Kapitalistenklasse.

Die Bourgeoisie im Kapitalismus reproduziert sich über ihr
Eigentum an den Produktionsmitteln, das sie innerhalb ihrer Klasse weiterreicht
(vererbt). Zum/r KapitalistIn aufzusteigen, setzt eine Mindestmenge Kapital in
eigenen Händen voraus. Zur Reproduktion der Klasse ist es keinesfalls
notwendig, dass die KapitalistInnen die politische Macht persönlich ausüben. Das
können sie ruhig bezahlten FunktionärInnen – bürgerlichen, kleinbürgerlichen,
reformistischen PolitikerInnn – überlassen. In der Tat ist das gerade in den
fortgeschrittenen bürgerlichen Staaten üblich.

Die herrschende Bürokratenkaste in der Sowjetunion und in
den späteren stalinistischen Ländern Osteuropas, in China, Kuba usw. hat sich
nicht so reproduziert. Die Macht des/r BürokratIn, vor allem aber die
Reproduktion der Bürokratie als Gesamtheit war wesentlich politisch, über
Staats- und Parteifunktionen, über die Hierarchie einer politischen Institution
vermittelt. Das drückt auch der Terminus Nomenklatura deutlich aus.

Fällt der/die BürokratIn aus der Rolle, gibt es innerhalb
der Bürokratie politische Säuberungen, so kann ein/e BürokratIn seine/ihre gesellschaftliche
Macht und Privilegien verlieren. Er/Sie besitzt kein Privateigentum, das er/sie
an seine/ihre Kinder weiterreichen könnte. Er/Sie hat auch keine
Verfügungsgewalt, sobald er/sie aus dem Kreis der politischen Macht verstoßen
ist.

Das ist nicht nur individuelles Schicksal eines/r
FunktionärIn, es ist ein Problem der gesamten Kaste. Sie kann sich auf keine
besonderen Eigentumsformen stützen. Sie ist vielmehr gezwungen, mit ihren
Methoden das staatliche Eigentum zu verteidigen.

„Der Versuch, die Sowjetbürokratie als eine Klasse von ‚StaatskapitalistInnen‘ hinzustellen, hält der Kritik sichtlich nicht stand. Die Bürokratie hat weder Aktien noch Obligationen. Sie rekrutiert, ergänzt, erneuert sich kraft einer administrativen Hierarchie, ohne Rücksicht auf irgendwelche, ihr eigenen Besitzverhältnisse. Der/Die einzelne BeamtIn kann seine/ihre Anrechte auf die Ausbeutung des Staatsapparates nicht weitervererben. Die Bürokratie genießt ihre Privilegien in missbräuchlicher Weise. Sie verschleiert ihre Einkünfte. Sie tut, als existiere sie gar nicht als besondere soziale Gruppe.“ (13)

Genau diese gesellschaftlich widersprüchliche Lage der
Bürokratie bringt auch Isaac Deutscher in „Die unvollendete Revolution“ sehr
gut zum Ausdruck. Die Einkünfte des Staatsapparates, der Parteihierarchie, der
Militärs, der Managergruppen stammen aus dem Mehrprodukt der Arbeitenden. Das
hat die Bürokratie mit jeder Ausbeuterklasse (nicht nur mit den
KapitalistInnen) gemein.

„Aber was dieser sogenannten neuen Klasse fehlt, ist Eigentum. Sie besitzen weder Produktionsmittel noch Boden. Ihre materiellen Privilegien sind auf die Sphäre des Verbrauchs beschränkt. (…) Sie können ihren Nachkommen keinen Reichtum hinterlassen; das heißt, sie können sich nicht als Klasse verewigen.“ (14)

Auch die Darstellung, dass die Bürokratie als „kollektive“
Kapitalistin fungiere, lässt sich nur aufrechterhalten, wenn der Begriff des
Kapitals vollkommen seiner wissenschaftlichen Bedeutung entleert wird.
Kapitalismus bedeutet Produktion für Profit – und zwar immer wiederkehrende,
fortgesetzte Aneignung von Mehrwert, seine Verwandlung in Profit und
Wiederverwendung des angeeigneten Mehrwerts, um noch mehr Profit zu
erwirtschaften. Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos, rastlos, führt zu
immer wiederkehrender Umwälzung und Revolutionierung der Produktion (wie auch
der Zirkulationssphäre). Kapital ist sich selbst verwertender Wert, der/die
KapitalistIn ist Personifikation dieser Bewegung.

Diese rastlose, ständige Suche nach immer profitableren
Anlagemöglichkeiten des Kapitals, dessen Zweck die Vermehrung abstrakten
Reichtums ist (und nicht irgendein bestimmter Gebrauchswert), ist der
Bürokratie fremd. Die Wirtschaft der UdSSR oder der DDR war nicht dadurch
bestimmt oder getrieben, immer mehr Wert zu schaffen. Im Gegenteil: die
Wirtschaftspolitik der Bürokratie war auf die Produktion bestimmter
Gebrauchswerte ausgerichtet – wenn auch in erster Linie solcher, die ihrer
eigenen Machterhaltung, ihren Konsumbedürfnissen und dem Druck der
ArbeiterInnenschaft entsprachen.

Das Wertgesetz machte sich natürlich auf verschiedene Art
und Weise auch in den degenerierten ArbeiterInnenstaaten geltend. Wie jede
Übergangsgesellschaft waren sie von einem Wettstreit zwischen Planung und
Wertgesetz gekennzeichnet, zwischen zwei verschiedenen gesellschaftlichen
Systemen.

Der kapitalistische Weltmarkt wirkte ebenso ins Innere der
Planwirtschaft, wie auch bestimmte, für die kapitalistische Ökonomie typische
Formen – z. B. die Lohnform – erhalten blieben (und bis zu einem gewissen
Grad aufrechterhalten werden mussten). Aber diese Formen waren dem System der
(bürokratischen) Planung untergeordnet. Sie machten die herrschende Bürokratie
zu keiner neuen Kapitalistenklasse, so sehr das manche/r FunktionärIn insgeheim
vielleicht auch wollte.

Ebenso wenig konnte das vom Westen angestachelte Wettrüsten
die internen Mechanismen der bürokratischen Planwirtschaft außer Kraft setzen,
auch wenn es die sowjetische Wirtschaft zunehmend belastete. Die Konkurrenz auf
dem Weltmarkt, das Wettrüsten sowie die zunehmende Verschuldung trugen
eindeutig zur Beschleunigung des Niedergangs der Wirtschaft der degenerierten
ArbeiterInnenstaaten bei. Die lange wirtschaftliche Instabilität nach 1989 und
die Schwierigkeiten bei der Wiedereinführung der Profitwirtschaft verdeutlichen
jedoch, wie tief verankert die nachkapitalistische Produktionsweise nach wie
vor war.

Die Monopolisierung der politischen Macht in den Händen der
Bürokratie verleiht ihr auf Grundlage der nachkapitalistischen Verhältnisse
zweifellos eine Machtfülle, wie es für die Bürokratie im Kapitalismus unüblich
ist (und wie sie am ehesten in faschistischen oder staatskapitalistischen
Regimes der halbkolonialen Welt, aber auf anderer, kapitalistischer Grundlage,
anzutreffen ist).

Die Kontrolle über die Verteilung des gesellschaftlichen
Reichtums darf daher nicht auf die Aneignung persönlicher Privilegien und
Plünderung im Eigeninteresse von Partei- und StaatsfunktionärInnen eingeengt
werden. Das ist ein, gerade für „sozialistische“ Staaten besonders
abscheulicher Vorgang. Das politische Machtmonopol der Bürokratie bedeutet
auch, dass die Wirtschaftsentwicklung von ihr kontrolliert wird, neue Vorhaben,
die Verteilung des Reichtums auf verschiedene Sektoren, von ihren politischen
Entscheidungen bestimmt werden.

Dies führt dazu, dass die Grundlagen der Planwirtschaft von
innen unterhöhlt werden. Die Bürokratie ist nicht einfach eine schlechte
Sachwalterin des Übergangs zum Sozialismus, ihre Herrschaft ist ein Hindernis,
das – wird es nicht rechtzeitig durch eine ArbeiterInnenrevolution beseitigt –
früher oder später zur Rekapitalisierung führt.

Die Bürokratie ist weder willens noch fähig, eine bewusste
Lenkung der Wirtschaft in Richtung Sozialismus zu gewährleisten. Dazu ist eine
funktionierende ArbeiterInnendemokratie unabdingbar. Hinzu kommt, dass die
Herrschaft der Bürokratie gleichzeitig dazu führt, dass das Klassenbewusstsein
des Proletariats, der noch immer gesellschaftlich herrschenden Klasse, mehr und
mehr zerstört wird.

Der Staat der Bürokratie

Die politische Machtergreifung der Bürokratie bedeutet in
der frühen Sowjetunion den Vollzug einer inneren politischen Konterrevolution.
Sie geht mit der Zerstörung aller Elemente des proletarischen Halbstaates, der
Räte und räteähnlicher Strukturen, aller Formen der ArbeiterInnen- und
Parteidemokratie einher.

Wie wir oben gesehen haben, war auch die frühe Sowjetunion
gezwungen, im Interesse der Sicherung der Revolution auf bürgerliche Strukturen
und Formen zurückzugreifen. Solche Schritte können auch für zukünftige
Revolutionen nicht ausgeschlossen werden, wenn auch ihre weltgeschichtliche
Dramatik geringer sein mag. Auch der revolutionärste ArbeiterInnenstaat kann,
ja wird für eine bestimmte Phase gezwungen sein, auf bürgerliche Organe wie
eine Bürokratie zurückzugreifen. Diese Schritte „prinzipiell“ abzulehnen,
bedeutet in Wirklichkeit nur, die Notwendigkeit einer Übergangsperiode vom
Kapitalismus zum Kommunismus, einer Diktatur des Proletariats, die organisierte
Herrschaft der Mehrheit gegen die alten AusbeuterInnen abzulehnen.

Es stellt jedoch einen qualitativen Schritt dar, wenn sich
die bürokratischen Auswüchse, die vom Proletariat notgedrungen benutzten
bürgerlichen Organe in ein Vehikel der politischen Machtergreifung einer
Staatsbürokratie verwandeln. Es ist kein Zufall, dass dieser Prozess in der
Sowjetunion erst nach einem langen, für alle Oppositionellen, vor allem aber
für genuine kommunistische InternationalistInnen vom Schlage Trotzkis,
tödlichen Kampf abgeschlossen war.

Das Proletariat ist für Trotzki daher eine gleichzeitig
herrschende und unterdrückte Klasse:

„,Wie soll sich unser politisches Gewissen nicht empören‘, sagen die Ultralinken, ‚wenn man uns glauben machen will, in der UdSSR, wo Stalin regiert, sei das ‚Proletariat‘ die ‚herrschende‘ Klasse …?! In so abstrakter Form kann diese Behauptung tatsächlich ‚empören‘. Aber es ist doch so, dass abstrakte Kategorien, die für eine Analyse notwendig sind, für eine Synthese, die so konkret wie möglich sein soll, überhaupt nicht taugen. Das Proletariat in der UdSSR ist die herrschende Klasse in einem zurückgebliebenen Land, wo nicht einmal die elementarsten Lebensbedürfnisse befriedigt sind. Das Proletariat in der UdSSR herrscht in einem Land, das nur ein Zwölftel der Menschheit umfasst, über die übrigen elf Zwölftel herrscht der Imperialismus. Die Herrschaft des Proletariats, die schon aufgrund der Rückständigkeit und Armut des Landes missgestaltet ist, wird durch den Druck des Weltimperialismus doppelt und dreifach deformiert. Das Herrschaftsorgan des Proletariats, der Staat, wird zu einem Organ des imperialistischen Drucks (Diplomatie, Armee, Außenhandel, Ideen und Sitten). Historisch gesehen findet der Kampf um die Herrschaft nicht zwischen Proletariat und Bürokratie statt, sondern zwischen Proletariat und Weltbourgeoisie. Die Bürokratie nimmt in diesem Kampf nur die Funktion eines Transmissionsriemens ein. (…) Der faschistischen und demokratischen Bourgeoisie reichen Stalins einzelne konterrevolutionäre Taten nicht aus; sie benötigt eine vollständige Konterrevolution in den Eigentumsverhältnissen und die Öffnung des russischen Marktes. Solange das nicht der Fall ist, hält sie den Sowjetstaat für feindlich. Und hat recht damit.“ (15)

Im Zuge ihrer politischen Machteroberung musste die Bürokratie
einen ihren Bedürfnissen entsprechenden Staatsapparat, einen seiner Form,
seinem Typus nach bürgerlichen schaffen. Trotzki verweist in seinen Schriften
mehrmals darauf. Er erkennt, dass der Staatsapparat in der Sowjetunion geradezu
abstoßende Ähnlichkeit mit dem im Faschismus aufweist.

„Seine Entstehung verdankt der Sowjetbonapartismus letzten Endes der Verspätung der Weltrevolution. Dieselbe Ursache aber erzeugte in den kapitalistischen Ländern den Faschismus. Wir gelangen zu einer auf den ersten Blick überraschenden, doch in Wirklichkeit unabweislichen Schlussfolgerung: Die Erstickung der Sowjetdemokratie durch die allmächtige Bürokratie geht, ebenso wie die Zerschlagung der bürgerlichen Demokratie durch den Faschismus, auf ein und dieselbe Ursache zurück – die Verspätung des Weltproletariats bei der Lösung der ihm von der Geschichte gestellten Aufgabe. Stalinismus und Faschismus sind trotz des tiefen Unterschiedes ihrer sozialen Grundlagen symmetrische Erscheinungen. In vielen Zügen sind sie sich erschreckend ähnlich. Der Weltrevolution den Rücken kehrend hat die Stalin‘sche Bürokratie auf ihre Weise recht: sie folgt lediglich ihrem Selbsterhaltungstrieb.“ (16)

Form und Inhalt

Der Widerspruch zwischen der Form des Staatsapparates und
der ökonomischen Struktur der Gesellschaft ist keineswegs einzigartig in der
Geschichte. Auch beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus finden sich
lange Perioden, wo ein Widerspruch zwischen Staatsform und ökonomischen
Verhältnissen zu finden ist. Engels verweist darauf z. B. im Anti-Dührung:

„Diesem gewaltigen Umschwung der ökonomischen Lebensbedingungen der Gesellschaft folgte indes keineswegs sofort eine entsprechende Änderung ihrer politischen Gliederung. Die staatliche Ordnung blieb feudal, während die Gesellschaft mehr und mehr bürgerlich wurde.“ (17)

Auch die ersten Monate nach der Oktoberrevolution, als die
proletarische Diktatur über eine kapitalistische Wirtschaft herrschte, waren
von einem solchen Widerspruch gekennzeichnet. Die Formel, dass der Charakter des
Staates durch die Eigentumsverhältnisse, die vorherrschen, bestimmt sei, hilft
uns also gerade in Übergangsperioden nicht weiter.

„Aber kennt die Geschichte nicht Fälle eines Klassengegensatzes zwischen Staat und Wirtschaft? Sehr wohl! Als der Dritte Stand die Macht eroberte, blieb die Gesellschaft noch mehrere Jahre lang feudalistisch. Während der ersten Monate des Sowjetregimes herrschte das Proletariat über eine bürgerliche Ökonomie. In der Landwirtschaft stützte sich die Diktatur des Proletariats mehrere Jahre lang auf eine kleinbürgerliche Wirtschaft (in erheblichem Maß ist das auch heute noch der Fall). Im Falle einer erfolgreichen bürgerlichen Konterrevolution in der UdSSR müsste sich die neue Regierung für eine längere Zeitspanne auf die nationalisierte Wirtschaft stützen. Was bedeutet dann aber ein derartiger zeitweiliger Gegensatz zwischen Staat und Wirtschaft? Er bedeutet Revolution oder Konterrevolution. Der Sieg einer Klasse über eine andere bedeutet doch, dass die Wirtschaft im Interesse des/r SiegerIn umgestaltet wird. Aber ein solcher zwiespältiger Zustand, der ein notwendiges Stadium jedes sozialen Umsturzes ist, hat nichts gemein mit der Theorie eines klassenlosen Staates, der wegen der Abwesenheit des/r wirklichen HerrIn von einem/r Kommis, d. h. der Bürokratie, ausgebeutet wird.“ (18)

Trotzki hat daher eine wesentlich dynamischere Sichtweise
des Verhältnisses von Inhalt und Form des Staatsapparates.

„Die Klassennatur eines Staates ist folglich nicht durch seine politische Form, sondern durch den sozialen Inhalt bestimmt, d. h. den Charakter jener Eigentumsformen und Produktionsverhältnisse, die der jeweilige Staat schützt und verteidigt.“ (19)

Diese Definition hat zwei Vorteile. Erstens erlaubt sie den
Widerspruch zwischen Form und Inhalt bzw. Funktion des Staatsapparates zu
beachten. Zweitens ist die Betonung des „Schützens“ und „Verteidigens“ der
Produktionsverhältnisse sehr viel dynamischer als z. B. die Aussage, der
Charakter des Staates beruhe auf den vorherrschenden Eigentumsverhältnissen.
Trotzki stellt damit die aktive, bewusste Rolle der Staatsmacht beim Übergang
vom Kapitalismus zum Sozialismus in Rechnung. Die Sicherung des Übergangs zum
Sozialismus hängt somit von der Staatsmacht ab.

„Die bürgerliche Gesellschaft hat in ihrer Entwicklung oft das politische Regime und die bürokratischen Kasten gewechselt, ohne ihre sozialen Grundlagen zu ändern. Gegen eine Wiederherstellung der Leibeigenschaft und des Zunftwesens schützte sie die Überlegenheit ihrer Produktionsweise. Die Staatsmacht konnte die kapitalistische Entwicklung fördern oder hemmen, doch im Allgemeinen verrichteten die Produktivkräfte auf Grundlage des Privateigentums und der freien Konkurrenz ihr Werk selbständig. Hingegen sind die aus der sozialistischen Revolution hervorgegangenen Besitzverhältnisse unlösbar an den neuen Staat, ihren Träger gebunden. Die Vorherrschaft sozialistischer Tendenzen über die kleinbürgerlichen ist keineswegs durch den Automatismus der Wirtschaft gesichert – bis dahin ist es noch weit –, sondern durch politische Maßnahmen der Diktatur. Der Charakter der Wirtschaft hängt somit völlig von dem der Staatsmacht ab.“ (20)

Für Trotzki ergeben sich aus der Analyse der Bürokratie und
ihrer Herrschaft zwei Alternativen: proletarische politische Revolution oder
Restauration des Kapitalismus.

Auch zur Restauration des Kapitalismus sieht er zwei Wege:
Sturz durch eine offen bürgerliche Partei; die Wandlung der (Spitze der)
Bürokratie zur herrschenden Klasse. In beiden Fällen geht die Eroberung der
Staatsmacht durch eine konterrevolutionäre Partei, die politischer Ausdruck
einer (neu) entstehenden herrschenden Klasse ist, der Umwandlung der Wirtschaft
in eine kapitalistische voraus!

Nach 1989 haben wir beide Wege erlebt, teilweise in
Mischform. In den beiden folgenden Artikeln werden wir uns sowohl der Expansion
wie dem Untergang des Stalinismus zuwenden.

Konterrevolutionäres Wesen des Stalinismus

Trotzki erkennt durchaus an, dass die stalinistische
Bürokratie aufgrund des Drucks anderer Klassenkräfte zu partiellen progressiven
Maßnahmen fähig war. Er nahm auch zur Kenntnis, dass das auch die territoriale
Expansion mit einschließen konnte. Diese analysierte er am Beispiel Finnlands
und Polens. Im Gegensatz zu den stalinistischen ApologetInnen erkannte er
jedoch den widersprüchlichen Charakter dieser Ausdehnung des degenerierten
ArbeiterInnenstaates, die in ihrer Gesamtheit in die konterrevolutionäre
Politik Stalins eingebettet war. Trotzki verdeutlicht das am
Hitler-Stalin-Pakt, der Teilung Polens, die mit der Umwälzung der
Eigentumsverhältnisse in Ostpolen einherging.

„Die ihrem Charakter nach revolutionäre Maßnahme der ‚Expropriation der AusbeuterInnen‘ wird im vorliegenden Fall auf militärisch-bürokratischem Wege durchgeführt. Der Aufruf zur Selbsttätigkeit der Massen in den neuen Gebieten – und ohne einen solchen Appell, mag er auch noch so vorsichtig sein, kann das neue Regime nicht errichtet werden – wird zweifellos morgen von unbarmherzigen Polizeimaßnahmen unterdrückt werden, um der Bürokratie das Übergewicht über die aufgerüttelten revolutionären Massen zu garantieren. Das ist die eine Seite der Sache. Doch gibt es auch eine andere. Um über ein militärisches Bündnis mit Hitler die Möglichkeit einer Okkupation Polens zu schaffen, hat der Kreml lange die Massen der UdSSR und der ganzen Welt getäuscht und täuscht sie weiterhin. Damit hat er den völligen Zerfall seiner eigenen Komintern heraufbeschworen. Das wichtigste Kriterium der Politik ist nicht die Umwandlung des Eigentums auf dem einen oder anderen Teilterritorium, wie wichtig es an und für sich auch sein möge, sondern der Wandel der Bewusstheit und Organisiertheit des internationalen Proletariats und die Steigerung seiner Fähigkeit, alte Errungenschaften zu verteidigen und neue zu machen. Unter diesem allein entscheidenden Gesichtspunkt aufs Ganze gesehen ist die Politik Moskaus nach wie vor reaktionär und bleibt das Haupthindernis auf dem Wege zur internationalen Revolution.“ (21)

Trotzkis Verständnis des konterrevolutionären Charakters der
Bürokratie und ihrer Politik schloss die generelle Einschätzung der
herrschenden Kaste als Krebsgeschwür, als Totengräberin des
ArbeiterInnenstaates ein. Diese Prognose hat sich mit dem Fall des Stalinismus
bestätigt.

Wie viele RevolutionärInnen vor ihm unterschätzte er jedoch
den Zeitrahmen, in dem sich die theoretische Vorhersage praktisch bewahrheiten
sollte. Trotzki ging davon aus, dass die Bürokratie als herrschende Kaste den
Zweiten Weltkrieg nicht überleben würde. Er war sich sicher, dass der Kreml
entweder von der faschistischen Konterrevolution oder von der proletarischen
politischen Revolution zu Fall gebracht würde. Wie wir wissen, traf diese
kurzfristige Prognose nicht ein. Der Stalinismus überlebte den Weltkrieg und
konnte sein Herrschaftsgebiet, sein Prestige, seine Macht ausdehnen.

Diese Expansion des Stalinismus und die ab Ende der 1940er
Jahre stattfindende Etablierung einer konterrevolutionären Nachkriegsordnung
hatte die revolutionäre Vierte Internationale nicht vorhergesehen. Sie
verwirrte die Kader politisch und führte zu einer Revision der Analyse Trotzkis
durch die Hauptströmungen dieser Tendenz, zur politischen Degeneration und zur
organisatorischen Zersplitterung.

Die politische Revolution

Trotzkis Programm im Kampf gegen den Stalinismus wandelte sich
in den letzten beiden Jahrzehnten seines Lebens. In den 1920er Jahren vertrat
die Linke Opposition in der UdSSR einen Kurs der Reform des
ArbeiterInnenstaates, den Kampf um die Wiederbelebung der Partei- und
Sowjetdemokratie, den Kampf um einen umsichtigen Ausbau des staatlichen Plans
und den Kampf um einen klaren, internationalistischen Kurs der Sowjetunion und
der Komintern.

Die politischen Niederlagen der Kommunistischen
Internationale begünstigten Stalins Aufstieg und stärkten die Bürokratie. Auf
den ersten Blick ist das paradox. Es wird jedoch verständlich, wenn wir uns die
soziale Situation in den 1920er Jahren vor Augen halten. Die sowjetische
ArbeiterInnenklasse und ihre Avantgarde waren durch den Bürgerkrieg und die
ökonomischen Verwerfungen des Kriegskommunismus ermattet, der revolutionäre
Elan der Klasse verringert.

Gleichzeitig war die Partei gezwungen, auf wirtschaftlichem
Gebiet mit der Neuen Ökonomischen Politik einen umfassenden taktischen Rückzug
anzutreten, um angesichts des Ausbleibens der Revolution im Westen die
Produktion v. a. im Agrarsektor wieder anzukurbeln.

Zweifellos wurde dieser Prozess durch ökonomische Regularien
(Einpersonenleitung in den Betrieben) und falsche politische Maßnahmen
(Fraktionsverbot) begünstigt. Es wäre jedoch ganz und gar idealistisch, die
Degeneration der russischen Revolution und die politische Machtergreifung der
Bürokratie aus diesen Fehlern, aus Maßnahmen der politischen Führung erklären
zu wollen. Die Wurzeln liegen viel tiefer: in der ökonomischen Rückständigkeit
des Landes, in den inneren Klassenwidersprüchen, dem sozialen Bedarf nach einer
Bürokratie.

Das Proletariat und die Masse der Bauern/Bäuerinnen sind
oder werden passiv. Die Bürokratie – z. T. aus ExpertInnen und
FunktionärsträgerInnen des alten Regimes rekrutiert, zum Teil aus Partei- und
ArbeiterInnenkadern – erscheint als das tätige, aktive Element der
Sowjetgesellschaft. Was am Beginn als funktionaler Unterschied erscheint, die
Übernahme einer bestimmten gesellschaftlichen Funktion des Leitens, verfestigt
sich mehr und mehr zu einem sozialen Unterschied.

Es ist kein Zufall, sondern notwendiges Element des
Aufstiegs der Bürokratie, dass sie mit der revolutionären Tradition der
Oktoberrevolution theoretisch und praktisch brechen muss.

Theoretisch vollzieht sie das in der Abwendung vom
Internationalismus. Die Theorie vom Aufbau des Sozialismus in einem Land
ersetzt die Ausrichtung auf die Internationalisierung der Revolution.

Praktisch vollzieht sich das über die Unterordnung der
Interessen des Weltproletariats unter jene der Kremlbürokratie – zuerst, in
China, noch tastend, später mit der Volksfrontpolitik in Frankreich, dem
Hitler-Stalin-Pakt, der Liquidierung der Spanischen Revolution dann ganz offen
konterrevolutionär.

Die Herrschaft der Bürokratie kann keine Opposition dulden,
schon gar keine linke. Die Moskauer Prozesse sind ein notwendiges Element des
Stalinismus, nicht einfach „Fehler“ oder „Exzesse“.

Die Bürokratie muss gestürzt werden!

All das führt Trotzki zu einer zentralen programmatischen
Schlussfolgerung: Die herrschende Kaste muss vom Proletariat durch eine neue
politische Revolution hinweggefegt werden. Ansonsten sind die Errungenschaften
der Oktoberrevolution früher oder später vollständig verloren. Die Herrschaft
der Bürokratie ist keine lange Phase der Weltgeschichte, sondern eine nicht
notwendige Episode.

„Der neue Aufschwung der Revolution in der UdSSR wird ohne jeden Zweifel unter dem Banner des Kampfes gegen die soziale Ungleichheit und die politische Unterdrückung beginnen. Nieder mit den Privilegien der Bürokratie! Nieder mit dem Stachanowsystem! Nieder mit der Sowjetaristokratie und ihren Rangstufen und Orden! Angleichung der Löhne für alle Arten der Löhne!

Der Kampf für die Freiheit der Gewerkschaften und der Fabrikkomitees für die Presse- und Versammlungsfreiheit wird sich weiterentwickeln zum Kampf um das Wiedererwachen und die Entfaltung der Sowjetdemokratie. Die Bürokratie hat die Sowjets als Klassenorgane durch den Schwindel der allgemeinen Wahl im Stile von Hitler/Goebbels ersetzt. Es ist notwendig, den Sowjets nicht nur ihre freie demokratische Form, sondern auch ihren Klasseninhalt wiederzugeben. So wie früher die Bourgeoisie und die KulakInnen nicht zu den Sowjets zugelassen waren, ebenso müssen jetzt die Bürokratie und die neue Aristokratie aus den Sowjets verjagt werden. In den Sowjets ist nur Platz für die VertreterInnen der ArbeiterInnen, der KolchosenarbeiterInnen, der Bauern/Bäuerinnen und der roten SoldatInnen.

Die Demokratisierung der Sowjets ist undurchführbar ohne die Zulassung von sowjetischen Parteien. Die ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen selbst werden durch ihre freie Stimmabgabe zeigen, welche Parteien sowjetisch sind.

Reorganisation der Planwirtschaft von oben bis unten gemäß dem Interesse der ProduzentInnen und KonsumentInnen! Die Fabrikkomitees müssen die Kontrolle der Produktion wieder übernehmen. Die demokratisch organisierten Konsumgenossenschaften müssen die Qualität der Erzeugnisse und ihre Preise kontrollieren.

Neuorganisierung der Kolchosen in Übereinstimmung mit dem Willen der KolchosbewohnerInnen und nach ihren Interessen!

Die konservative internationale Politik der Bürokratie muss der Politik des proletarischen Internationalismus Platz machen. Die ganze diplomatische Korrespondenz des Kreml muss veröffentlicht werden. Nieder mit der Geheimdiplomatie!

Alle von der thermidorianischen Bürokratie inszenierten politischen Prozesse müssen unter den Bedingungen vollständiger Öffentlichkeit und freier Erforschung überprüft werden. Die OrganisatorInnnen der Fälschungen müssen ihre verdienten Strafen erhalten.

Ohne den Sturz der Bürokratie, die sich durch Zwang und Fälschung hält, kann dieses Programm nicht verwirklicht werden. Nur die siegreiche revolutionäre Erhebung der unterdrückten Massen kann die Sowjetherrschaft erneuern und ihre Weiterentwicklung zum Sozialismus sichern. Allein die Partei der IV. Internationale ist in der Lage, die sowjetischen Massen zum Aufstand zu führen.

Nieder mit der bonapartistischen Bande des Kain Stalin! Es lebe die Sowjetdemokratie! Es lebe die internationale sozialistische Revolution.“ (22)

Trotzki verdeutlicht in seiner Analyse, dass die
Degeneration der Sowjetunion und die Durchsetzung des Stalinismus aus der
historischen Situation erklärbar sind, diese jedoch weder unabwendbar noch
organisch aus der Oktoberrevolution entstanden. Vielmehr waren die Rolle der
internationalen ArbeiterInnenbewegung, das Ausbleiben der internationalen
Revolution sowie die Niederlage der RevolutionärInnen und der Linksopposition
im innerparteilichen Kampf entscheidend für die Entwicklung.

Der Stalinismus ist nicht Ergebnis der Ideen von Marx,
Engels, Lenin und Trotzki. Er ist vielmehr die Verkehrung dieser Ziele in ihr
Gegenteil. Die Entwicklung des Stalinismus zeigt, gegen welche Schwierigkeiten
und Gefahren wir auf dem Weg zum Kommunismus anzukämpfen haben. Ohne
revolutionäre Kritik am Stalinismus wird es keine kommunistische Revolution
geben – ohne revolutionäres Ziel ist die Kritik am Stalinismus irrelevant.

Endnoten

(1) Trotzki, Die Todesagonie des Kapitalismus und Aufgaben
der Vierten Internationale (Übergangsprogramm).

(2) Trotzki, In Verteidigung des Marxismus, Seite 78.

(3) Trotzki, Weder proletarischer noch bürgerlicher Staat?,
in: Schriften 1.2., S. 1127.

(4) Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, S. 21.

(5) Marx, ebda., S. 28.

(6) Marx, Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW
4, S. 381.

(7) Marx, Brief an Kugelmann, 12. April 1871, MEW 33, S. 205.

(8) Marx, Bürgerkrieg in Frankreich, MEW 17, S. 343.

(9) Lenin, Staat und Revolution, Lenin Werke 25, S. 420.

(10) Trotzki, Verratene Revolution, S. 751/752, in:
Schriften 1.2.

(11) Trotzki, a. a. O., S. 752/753.

(12) Trotzki, a. a. O. S. 952.

(13) Trotzki, Verratene Revolution, S. 954

(14) Deutscher, Die unvollendete Revolution, S. 67 f.

(15) Trotzki, Weder proletarischer noch bürgerlicher Staat?,
a. a. O.

(16) Trotzki, Verratene Revolution, S. 979.

(17) Engels, Anti-Dühring, MEW 20, S. 97.

(18) Trotzki, Weder proletarischer noch bürgerlicher Staat?,
a. a. O., S. 1123/24.

(19) Ebda., S. 1120.

(20) Trotzki, Verratene Revolution, S. 954.

(21) Trotzki, Die UdSSR im Krieg, Trotzki: Schriften über
Russland 1.2, S. 1292.

(22) Trotzki, Die Todesagonie des Kapitalismus und die
Aufgaben der Vierten Internationale (Übergangsprogramm).




Zum Verständnis des Populismus bei Lenin und Trotzki

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 50, November 2018

Einleitung

Fast überall sind herkömmliche ArbeiterInnenparteien auf dem Rückzug. Sozialdemokratische und zum Parlamentarismus übergegangene stalinistische Parteien verlieren, mit einzelnen Ausnahmen, bei jeder Wahl Stimmen oder sind bereits in die Bedeutungslosigkeit geschrumpft.

Gleichzeitig ist besonders in den letzten Jahre nach der kapitalistischen Krise ab 2007 ein Aufstieg rechtspopulistischer Parteien und Kräfte eingetreten, deren Erfolge bei Wahlen und Volksabstimmungen die Machtausübung traditioneller Koalitionen aus konservativen, liberalen und reformistischen Parteien bedrohen. Auf der anderen Seite gibt es Beispiele von Wachstums- und Wahlerfolgen linker Kräfte, die den Klassengegensatz über Bord geworfen haben und, meistens von außen, teilweise selbst als populistisch bezeichnet werden.

Bürgerlichen PolitikerInnen gelingt es zumindest, die Bedrohung, die von populistischen Bewegungen und Parteien für ihre eigenen Formationen ausgeht, zu identifizieren. Sie sind aber entweder nicht in der Lage, das mit einer zutreffenden Analyse des Wesens und der Herkunft des Populismus zu verbinden. Dort wo linksbürgerliche Intellektuelle darüber hinausgehen, kommt es, zum Beispiel bei Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, zu einem unkritischen Bejubeln der Wahlerfolge und dem Hochstilisieren der neuen Formationen als Alternative zum gescheiterten „Klassenkampf-Marxismus“. Das zugrundeliegende Verständnis mag besser sein, eine marxistische Analyse bieten sie aber nicht.

Die Auseinandersetzung mit populistischen Bewegungen, aber auch Phänomenen, die dem Populismus in Erscheinung und historischen Umständen sehr ähnlich sind, hat eine Tradition in der marxistischen Theorie und Praxis. Weder der Populismus noch eine marxistische Kritik daran sind etwas Neues. Um eine marxistische Analyse des Populismus zu entwickeln, ist es deshalb notwendig, diese historischen Auseinandersetzungen aufzuarbeiten und Schlussfolgerungen daraus zu ziehen.

Weder Lenin noch Trotzki entwickeln in ihren Schriften eine umfassende Theorie des „Populismus“. Das ist insofern nicht verwunderlich, als der Terminus zu den Lebzeiten der beiden Revolutionäre noch wenig gebräuchlich war. Als „populistisch“ bezeichnete Bewegungen oder Parteien treten erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Russland mit den VolksfreundInnen (Narodniki) sowie in den USA mit der Farmerbewegung und der „People’s Party“ auf.

Gerade für die russische ArbeiterInnenbewegung stellte jedoch der politische und theoretische Kampf gegen die PopulistInnen einen wesentlichen Aspekt in der programmatischen, taktischen und organisatorischen Herausbildung des Sozialismus dar. Wenn Lenin, Trotzki und andere marxistische RevolutionärInnen vor dem Ersten Weltkrieg und während des Krieges den Begriff „Populismus“ verwenden, dann beziehen sie sich in der Regel auf die VolksfreundInnen (Narodniki), die SozialrevolutionärInnen, die 1901 aus der Vereinigung verschiedener Gruppierungen der VolkstümlerInnen hervorgingen, oder die Trudowiki (Parteigruppe der Arbeit), die 1906 gebildete Fraktion der Bauerndeputierten in der zaristischen Duma.

Die Haltung zum imperialistischen Krieg, der Übergang der Mehrheit der VolkstümlerInnen zur Vaterlandsverteidigung, die Politik der Regierung Kerenski wie auch die Spaltung der SozialrevolutionärInnen in der russischen Revolution offenbaren praktisch das Wesen dieser Strömung. Um aber die ideologischen Wurzeln dieses Versagens und Verrats – nicht zuletzt an der Bauernschaft – zu verstehen, ist eine Kritik der theoretischen und politischen Grundannahmen dieser Strömung unerlässlich.

Die Kritiken, Schriften und Analysen bezüglich des Klassencharakters der SozialrevolutionärInnen sind auch ein wichtiger Ansatzpunkt für ein marxistisches Verständnis des Populismus. Das trifft ebenfalls auf die Diskussionen der Kommunistischen Internationale wie der trotzkistischen Bewegung bezüglich der rechten und linken „populistischen“ Formierungen nach dem Ersten Weltkrieg zu. Darunter fallen so unterschiedliche Phänomene und Personen wie der „linke“ Republikanismus eines La Follette in den USA, der kroatische „Bauernführer“ Radic, Pilsudski in Polen, der Faschismus und andere reaktionären Bewegungen des KleinbürgerInnentums. Schließlich muss in diesem Zusammenhang auch die Haltung zu den „national-revolutionären“ und „anti-imperialistischen“ Parteien und Bewegungen in den Kolonien und Halbkolonien betrachtet werden.

Ein Beispiel: Im Text „Clarity or Confusion“ aus dem Jahr 1939 stellt Trotzki, Bezug nehmend auf die Diskussionen um die peruanische APRA (Alianca Popular Revolucionaria Americana; dt.: Amerikanische Revolutionäre Volksallianz), eine Beziehung zwischen unterschiedlichen Parteien, Bewegungen und ideologischen Strömungen her:

„Die APRA ist in den Augen der Marxisten keine sozialistische Organisation, denn sie ist keine Klassenorganisation des revolutionären Proletariats. Die APRA ist eine Organisation der bürgerlichen Demokratie in einem rückständigen, halb-kolonialen Land. Aufgrund ihres sozialen Typus, der historischen Aufgaben und, bis zu einem bestimmten Grad, ihrer Ideologie, gehört sie derselben Klassifikation (class) an wie die russischen Populisten (Sozialrevolutionäre) und die chinesische Guomindang.

Die russischen Populisten waren viel reichhaltiger hinsichtlich ihrer Doktrin und ‚sozialistischen’ Phraseologie als die APRA. Aber das hinderte sie nicht, die Rolle kleinbürgerlicher Demokraten, ja schlimmer, von rückständigen kleinbürgerlichen Demokraten zu spielen, die nicht über die Kraft verfügten, rein demokratische Aufgaben zu erfüllen – trotz des Opfermutes und der Hingabe ihrer besten Kämpfer.“ (1)

In diesen wenigen Sätzen verweist Trotzki auf das Phänomen „radikaler“, nicht-proletarischer Parteien der „kleinbürgerlichen Demokratie“ sowohl in imperialistischen wie halbkolonialen Ländern.

Die weitere Struktur dieses Artikels ist wie folgt: Zuerst werden die grundlegenden Auseinandersetzungen um die Frage „populistischer“ Parteien dargelegt und Kritik sowie Taktiken ihnen gegenüber diskutiert. Anschließend wird die von Trotzki skizzierte gemeinsame Klammer angewendet, um Schlussfolgerungen für ein marxistisches Verständnis von Populismus zu ziehen.

SozialrevolutionärInnen und VolkstümlerInnen

Ohne die offensive Auseinandersetzung mit der populistischen, volkstümlichen Tradition der revolutionären Intelligenz in Russland wäre die Entwicklung der ArbeiterInnenbewegung, insbesondere des Bolschewismus, unmöglich gewesen. Ein bedeutender Teil der frühen Schriften Lenins und anderer RevolutionärInnen dient der polemischen Abgrenzung und ideologischen Demarkierung von den „VolksfreundInnen“ und anderen „volkstümlichen“ Gruppierungen.

Die Auseinandersetzung am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts konzentriert sich dabei auf zwei, miteinander verbundene Fragestellungen: Muss Russland zwangsläufig eine kapitalistische Entwicklung durchlaufen? Ist die ArbeiterInnenklasse oder „das Volk“ die treibende, revolutionäre Kraft des Kampfes gegen den Zarismus?

Lenins „Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland“ (2) bietet eine umfassende Antwort auf die erste Frage. Lenin weist darin nach, dass die Fragestellung der VolkstümlerInnen von der Wirklichkeit beantwortet wurde. Der Kapitalismus hat sich durchgesetzt. Er prägt die Entwicklungsdynamik des Landes, wenn auch eine, die von enormer Ungleichzeitigkeit geprägt ist, wo die Ausdehnung der Industrie, des kapitalistischen Marktes, der Lohnarbeit in Stadt und Land mit einer enormen Rückständigkeit und Beibehaltung zahlreicher, die Entwicklung des Kapitalismus hemmender Institutionen einhergeht.

Er wirft den VolkstümlerInnen nicht nur vor, hinter der Realität zurückzubleiben, sondern kritisiert auch ihr grundlegend falsches Verständnis von Entwicklung des Kapitalismus, der Kleinproduktion und des Handwerks, die sie der kapitalistischen Großproduktion schematisch gegenüberstellen. So führt Lenin gegen die VolkstümlerInnen aus:

„Die Anerkennung der Fortschrittlichkeit dieser Rolle (des Kapitalismus; d. Verf.) ist (wie wir in jedem Stadium unserer auf Tatsachen gestützten Darlegung eingehend zu zeigen bemüht waren) durchaus vereinbar mit der vollen Anerkennung der negativen und düsteren Seiten des Kapitalismus, mit der vollen Anerkennung der dem Kapitalismus unvermeidlich eigenen tiefen und allseitigen gesellschaftlichen Widersprüche, die den historisch vergänglichen Charakter dieses ökonomischen Regimes offenbaren.“ (3)

Die Entwicklung des Kapitalismus bedeutet für Lenin unweigerlich die Entwicklung seiner inneren Widersprüche – und damit die Entwicklung der Bedingungen für eine erfolgreiche Revolution.

Die VolksfreundInnen würden nicht nur den widersprüchlichen Charakter der Entwicklung negieren, sondern auch einen starren Gegensatz zwischen der russischen „Volksökonomie“ (der Bäuerinnen und Bauern) und „Volksindustrie“ einerseits sowie der kapitalistischen Industrie andererseits konstruieren.

„Er (Kriwenko; ein Theoretiker der VolksfreundInnen; Anm. d. Red.) konstruiert einen direkten Gegensatz zwischen ‚unserer Volksindustrie’, d. h. der Kustarindustrie (Hausindustrie; d. Red.), und der kapitalistischen Industrie… ‚Die Volksproduktion‘ (sic!), sagt er, ‚entsteht in den meisten Fällen auf natürliche Weise’, die kapitalistische Industrie dagegen ‚wird durchweg künstlich geschaffen’. An einer anderen Stelle konstruiert er einen Gegensatz zwischen der ‚kleinen Volksindustrie’ und der ‚großen kapitalistischen Industrie’.“ (4)

Und weiter:

„Die natürliche Schlussfolgerung besteht darin, dass aus Unverständnis für den Zusammenhang die Kustarindustrie als ‚Volksindustrie’ der kapitalistischen Industrie als ‚künstliche Industrie’ gegenübergestellt wird. So kommt die Idee auf, der Kapitalismus widerspreche unserer ‚Volksordnung’, (…) den Kapitalismus der Fabrikanten und Werke stellt man sich vor, wie er wirklich ist, die Kustarindustrie aber so, wie sie ‚sein könnte’, den ersten auf Grund einer Analyse der Produktionsverhältnisse, die zweite, indem man, ohne auch nur versucht zu haben, die Produktionsverhältnisse gesondert zu betrachten, die Sache vielmehr ohne große Umschweife in das Gebiet der Politik verlegt. Man braucht sich nur der Analyse dieser Produktionsverhältnisse zuzuwenden, und man sieht, dass die ‚Volksordnung’ dasselbe darstellt wie die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, wenn auch in unentwickeltem, keimhaftem Zustand.“ (5)

Diese Zitate illustrieren nicht nur die grundsätzlich unterschiedlichen Positionen zu ökonomischen Einzelfragen, sondern dass Marxismus und Populismus gänzlich verschiedene Vorstellungen vom zentralen Antagonismus der russischen Gesellschaft haben mussten, warum sich Marxismus und Populismus nicht ergänzen konnten, sondern einander politisch ausschließen mussten.

Da die Volksindustrie als „natürlicher“ Teil einer „Volksordnung“ galt, musste diese gegen die „künstliche“ kapitalistische Entwicklung verteidigt und ideologisch beschönigt werden. Ihre „Auswüchse“ wie die Ausbeutung in der Kustarindustrie wurden von den SozialrevolutionärInnen nicht als unreife, unterentwickelte, teilweise besonders brutale Formen der entstehenden und sich durchsetzenden kapitalistischen Verhältnisse betrachtet. Die negativen Erscheinungen in der sog. Volksindustrie wurden als dieser eigentlich „fremd“ eingeschätzt.

Die Schlussfolgerung der „VolksfreundInnen“ bestand daher einerseits in der Idealisierung der „Volksindustrie“, die zur Vorstufe einer harmonischen „Volksordnung“ verklärt wurde und nur von ihren kapitalistischen Auswüchsen gereinigt werden musste, und andererseits dem Ruf nach Staatsintervention, um diese angebliche Harmonie (wieder) herzustellen.

Lenin verweist in seiner Polemik darauf, dass die „revolutionären Narodniki“ der 1870er Jahre noch hofften, ihre utopischen Ziele mit revolutionären Mitteln gegen den Zarismus durchzusetzen, während die VolkstümlerInnen um die Jahrhundertwende mehr und mehr zur systematischen Kompromisslerei mit dem Staat übergingen. Mit der „Volksindustrie“ wurde unwillkürlich und trotz politischer Opposition zum Zarismus auch der russische Staat verklärt.

Ihr Populismus basiert aber nicht nur auf einem Unverständnis des grundlegenden Antagonismus zwischen Lohnarbeit und Kapital und damit einer Ersetzung der ArbeiterInnenklasse durch das „Volk“. Dieses geht vielmehr mit einer Fehleinschätzung der Bauernschaft selbst einher, die zur revolutionären Klasse, gewissermaßen zum Kern des „Volkes“, stilisiert wird. Dabei zeigt die historische Erfahrung nicht nur, dass die Bauernschaft selbst zu keiner eigenständigen, von den Hauptklassen unabhängigen Politik fähig ist. Die VolkstümlerInnen mussten, um ihre utopische Zielsetzung der Wiedererrichtung einer „natürlichen“ Volksökonomie zu stützen, auch die Widersprüche innerhalb der Bauernschaft negieren.

Die Konkurrenz im Kapitalismus führt nicht nur zur fortschreitenden Vernichtung und Zersetzung des KleinbürgerInnentums, sondern notwendigerweise auch zur fortschreitenden Klassendifferenzierung innerhalb der Bauernschaft. Ein Teil wird zu LohnarbeiterInnen und Halb-ProletarierInnen, andere zwingt sie zu einer Existenz als kaum überlebensfähige Kleinbauernschaft oder Landlose. Schließlich steigen Teile auf, werden zu Großbauern und beginnen sogar, selbst TagelöhnerInnen und LohnarbeiterInnen auszubeuten.

Gegenüber dieser Entwicklungstendenz vertraten die SozialrevolutionärInnen (wie viele andere späte Ausprägungen des Populismus) ein reaktionäres, gesellschaftlich rückwärtsgewandtes Programm. Der Durchdringung aller Lebensbereiche durch die moderne industrielle Warenproduktion stellten sie die Rückkehr zu einer idealisierten Form der kleinen Warenproduktion, der zerstörten Dorfgemeinschaft oder der „Volksindustrie“ entgegen.

Diese reaktionäre Zielsetzung impliziert unwillkürlich auch, dass die Widersprüche unter den kleinbürgerlichen Schichten, im konkreten Fall in der Bauernschaft, als künstliche, von „außen“ ins Volk getragene interpretiert werden. Daher zielt das Programm der PopulistInnen, wie Lenin in „Was sind die Volksfreunde…?“ ausführlich darlegt, auf eine Abmilderung und Verschleierung der Widersprüche in der Bauernschaft. Diese wird entgegen ihrer realen Entwicklung als Einheit betrachtet, die es zu bewahren oder über staatliche Reformen wiederherzustellen gelte. Nicht Klassenkampf gegen die UnterdrückerInnen auf dem Land – und das heißt auch gegen die ausbeutenden Schichten der Bauernschaft – sondern Versöhnung mit den Verhältnissen durch mehr oder minder kosmetische Reformen wird zum Ziel.

Das Programm der SozialrevolutionärInnen beinhaltet zwar auch berechtigte demokratische Forderungen, sein grundlegender Gehalt ist jedoch reaktionär. Es versucht, das Rad der Geschichte zurückzudrehen.

Akzeptiert man die Grundannahmen der SozialrevolutionärInnen über den (russischen) Kapitalismus, so ist es nur folgerichtig, die wachsenden Gegensätzen unter der Bauernschaft, im „Volk“, zu leugnen. Ansonsten würde den PopulistInnen ihr Subjekt der Veränderung unwillkürlich zerbrechen.

Im Gegensatz zum Marxismus begreifen sie nämlich „das Volk“ – und das heißt eben auch das gesamte KleinbürgerInnentum – als einheitliches Ganzes, das nicht „gespalten“, sondern miteinander versöhnt werden soll. Was für die Bauernschaft gilt, soll letztlich für die Gesellschaft zutreffen. Daher ist der Ruf nach staatlicher Intervention (und zwar durch den zaristischen Staat) schon bei den VolksfreundInnen kein Zufall, sondern notwendige Ergänzung zu einem utopischen Programm.

In der Haltung zur Bauernschaft zeigt sich aber deutlich der politische Kern der Differenz zwischen Marxismus und Populismus (selbst in einer vergleichsweise linken, „sozialistischen“ Form wie der frühen SozialrevolutionärInnen in Russlands). Während die MarxistInnen die Widersprüche zwischen den Klassen und damit auch unter den verschiedenen Schichten des KleinbürgerInnentums zuspitzen, also auch auf dem Land den Klassenkampf vorantreiben wollen, versuchen die SozialrevolutionärInnen, die Entwicklung des Klassenantagonismus auf dem Land verzweifelt aufzuhalten. Sie wollen nicht die Zuspitzung, sondern die Befriedung des Gegensatzes.

Ideologisch leistet dabei der Volksbegriff den wertvollen Dienst, eine imaginäre Einheit im (russischen) Volk zu schaffen. Alles, was die „Einheit“ stört, kommt von außen, gehört eigentlich nicht zum Volk oder widerspricht in der volkstümlerischen Ideologie dem imaginierten „Volkscharakter“. Die „natürliche Volksordnung“ scheint dabei im Gegensatz zum Kapitalismus zu stehen, der selbst als dem eigentlichen Russland äußerliches Verhältnis begriffen wird. Folgerichtig gehören die GroßkapitalistInnen nicht wirklich „zum Volk“, aber auch die ArbeiterInnenklasse – selbst Produkt einer „volksfremden“ Produktionsweise – kann nicht zentrales Subjekt der Befreiung sein, da das „befreite Russland“ als harmonische Welt kleiner WarenproduzentInnen, von Bauern, HandwerkerInnen, allenfalls Genossenschaften vorgestellt wird, die ein sorgender Staat schützen und fördern soll.

Das taktische Arsenal der revolutionären Sozialdemokratie und später des Bolschewismus gegenüber den VolksfreundInnen und den Sozialrevolutionärinnen beschränkte sich nicht auf Kritik. Lenin betont bei aller polemischen Schärfe die Möglichkeit und Notwendigkeit der taktischen Zusammenarbeit im Kampf um demokratische Forderungen und die Rechte der Bauern. Er betont auch, dass die Sozialdemokratie dazu ein eigenes Agrarprogramm braucht.

Um überhaupt eine Taktik gegenüber den kleinbürgerlichen Massen und deren Parteien anwenden zu können, darf die ArbeiterInnenklasse aber in keinem Fall auf ihre politische, programmatische und organisatorische Unabhängigkeit verzichten. Ansonsten droht sie unweigerlich, selbst in eine kleinbürgerliche Richtung abzugleiten.

Die jahrelange, umfassende Kritik an den SozialrevolutionärInnen und anderen „radikalen“ kleinbürgerlichen Strömungen war eine unterlässliche Voraussetzung zur Formierung und Festigung des Marxismus und der Schaffung einer revolutionären Partei in Russland. Ohne ideologische Abgrenzung und Siege über den Populismus wäre der Aufbau einer proletarischen Partei, die die Massen führen kann, unmöglich gewesen.

Russische Revolution 1917

Mit dem Ersten Weltkrieg und der Russischen Revolution wurden Programm und Doktrin der SozialrevolutionärInnen dem Lackmustest der Geschichte unterworfen. Die „Bauernpartei“ verriet die Bauern. Die Verteidiger der „Volksordnung“ wurden VaterlandsverteidigerInnen und teilweise glühende ChauvinistInnen.

Auf den ersten Blick schien die Februarrevolution jedoch die marxistische Kritik zu widerlegen, das Programm und die Politik der SozialrevolutionärInnen zu bestätigen. Die russische Revolution nahm zwar in den städtischen Zentren ihren Ausgang, aber von Beginn an spielte die Stimmung in der Armee, einem Millionenheer von Bauern, die sich nach Land und Frieden sehnten und zu einer kompakten Masse verbunden worden waren, eine viele größere Rolle als in der Revolution 1905.

Die Vorherrschaft des SozialrevolutionärInnen und der mit ihnen verbündeten Menschewiki drückte jedoch vor allem die Unreife der Revolution und selbst der ArbeiterInnenklasse aus.

„Zu Beginn der Revolution war die Partei der Sozialisten-Revolutionäre auf dem ganzen Gebiete des politischen Lebens dominierend. Bauern, Soldaten, sogar Arbeiter stimmten unter den Volksmassen für die Sozialisten-Revolutionäre. (…) Nach Abzug der rein kapitalistischen und Großgrundbesitzer-Gruppen und der Zensus-Elemente der Gebildeten stimmten Alle und Alles für die revolutionären ‚Nardoniki’. Das entsprach ganz dem anfänglichen Stadium der Revolution, da die Klassengrenzen noch nicht scharf geschieden waren, und der Drang nach einer sogenannten einheitlichen revolutionären Front seinen Ausdruck in dem verschwommenen Programm derjenigen Partei fand, die sowohl den Arbeiter, der sich vom Bauernstand loszutrennen fürchtete, wie den Bauer, der Land und Freiheit suchte, wie auch den Intellektuellen, der diese beiden zu lenken trachtete, und den Beamten, der sich an das neue Regime anzupassen suchte, unter ihre Fittiche nahm.“ (6)

Die Revolution selbst musste jedoch die Basis der SozialrevolutionärInnen untergraben, die letztlich im Zurückbleiben des Bewusstseins der Masse der ArbeiterInnen, Soldaten und Bauern hinter den Erfordernissen der Revolution ihre Ursache hatte. Die SozialrevolutionärInnen (und die Menschewiki) hätten die Macht erobern können – sie hofften aber, diese mit der liberalen Bourgeoisie zu teilen. Wo sie den Massen Substantielles versprechen (Landreform, Konstituierende Versammlung) verschoben sie die Erfüllung in die Zukunft und setzten in der Gegenwart das Programm der Bourgeoisie und des russischen Imperialismus um. Statt „Frieden“ zu schließen, wurde der Krieg fortgesetzt, statt auf ihr Land zurückzukehren, mussten die Bauern nun für den „demokratischen“ Krieg krepieren.

Die IdeologInnen, WortführerInnen und, für eine bestimmte Zeit, selbsternannten „RevolutionsführerInnen“ unter den SozialrevolutionärInnen stellten nicht die Bauern, sondern die VertreterInnen der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Intelligenz – vor allem Anwälte, Beamte, Offiziere, LehrerInnen und JournalistInnen. Das selbst ist kein Zufall. Die bürgerliche Intelligenz bildet im Kapitalismus einen bedeutenden Teil des KleinbürgerInnentums beziehungsweise heute der lohnabhängigen Mittelschichten.

Als solche ist sie unter normalen bürgerlichen Bedingungen immer an vorderster Front des Parlamentarismus, der kleinbürgerlichen Demokratie zu finden. Es entspricht auch ihrer Klassenlage, sich zu den WortführerInnen verschiedener Spielarten des Populismus zu machen. Eine Ideologie, die gegensätzliche Klasseninteressen zu versöhnen trachtet, entspricht der gesellschaftlichen Zwischenstellung dieser „gebildeten“ Schichten.

Doch eine krisenhafte Entwicklung und erst recht eine Revolution enthüllen die Phrasenhaftigkeit des Populismus. Die „allmächtige“ Sozialrevolutionäre Partei – bis zur Oktoberrevolution noch immer eine Partei mit Massenanhang – erweist sich als politisch ohnmächtig. Sie zerbricht in der Revolution und spaltet sich, je mehr sich die Klassengensätze in der russischen Revolution entfalten. Der rechte Flügel geht ins Lager der offenen Reaktion über und versucht sich selbst in der Errichtung einer bonapartistischen Herrschaft, um die Revolution zu zerschlagen. Die Regierung Kerenski bereitet neue „Offensiven“ an der Front vor, paktiert mit putschistischen Militärs, versucht, die Bolschewiki und Räte zu zerschlagen sowie die Aufstandsbewegung der eigenen bäuerlichen Basis zu vernichten. Sie unterstützt die Armeeführung, die GroßkapitalistInnen und GrundbesitzerInnen. Die „Mitte“ der Partei wird immer mehr marginalisiert, geht aber in allen entscheidenden Fragen mit den Rechten.

Die Zuspitzung des Klassenkampfes entfremdet aber zugleich die linken SozialrevolutionärInnen mehr und mehr von ihrer Partei. Der Druck der Massen schiebt sie nach links. Aber ohne die Politik der bolschewistischen Partei wäre diese Bewegung wahrscheinlich nur eine radikale Episode geblieben. Sie sind es, die die linken SozialrevolutionärInnen in der Revolution, im Aufstand führen.

Die Politik der Bolschewiki gegenüber den SozialrevolutionärInnen und vor allem die Taktik gegenüber ihrem linken Flügel stellt bis heute ein zentrales Beispiel für prinzipienfeste revolutionäre Politik gegenüber populistischen Parteien und deren kleinbürgerlicher Massenbasis dar.

Hier gilt es zuerst, deren Unversöhnlichkeit gegenüber der Theorie, dem Programm und der konkreten Taktik dieser Parteien hervorzuheben. Das so genannte „Sektierertum“ der Bolschewiki gegenüber der vorherrschenden versöhnlerischen Stimmung zu Beginn der Russischen Revolution, deren Ausdruck die Stärke der SozialrevolutionärInnen war, schuf die Vorbedingung für den späteren Aufstieg der Partei Lenins. Der Kampf gegen die rechten Bolschewiki, der Bruch mit der Etappentheorie und der Übergang zur Theorie der permanenten Revolution waren die andere Seite dieser charakteristischen Unversöhnlichkeit.

Zum anderen wandten die Bolschewiki systematisch die Taktik der Einheitsfront gegenüber den SozialrevolutionärInnen an. Das betraf keineswegs nur den linken Flügel, sondern die gesamte Partei (und die Menschewiki), trotz ihres kleinbürgerlichen, sozial-chauvinistischen Charakters. So stellten die Bolschewiki an entscheidenden Punkten der Entwicklung der Revolution immer wieder die Forderung an die SozialrevolutionärInnen und Menschewiki, mit der Bourgeoisie zu brechen – wohl wissend, dass die Spitzen der Partei und erste recht deren Minister um jeden Preis diesen Bruch vermeiden wollten.

Gerade diese Politik führte aber dazu, dass der Bolschewismus die Hegemonie der SozialrevolutionärInnen unter den Soldaten und auf dem Land untergraben konnte. Neben einer Stärkung des Kommunismus in Teilen der Armee und auf dem Land trug sie vor allem zur Differenzierung und letztlich zur Spaltung der SozialrevolutionärInnen selbst bei.

Dabei kam den russischen MarxistInnen zugute, dass sich ihre Einschätzung der Bauernschaft als weitaus realistischer erwies als die harmonische Vorstellung der Narodniki. Der Krieg verschärfte die Klassengegensätze in der Bauernschaft sowohl in der Armee als auch auf dem Land, wo ein regelrechter BürgerInnenkrieg entbrannte. Die Bolschewiki verteidigten als einzige Partei konsequent die „illegalen“ Landnahmen der Bauernschaft im Sommer 1917, während die sozial-revolutionär geführte Regierung die GroßgrundbesitzerInnen unterstützte. All das trieb die linken SozialrevolutionärInnen nach links und schuf damit die Basis für ein (schwankendes) Bündnis mit den Bolschewiki.

„Populistische“ Parteien und die Kommunistische Internationale

Die SozialrevolutionärInnen bilden für die Betrachtung des „Populismus“ einen wichtigen Ausgangspunkt. Dass sie sich in Russland bildeten, hängt zweifellos eng mit der verspäteten bürgerlichen Revolution und dem gesellschaftlichen Gewicht der Bauernschaft zusammen. Daher könnten die SozialrevolutionärInnen auch als Ausdruck einer für überwiegend agrarische Länder typischen Rückständigkeit interpretiert werden, die im Lauf der kapitalistischen Entwicklung an Bedeutung verliert, zumal in den fortgeschritteneren Ländern, wo die Bauernschaft nur noch einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung ausmacht.

In seiner Imperialismustheorie weist Lenin jedoch auch auf eine andere Quelle der Bildung von möglichen „populistischen Formationen“ hin, die mit der Entstehung des Imperialismus und der dominierenden Rolle des Finanzkapitals untrennbar verbunden ist.

„Da zu den politischen Besonderheiten des Imperialismus die Reaktion auf der ganzen Linie sowie die Verstärkung der nationalen Unterdrückung in Verbindung mit dem Druck der Finanzoligarchie und mit der Beseitigung der freien Konkurrenz gehören, so tritt mit Beginn des 20. Jahrhunderts in fast allen imperialistischen Ländern eine kleinbürgerlich-demokratische Opposition gegen den Imperialismus auf. Und der Bruch Kautskys und der weitverbreiteten internationalen Strömung des Kautskyanertums mit dem Marxismus besteht gerade darin, daß Kautsky es nicht nur unterlassen, es nicht verstanden hat, dieser kleinbürgerlichen, reformistischen, ökonomisch von Grund aus reaktionären Opposition entgegenzutreten, sondern sich im Gegenteil praktisch mit ihr vereinigt hat.“ (7)

Lenin stellt damit eine Verbindung zwischen Imperialismus und neu entstehenden politischen Bewegungen her, die eine reaktionäre, rückwärtsgewandte Kritik des Kapitalismus vertreten. Er hat dabei Kampagnen wie die Anti-Trust-Bewegung in den USA im Auge, gewissermaßen Vorläuferinnen des kleinbürgerlichen Flügels der Anti-Globalisierungsbewegung. Schon 1916 geht es Lenin dabei vor allem darum, dass diese „Anti-MonopolistInnen“ (ähnlich wie die PazifistInnen) im Krieg in der Regel zu VaterlandsverteidigerInnen werden, den „Imperialismus“ vor allem beim Kriegsgegner erblicken.

Die Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg führt aber auch zur Bildung von „populistischen“ Bewegungen in einer Vielzahl von Ländern. Im Folgenden werden wir uns hier mit zwei verschiedenen Phänomen beschäftigen. Erstens mit der Entstehung von populistischen Strömungen in Europa und den USA. In diesem Zusammenhang werden wir auch auf die Diskussion um den Faschismus kurz eingehen. Zweitens mit national-revolutionären und bürgerlich-nationalistischen Parteien und Bewegungen in den Kolonien und Halbkolonien.

Diskussion um die „Arbeiter- und Bauernparteien“

Nachdem die herrschenden Klassen Europas den ersten revolutionären Ansturm nach dem Weltkrieg mithilfe der Sozialdemokratie und aufgrund der Unreife der kommunistischen Parteien abwehren konnten, bilden sich in vielen Ländern unterschiedlich geartete „populistische“ Formationen. In der Kommunistischen Internationale werden diese Fragen durchaus kontrovers diskutiert, wobei die Degeneration nach dem Vierten Weltkongress unter Führung Sinowjews und später Stalins zu einer Reihe opportunistischer Fehler und prinzipienloser politischer Anpassung führt.

Nach der Niederlage der Revolution in Deutschland und der Ausschaltung der linken Opposition setzte die Führung der Kommunistischen Internationale unter Sinowjew auf eine Mischung aus Ultra-Linkstum (kategorische Ablehnung der zeitweiligen Stabilisierung des Kapitalismus nach der strategischen Niederlage in Deutschland, frühe Formen der Sozialfaschismustheorie) und Opportunismus. So schreibt Trotzki über die Entwicklung nach der Niederlage 1923 und die Perspektiven des Fünften Weltkongresses der Kommunistischen Internationale:

„In demselben Maße, in dem innerhalb des Proletariats eine offenbare, wachsende Rechtsschwenkung vor sich ging, begann die Kommunistische Internationale die Linie der Idealisierung des Bauerntums, eine ganz unkritische Übertreibung aller Symptome des ‚Bruchs’ desselben mit der bürgerlichen Gesellschaft, eine Schönfärberei aller möglichen bäuerlichen Scheinorganisationen und eine direkte Hochpäppelung von ‚bäuerlichen’ Demagogen.“ (8)

So wurde neben der Kommunistischen Internationale auch der Aufbau einer eigenen „Bauerninternationale“ forciert. Deren Vertreter entpuppten sich jedoch rasch als unsichere Verbündete. So wurde Stjepan Radic, der Führer der kroatischen „Bauernpartei“, 1924 noch von Sinowjew in höchsten Tönen gelobt:

„Innerhalb der Bauernschaft findet augenblicklich ein wichtiger Umschwung statt. Ihr habt sicher alle bereits gehört von der kroatischen Bauernpartei Radics. Radic befindet sich augenblicklich in Moskau. Das ist ein richtiger Volksführer … Hinter Radic steht einheitlich die gesamte arme und mittlere Bauernschaft Kroatiens … Radic hat jetzt im Namen seiner Partei beschlossen, sich an die Bauerninternationale anzuschließen. Wir halten dieses Ereignis für sehr wichtig …

Die Bildung der Bauerninternationale ist ein außerordentlich großes Ereignis. Einige Genossen haben nicht geglaubt, dass daraus eine große Organisation heraus wachsen wird … Jetzt bekommen wir eine große Hilfsmaschine – das Bauerntum …“ (9)

Kurz nachdem der „Volksführer“ solche politischen Höhen erklommen hatte, kehrte er nach Kroatien zurück, sagte sich schon ein Jahr später, 1925, von der „Bauerninternationale“ los, söhnte sich mit der Monarchie aus und trat der jugoslawischen Regierung bei.

Auf ähnlich tönernen Füßen stand die Anbiederung an La Follette, einen „linken“ Populisten in den USA, der auch zum „Farmerführer“ hochstilisiert wurde. La Follette war bis 1925 Senator für Wisconsin und Mitglied der Republikanischen Partei, trat aber 1924 für die „Progressive Partei“ als dritter Kandidat zu den Präsidentschaftswahlen an. Er war zweifellos ein bürgerlicher Politiker, wenn auch mit Anhang unter Farmern und den Gewerkschaften, und erhielt immerhin 17 Prozent der Stimmen.

Teile der Führung der Kommunistischen Partei der USA betrachteten die Bewegung La Follettes jedoch als Ausgangspunkt für die Schaffung einer „Arbeiter- und Bauernpartei“, die sich immer weiter radikalisieren würde. Millionen Farmer, so die Prawda im Juli 1924, würden durch die Agrarkrise in den USA „freiwillig oder unfreiwillig auf einmal (!) zu der Arbeiterklasse hingestoßen.“ (10)

Die Kommunistische Partei und die Kommunistische Internationale erwogen nicht nur eine Unterstützung der Wahl LaFollettes, sondern sahen auch die Stunde zur Bildung einer „ArbeiterInnen- und Bauernpartei“ in den USA gekommen.

„Die Presse sprach andauernd über die nahe bevorstehende Bildung einer Arbeiter- und Farmerpartei in Amerika zum Sturze des Kapitals, auf einer nicht rein proletarischen, ,aber klassenmäßigen’ Grundlage. Was der ‚nicht proletarische, aber klassenmäßige’ Charakter bedeuten sollte, konnte kein Weiser weder diesseits noch jenseits des Ozeans deuten. Letzten Endes war das ja nur eine pepperisierte Ausgabe des Gedankens einer ‚gemeinsamen Arbeiter- und Bauernpartei’, auf die wir noch in Verbindung mit den Lehren der chinesischen Revolution ausführlicher zu sprechen kommen. Hier genügt es nur festzustellen, dass diese reaktionäre Idee von nichtproletarischen, aber klassenmäßigen Parteien voll und ganz der pseudolinken Politik des Jahres 1924 entsprungen ist, welche sich, da sie den Boden unter den Füßen verlor, an Radic, La Follette und an die aufgebauschten Zahlen der Bauerninternationale klammerte.“ (11)

Das opportunistische Abenteuer in den USA endete abrupt, nachdem sich die FührerInnen der „Progressiven Partei“ als Anti-KommunistInnenen erwiesen hatten und jede Unterstützung durch die KommunistInnen ablehnten. Damit verschwand auch das Projekt der ArbeiterInnen- und Bauernpartei in den USA stillschweigend von der Bildfläche, die von der Kommunistischen Partei vorsorglich schon gegründet worden war.

Die Politik des Jahres 1924 ist so wichtig, weil diese opportunistischen Fehler später in der chinesischen Revolution und bei der Charakterisierung der Guomindang (Kuomintang) in einem weit größeren, tragischen Maße wiederholt werden sollten.

Die Idee der ArbeiterInnen- und Bauernpartei selbst stellt keine „kluge Taktik“, sondern einen fundamentalen Bruch mit dem Marxismus dar. Es geht dabei nicht darum, ob KommunistInnen in eine solche Formation intervenieren sollen oder nicht. In den Diskussionen in den USA ging es darum, eine solche „Zwei-Klassen-Partei“ selbst zu schaffen. Das bedeutet jedoch, dass die KommunistInnen ihr Ziel, ja den Kampf um eine Partei, die auf einem revolutionären, sozialistischen Programm fußt, aufgeben müssen. Schließlich kann eine Partei, die sich einerseits auf das Proletariat, andererseits auf eine Klasse von KleineigentümerInnen und kleinen WarenproduzentInnen stützt, nicht konsequent kommunistisch, also für die Abschaffung der Warenproduktion, sein.

Eine solche Partei würde allenfalls eine linke Neuauflage der russischen SozialrevolutionärInnen darstellen – samt all ihrer inneren Widersprüche.

Die Kommunistische Internationale wandte sich nach dem Fiasko in den USA Ende 1924 von der Ausrichtung auf die Bauernschaft und der Schaffung von ArbeiterInnen- und Bauernparteien ab. Sie vollzog diesen Schritt aber aus rein empirischen Gründen, aufgrund des offenkundigen und peinlichen Scheiterns des opportunistischen Abenteuers. Eine gründliche Bilanz und Selbstkritik blieben aus. Kein Wunder also, dass sich die Tragödie wiederholen sollte.

Pilsudski in Polen

Ein weiteres, dramatischeres Beispiel für eine solche Fehleinschätzung ist die Anbiederung an die Militärregierung Pilsudski 1926. Die Kommunistische Internationale vollzog schon 1925 politisch eine Rechtswende, die sich in der Kodifizierung der Ideologie vom Aufbau des Sozialismus in einem Land und der rechten Politik in der Sowjetunion (inklusive der dafür notwendigen programmatischen Verrenkungen) selbst äußerte; sie forcierte die Bereicherung der mittleren und größeren Bauern auf dem Land und wandte sich gegen eine rasche Industrialisierung der Sowjetunion.

Außenpolitisch sind die wichtigsten Beispiele für diese Wende das „anglo-russische Gewerkschaftskomitee“ und die rechte, opportunistische Politik in China. Die strategische Ausrichtung auf die „demokratische Diktatur der ArbeiterInnen- und Bauern“, die Lenin und die Bolschewiki in der russischen Revolution hinter sich gelassen hatten, wurde wiederbelebt – nicht nur in kolonialen und halb-kolonialen Ländern wie China, Indien oder der Türkei, sondern auch in Polen.

Anschließend an die oben beschriebenen ersten Vorstöße sind die politischen Entwicklungen 1926 für die Diskussion gegenüber kleinbürgerlichen, „radikalen“ wie reaktionären Kräften entscheidend. In diesem Jahr putschte der polnische Marschall Pilsudsiki und errichtete eine bonapartistische Diktatur.

Bei seinem Staatsstreich im Mai 1926 stützte er sich nicht nur auf ganze Regimenter der polnischen Armee, sondern auch auf die Bauernschaft sowie unzufriedene Teile des städtischen Kleinbürgertums und der ArbeiterInnenklasse. Das korrupte, politisch instabile und wenig handlungsfähige Parteiensystem war den Massen verhasst. Die verschiedenen Fraktionen des polnischen „Liberalismus“ stritten im Parlament vor allem um ihre Pfründe und ihren Anteil an den Profiten in einem krisengeschüttelten kapitalistischen System.

Pilsudski, der schon im Krieg gegen die Rote Armee Staatschef und Oberkommandierender der Armee war, präsentierte sich als „Retter der Nation“ vor einem korrupten Parteiensystem – heute würde man „Establishment“ sagen. Der glühende Anti-Kommunist gab sich zugleich als „sozial“ und „volksnah“, wobei ihm seine Wurzeln im nationalistischen Flügel des polnischen Sozialismus (der PPS) zugutekamen. Die PPS selbst stand der Machtergreifung positiv gegenüber, auch wenn sie sich nach 1926 formell als Oppositionspartei präsentierte.

Die Polnische Kommunistische Partei, deren Führung sich dem Kurs der Sowjetbürokratie unter Stalin anzupassen suchte, interpretierte den Putsch Pilsudskis im Sinne der rechten Politik der Kommunistischen Internationale als einen Schritt zur „demokratischen Diktatur der ArbeiterInnen und Bauern“ und rief die ArbeiterInnenklasse zur Unterstützung der Machtergreifung auf.

Die Realität der Diktatur Pilsudiskis zwang die polnische Partei nicht nur zu einer raschen Korrektur, sondern sogar zu einer kritischen Bilanz ihres verheerenden Fehlers, ohne jedoch dessen Ursachen zu erfassen. Im Juli 1926 trat das Exekutivkomitee der KI zusammen und Warski legte im Namen der Partei eine Selbstkritik vor. In der Diskussion konnte auch Trotzki das Wort ergreifen. Sein Beitrag ist von Interesse, weil er die politischen Ursachen des Aufstiegs Pilsudiskis untersucht. Zweifellos enthält Trotzkis eigene Einschätzung die Schwäche, die Diktatur Pilsudskis (im Gegensatz zu Isaac Deutscher und der späteren polnischen Linksopposition) als Form des „Faschismus“ zu bezeichnen. Nichtsdestotrotz liefert Trotzki eine kurze, treffende Analyse des Zusammenwirkens von Krise, Radikalisierung im KleinbürgerInnentum und einer „präventiven Konterrevolution“. Zusammenfassend charakterisierte Trotzki den Putsch folgendermaßen:

„Das ist eine antiparlamentarische und vor allem antiproletarische Konterrevolution, mit deren Hilfe die niedergehende Bourgeoisie – und zumindest für einige Zeit nicht ohne Erfolg – versucht, ihre grundlegenden Positionen zu verteidigen und zu halten.“ (12)

Der Pilsduski-Putsch versuchte, so Trotzki, ähnlich wie der Faschismus in Italien (und am linken Flügel der bürgerlichen Revolution in Frankreich der Jakobinismus) die bürgerliche Ordnung mit den Mitteln einer kleinbürgerlichen Bewegung zu retten, die sich selbst gegen die traditionellen bürgerlichen parlamentarischen Herrschaftsformen wandte, die der Bourgeoisie nicht mehr die reibungslose Herrschaft sichern können. Aber die Bourgeoisie fürchtet zugleich die Turbulenzen, Erschütterungen, Verwerfungen, die eine solche Mobilisierung mit sich bringt. Das erklärt auch den Konflikt zwischen der rechten Reaktion vom rechten Populismus bis hin zum Faschismus einerseits und den traditionellen Parteien der Bourgeoisie andererseits, da die Errichtung einer autoritären oder bonapartistischen Herrschaft sowie eine Reorganisation der Herrschaftsform und Institutionen immer eine Periode der Instabilität einschließt (bis hin zur Institutionalisierung eines präventiven Bürgerkrieges).

In seinem Beitrag nimmt Trotzki dabei Bezug auf einen Einwand Warskis. Dieser weist darauf hin, dass die parlamentarische Demokratie doch die eigentliche politische Domäne des KleinbürgerInnentums wäre. Trotzki entgegnet darauf folgendermaßen:

„Jedoch nicht immer und nicht unter allen Bedingungen. Sie kann ihre Leuchtkraft auch verlieren, dahindämmern und mehr und mehr ihre Schwächen zeigen. Und da sich die Großbourgeoisie auch in einer Sackgasse befindet, wird die parlamentarische Demokratie zu einem Spiegel einer ausweglosen Situation und des Niedergangs der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Das Kleinbürgertum, das dem Parlamentarismus eine so große Bedeutung zugemessen hat, beginnt selbst, dessen Last zu fühlen und nach außerparlamentarischen Auswegen zu suchen. Der Pisludskismus ist ein Versuch, auf die Probleme des Kleinbürgertums eine außerparlamentarische Antwort zu geben. Aber darin liegt auch schon die Ursache für die unvermeidliche Kapitulation vor der Großbourgeoisie. (…) Auf den ersten Blick erscheint es, als würde sich das Kleinbürgertum mit dem Schwert in der Hand gegen das bürgerliche Regime wenden, aber seine Revolte endet mit der Übergabe der Macht an die große Bourgeoisie durch ihre eigenen Führer, jener Macht, die sie auf dem Weg des Blutbades ergriffen hat.“ (13)

Entscheidend ist die Betrachtung des Kleinbürgertum und der Mittelschichten in Krisenperioden, auch wenn Trotzki 1926 eine Tendenz an den Tag legt, diese Reaktionen unisono als mehr oder weniger entwickelte Formen des Faschismus zu charakterisieren. Ohne Probleme lässt sich die Analyse aber auch auf andere, nicht-faschistische Formen „populistischer“ Kräfte anwenden. KleinbürgerInnen und Mittelschichten (bis hin zu Teilen der ArbeiterInnenklasse) verlieren in der Krise ihr Vertrauen in die parlamentarische Demokratie und suchen nach „außerparlamentarischen“ Alternativen, die gegen die etablierten Formen demokratischer Herrschaft und die diese tragenden Parteien gerichtet sind.

Der Fehler der KP lag aber darin, dies als Ausdruck der wirklichen Bedürfnisse des KleinbürgerInnentums zu interpretieren und damit zu ignorieren, dass es vielmehr eine reaktionäre kleinbürgerliche Bewegung war, die nur zu einer Errichtung der Herrschaft der Großbourgeoisie, wenn auch in anderer Form (autoritäre Diktatur) führen konnte. Damit verweist er schon darauf, dass jede solche Bewegung, wo sie an die politische Macht kommt, dazu tendiert, autoritäre oder bonapartistische Herrschaftsformen zu etablieren, die politische Macht in „einer Hand“ zu konzentrieren und damit die Machtmittel gegen die ArbeiterInnenklasse weiter zu zentralisieren und zu festigen.

Der Grundfehler in der Analyse besteht dabei darin, das KleinbürgerInnentum oder die Mittelschichten als eine selbstständige politische Kraft zu betrachten, die unabhängig von den Hauptklassen ein eigenes Regime, im Falle der stalinisierten Kommunistischen Internationale, eine „demokratische Diktatur“ errichten könne.

Deutschland: „Volksrevolution“ oder proletarische Revolution?

Auch die KPD vertrat in den 1920er Jahren und insbesondere auch ihrer ultra-linken Periode einige Abweichungen Richtung Populismus und Nationalismus, die verdeutlichen, welche Fehler eine falsche Klassenanalyse mit sich bringt.

Dabei wurden zwei miteinander verbundene Fragestellungen diskutiert. Erstens warfen die Bedingungen des Versailler Friedens die Frage auf, ob Deutschland noch eine imperialistische Macht oder vielleicht schon eine Halbkolonie geworden wäre und somit der Kampf gegen das „Diktat von Versaille“ eine ungewöhnliche Form des Antiimperialismus darstellen würde. Aus dieser (falschen) Analyse speiste sich nicht nur die reaktionäre Strömung des „National-Bolschewismus“, sondern auch die Position Thalheimers, der der deutschen Bourgeoisie im Kampf gegen die Ruhr-Besetzung eine „objektiv revolutionäre Außenpolitik“ attestierte. Die sogenannte „Schlageter-Rede“ Radeks vor dem Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale stellte eine extrem opportunistische Spielart der Anpassung an die nationalistischen Stimmungen des Kleinbürgertums dar.

Schlageter war ein Angehöriger der Freikorps und der „Großdeutschen Arbeiterpartei“, einer NSDAP-Tarnorganisation. Im Widerstand gegen die Ruhrbesetzung durch Frankreich im Jahr 1923 wurde er festgenommen, von einem französischen Militärgericht wegen Sabotage und mehrerer Sprengstoffanschläge verurteilt und exekutiert.

In seiner Rede vom Juni 1923 ehrt Radek den „mutigen Soldaten der Konterrevolution“, der es verdiene, „von uns Soldaten der Revolution männlich-ehrlich gewürdigt zu werden.“ Und weiter: „Wir werden alles tun, daß Männer wie Schlageter, die bereit waren, für eine allgemeine Sache in den Tod zu gehen, nicht Wanderer ins Nichts, sondern Wanderer in eine bessere Zukunft der gesamten Menschheit werden. (…) Die Sache des Volkes zur Sache der Nation gemacht, macht die Sache der Nation zur Sache des Volkes.“ (14)

Radek und für einige Zeit auch die KPD-Führung hofften, durch eine extreme Anpassung an die rechten ArbeiterInnen und KleinbürgerInnen diese für „die Sache der Revolution“ zu gewinnen. In Wirklichkeit hat dieser Kurs wie alle anderen nationalistischen Anpassungen nur die eigenen Reihen verwirrt und den Internationalismus geschwächt. Zugute kam diese Linie den Rechten, die sie als Bestätigung ihrer nationalistischen Ideologie ausschlachteten, und der Sozialdemokratie, die jedes dieser reaktionären Abenteuer ausnutzte, um die reformistischen ArbeiterInnen gegen die Agitation und Propaganda der KPD zu immunisieren. Oft genug stellten die nationalistischen Anpassungen die Grundlage für die andere Seite der Sozialfaschismustheorie dar.

Besonders dramatisch zeigte sich diese Anbiederung beim sog. „Roten Volksentscheid“ und der „Programmerklärung der KPD zur nationalen und sozialen Befreiung des Deutschen Volkes“ (15) aus dem Jahr 1930. Die Revolution wurde zur „Volksrevolution“. Diese nationalistische Propaganda war die Kehrseite der ultralinken Weigerung, die Sozialdemokratie zur Bildung einer Einheitsfront gegen den Faschismus aufzufordern. Die Ersetzung des Begriffs der proletarischen Revolution durch die „Volksrevolution“ kritisierte Trotzki scharf und klar:

„Natürlich ist jede große Revolution eine Volksrevolution oder nationale Revolution in dem Sinne, daß sie alle lebensfähigen und schöpferischen Kräfte der Nation um die revolutionäre Klasse schart, die Nation um einen neuen Kern herum organisiert. Aber das ist keine Kampfparole, sondern eine soziologische Beschreibung der Revolution, die ihrerseits genaue und konkrete Begriffe erfordert. ‚Volksrevolution’ als Slogan ist eine Leerformel, Scharlatanerie; macht man den Faschisten auf diese Art Konkurrenz, so ist der Preis, daß man die Köpfe der Arbeiter mit Verwirrung erfüllt.“ (16)

Und weiter:

„Nun die neue Wendung: Volksrevolution anstelle der proletarischen Revolution. Der Faschist Strasser sagt: 95 Prozent der Bevölkerung haben Interesse an der Revolution, folglich ist das keine Klassen-, sondern eine Volksrevolution. Thälmann stimmt in den Chor ein. Die Arbeiter-Kommunisten müßten dem faschistischen Arbeiter sagen: Natürlich werden 95, wenn nicht 98 Prozent der Bevölkerung vom Finanzkapital ausgebeutet. Aber diese Ausbeutung ist hierarchisch organisiert: es gibt Ausbeuter, Nebenausbeuter, Hilfsausbeuter usw. Nur dank dieser Hierarchie herrschen die Oberausbeuter über die Mehrheit der Bevölkerung. Damit sich die Nation tatsächlich um einen neuen Klassenkern reorganisieren kann, muß sie ideologisch reorganisiert werden, und das ist nur möglich, wenn sich das Proletariat selbst nicht im ‚Volk’ oder in der ‚Nation’ auflöst sondern im Gegenteil ein Programm seiner proletarischen Revolution entwickelt und das Kleinbürgertum zwingt, zwischen zwei Regimen zu wählen. Die Losung der Volksrevolution lullt das Kleinbürgertum ebenso wie die breiten Massen der Arbeiter ein, versöhnt sie mit der bürgerlich-hierarchischen Struktur des ‚Volkes’ und verzögert ihre Befreiung. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen in Deutschland vermischt die Losung einer ‚Volksrevolution’ die ideologische Demarkation zwischen Marxismus und Faschismus und versöhnt Teile der Arbeiterschaft und des Kleinbürgertums mit der faschistischen Ideologie, da sie ihnen gestattet, zu glauben, daß sie keine Wahl treffen müssen, wenn es doch in beiden Lagern um eine Volksrevolution geht.“ (17)

Die Methode, die der Politik der KPD unter Thälmann (und teilweise schon davor) zugrunde lag, stellt nicht nur eine politische Anbiederung, sondern auch einen Bruch mit dem marxistischen Verständnis von der Klassenlage des KleinbürgerInnentums dar. Im vorrevolutionären Russland war es für die Fähigkeit des Bolschewismus, das KleinbürgerInnentum in einer proletarischen Revolution zu führen, also die Bauernschaft zu gewinnen, entscheidend, eine unabhängige, eigenständige proletarische Politik zu vertreten und eine dementsprechende Klassenpartei aufzubauen. Das bedeutete nicht, die Nöte und Forderungen kleinbürgerlicher Schichten zu ignorieren; aber die ArbeiterInnenklasse kann diese nur führen, wenn sie konsequent ihr eigenes Klassenprogramm und ihre eigene Klassenpolitik verficht. In Trotzkis Worten: sie muss die Mittelschichten vor eine Wahl stellen zwischen bürgerlichem oder proletarischem Regime.

Der theoretische Vordenker des Linkspopulismus, Ernesto Laclau, greift genau diese Position des revolutionären Marxismus in seinem Buch „Politik und Ideologie des Marxismus“ an. So unterschiedlichen TheoretikerInnen und Linken wie Trotzki, Luxemburg, Poulantzas, Bordiga und Grossmann, ja selbst dem Austro-Marxismus wirft er „Klassenreduktionismus“ vor. Daher verteidigt er auch den Kurs der Schlageter-Rede und Thälmanns National-Kommunismus gegen seine KritikerInnen. Laclau gesteht zwar opportunistische Fehler bei deren Umsetzung zu, sein Hauptkritikpunkt an Radek oder Thälmann besteht aber darin, dass sie sich vom „Klassenreduktionismus“ nicht wirklich frei gemacht und die Anpassung an kleinbürgerliche Schichten nur als taktische Zugeständnisse verstanden hätten. Darauf aufbauend formuliert er seine Alternative:

„Die Arbeiterklasse hätte sich als jene Kraft präsentieren müssen, die die historischen Kämpfe des deutschen Volkes zu ihrem Abschluß führt, und zum Sozialismus als deren Vollendung: Sie hätte auf die Grenzen des Preußentums hinweisen müssen, dessen Zweideutigkeiten und Kompromisse mit den alten herrschenden Klassen zur nationalen Katastrophe geführt hatten, und sie hätte an alle popularen Schichten appellieren müssen, für eine Renaissance zu kämpfen, die sich in gemeinsamen ideologischen Symbolen verdichten ließe: Nationalismus, Sozialismus und Demokratie.“ (18)

Zustimmend zitiert Laclau Dimitrows Rede auf dem 7. Weltkongress der Kommunistischen Internationale und begrüßt die Volksfrontpolitik als einen, wenn auch unvollständigen Bruch mit dem „Klassenreduktionismus“.

In der Tat ist die Frage des Verständnisses des KleinbürgerInnentums und seiner lohnabhängigen Schichten eine entscheidende zum Verständnis populistischer Bewegungen. Das unterschiedliche Verständnis markiert auch einen ausschlagebenden Bruchpunkt zwischen Marxismus und Populismus.

Für den Populismus besteht die Antwort auf die Radikalisierung des KleinbürgerInnentums darin, einen strategischen Block des „Volkes“ – von ArbeiterInnenklasse, KleinbürgerInnentum und sogar Teilen der Bourgeoisie – gegen die „Elite“, gegen den bestehenden reaktionären Machtblock zu bilden. Die Politik der KPD in den 1920er Jahren wies – wenn auch auf Grundlage eines formalen Bekenntnisses zur ArbeiterInnenklasse als einzig konsequent revolutionärer Kraft – immer wieder Abgleitflächen zu reaktionären Strömungen des KleinbürgerInnentums und auch zum Faschismus auf.

Die Auswirkungen sind dabei schon verheerend genug: politisch-ideologische Anpassung und die Verwirrung der ArbeiterInnenklasse. Mit der Volksfrontpolitik nimmt das systematische Züge an. An die Stelle eines Zick-Zack-Kurses und eines Abenteurertums, das oft nur episodischen Charakter trug, tritt eine grundlegende Strategie, die zur Unterordnung der proletarischen Revolution unter ein Bündnis mit dem „demokratischen“ Flügel der Bourgeoisie führen muss.

Die Volksfronten in Frankreich und Spanien in den 1930er Jahren führten zur Unterordnung der ArbeiterInnenparteien unter jene des KleinbürgerInnentums und der Bourgeoisie und zu politischen Katastrophen. Die Herrschaft der Volksfront nimmt dabei selbst bonapartistische Züge an, weil die widerstreitenden Klassenkräfte, die sie formieren, nicht nur durch ideologische Verkleisterung gebändigt werden können, sondern die „gemeinsamen“, das heißt bürgerlichen Interessen, im Notfall durch den Staat und seine „Autorität“ gegen die lohnabhängigen und unterdrückten Massen verteidigt werden müssen.

Chinesische Revolution und Guomindang

Die systematische Klassenkollaboration, die in den 1930er Jahren in Frankreich und Spanien als „Volksfront“ ihren konterrevolutionären Charakter offenbarte, wurde von der stalinistischen Kommunistischen Internationale in den kolonialen und halb-kolonialen Ländern schon in den 1920er Jahren ausprobiert. Ihre ersten dramatischen Auswirkungen hatte sie in China im Bündnis mit der Guomindang.

Die Guomindang war 1912 unter Sun Yatsen gegründet worden. Sie war die erste bürgerliche Partei des Landes und umfasste ein breites Spektrum, das von offenen AnhängerInnen der Kapitalistenklasse über Warlords bis zu linkeren intellektuellen Strömungen reichte. Das ideologische Band der Guomindang bildeten die „drei Prinzipien des Volkes“ (Nationalismus, Demokratie und Volkswohlfahrt), die letztlich die Interessen einer ökonomisch schwachen Bourgeoisie zum Ausdruck brachten, die als „gleichberechtige Partnerin“ von den imperialistischen Mächten anerkannt werden wollte.

Unter „Nationalismus“ verstand Sun Yatsen, der Schöpfer der „drei Prinzipien“, von Beginn an nicht nur das Recht auf „Gleichheit“ mit den imperialistischen Mächten, sondern auch auf Vorherrschaft der Han-ChinesInnen in einem Groß-China. Unter „Demokratie“ schwebte ihm keine „Volksherrschaft“, sondern die politische Erziehung der Masse durch aufgeklärte FührerInnen seines Schlages vor. Die „Volkswohlfahrt“ schließlich sollte die Klassengegensätze mildern. Den Klassenkampf lehnte die Sun-Yatsen-Ideologie kategorisch ab. Stattdessen wurde der „Ausgleich“ zwischen allen gesellschaftlichen Kräften versprochen. So sollte zum Beispiel eine Landreform den Armen ihre Rechte sichern, zugleich aber auch denen, die Eigentum besaßen, keine Nachteile bringen.

Der chinesische Kommunismus entwickelte sich ursprünglich aus einer Kritik an und Abgrenzung von der Ideologie der Guomindang. Die 1921 gegründete Kommunistische Partei Chinas charakterisierte sie korrekt als bürgerliche Partei, mit der jedoch die Zusammenarbeit gegen den Imperialismus angestrebt wurde.

„Die Zusammenarbeit mit nationalistischen Bewegungen war unter der äußerst wichtigen Bedingung erstrebenswert und notwendig, dass die Unabhängigkeit der proletarischen Organisation erhalten blieb, ‚sei es auch in ihrer Keimform’.“ (19)

Schon bald sollte die KP Chinas unter dem Druck der Kommunistischen Internationale und ihrer BeraterInnen einen Schwenk zum Eintritt in die Guomindang vollziehen. 1922 traten die Kader einzeln ein, 1923 wurde der Beitritt formell beschlossen. Doch nicht nur das. Während das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale im Januar 1923 noch davon sprach, dass die KommunistInnen, auch wenn sie in der Guomindang arbeiten, ihr eigenes Banner keinesfalls einrollen sollten, änderte sich auch diese Position im Laufes des Jahres. Der dritte Kongress der KP Chinas erklärte, dass „die Guomindang die zentrale Kraft der nationalen Revolution sein und eine führende Position einnehmen sollte.“ (20)

Damit war nicht nur der Eintritt vollzogen. Gleichzeitig änderten die KP Chinas und die Kommunistische Internationale auch ihre Einschätzung der Klassendynamik der Revolution. Da die chinesische Revolution bürgerlich sein werde, müsse die Bourgeoisie auch deren führende Kraft sein. Die Argumentationslinie der Menschewiki aus den Jahren 1905 und 1917 wurde zur jenigen der von Stalin geführten Kommunistischen Internationale. Damit blieb der KP nur die Rolle der loyalen Unterstützerin.

Doch nicht nur die menschewistische Etappentheorie der Revolution wurde wiederbelebt, die KP Chinas und die Kommunistische Internationale definierten auch den Klassencharakter der Goumindang neu. Sie galt nun nicht mehr als bürgerliche Partei.

„Die Komintern tat dasselbe und rationalisierte dieses Verwischen der Klassengrenzen, indem sie die Theorie entwickelte, die Guomindang sei nicht die Partei der Bourgeoisie, sondern eine Partei, in der alle Klassen sich vereinigen, um gemeinsame Sache gegen den ausländischen Eindringling zu machen. Diese Auffassung, die zunächst in der Praxis etabliert wurde, fand bald Eingang in die offiziellen Dokumente der Komintern und bestimmte die gesamte zukünftige Richtung ihrer Strategie.“ (21)

Die Kommunistische Internationale stellte ab 1924 die Guomindang als Vorbild für weitere Länder Asiens hin, indem sie diese als Modell zur Schaffung von „ArbeiterInnen- und Bauernparteien“ propagierte. Stalin selbst brachte die Position folgendermaßen auf den Punkt:

„Von der Politik der nationalen Einheitsfront müssen die (…) Kommunisten zur Politik eines revolutionären Blocks zwischen den Arbeitern und der Kleinbourgeoisie übergehen. Dieser Block kann in solchen Ländern die Form einer Einheitspartei, einer Arbeiter-und-Bauernpartei annehmen, etwa nach Art der Kuo-min-tang.“ (22)

Galt die Guomindang noch am Beginn des Eintritts als bürgerliche Partei, so war wenige Jahre später nicht nur ihr Klassencharakter vollkommen auf den Kopf gestellt, die bürgerliche Klasse schien überhaupt aus der Partei verschwunden zu sein. Dumm nur, dass sie in der chinesischen Revolution als Schlächterin der ArbeiterInnenklasse umso sichtbarer auftrat. Trotzki kritisiert diesen Bruch mit dem Marxismus scharf und verweist zugleich die Guomindang als „maskierte Partei“:

„Die berüchtigte Idee der ‚Arbeiter-und-Bauern’-Parteien scheint speziell zur Maskierung der bürgerlichen Parteien geschaffen zu sein, die gezwungen sind, Rückhalt bei den Bauern zu suchen, aber auch bereit sind, Arbeiter in ihre Reihen aufzunehmen. Als nunmehr klassischer Typ einer solchen Partei ist die Guomindang für alle Zeiten in die Geschichte eingegangen.“ (23)

Der Uminterpretation der Guomindang zu einer „ArbeiterInnen- und Bauernpartei“ oder einer „Partei aller Klassen“ liegt auch eine falsche Vereinfachung der politischen Gegensätze im Land zugrunde. In der Kommunistischen Internationale wurde die Lage in China oft als eine Konfrontation zweier Lager interpretiert, die sich unversöhnlich gegenüberstünden. Einerseits das Lager der ImperialistInnen und MilitaristInnen sowie einiger Schichten der chinesischen Bourgeoisie, andererseits das Lager der ArbeiterInnen, HandwerkerInnen, KleinbürgerInnen, StudentInnen, der Intelligenz und einiger Gruppen der national gesinnten Bourgeoisie, gewissermaßen die Urform des „Blocks der vier Klassen“. Trotzki stellt dieser vereinfachten Sicht seine Position gegenüber:

„In der Tat gibt es in China drei Lager: die Reaktion, die liberale Bourgeoisie und das Proletariat, das um Einfluß auf die unteren Schichten des Kleinbürgertums und der Bauernschaft kämpft.“ (24)

Trotzki betrachtet hier den Kampf um die chinesische Revolution als Kampf der gesellschaftlichen Hauptklassen, die um den Einfluss in den kleinbürgerlichen Massen ringen. Die Vorstellung zweier klassenübergreifender Lager hingegen bedeutet, die selbstständige Politik der ArbeiterInnenklasse im „Block“ aufzulösen und hintanzustellen. Parteien wie die Guomindang tragen im Übrigen dazu bei, eine solche falsche Einheit und den Schein zweier Lager selbst zu erzeugen:

„Die Guomindang in ihrer jetzigen Gestalt schafft die Illusion zweier Lager, indem sie an der nationalrevolutionären Maskierung der Bourgeoisie mitwirkt und folglich deren Verrat erleichtert.“ (25)

Nur wenn die Revolution als eine begriffen wird, in der die ArbeiterInnenklasse um die politische Führung über die Volksmassen (also die Bauernschaft) mit den verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie (Liberale und Reaktion) ringt, kann auch die Frage der Machtergreifung der ArbeiterInnenklasse, gestützt auf die Bauernschaft, als Aufgabe verstanden werden. Genau diese Sicht auf die eigentliche Dynamik der chinesischen Revolution wird verschleiert, wenn sie als Kampf zweier bürgerlicher „Lager“, eines „fortschrittlichen“ und eines „reaktionären“, begriffen wird. Dann kann die Revolution praktisch nur mit Sieg der Reaktion oder der zum „Volk“ verklärten bürgerlich-demokratischen Bourgeoisie enden. Damit ist die Unterordnung des Proletariats folgerichtig – einschließlich all seiner tragischen Opfer.

Der reaktionäre Gehalt der „klassenübergreifenden“ oder der „ArbeiterInnen- und Bauernpartei“ wird hier ebenso offenbar wie jener der Vorstellung, dass sich in einem Land nicht antagonistische Klasse gegenüberstünden, sondern „Lager“, die ihrerseits heterogene Klassenkräfte als scheinbar gleiche PartnerInnen umfassen. In Wirklichkeit kann das nur bedeuten, dass die ArbeiterInnenklasse ihre unmittelbaren wie historischen Interessen den anderen Klassen im Lager, also deren bürgerlicher Führung, unterordnet.

Die Kommunistische Internationale hat den chinesischen Fehler in zahlreichen Kolonien und Halbkolonien wiederholt. Aber auch in der Volksfrontpolitik findet sich das falsche Konzept verschiedener „Lager“ wieder. So wird z. B. der Kampf gegen den Faschismus nicht als einer zwischen der Bourgeoisie, einer reaktionären Massenbewegung (die letztlich auch zu einer neuen bürgerlichen Ordnung führt) und der ArbeiterInnenklasse begriffen, die um die politische Führung und klassenmäßige Neuorganisation des Landes ringen, sondern auf einen zwischen „Faschismus“ und „Demokratie“ verkürzt. In der spanischen Revolution wurden ArbeiterInnenklasse und Bauernschaft mit äußerster Brutalität und dem ganzen repressiven Apparat des Stalinismus in die Volksfront gezwungen (oder liquidiert) – mit dem Resultat einer vernichtenden Niederlage, die in ihrer historischen Bedeutung jener der chinesischen Revolution gleichkommt.

Volksfrontparteien in Lateinamerika

Ende der 1930er Jahre zwangen die Entwicklungen in Mexiko und anderen lateinamerikanischen Ländern die revolutionäre Linke zu einer Beschäftigung mit links-bürgerlichen Bewegungen und Regimen, die sich auch auf bedeutende Teile der Bauernschaft und der ArbeiterInnenklasse stützten.

Bedeutendes Beispiel für diese Entwicklung waren die 1924 unter Führung des Peruaners Haya de la Torre gegründete APRA, die auf ihrem Höhepunkt in Peru, Chile, Kuba, Argentinien, Mexiko, Costa Rica und Haiti aktiv war. Ursprünglich war sie eine populistische, anti-imperialistische Bewegung auf der Basis eines Fünf-Punkte-Programms: Aktionen gegen den Yankee-Imperialismus; für Industrialisierung und Landreform; lateinamerikanische Einheit; Internationalisierung des Panama-Kanals und Solidarität aller unterdrückten Völker und Klassen. Präsentierte sich die APRA in den 1930er Jahren noch als revolutionär-demokratisch, so vollzog de la Torre nach dem Zweiten Weltkrieg einen scharfen Schwenk nach rechts, um die Legalisierung seiner Partei zu erreichen.

Das andere wichtige Beispiel der Entwicklung linker populistischer Parteien in Lateinamerika der Zwischenkriegszeit stellt die mexikanische PRM dar (Partido de la Revolución Mexicana; dt: Partei der mexikanischen Revolution). Gegründet wurde die Partei 1929 vom damaligen Präsidenten Mexikos, Plutarco Elías Calles. Unter Cárdenas, der von 1934–1940 Präsident war, wurde die Partei nicht nur umbenannt, sondern auch von oben vereinheitlicht und straff reorganisiert. 1946 hieß sie schließlich „Partido Revolucionario Institucional (PRI; dt: Partei der Institutionalisierten Revolution).

Trotzki konnte zwischen der APRA, der PRM, der Guomindang und den SozialrevolutionärInnen leicht Parallelen ziehen.

Gegen allzu euphorische Illusionen in den „linken“ Populisten de la Torre unterzogen Trotzki und Diego Rivera sein Programm einer scharfen Kritik. Dabei begnügten sie sich nicht damit, de la Torre nachzuweisen, dass er kein Sozialist war. Vielmehr zeigten sie, dass er auch kein „konsequenter“ Demokrat war und sein bürgerlicher „Antiimperialismus“ auf tönernen Füßen stand.

Ähnlich wie kleinbürgerliche oder bürgerliche NationalistInnen heute kritisierte de la Torre nicht nur den Chauvinismus und die Anpassung der ArbeiterInnenklassen der imperialistischen Länder an „ihre Bourgeoisie“ scharf. Er folgerte daraus, dass die Lohnabhängigen in den westlichen Ländern überhaupt nicht zur gemeinsamen Aktion und zum solidarischen Kampf gegen den Imperialismus fähig wären, also nicht zu einer revolutionären Klasse werden könnten.

Die Massen Lateinamerikas sollten daher ihre Hoffnungen auf einen gemeinsamen Kampf mit dem internationalen Proletariat fallen lassen und stattdessen auf die klassenübergreifende Einheit des „Volkes“ – der ArbeiterInnen, der Bauern und der „nationalen Bourgeoisie“ – setzen. Daher war die APRA auch von Beginn an als eine klassenübergreifende Partei konzipiert, in der ähnlich wie in der Guomindang nicht die Masse der bäuerlichen, kleinbürgerlichen oder proletarischen AnhängerInnen, die sich als KämpferInnen und AktivistInnen bewähren sollten, sondern eine kleine Schicht bürgerlicher Intellektueller das Sagen hatte.

Hier offenbart sich eine reaktionäre Facette des linken Populismus und des kleinbürgerlichen Nationalismus, die auch heute noch weit verbreitet ist. Während scheinbar radikal der ArbeiterInnenklasse in den imperialistischen Ländern jede Möglichkeit zur revolutionären Entwicklung abgesprochen wird, wird gleichzeitig auch die Notwendigkeit der Klassenunabhängigkeit in den halb-kolonialen und kolonialen Ländern beiseitegeschoben. Die ArbeiterInnenklasse geht in der „Volkspartei“, im „Volk“ auf. In Analogie zur französischen Volksfront charakterisiert Trotzki daher auch Parteien wie die APRA als eine „Volksfront in Parteiform“.

„Die Goumindang in China, die PRM in Mexiko und die APRA in Peru sind sehr ähnliche Organisationen. Sie sind die Volksfront in der Form einer Partei.“ (26)

Das zweite mit dieser scheinbar „radikalen“ Haltung gegenüber der westlichen ArbeiterInnenklasse verbundene Problem besteht darin, dass sich auch PopulistInnen vom Schlage de la Torres in der Stunde der Not, als zum Beispiel die Gefahr des Vormarsches des Faschismus in Lateinamerika drohte, nach internationalen Verbündeten umsehen müssen. Da es die globale oder die US-amerikanische ArbeiterInnenklasse nicht sein kann, findet der „Anti-Imperialist“ de la Torre die Retterin der Völker Lateinamerikas bei einer anderen Klasse, der imperialistischen Bourgeoisie der USA unter Roosevelt. Darauf verweisen Trotzki und Rivera, wenn sie de la Torre als „schlechten Demokraten“ bezeichnen. An diesem Beispiel zeigt sich nämlich einmal mehr, dass die Bourgeoisie der unterdrückten Nationen zu einem konsequenten Anti-Imperialismus, zu einem konsequenten Kampf für die bürgerliche Revolution nicht fähig ist, dass sie im Zweifelsfall den Beistand der herrschenden Klasse der imperialistischen Länder sucht.

Dies hängt unmittelbar mit den Klassenzielen der halb-kolonialen Bourgeoisie selbst zusammen. Sie richtet sich gegen den Imperialismus nur insofern, als sie selbst zu einer mächtigeren Kraft – im Idealfall zu einer imperialistischen Bourgeoisie – aufsteigen will. Dies ist, so weit bleibt die bürgerliche Klasse der unterdrückten Länder „realistisch“, nur in Ausnahmefällen und mit viel Risiko möglich, da die globalen Machtbeziehungen selbst grundlegend verändert werden müssten. Daher sucht die Bourgeoisie der halb-kolonialen Länder, selbst wenn sie Maßnahmen gegen das Auslandskapital oder einzelne imperialistische Länder ergreift, immer auch nach einem Kompromiss, letztlich nur einen etwas sonnigeren Platz in der imperialistischen Arbeitsteilung.

Die „Parteien in Form der Volksfront“ müssen dieser Zielsetzung entsprechen. Das betrifft einerseits ihre klassenversöhnlerische, populistische Ideologie. Andererseits muss auch in der inneren Organisation die Vorherrschaft der bürgerlichen Kräfte gesichert sein. Die interne Parteidemokratie, sofern vorhanden, wird daher immer eingeschränkt und trägt notwendigerweise einen plebiszitären Charakter. Fraktionen und politische Strömungen stehen dem entgegen.

Die „Demokratie“ wird stattdessen auf einzelne charismatische FührerInnen zugeschnitten, die sich durch ständige Zustimmung bestätigen lassen. Caudillismus und politischer Machismus sind keine zufälligen Erscheinungen, sondern folgerichtige Ausdrücke des inneren Verhältnisses zwischen den widerstreitenden Kräften einer solchen Partei. So wie im bonapartistischen Regime der „starke Mann“ scheinbar über den Klassen steht, so verlangt die volksfrontartige Partei nach einer Führungsfigur, die scheinbar über ihren Fraktionen, also über den Klassen in der Partei, steht – und auf diese Art die Hegemonie bürgerlicher Interessen sichert.

Anders als den imperialistischen Ländern, wo die Volksfront eines der letzten Mittel gegen die proletarische Revolution darstellt, muss die Volksfront in Lateinamerika wie generell in der halb-kolonialen Welt differenzierter betrachtet werden:

„Natürlich hat die Volksfront in Lateinamerika nicht denselben reaktionären Charakter wie in Frankreich oder Spanien. Sie ist zweiseitig. Sie kann eine reaktionäre Eigenschaft aufweisen, insofern sie gegen die ArbeiterInnen gerichtet ist; sie besitzt ein aggressives Merkmal, insofern sie gegen den Imperialismus gerichtet ist.“ (27)

Das liefert nicht nur die Grundlage, sondern auch die Notwendigkeit der gemeinsamen Aktion, der anti-imperialistischen Einheitsfront im Kampf gegen nationale Unterdrückung, gegen innere und äußere Reaktion – bei gleichzeitiger Wahrung der eigenen politischen Unabhängigkeit. Ziel muss jedoch trotzdem immer das Zerbrechen der illusorischen „Einheit“ der Klassen, die Errichtung einer eigenständigen, revolutionären ArbeiterInnenpartei sein.

Im Zusammenhang mit der mexikanischen PRM analysiert Trotzki jedoch nicht nur ein populistische Partei in Opposition (wie die APRA), sondern an der Regierung. Die Besonderheiten dieser Rolle hängen dabei selbst mit dem Klassencharakter der Bourgeoisie in den halb-kolonialen Ländern zusammen.

„In den industriell rückständigen Ländern spielt das Auslandskapital eine entscheidende Rolle. Daher auch die relative Schwäche der nationalen Bourgeoisie im Verhältnis zur nationalen ArbeiterInnenklasse… Die Regierung schwankt zwischen ausländischem und heimischem Kapital, zwischen einer schwachen nationalen Bourgeoisie und einem relativ machtvollen Proletariat. Dies verleiht der Regierung einen bonapartistischen Charakter eigener Art (sui generis). Sie erhebt sich sozusagen über die Klassen. Tatsächlich kann sie entweder regieren, indem sie sich zum Instrument des ausländischen Kapitalismus macht und das Proletariat an die Ketten eine Polizeidiktatur fesselt, oder indem sie gegenüber dem Proletariat manövriert und sogar so weit geht, diesem Zugeständnisse zu machen, und sich daher die Möglichkeit gewisser Freiheiten gegenüber den ausländischen KapitalistInnen verschafft.“ (28)

Wo eine solche bonapartische Regierung gegen das imperialistische Kapital vorgeht, in Konflikt mit der Reaktion gerät oder fortschrittliche Reformen (Verstaatlichung, Landreform, …) durchführt, eröffnet sich die Möglichkeit, ja Notwendigkeit, gemeinsam gegen die Reaktion zu kämpfen, müssen Forderungen an die populistische Partei und Regierung gestellt werden, um den Kampf voranzutreiben. Dabei müssen auch demokratische Spielräume wie die zugestandenen Mitbestimmungsrechte auf revolutionäre Art genutzt werden, wie Trotzki betont. Aber all das muss immer mit dem Kampf um die Unabhängigkeit der ArbeiterInnenklasse verbunden werden, um die Partei aus der Umklammerung in der Volksfront zu lösen.

Mehr noch als die oppositionelle populistische Partei tendiert nämlich die Volksfrontpartei an der Regierung dazu, die ArbeiterInnenklasse an den Rand zu drängen, selbst wenn sie sich anti-imperialistisch oder fortschrittlich gibt und progressive Reformen durchführt.

Ein Mechanismus besteht darin, dass die „Volksfrontpartei“ und erst recht ein bonapartistisches Regime der besonderen Art die Bauernschaft als gesellschaftliche Kraft zur Disziplinierung und Unterordnung der ArbeiterInnenklasse nutzt:

„Selbst unter diesen halbbonapartistisch-demokratischen Regierungen benötigt der Staat die Unterstützung der Bauernschaft und diszipliniert durch das Gewicht der Bauern die ArbeiterInnen.“ (29)

Hinzu kommt, dass die populistische Partei an der Macht über ganz andere Mittel zur Integration der ArbeiterInnenklasse und zur Ausschaltung oppositioneller Strömungen verfügt als eine Oppositionspartei. Die links-bonapartistischen Regime drängen auf die Verschmelzung von bürgerlichem Staat und ArbeiterInnenorganisationen, auf die systematischen Inkorporation nicht nur der zur „Einheitspartei“ werdenden populistischen Partei, sondern auch der Gewerkschaften.

Die historische Erfahrung mit links-nationalistischen und populistischen Regimen zeigt weitere, für die Politik der ArbeiterInnenklasse wesentliche Phänomene. Erstens dürfen „Demokratie“ und „Halbbonapartismus“ bzw. Bonapartismus sui generis nicht starr als einander ausschließende Gegensätze gefasst werden. Vielmehr kombiniert der linke Bonapartismus oft beide und schafft somit auch eine Quelle für demokratische Illusionen in sein Regime.

Zweitens können, wie nicht zuletzt die Geschichte Mexikos zeigt, linke bonapartistische Regime zu rechten, pro-imperialistischen Parteien mutieren – und die Unterordnung der ArbeiterInnenklasse unter die „Volksmasse“, die Verstaatlichung der Gewerkschaften können zu einer totalitären Herrschaftsform beitragen.

Trotzkis Analyse der chinesischen Revolution und der Lage in Lateinamerika hilft, die gesellschaftlichen Wurzeln des Populismus, die Entstehung rechter wie linker kleinbürgerlicher Bewegungen oder volksfrontartiger Parteien zu verstehen. Gerade indem er sie in Verbindung zu den Klassenverhältnissen setzt, vermag er herauszuarbeiten, dass die scheinbar klassenübergreifende Partei und Formation im Endeffekt immer eine ist, die die ArbeiterInnenklasse an einen Flügel der Bourgeoisie – entweder direkt über die bürgerlichen Kräfte in einer „Volksfront in Parteiform“ oder über das Kleinbürgertum – bindet und dieser unterordnet.

Dass sich diese Parteien in Klassenkämpfen, revolutionären Zuspitzungen oder an der Regierung an einem bestimmen Punkt offen gegen die ArbeiterInnenklasse wenden, ist daher kein Zufall, sondern entspringt der inneren Notwendigkeit jeder populistischen Partei. Sie ist in letzter Instanz eine bürgerliche Partei und damit auch Vertreterin der Interessen der herrschenden Klasse. Bündnisse der ArbeiterInnenklasse – so notwendig sie auch sein mögen – können immer nur begrenzter und zeitweiliger Art sein und sind nur auf der Basis der politischen Unabhängigkeit der Klasse zulässig.

Populismus

Auch wenn Lenin und Trotzki selbst nur selten den Begriff des Populismus verwenden, können wir doch einige Schlussfolgerungen aus ihrem Verständnis dieses politischen Phänomens ziehen.

Die historische Grundlage einer marxistischen Analyse des Populismus setzt sich aus drei Teilen zusammen. Zum ersten der Auseinandersetzung mit Kräften, die im Widerstand gegen kapitalistische Umwälzungen ein gemeinsames Interesse des Volkes an einem idealisierten, harmonischen und natürlichen Zustand der Gesellschaft vortäuschen. Das wichtigste Beispiel, auch für die Taktiken der KommunistInnen gegen solche Kräfte, sind die VolksfreundInnen im vorrevolutionären Russland, aber auch jene Strömumgen, die sich in der Auseinandersetzung mit dem Imperialismus herausgebildet haben. Die Auseinandersetzungen tragen den Kern der politischen Kritik, aber auch Beispiele für eine prinzipienfeste Herangehensweise an diese Kräfte in sich.

Zweitens ist der marxistische Begriff des Bonapartismus, der schon bei Marx vorkommt, aber von Trotzki systematisch angewandt wird, entscheidend. In einem Moment, in dem sich die Hauptklassen gegenseitig an der effektiven Machtausübung hindern, wird das Versprechen gemacht, sich über den Klassengegensatz und seine (oft bürgerlich-demokratischen) Institutionen hinwegzusetzen. Die Autorität des bonapartistischen Regimes ergibt sich aus der Zustimmung der Massen. Ihre Programme beinhalten oft großmundige Versprechen an die ArbeiterInnen, aber setzen notwendigerweise das Programm der KapitalistInnen um. Der Populismus verspricht (den Herrschenden), dasselbe zugrunde liegende Problem zu beheben, und weist ähnliche Bewegungsgesetze auf. Auch der Bezug auf einen starken bürgerlichen Staat zur Absicherung der Herrschaft, sobald die massenhafte Zustimmung abklingt, ist vergleichbar.

Drittens sind die Lehren aus dem Opportunismus der Kommunistischen Internationale ab 1924 in der Anbiederung an nicht-proletarische, populistische Parteien und besonders aus dem versuchten Aufbau von klassenübergreifenden Parteien (ArbeiterInnen- und Bauernparteien und gemeinsamen Formationen mit dem KleinbürgerInnentum) zu ziehen. Dort wird das Aufgeben eines eigenständigen Klassenstandpunkts der ArbeiterInnen zur Bedingung und der Kampf für den Sozialismus als programmatische Ausrichtung unmöglich. Dasselbe gilt für das wiederholte und blutige Scheitern von Versuchen, gemeinsame Parteien mit den KapitalistInnen in der Volksfronttaktik aufzubauen. Das bedeutet eine Unterordnung unter die KapitalistInnen und ihren Staat, der nur als kriminell gegenüber der ArbeiterInnenklasse bezeichnet werden kann. Beide müssen als Warnung vor der Illusion, als RevolutionärInnen mit Populismus erfolgreich sein zu können, ernst genommen werden.

Dazu kommt die Notwendigkeit, die Gemeinsamkeiten der beschriebenen historischen Situationen und politischen Entwicklungen zu erkennen und daraus das Wesen des Populismus herauszuarbeiten.

Populistische Formationen entstehen in gesellschaftlichen Krisensituationen, ja sind selbst Ausdruck ungelöster, großer gesellschaftliche Probleme (Landfrage, nationale Unterdrückung, …). Das KleinbürgerInnentum und die Mittelschichten finden keinen Platz (mehr) in der bürgerlichen Gesellschaft und befürchten den Ruin.

Der Parlamentarismus erfüllt seine Funktion nicht mehr (oder existiert nicht). Auch für die herrschende Klasse selbst erweisen sich die parlamentarische Demokratie und tradierte Formen des Klassenausgleichs als immer weniger tauglich, ihre eigenen Interessen durchzusetzen.

Jene Klassen bzw. Klassenschichten, die in relativ stabilen Phasen die Basis für die bürgerliche Demokratie bilden, werden unter solchen Bedingungen (teilweise) zur sozialen Basis des Populismus.

In den Halb-Kolonien erhält der Populismus zusätzlichen Nährboden, weil der bürgerlichen Klasse und dem KleinbürgerInnentum innerhalb der imperialistisch dominierten Weltarbeitsteilung selbst eine schwache gesellschaftliche Position zugewiesen wird. Hier kann der Populismus – anders als in den imperialistischen Ländern – noch Ausdruck progressiver Bewegungen sein, wenn auch unter einer bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Führung.

Der Populismus selbst kann alle Schattierungen im Parteienspektrum, von extrem rechten bis zu „linken“ kleinbürgerlichen oder bürgerlichen Parteien, durchlaufen.

In jedem Fall muss aber eine „Volkspartei“, eine populistische oder kleinbürgerliche Partei vorgeben, einen gesellschaftlichen Missstand zu beheben, und sich zum Anwalt der „kleinen Leute“, des „Volkes“, der „Massen“ machen – einschließlich einer Dosis „anti-kapitalistischer“ Ideologie (und sei es in einer reaktionären Spielart). Dies ist notwendig, um eine soziale Basis nicht nur in der Elite, sondern auch unter kleinbürgerlichen Massen, den Mittelschichten und selbst Teilen der ArbeiterInnenschaft zu erlangen. Nur so können sie auch zu Mitteln der Dominanz über die ArbeiterInnenklasse werden. Nur so sind sie auch in der Lage, außerparlamentarisch, in Bewegungsform zu mobilisieren.

Das Programm des Populismus selbst gleicht einem Gemischtwarenladen. Dass es in sich widersprüchlich und inkonsistent ist, folgt aus dem Charakter der populistischen Partei selbst, die unversöhnliche gesellschaftliche Interessen zu vereinen vorgibt. Daher muss das Programm immer einen reaktionären, illusorischen und demagogischen Charakter tragen, verspricht es doch die Wiederherstellung besserer Zustände für eine zum Untergang verurteilte Klasse (das KleinbürgerInnentum, die Opfer der Konkurrenz, …) und die Wiederherstellung einer angeblich zerstörten gesellschaftlichen Harmonie, wo alle Klassen gleich gewesen wären.

So sehr der Populismus gegen die (vermeintliche oder wirkliche) Elite hetzen mag, so laufen alle seine politischen Bewegungen letztlich darauf hinaus, den bürgerlichen Staat, den Staat der Elite, selbst in die Hände zu bekommen und als Instrument zur Umsetzung seiner Versprechen zu nutzen. Immer zielt seine Politik auf einen „starken“ bürgerlichen Staatsapparat, auf die Stärkung der repressiven, unterdrückerischen Formationen des bürgerlichen Regimes.

An der Macht muss eine solche Partei zu einem Herrschaftsinstrument des Kapitals werden – auch wenn die Wirtschaftspolitik sehr unterschiedlich ausfallen mag, von einer staatkapitalistischen bis hin zu einer neo-liberalen Ausrichtung.

Die marxistische Untersuchung der Klassentriebkräfte ergab: Die Grundlage des Populismus, und das gilt besonders für die Volksfront als seine linke Spielart, ist es, den Klassengegensatz zwischen Lohnarbeit und Kapital (und damit die Frage des Verhältnisses von ArbeiterInnenklasse zu KapitalistInnen und KleinbürgerInnentum) durch einen einfacheren Gegensatz zu ersetzen, der quasi quer zum Klassengegensatz liegt: zum Beispiel das Volk gegen die Elite, die Demokratie gegen den Faschismus oder sogar die DemokratInnen gegen den Populismus.

Für die Ideologie des Populismus ist der Volksbegriff immer zentral, entweder ausgesprochen oder implizit. Gleichzeitig ist es dieser Begriff, den zu kritisieren es für RevolutionärInnen unerlässlich ist.

Der zugrundeliegende Nationalismus war in der bürgerlichen Revolution ein Mittel der Bourgeoisie, die Massen hinter sich zu sammeln, indem sie sich als Vertreterin der Nation oder des Volkes proklamierte und das eigene Klasseninteresse als allgemeines Interesse zu verkaufen versuchte. Ein solches Allgemeininteresse, in dem der Klassengegensatz verschwindet, gibt es aber nicht – und kann es nicht geben!

In den bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts wie in anti-imperialistischen Kämpfen fungierte der Nationalismus, der Appell an das gemeinsame Interesse „des Volkes“ zumindest als Mittel zur Mobilisierung für ein fortschrittliches gesellschaftliches Ziel. Ideologisch und analytisch bleibt der Volksbegriff für RevolutionärInnen aber wertlos und die Kritik daran zentral. Das gilt erst recht in imperialistischen Ländern, wo der Bezug auf Nation und Volk nur reaktionär sein kann.

Mit der Kritik des Volksbegriffes geht auch eine Kritik der „Volksrevolution“ einher, wie sie nicht nur von PopulistInnen, sondern auch vom Stalinismus und Maoismus verwendet wird. Natürlich bringt auch die proletarische Revolution das ganze Volk, alle Schichten und Klassen in Bewegung. In dem Sinne sprechen auch Marx und Engels, Lenin und Trotzki von einer „Volksrevolution“. Sie verstehen aber die Aufgabe der RevolutionärInnen darin, ihr einen bewusst proletarischen, sozialistischen Charakter zu verleihen. Nur so ist es möglich, die Kleinbauern und Teile des städtischen KleinbürgerInnentums und der Armut in Stadt und Land zu führen. Wer das leugnet, vernebelt das Bewusstsein der Klasse, spielt Bourgeoisie und PopulistInnen in die Hände.

Daher lehnen MarxistInnen die Schaffung einer klassenübergreifenden Partei ab. Unser Ziel besteht vielmehr darin, die falsche Einheit der Massen auch in linken populistischen Parteien zu zerbrechen und die ArbeiterInnenklasse aus der ideologischen und organisatorischen Unterordnung unter andere Klassen zu lösen. Das erfordert zwar Taktiken oder auch die Intervention in eine solche populistische Partei in Formierung (gerade wenn die revolutionäre Organisation selbst nur in Keimform vorhanden ist). Das Ziel der KommunistInnen kann aber immer nur in der Schaffung einer Klassenpartei, einer ArbeiterInnenpartei liegen.

 

Endnoten

(1) Trotzki, Leo: „Clarity or Confusion“, 1939: https://www.marxists.org/archive/trotsky/1939/02/clarity.htm

(2) Lenin, W. I.: „Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland“, in: Werke, Bd. 3, Berlin/O. 1956, S. 7–629

(3) a. a. O., S. 616–617

(4) Lenin, W.I.:, „Was sind die ,Volksfreunde’ und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten?“, in: Werke, Bd. 1, Berlin/O. 1977, S. 202

(5) a. a. O., S. 210

(6) Trotzki, Leo: „Von der Oktoberrevolution bis zum Brester Friedensvertrag“, isp-Verlag, Frankfurt/Main 1983, S. 56

(7) Lenin, W.I.: „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“, in: Werke Bd. 22, Berlin/O. 1972, S. 292

(8) Trotzki, Leo: „Die Dritte Internationale nach Lenin“, Dortmund 1977, S. 165

(9) Prawda vom 28. Juli 1924, zitiert nach: a. a. O., S. 165

(10) Prawda vom 22. Juli 1924, zitiert nach: a. a. O., S. 167

(11) a. a. O., S. 167

(12) Trotzki, Leo: „Pilsudskism, Fascism, and the Character of Our Epoch“, in: ders., Writings 1932, New York 1973, S. 161; eigene Übersetzung

(13) a. a. O., S. 160; eigene Übersetzung

(14) Zitiert nach Flechtheim, Ossip K.: „Die KPD in der Weimarer Republik“, Junius, Hamburg 1986, S. 141

(15) Thälmann, Ernst (24. August 1930): „Programmerklärung der KPD zur nationalen und sozialen Befreiung des Deutschen Volkes“ (Proklamation des ZK der KPD), https://www.marxists.org/deutsch/referenz/thaelmann/1930/08/natsozbef.htm 

(16) Trotzki, Leo: „Thälmann und die ‚Volksrevolution’“, in: „Schriften über Deutschland“, Band I, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt/Main 1971, S. 102

(17) a. a. O., S. 102 f.

(18) Laclau, Ernesto: „Politik und Ideologie im Marxismus. Kapitalismus, Faschismus, Populismus“, Argumente Verlag Berlin, 1981, S. 111/112

(19) Isaacs, Harold R.: „Die Tragödie der chinesischen Revolution“, Mehring Verlag, Essen 2016, S. 96

(20) a. a. O., S. 102

(21) ebd.

(22) Zitiert nach Trotzki, Leo: „Ergebnisse und Perspektiven der chinesischen Revolution“, in: Trotzki, Schriften 2.1., Rasch und Röhring, Hamburg 1990, S. 375 f.

(23) a. a. O., S. 377

(24) Ders.: „Brief an Alski (29. März 1927)“, a. a. O., S. 131

(25) ebd.

(26) Trotzki, Leo: „Latin American Problems“, in: Trotsky, Writings, Supplement 1934–40, New York 2004, S. 903; eigene Übersetzung

(27) ebd.; eigene Übersetzung

(28) Trotzki, Leo: „Nationalized industry and workers management“, in: Trotsky, Writings 1938–39, New York 1974, S. 326; eigene Übersetzung

(29) Trotzki, Leo: „Latin American Problems“, a. a. O., S. 903; eigene Übersetzung




Zur Entwicklung der Faschismustheorie Trotzkis

Jürgen Roth, Revolutionärer Marxismus 50, November 2018

Einleitung

Was stellt der Faschismus dar? Diese Frage stellten sich bürgerliche Intelligenz, zahllose HistorikerInnen wie TheoretikerInnen der ArbeiterInnenbewegung schon vor mehr als 90 Jahren. Dieser Aufsatz bewertet einige der bedeutendsten Antworten darauf. Den Schwerpunkt bildet die Entwicklung der Faschismustheorie Trotzkis, beginnend mit seinen ersten Äußerungen zum Thema 1922. Dabei ist es unverzichtbar, seine Gedanken in den Kontext der damaligen Debatte innerhalb der (III.) Kommunistischen Internationale (Komintern, KI) zu stellen. Ab 1929 entstand dann sein bedeutend umfangreicher ausgearbeitetes Theoriegebilde, dessen wesentliche Eckpunkte dargestellt und mit den Vorstellungen anderer Strömungen der ArbeiterInnenbewegung verglichen werden sollen. Im Mittelpunkt stehen dabei die unterschiedlichen Konzepte, wie der Nationalsozialismus geschlagen werden kann. Zum Schluss versucht dieser Artikel, einen kurzen Ausblick auf aktuelle Probleme zu geben. Die Hauptfrage dabei lautet: Inwieweit kann Trotzkis Theorie uns dabei hilfreich sein?

Trotzkis Position in der Faschismusdebatte der jungen Komintern 1922–1924

Italien und der III. Weltkongress (WK)

Bis Mitte 1921 sprach die KI summarisch vom konterrevolutionären „weißen Terror“, zu dem sie Horthy in Ungarn, Kapp und die „weiße Sozialdemokratie“ in Deutschland sowie Elemente der ehemaligen zaristischen Geheimpolizei Ochrana zählte (1).

Im Zuge der taktischen Wende auf dem III. WK (22. Juni–12. Juli 1921) zur Einheitsfront („Heran an die Massen!“) setzte eine differenziertere Betrachtung ein. Zwischen diesen beiden Kongressen wurde die internationale Diskussion über den Faschismus im Lichte der italienischen Erfahrung vertieft. Zum einen ging es um die Analyse des Faschismus in der bürgerlichen Gesellschaft, zum anderen um die einzuschlagende Taktik gegenüber dieser Gefahr.

Mitte 1921 bis Ende 1922 herrschte weitgehend Einigkeit darüber, dass das Ziel des italienischen Faschismus die Zertrümmerung der proletarischen Bewegung bzw. die Atomisierung der italienischen ArbeiterInnenklasse sei und seine sozialen Wurzeln im Kleinbürgertum lägen. Über die Frage seines politischen Verhältnisses zum Großkapital gingen jedoch die Meinungen, nicht nur in der Kommunistischen Partei Italiens (KPI), auseinander. Deren ultralinke Mehrheit (Bordiga, Gennari) ging von einer „großkapitalistischen Funktion“ der kleinbürgerlichen Massenbewegung aus. Gramsci dagegen ortete 1921 einen Widerspruch zwischen „parlamentarischem“ und „unversöhnlichem“ Faschismus. Letzterer werde im Gegensatz zu ersterem seine antiproletarische Richtung beibehalten. Ein drittes Lager betonte die Autonomie der faschistischen Bewegung als eigenständige Kraft, die sich in einen fundamentalen Gegensatz zur italienischen Großbourgeoisie hinentwickeln müsse (Rosso).

Auch das Verhältnis der faschistischen Bewegung zur bürgerlich-parlamentarischen Demokratie wurde kontrovers diskutiert. Der III. WK konstatierte die Zusammenarbeit demokratischer Staatsinstitutionen mit den FaschistInnen parallel zu deren Terror gegen die ArbeiterInnenbewegung. Das Exekutivkomitee der KI (EKKI) nahm scharf Stellung gegen die sozialdemokratische Konzeption, mithilfe des bürgerlichen Staatsapparats die Faschisten schlagen zu wollen. Die ultralinke KPI-Mehrheit ging sogar von einer Identität von bürgerlich-demokratischer und faschistischer Herrschaft aus. Terracini meinte, Faschismus sei ein vorübergehender Gewaltzustand seitens der herrschenden Klassen, untrennbar von den bereits bestehenden bürgerlichen Parteien. Diese Meinung wurde genährt von der weitgehend unblutigen Machtübernahme Mussolinis. Die Unterdrückungs- und Verhaftungswelle setzte erst später ein. Die Gleichsetzung von Faschismus und bürgerlicher Demokratie wurde von der EKKI-Mehrheit nicht geteilt.

Die Taktik der ArbeiterInneneinheitsfront (nicht nur) gegen den Faschismus

Trotzki war einer der wesentlichen Befürworter der Einheitsfronttaktik. Diese spielte besonders für kommunistische Parteien eine Rolle, die über keinen Massenanhang verfügten, und bedeutete Einheit in der Aktion für gemeinsame Ziele mit anderen Parteien und Organisationen der ArbeiterInnenbewegung bei Bewahrung vollständiger politischer Unabhängigkeit voneinander: Getrennt marschieren, vereint schlagen! Freiheit der Kritik (auch an den zeitweiligen BündnispartnerInnen), Einheit in der Aktion! Vorschlag und Aufforderung zur Aktion richteten sich sowohl an die Basis wie die Führungen der Arbeiterorganisationen. Eine zweite Grundvoraussetzung, um die Mehrheit der ArbeiterInnenklasse für den Kommunismus in der und durch die gemeinsame Aktion zu erlangen, war die getrennte Organisierung der KommunistInnen in einer eigenen, unabhängigen Partei und der Kampf für ihr Programm: keine gemeinsame Propaganda, kein Verwischen der Fahnen und Prinzipien. Die KommunistInnen sollten die besten und energischsten VerfechterInnen für die Ziele der Einheitsfront sein, ohne auch nur für einen Moment ihre Kritik an den Unzulänglichkeiten und Halbheiten ihrer KontrahentInnen und EinheitsfrontpartnerInnen einzustellen oder abzuschwächen, v. a. wenn letztere sich nicht mit voller Kampfkraft für die gemeinsamen Ziele einsetzten – aber natürlich auch darüber hinaus.

Diese Mehrheitslinie des EKKI musste auch im Kampf gegen den Faschismus gegen rechte wie ultralinke Abweichungen verteidigt werden. Die rechte KPD-Führung unterzeichnete mit SPD, USPD und Gewerkschaften z. B. eine gemeinsame Erklärung vor dem Hintergrund der Massendemonstrationen anlässlich der Ermordung Rathenaus (24. Juni 1922), welche die inhaltsleere „Demokratisierung der Republik“ forderte. Die italienischen Ultralinken sahen in der Einheitsfronttaktik den Verzicht auf kommunistischer Eigenständigkeit und ließen ein Zusammengehen mit anderen ArbeiterInnenorganisationen gegen die FaschistInnen nur auf Gewerkschaftsebene gelten.

Zur Vorbereitung des IV. WK der KI (5. November–5. Dezember 1922) nahm Trotzki zum ersten Mal in einer Rede anlässlich des 5. Jahrestages der Russischen Revolution vor der Moskauer Parteiorganisation der RKP (Russische Kommunistische Partei) ausführlicher zum Faschismus Stellung. Er hielt seine Rede Ende Oktober 1922 vor dem Hintergrund der aktuellen italienischen Entwicklung, denn nach Mussolinis Marsch auf Rom setzten die Verfolgungen ein. Trotzki machte eine ernstzunehmende Niederlage des Proletariats als Folge der verpassten Machtübernahme 1920–1921 aus. Er blieb im Hinblick auf die sozialen Wurzeln der faschistischen Banden unbestimmt („bürgerlich“ wie „kleinbürgerlich“). Ihre politische Funktion sah er allerdings ganz im Interesse des Großkapitals – als dessen Rache. Er konstatierte weder einen Gegensatz zwischen bürgerlich-demokratischer und faschistischer Herrschaftsform noch deren Identität, legte sich diesbezüglich also (noch) nicht fest. Überdies war er der Ansicht, dass es sich beim Faschismus um keine rein italienische Angelegenheit handle, denn dieser habe sich in allen Ländern ausgebreitet (z. B. Orgesch in Deutschland).

Der IV. Weltkongress

Die Diskussion dort spiegelte das oben skizzierte Meinungsspektrum in der Faschismusfrage wie in der einzuschlagenden Taktik gegen die FaschistInnen wider. Im Gegensatz zu den italienischen Ultralinken sah Radek, Hauptredner zum Thema „Taktik“, im Sieg des italienischen Faschismus die größte Niederlage seit Beginn der Weltrevolution. Seine Rede enthielt aber auch ein rechtes Element, das in den zukünftigen Faschismusanalysen der KI bzw. der KPD 1923 zentral werden sollte. Er unterschied – ähnlich wie zuvor Gramsci – im Faschismus einen progressiven, „demokratischen“ Flügel von einem reaktionären.

„Natürlich waren die faschistischen Massenbewegungen, die über das Kleinbürgertum hinaus auch in der Arbeiterschaft Anhänger hatten, sozial und politisch tendenziell heterogen. Allerdings – als Bestandteil der faschistischen Bewegung mit klar anti-proletarischem Programm und Praxis – hatte diese Heterogenität für die Arbeiterbewegung erst dann eine Bedeutung, wenn es ihr gelänge, durch einen frontalen Angriff auf die faschistische Bewegung insgesamt diese in ihre einzelnen Bestandteile zu zerlegen. Radeks Feststellung eines ,demokratischen faschistischen Flügels’ widersprach seiner Ausgangsposition, den Faschismus als konterrevolutionäre, anti-proletarische Bewegung im Dienste der Monopolbourgeoisie zu charakterisieren. Die Konstatierung eines ,demokratischen Flügels’ stand im Gegensatz zu einer Bewegung, deren Programm im radikalen Kampf gegen die Demokratie, angefangen mit der Zerschlagung der Arbeiterbewegung, bestand.“ (2)

Sinowjew forderte die Einheitsfront für Italien, ging aber weiter als andere RednerInnen, als er der KPI vorschlug, in bestimmten Situationen auch mit faschistischen „Gewerkschaften“ eine Front zu bilden. „Trotzki unterschied sich… methodisch von späteren Ansätzen in der Kominternpolitik, Kleinbürger als Bestandteile der faschistischen Bewegung für die Unterstützung der Arbeiterbewegung zu gewinnen, anstatt diese über Methoden des Klassenkampfes aus dem Lager des Faschismus zu brechen.“ (3)

Die „Taktikresolution“ folgte weder den rechten noch den ultralinken Positionen: Neben der Notwendigkeit der antifaschistischen ArbeiterInneneinheitsfront wurde der Unterschied zwischen demokratischer und faschistischer Herrschaft betont und damit die Position der ultralinken KPI-Mehrheit zurückgewiesen. Radeks These eines „demokratischen faschistischen Flügels“ wurde nicht aufgegriffen.

Trotzki und die KI-Mehrheit verstanden zur Zeit des IV. WK Faschismus und Demokratie als unterschiedliche bürgerliche Herrschaftsformen, ohne genau zu analysieren, wie der Faschismus zur Macht gelange. Die Möglichkeit eines organischen Hineinwachsens der bürgerlichen Demokratie in den Faschismus wurde offen gelassen.

Deutschland 1923

Die Ruhrbesatzung durch französische und belgische Truppen am 11. Januar 1923 leitete eine revolutionäre Krise ein, die bis Oktober des Jahres andauerte. „Die politische Krise, der Entzug der Verfügungsgewalt über das Ruhrgebiet, ging einher mit der ökonomischen. Die Inflation, die bis zum November 1923 astronomische Ausmaße annahm…, erschütterte die bürgerliche Gesellschaft in ihren Grundfesten; Arbeitslosenunruhen, Demonstrationen, Streiks bis hin zu Arbeiteraufständen waren die Folge (April 1923: Aufstandsversuch in Mühlheim [heutige Schreibweise: Mülheim, d. Red.]; Mai-Aufruhr in Gelsenkirchen). Ab Mitte Mai wurde das Ruhrgebiet von einer Massenstreikwelle erfasst, wobei die Losung der Dortmunder Bergarbeiter lautete: ,Die Ruhrgruben dem Proletariat’. Ihren Höhepunkt fand die Streikbewegung im unbesetzten Teil Deutschlands in den Auguststreiks, die zum Rücktritt der Regierung Cuno führten.“ (4)

Im Sommer 1923 hatte die KPD im deutschen Proletariat die SPD überflügelt. Die rechte KPD-Führung unter Brandler/Thalheimer, beraten von Radek, betrieb nach den bitteren Erfahrungen der putschistischen März-Aktion 1923 eine defensive Politik, die hinter den stürmischen Ereignissen zurückblieb; die ultralinke Opposition um Fischer/Maslow zeigte keine revolutionäre Alternative dazu auf. (5)

In der Behandlung der deutschen nationalen Frage während der Ruhrbesatzung zeigte sich ein Schwanken der KPD. Anfangs verurteilten KPD und EKKI den Einmarsch der Invasionstruppen, verweigerten aber einen Burgfrieden mit der Reichsregierung (Essener Konferenz), nur die unabhängige Mobilisierung der deutschen, französischen und belgischen ArbeiterInnenklassen könne die Ruhrkrise lösen. Diese Position des revolutionären Defätismus wurde jedoch von der KPD-Führung zunehmend unterhöhlt. August Thalheimer sprach im Februar 1923 davon, die Lage des deutschen Bürgertums habe dieses dazu geführt, nach außen „objektiv revolutionär“ aufzutreten. Offensichtlich waren für Brandler, Thalheimer und Radek, insbesondere im Verhältnis zu Frankreich, das Deutsche Reich kein imperialistisches Land und die Regierung keine Vertretung des deutschen Kapitals mehr, sondern eine Art Halbkolonie bzw. Kleinbürgerregierung. Der Kampf gegen die Regierung wurde (auch) auf der Grundlage einer konsequenteren Vertretung deutscher nationaler Interessen geführt. Diese populistische, „nationalbolschewistische“ Haltung gipfelte in der Parole der „Roten Fahne“, dem KPD-Zentralorgan vom 29. Mai 1923: „Nieder mit der Regierung der nationalen Schmach und des Volksverrats!“ Beiläufig bemerkt: Dagegen gab es genauso wenig Einspruch seitens der ultralinken Opposition um Fischer wie gegen die spätere Schlageter-Linie. In der Logik dieser Position lag also die Anbiederung an die nationalistische Bewegung; z. B. unterschied der Zentralausschuss (ZA) zwischen vom „Kapital gekauften Elementen“ und „irregeführten Kleinbürgern“. Die Konferenz des erweiterten EKKI vom 12.–23. Juni 1923 diskutierte zum Unglück nicht die revolutionäre Situation in Deutschland. Zetkin fasste in ihrem Einleitungsreferat zur Lage in Italien die Faschismusanalyse es IV. WK eindringlich zusammen und betonte die Notwendigkeit gesonderter kommunistischer Agitation unter den kleinbürgerlichen Schichten und des Aufbaus der ArbeiterInneneinheitsfront, des proletarischen Selbstschutzes gegen die faschistische Gefahr. Die Ähnlichkeit mit Radeks Rede auf dem IV. WK lag in der These der Heterogenität der faschistischen Bewegung; diese bestehe sowohl aus konterrevolutionären wie revolutionären Elementen. Die sich anschließende „Schlageter-Rede“ Radekks mit ihrer Anlehnung an schwülstiges völkisches Vokabular sollte zur Entfesselung dieser revolutionären Elemente beitragen. Die bisherige rechte Politik der KPD in der Faschismusfrage wurde in dieser Rede auf die Spitze getrieben.

„Wenn es richtig war, dass es ,revolutionäre’ Faschisten gab, dann war es nur konsequent, dass man mit solchen Teilen der faschistischen Bewegung auf der Basis der ,deutschen Arbeit’ gegen die Franzosen und die deutschen ,Erfüllungspolitiker’ gemeinsame Sache machte. Das neue an Radeks Programmatik war also, dass er mehr oder minder direkt die Bildung eines Blockes mit Teilen der faschistischen Bewegung befürwortete, den die KPD dann mit der Politik der ,Schlageter-Linie’ herzustellen versuchte.“ (6)

Die Resolution des EKKI-Plenums übernahm einige Elemente Zetkins (revolutionäre Tendenzen im Faschismus), nicht jedoch die Radeks, und wich damit tendenziell von den bisherigen Beschlüssen der KI ab, betonte jedoch weiterhin, der Faschismus sei eine gefährliche Macht der Gegenrevolution. Trotzki nahm am Plenum nicht teil und äußerte sich auch nicht zur „Schlageter-Rede“. Seine davor getätigten Äußerungen lehnten eine Einheitsfront mit den FaschistInnen jedoch klar ab. Die „Rote Fahne“ druckte sie jedoch am 26. Juni 1923 ab als Auftakt zu einer Debatte mit den NationalsozialistInnen. Zur Ehrenrettung sei gesagt, dass die Schlageter-Politik nicht die Hauptachse der antifaschistischen KPD-Politik darstellte. Konferenzen im Januar und März sowie der Antifaschistentag am 29. Juli hatten zur Mobilisierung gegen die FaschistInnen aufgerufen. Im Herbst 1923 verlief die Schlageter-Linie im Sande, nachdem die FaschistInnen mit der KPD nicht weiter debattieren wollten. Eine seriöse Aufarbeitung dieser opportunistischen Abweichung erfolgte aber nicht (7).

Trotzkis Position im Oktober 1923

Hier wollen wir uns nicht mit seiner Beurteilung der Lage und Aufstandsplanung8 beschäftigen, sondern mit seiner Charakterisierung „faschistischer“ Elemente. Trotzki sah drei konterrevolutionäre Kräfte: die von faschistischen Offizieren geführte Reichswehr; faschistische Schockbataillone wie die „schwarze Reichswehr“, abhängig vom Reichswehrkommando; die Schutzpolizei. Er sprach von der Herrschaft eines „moderaten Faschismus“ in Bayern. Doch weder von Kahr noch von Seeckt oder dessen Adjutant Müller waren Faschisten.

Aufgrund der damals vorliegenden Erfahrungen war es allerdings schwierig bis unmöglich, im rechtsextremen Lager Unterschiede festzustellen. NSDAP, SA, Heimschutz, vaterländische Verbände, „schwarze Reichswehr“, bonapartistische und monarchistische Elemente bis hin zu Deutschnationalen und Bayerischer Volkspartei traten terroristisch auf, um die „rote Gefahr“ auszumerzen. Der „Nationalsozialismus“ unter Hitler, Ludendorff und Röhm steckte selbst noch in einem Klärungsprozess. Erst der Ludendorff-Hitler-Putsch in München im November 1923 klärte die Fronten zwischen FaschistInnen und anderen Bestandteilen des rechtsextremen Lagers: christliche, föderalistisch und wittelsbachisch gesonnene Kräfte bildeten die bürgerlich-konservative Komponente. NSDAP/SA mobilisierten das Kleinbürgertum für ein „nationalrevolutionäres“, gesamtdeutsches Programm. Von Kahr, gestützt auf die bayerische Generalität und vom Reich mit Sondervollmachten für Bayern ausgestattet, lavierte zwischen diesen Kräften und stellte gegen die Zentralregierung die besondere Rolle Bayerns heraus. Die von Seeckt-Exekutive bildete zwischen September 1923 und Februar 1924 eine bonapartistische Diktatur. Bis Oktober 1924 herrschte danach ein ziviler Ausnahmezustand, ähnlich der heutigen Situation in Brasilien.

Die Charakterisierung von Seeckts als Faschisten hat diesen in falscher Weise zu sehr mit Mussolini gleichgesetzt. Die unterschiedlichen Wurzeln (Armee/Reichswehr, kleinbürgerliche Massenbewegung) wurden nicht berücksichtigt.

Trotzki entwickelte den Bonapartismusbegriff erst in den 1930er Jahren. Seine bisherige Faschismusdefinition als „Sturmtruppenorganisation der Konterrevolution“ erwies sich als zu grob. Er konnte sich weder die Differenzen in Bayern, beginnend mit Hitlers „Bierhallenputsch“ (Marsch auf die Feldherrnhalle), noch die zwischen Bayern und Berlin im November 1923 erklären. Die These vom Seeckt-Faschismus implizierte, dass der Entscheidungskampf zwischen Faschismus und proletarischer Revolution direkt anstehe. Damit verbunden war zweitens eine Fehleinschätzung der politischen Situation im Oktober (8, 9). Das bonapartistische Lager sowie die Widerstandskraft des bürgerlich-demokratischen Lagers, vor allem der SPD, wurden unterschätzt. Der undifferenzierte Faschismusbegriff, den Trotzki z. B. mit Brandler, Thalheimer, Radek, Kamenew, Sinowjew und Stalin teilte, sollte sich bei der aufkommenden stalinistischen Faschismusinterpretation als Nachteil erweisen.

Die Auseinandersetzungen in der KI nach der deutschen Niederlage und die Entstehung der „Sozialfaschismustheorie“

1923 kann als Schicksalsjahr für die kommunistische Weltbewegung bezeichnet werden. Die Herausbildung und das jähe Ende einer revolutionären Situation in Deutschland hatten tiefe Auswirkungen auf den Bürokratisierungsprozess in der Sowjetunion. Sinowjew hatte sowohl den Aufstandsplan als auch den Rückzug Brandlers und Radeks in Chemnitz als auch das Experiment mit den Landes„arbeiterInnenregierungen“ unterstützt. Der letzte Artikel seiner Serie „Die Probleme der deutschen Revolution“ zog die Konsequenz, die SPD habe den Weg für eine Machtübernahme der FaschistInnen geebnet. Ins gleiche Horn stieß die KPD-Leitung in ihrem Thesenpapier „Der Sieg des Faschismus über die Novemberrepublik und die Aufgaben der Kommunistischen Partei Deutschlands“ (3. November 1923). Im November 1923 begann sich Sinowjew langsam von der Brandler-Führung abzusetzen und kritisierte die Praxis der KPD in Sachsen und Thüringen als sozialdemokratisch-opportunistisch. In seinem Artikel „Der deutsche Koltschak“ ging er wie die KPD von einer faschistischen Diktatur von Seeckts aus, ebenfalls wie die KPD von einem organischen Hinüberwachsen der bürgerlichen Demokratie in den Faschismus. Im Gegensatz zur KPD-Rechten, die er deshalb scharf kritisierte, sah Sinowjew jedoch im Faschismus nicht einen Sieg über die demokratische Novemberrepublik, nicht ihre Abschaffung, sondern ihre Krönung. Ebert und von Seeckt seien zwei Seiten der gleiche Medaille.

Vor 1923 vertrat diese Gleichsetzung nur die ultralinke KPI-Mehrheit. Das EKKI hatte dies zwar zurückgewiesen, jedoch nicht die Frage beantwortet, in welcher Weise der Faschismus die bürgerlich-parlamentarische Republik ersetze! Wenn nun aber Ende 1923 Brandler, Thalheimer, Radek wie auch die Moskauer EKKI-Mitglieder einhellig Deutschland unter General von Seeckt als faschistisch bezeichneten, dann musste die Demokratie in den Faschismus hineingewachsen sein – ganz ohne Bürgerkrieg! Folglich legte Sinowjew mit seinem Artikel den Grundstein für die Sozialfaschismustheorie. Die Analogie zwischen von Seeckt und Koltschak war zwar richtig, aber Faschisten waren beide nicht! Darüber hinaus verharmloste Sinowjew den Faschismus auch noch, indem er Hitler mit Purischkewitsch verglich. Beide seien mehr Narren und Spaßmacher als ernsthafte Agenten der Konterrevolution.

Die russische linke Opposition nahm zur deutschen Frage nicht geschlossen Stellung. Radek verteidigte die rechte KPD-Linie. Von ein paar allgemeinen Bemerkungen abgesehen, schwieg Trotzki.

Das EKKI-Plenum von Januar 1924 endete mit einem Sieg des Triumvirats aus Kamenew/Sinowjew/Stalin und vervollständigte die Niederlage der linken Opposition auf der gleichzeitig tagenden 13. russischen Parteikonferenz. Die EKKI-Resolution vom 19. Januar wich einer definitiven Stellungnahme zum Oktoberrückzug aus, der von der KPD-Linken im Nachhinein heftig kritisiert worden war. Wesentlich waren drei Punkte: Der Oktober 1923 wurde nicht als eine entscheidende Niederlage gewertet, sondern lediglich als verlorene Schlacht; die Sozialdemokratie wurde zusammen mit der von Seeckt-Diktatur als faschistisch bezeichnet. Außerdem wurde das bisherige Einheitsfrontkonzept zugunsten einer Politik der „Einheitsfront von unten“ aufgegeben. Der Triumviratsfraktion ging es dabei weniger um eine Aufarbeitung der Fehler kommunistischer Politik 1923, sondern um eine Verhinderung der Formierung einer internationalen Opposition gegen ihre Apparatherrschaft in der UdSSR.

„Die ,Sozialfaschismustheorie’ war also 1923/24 ein wichtiges ideologisches Instrument zur Durchsetzung der Herrschaft der russischen Bürokratie. Die programmatischen Unklarheiten der bisherigen Faschismusanalyse der Komintern konnten bei der Formulierung dieser ,Theorie’ genutzt werden. Die Opposition gegen die Neuauflage der ultralinken Politik hatte hier ein entscheidendes Defizit, da sie die Grundlage der .Sozialfaschismustheorie’, Seeckt-Faschismus und ,organisches Hineinwachsen der Demokratie in den Faschismus’ teilte.“ (10)

Trotzkis Position vom November 1923 bis Januar 1924

Außer der Äußerung im August 1933 im Gespräch mit Walcher (siehe Endnote 9) erschien dazu im Dezember 1923 Trotzkis Beitrag „Tradition und revolutionäre Politik“ (11). Dort konstatiert er die falsche Einstellung der KPD zur politischen Entwicklung seit Mai bzw. Juli bis zum November („kalter“ Putsch von Seeckts) 1923. Eine konservative, hemmende, „halbautomatische“ Tradition habe in dieser Periode eine Neuorientierung, eine jähe taktische Wendung behindert. Nur indirekt deutete er eine entscheidende Niederlage der Partei im Oktober an. Die Verantwortung der KI findet in seiner Kritik hier ebenso wenig Niederschlag, wie die Fehler während der vorangegangenen Ruhrbesatzung erwähnt werden. Diese allgemein gehaltenen Bemerkungen unterscheiden sich in der Substanz weder von Radek, Sinowjew noch der EKKI-Resolution. Diese gaben ja durchaus Mängel im Zeitraum vor Oktober zu.

Im russischen Fraktionskampf 1923/24 ist gegen Trotzki immer wieder der Vorwurf erhoben worden, Trotzki habe die Linie der KPD-Rechten unterstützt. Zu diesem Eindruck hatte Radeks Intervention auf dem EKKI-Plenum beigetragen, der gemeinsam mit Trotzki vorbereitete Thesen zur deutschen Frage ankündigte und damit eine Einvernehmlichkeit mit letzterem suggerierte, der dieser nicht öffentlich entgegentrat. Äußerungen Trotzkis aus dem Zeitraum 1922/23 legen allerdings nahe, dass er Anfang 1924 weder die Charakterisierung der SPD als faschistisch noch das Konzept der „Einheitsfront von unten“ geteilt hätte. Trotzki solidarisierte sich auch nicht politisch mit Brandler, sondern wandte sich durch dessen bürokratische Absetzung von oben durch die KI. Gemäß seinem Verständnis fiel die Wahl einer neuen Führung bevorzugt in die Verantwortung einer jeden nationalen Sektion. Eine selbstständig abgegrenzte Position Trotzkis im Unterschied zur KPD-Rechten und EKKI-Mehrheit lässt sich auch in der Aufstandsfrage schwer erkennen. „Tradition und revolutionäre Politik“ macht allerdings deutlich, dass das Aufstandsfiasko für ihn nicht das entscheidende Element darstellte, sondern eines in einer Kette schwerer Versäumnisse. Die Hervorhebung eines „kampflosen Rückzugs“ der KPD-Führung legt jedoch Kritik an deren Vorgehensweise (auch) im Oktober nahe. Folgende Mutmaßung hat sehr wahrscheinlich recht: „Man könne – spekulativ – folgern, dass Trotzki für den Oktober/November 1923 begrenzte Widerstandsaktionen im Sinne hatte, z. B. die eigenständige Durchführung eines defensiven Generalstreiks gegen Müller in Sachsen, analog etwa zur Politik im Juli 1917…“ (12) in Petrograd.

Fazit: Trotzkis Zurückhaltung in der deutschen Frage war ein weiterer Baustein für die Niederlage der linken Opposition gegen den Stalinismus.

Trotzkis Opposition gegen den ultralinken Kurs der Komintern 1924

In seiner Rede in Tiflis (Hauptstadt Georgiens; 11. April 1924) sprach Trotzki erstmals von einer entscheidenden Niederlage der deutschen Revolution, die er allerdings fälschlich mit dem Sieg des Faschismus gleichsetzte. Von größerer Bedeutung ist allerdings sein Vorwort zu „Die ersten fünf Jahre der Kommunistischen Internationale“ (Mai 1924) (13). Dort formulierte er seine grundsätzliche Kritik des stalinistischen ultralinken Kurses, präzisierte auf systematische Weise seine bisherigen Äußerungen zur neuen internationalen Lage im Allgemeinen und zur deutschen im Besonderen. Letztere sei nicht an objektiven Bedingungen, sondern wegen taktischer Fehler gescheitert. Der Oktoberrückzug wurde verurteilt, KPD-Linke wie -Rechte einte ein gemeinsamer fatalistischer Zug.

Seine Faschismuseinschätzung zu dieser Zeit war geprägt von einer allgemeinen Einschätzung der internationalen Situation (proletarischer Ansturm bzw. revolutionäre Ebbe), von der er die Herrschaftsform der Bourgeoisie (Demokratie oder Faschismus) abhängig machte. In Italien sah er Mussolini Kurs auf eine „parlamentarische ,Regulierung’ seiner Politik“ nehmen, eine Herrschaft des Faschismus also tendenziell schwinden. In Deutschland stellte er zwar einen Rechtsschwenk, aber innerhalb des parlamentarischen Rahmens fest. Seine Charakterisierung von Seeckts 1923 als Faschisten revidierte er jedoch nicht und teilte mit der EKKI-Mehrheit immer noch das Verständnis vom „Hineinwachsen der Demokratie in den Faschismus“. Im Gegensatz zur Ansicht der Komintern-Führung vertrat er aber die Meinung, der Faschismus habe die Macht wieder an die Demokratie abgegeben (Deutschland) bzw. sei auf dem Weg dahin (Italien). „Dieses Verständnis einer ,evolutionären’ faschistischen Machtübernahme [und –abgabe] entlang der jeweiligen politischen Konjunktur lässt sich auch in seinen folgenden Publikationen des Jahres 1924 feststellen…Verstrickt in eine Parteidisziplin, deren Rahmen jetzt von einer Bürokratenfraktion mit eigenen Interessen ausgelegt wurde, erkannte Trotzki nicht in vollem Ausmaß die Tiefe der Differenzen und die Bedeutung der Stalin-Fraktion.“ (14)

Der V. WK (17. Juni–8. Juli 1924) bekräftigte die Resolution des Januar-EKKI-Plenums zur Faschismusfrage, zur Charakterisierung der Sozialdemokratie und zur Einheitsfront. Auf dem Kongress verteidigte Radek seine Deutschlandpolitik von 1923, während Trotzki nicht eingriff und damit seine letzte Chance vergab, vor der KI für seine Positionen zur russischen und internationalen Situation zu kämpfen. Sein passives Verhalten trug sicher dazu bei, dass nach der deutschen Oktoberniederlage in der KPD eine leninistische Alternative so gut wie nicht präsent war. Im Juni und Juli 1924 ging Trotzki einen Schritt weiter und definierte Faschismus als Bürgerkriegsformation des Kapitals (15). Die faschistische Herrschaft werde nicht von langer Dauer sein, gewissermaßen werde sich der Prozess des „Hineinwachsens der bürgerlichen Demokratie in den Faschismus“ umkehren. Damit war zumindest der Anschluss an die frühe KI-Programmatik wiederhergestellt, die in Faschismus und parlamentarischer Demokratie zwei unterschiedliche Herrschaftsformen des Kapitals gesehen hatte. Der jetzt üblich gewordene inflationäre Gebrauch des Faschismusbegriffs konnte nun von Trotzki kritisiert werden.

Die Analyse als Bürgerkriegsformation bildete eine Brücke zur späteren, reifen Faschismusdefinition Trotzkis. „Für Trotzki konnte der Faschismus auch eine kleinbürgerliche Bewegung sein. Im Gegensatz zu seiner späteren Analyse war er dies jedoch nicht ausschließlich. Damit hatte die politische Funktion des Faschismus, die vor allem von KPI-Mitgliedern analysierte Atomisierung des Proletariats, die nur durch eine Massenbewegung erfüllt werden kann, für Trotzki keinerlei spezifische Bedeutung.“ (16) Trotzki erfasste die faschistische Bewegung in ihrer Funktion als pro-bürgerliche, konterrevolutionäre, bewaffnete Kraft, beantwortete die Frage nach der Art und Weise ihrer Machtergreifung (und Entmachtung) mittels einer „evolutionären“ Interpretation: nach Wiederherstellung der Ruhe entwickle sich der Faschismus wieder zurück zur „normalen“ bürgerlichen Demokratie. Bei der Unterscheidung dieser beiden Herrschaftsformen blieb er gegenüber der KI-Mehrheit unbeweglich. Die Sicherung der bürgerlichen Interessen mittels einer dritten Herrschaftsform (Bonapartismus/Cäsarismus, monarchischer Absolutismus, Militärdiktatur, Halbfaschismus…) wurde von ihm erst nach 1924 als Möglichkeit entwickelt.

III. Die Grundelemente von Trotzkis Faschismustheorie ab 1929

Mandel nennt hier:

a) Das Aufkommen des Faschismus ist Ausdruck einer schweren gesellschaftlichen Krise des Spätkapitalismus…Die historische Funktion der faschistischen Machtergreifung besteht darin, diese Verwertungsbedingungen schlagartig und gewaltsam zugunsten der entscheidenden Gruppen des Monopolkapitalismus zu ändern.

b) Die politische Herrschaft des Bürgertums wird unter den Bedingungen des Imperialismus und der historisch gewachsenen, modernen Arbeiterbewegung am günstigsten, d. h. mit den geringsten Unkosten, auf dem Wege der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie ausgeübt.

c) Unter den Bedingungen des modernen industriellen Monopolkapitalismus und der zahlenmäßig ungeheuren Disproportion zwischen Lohnabhängigen und Großkapitalbesitzern ist eine gewaltsame Zentralisierung der Staatsgewalt mit Ausschaltung der meisten (wenn nicht aller) Errungenschaften der modernen Arbeiterbewegung…praktisch mit rein technischen Mitteln unmöglich. Weder eine Militärdiktatur noch ein reiner Polizeistaat, ganz zu schweigen von einer absolutistischen Monarchie, verfügen über zureichende Mittel, um eine millionenstarke, bewusste Gesellschaftsklasse für längere Zeit zu atomisieren, zu entmutigen und zu demoralisieren. Dazu ist eine Massenbewegung notwendig, die ihrerseits große Menschenmengen in Bewegung bringt, die bewussteren Teile des Proletariats in systematischem Massenterror, in Kleinkrieg und Straßenkrieg zermürbt und demoralisiert und es nach der Machtübernahme durch völlige Zerschlagung der Massenorganisationen nicht nur atomisiert, sondern auch entmutigt und resignieren lässt.

d) Eine solche Massenbewegung kann nur auf dem Boden der dritten Gesellschaftsklasse entstehen, die im Kapitalismus neben Bürgertum und Proletariat existiert: des Kleinbürgertums. Dabei handelt es sich um eine kleinbürgerliche Bewegung, die extremen Nationalismus und, zumindest verbal ausgeprägte, antikapitalistische Demagogie (17) mit größter Feindschaft gegenüber der organisierten Arbeiterbewegung…verknüpft.

e) Die vorherige Zermürbung und Zurückschlagung der Arbeiterbewegung, die, wenn die faschistische Diktatur ihre historische Rolle erfüllen will, unerlässlich ist, ist jedoch nur möglich, wenn sich in der der Machtergreifung vorangehenden Periode die Waagschale entscheidend zugunsten der faschistischen Banden und zuungunsten der Lohnabhängigen senkt…Der Aufstieg der faschistischen Massenbewegung kommt sozusagen einer Institutionalisierung des Bürgerkriegs gleich, in dem jedoch objektiv gesehen beide Seiten eine Erfolgschance besitzen.

f) Ist es dem Faschismus gelungen, „als Rammbock die Arbeiterbewegung zu zerschlagen“, dann hat er vom Standpunkt der Monopolkapitalisten seine Schuldigkeit getan. Seine Massenbewegung wird verbürokratisiert und dem bürgerlichen Staatsapparat weitgehend einverleibt, was nur geschehen kann, wenn die extremsten Formen plebejisch-kleinbürgerlicher Demagogie, die zu den „Zielen der Bewegung“ gehörten, von der Oberfläche verschwinden…Ist aber die Arbeiterbewegung besiegt und haben sich die Verwertungsbedingungen des Kapitals im Inneren entscheidend zugunsten des Großkapitals verändert, so konzentriert sich dessen politisches Interesse mit Notwendigkeit auf eine ähnliche Änderung auf dem Weltmarkt. Der Faschismus verwandelt sich in der Phase seines Niedergangs in eine besondere Form des Bonapartismus zurück.

Dies sind die konstitutiven Elemente von Trotzkis Faschismustheorie. Sie fußt auf einer Analyse der besonderen Bedingungen, unter denen sich der Klassenkampf in den hochindustrialisierten Ländern während der spätkapitalistischen Strukturkrise…entwickelt, und auf einer besonderen, für Trotzkis Marxismus charakteristischen, Verbindung objektiver und subjektiver Faktoren in der Theorie des Klassenkampfs wie beim Versuch, ihn praktisch zu beeinflussen (18):

Diese adäquate Charakterisierung belegt zweierlei: Trotzki hatte ab 1929 die Lücken in seiner Theorie gefüllt, sämtliche Zweideutigkeiten beseitigt; zudem erfüllt seine Faschismusanalyse die strengen methodischen Ansprüche, die an eine historisch-materialistische Geschichtsschreibung gebieterisch gestellt werden müssen (19)!

Die Lösung der strukturellen kapitalistischen Verwertungskrise durch den Machtantritt der NSDAP

Worin bestand nun die strukturelle Verwertungskrise des deutschen Monopolkapitals? „Die Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 33 läßt sich als die direkte Auswirkung dieses ,unentschiedenen’ Kräftegleichgewichts der Klassen der Gesellschaft einerseits und als Ausdruck der schon in der gesamten Phase seit 1924 vorhandenen immanenten Tendenzen und strukturellen Schwierigkeiten des internationalen Kapitals verstehen. Die Weltwirtschaftskrise verlief in zwei Etappen:

,Als ,einfache’ zyklische Krise…bis 1931…In der folgenden zweiten Phase der Krise bildeten sich Merkmale heraus, die die Weltwirtschaftskrise von allen früheren kapitalistischen Krisen unterscheiden und schließlich auch zu weiteren Strukturveränderungen des kapitalistischen Systems führten. Zunächst war die Weltwirtschaftskrise in der Tat nicht nur eine konjunkturelle, sondern eine strukturelle Krise insofern, als hier negative Strukturelemente kulminierten, die bereits die gesamte Nachkriegsentwicklung bestimmt hatten, aber in den Jahren einer relativen Prosperität überdeckt worden waren…durch die Rationalisierungs- und Konzentrationsbestrebungen der 20er Jahre außerordentliche Disparität zwischen industriellen Produktionskapazitäten…und den Absatzmöglichkeiten der deutschen Industrie…Agrarkrise…Dazu kamen der weltweite Charakter der Krise, die…nach und nach alle Länder erfasste und damit die Möglichkeit eines ,Exportventils’…verschloss; der Zusammenbruch des Welt- und des internationalen Kapitalmarktes; die verstärkten Tendenzen zur Monopolisierung…in der Absicht, die Widersprüche der kapitalistischen Entwicklung, die sich in der Krise verschärften…

Eingeleitet wurde die Weltwirtschaftskrise durch eine allgemeine Produktions-Krise (1932 betrug die Gesamtproduktion Deutschlands nur noch 60 % derjenigen von 1929…Erst mit dem Zusammenbruch des Finanzsystems 1931 fielen auch die Exporte rapide ab. Die Lohnkürzungen…verschärften noch die Lage auf dem Inlandsmarkt.

In ihrer entscheidenden Phase ab 1931 stellte sich die Weltwirtschaftskrise hauptsächlich als internationale Finanzkrise dar…Als die ausländischen Gläubiger (vor allem aus den USA) selbst immer mehr in finanzielle Schwierigkeiten gerieten, forderten sie von den deutschen Banken die Rückzahlung der kurzfristig vergebenen Kredite. Diese hatten die Banken aber – zwecks ,Stabilisierung’ – als langfristige Kredite an die Einzelkapitalisten weitergeleitet, die diese Gelder natürlich nicht so schnell zurückzahlen konnten. Die Folge war das reihenweise Zusammenbrechen von Banken, die auch ihre enge wirtschaftliche und personelle Verflechtung mit dem Staatsapparat – der ja ebenfalls unglaublich verschuldet war – nicht vor dem Bankrott retten konnte; in der Folge davon der Bankrott tausender von Betrieben, der schlagartige Rückgang der Produktions- und Exportziffern, wirtschaftlicher Ruin großer Teile des Kleinbürgertums und größtes Elend auf Seiten der Arbeiterklasse.

…Das Gleichgewicht, das in der Zeit von 1924 bis 1928 erreicht werden konnte, war nur eine trügerische Ruhe vor dem Sturm von 1929, denn unter der Oberfläche der „Konsolidierung“ der Märkte lagen weiterhin die alten Widersprüche im Kampf miteinander, die schon zur ,Bereinigungskrise’ des I. Weltkriegs geführt hatten. Trotz seiner militärischen Niederlage wurde mit dem Krieg Deutschland als Konkurrent auf dem Weltmarkt nicht ausgeschaltet, sondern konnte sogar England und Frankreich den Platz der führenden europäischen Wirtschaftsmächte streitig machen, denn weder entsprach der politischen Macht Englands und Frankreichs eine entsprechende wirtschaftliche Macht, noch war damals die Vorherrschaft der USA über die anderen kapitalistischen Staaten so übermächtig und sicher, wie dies nach dem II. Weltkrieg der Fall war.“ (20)

Die innen- wie außenpolitische Konsequenz dieser Situation bestand in Folgendem:

„Eine Wiederbelebung des kapitalistischen Systems, eine Überwindung der schwersten ökonomischen Krise, die dieses System jemals erlebt hatte, konnte nur noch dann stattfinden, wenn keinerlei Zugeständnisse mehr an die Arbeiter gemacht werden mußten, wenn das Kapital die Häppchen und Brocken,…diesen wegnehmen und dem ,Allgemeininteresse’ zuführen konnte. Das Überlebensinteresse des deutschen Kapitals drängte auf eine imperialistische Offensive auf dem Weltmarkt, nach einer Zurückdrängung der europäischen Konkurrenten, die nur auf der Grundlage völlig veränderter nationaler Verwertungsbedingungen erfolgversprechend in Angriff genommen werden konnte.“ (21)

Wie sah die drastische Verbesserung der Verwertungssituation im Inneren aus? Das Verschwinden der Massenarbeitslosigkeit führte zu keiner bedeutsamen Erhöhung der Lohnsätze. Der Durchschnittsstundenlohn lag 1929 bei 95,9 Rpf. und noch im Oktober mit 80,8 Rpf. weit darunter. Konzentration und Zentralisation das Kapitals nahmen dagegen bedeutend zu: Das Gesamtkapital aller deutschen Aktiengesellschaften stieg erheblich; gleichzeitig sank die Anzahl der Aktiengesellschaften zwischen 1931 und 1942 um fast die Hälfte. Der steilste Sinkflug erfolgte dabei zwischen 1931 und 1938, nicht, wie man hätte vermuten können, zwischen 1938 und 1942. Der Staat begünstigte diese Konzentrationsprozesse durch Zwangskartellierungen, Zusammenschlüsse unter „Wehrwirtschaftsführern“, Organisation von „Reichsvereinigungen“ und „Gauwirtschaftskammern“ als höchste Formen von Fusion zwischen Monopolkapital und faschistischem Staat. Die grundlegende Tendenz war dabei nicht die Verstaatlichung, sondern die Reprivatisierung. Man könnte annehmen, dass die Rüstungsindustrie verstaatlicht worden wäre oder wenigstens mehr als die Hälfte der Aufsichtsrätemitglieder aus direkten Staats- und WehrmachtsvertreterInnen bestanden hätte, alles aus den Bedürfnissen einer wirksameren Kriegsführung ableitbar. Doch auch die barbarische Kriegsführung musste vor den Geboten der Kapitalakkumulation Halt machen (22).

Der Nationalsozialismus an der Macht: Primat der Politik oder des Monopolkapitals?

Die mit Tim Masons Aufsatz „Das Primat der Politik – Politik und Wirtschaft im Nationalsozialismus“ (23) angestoßene, teils sehr heftig geführte, Debatte zog viele DiskussionsteilnehmerInnen an. Für Mandel war es unverständlich, dass Mason für die Phase zwischen 1936 bis 1939 von einer „Zersetzung des industriellen Machtblocks“ im faschistischen Deutschland, seiner Auflösung in einzelne egoistische Firmeninteressen, sprechen konnte. „Gerade auf Grund dieser einwandfrei feststellbaren Entwicklung, die nicht nur dem demagogischen Programm der Nazis, sondern auch ihrem >>politischen Sonderinteresse<< (der Konservierung einer breiten Massenbasis in Mittelstand, Kleinbürgertum und Kleinbetrieb) direkt widersprach, ist unverständlich, wie Tim Mason zu dem Schluss kommen kann,…Monopolkapitalismus ist nicht >>Auflösung<< des Systems in eine >>reine Anhäufung von Firmenegoismen<<, sondern immer zunehmende Identifizierung des Systems mit den Firmenegoismen von einigen Dutzend Großkonzernen, auch auf Kosten der Masse der Klein- und Mittelbetriebe. Und das ist ja gerade im faschistischen Deutschland in einem vorher wie nachher noch nicht wiederholten Ausmaß geschehen.“ (24) Gegen Masons Argument, die politische Willensbildung und die Innen- und Außenpolitik der nationalsozialistischen Staatsführung sei ab 1936 in zunehmendem Maße von der Bestimmung durch die ökonomisch herrschenden Klassen unabhängig geworden, wendet er ein: „…daß also Klassengesellschaften bis zu einem gewissen Grade eine Verselbständigung nicht nur von Religion und Philosophie, sondern auch von Staat und Armee kennen. Worauf es ankommt ist nicht, zu wissen, ob eine Gruppe von Bankiers oder Großindustriellen dem Regierungschef oder Armeeführer seine [ihre, d. Red.] Beschlüsse unmittelbar >>diktiert<<, sondern ob diese Beschlüsse dem Klasseninteresse dieser Großfinanz oder der Großkonzerne entsprechen und aus der inneren Logik der Verteidigung der gegebenen Produktionsweise heraus verständlich werden.

Tim Mason übersieht, daß Militarismus und Kriege diese Autonomie schon sehr weitgehend im Rahmen des Monopolkapitalismus, lange bevor die NSDAP geboren wurde, erlangt hatten. Ja, der ganze Begriff des >>Primats der Politik<< ist gerade aus dem Komplex des Ersten Weltkriegs geboren.“ (25)

Richard Saage zeichnet die gesamte Kontroverse ausführlich nach und untersucht das Verhältnis zwischen großindustriellen Interessen und nationalsozialistischer Herrschaft einerseits sowie zwischen Nationalsozialismus und seiner Massenbasis andererseits. Zum ersten Themenkomplex hätten sich seiner Ansicht nach drei Gruppen gebildet: Für die erste ist das Verhältnis von Faschismus und Kapital kontingent, also zufällig; für die zweite existiert eine strukturelle Identität. Hierunter fällt v. a. die stalinistische Geschichtsschreibung. Die dritte zeichnet die Definition von Faschismus als tendenziell verselbstständigte Exekutive aus. Seine Parteinahme für das dritte Lager mündet in ein recht ausgewogenes Urteil, das zu dem Mandels nicht im Widerspruch steht, aber ihm gegenüber den Vorzug aufweist, allen Analysen zu dieser Frage bis in ihre feinsten Schattierungen nachzugehen: „…darum werden auch die politischen Einflußnahmen auf die Wirtschaft implizit überschätzt. Alle wissenschaftliche Aufmerksamkeit gilt den Lenkungsmaßnahmen, wenig Beachtung hingegen dem ungemein dynamischen Prozeß des öffentlichen Lebens selbst, der gelenkt werden soll: der deutschen Wirtschaft…Dies vorausgesetzt, steht also der Konflikt der verschiedenen Machtgruppen keineswegs im Gegensatz zum monolithischen Charakter des Systems.“ (26) Das Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft unterm Faschismus entspricht also vollständig dem von Trotzki aufgezeigten Bild vom Faschismus an der Macht als – besonderer – Herrschaftsform des Monopolkapitals. Es zeigt die Liaison zwischen Staat und Kapital, wie sie für bonapartistische Regime typisch ist! Doch im hier behandelten Fall handelt es sich ja um einen besonderen Bonapartismustyp: einen faschistischen. Was präsentiert uns Saage im zweiten Teil seines Buchs? Suggeriert er nicht einen Unterschied zu Trotzki (und Mandel), die ja von einem Abbau der faschistischen Massenbewegung ausgehen? Der Vorzug von Saages Analyse besteht in seiner differenzierten Antwort, die ebenso wie Trotzki die Bedeutung der faschistischen Massenbasis betont, obwohl diese keinen Bewegungscharakter mehr annimmt – außer unter Kontrolle und nach Aufforderung durch den Staat („Reichskristallnacht“, „Euthanasie“-Programme) und nur insoweit Teilen ihrer Sozialdemagogie nachgeht. Diese auf die Spitze getriebene Fusion zwischen Staat und Monopolkapital mit ihren Folgen u. a. der forcierten Enteignung des Kleinbürgertums und Mittelstandes – auch der Bauernschaft (Reichserbhofgesetz) – wird nur mit kleinbürgerlich-rechtsextremer Färbung versehen. Zu dieser Färbung zählt auch ein Stück „Primat der Politik“ bei der Durchsetzung der absoluten Mehrwertproduktion: „Zwar hat die faschistische Partei das absolute Monopol des Politischen, aber sie übt es aus im Namen einer Bourgeoisie, die ihre ,objektiven’ Interessen nur noch auf der Grundlage der absoluten Mehrwertproduktion festmachen kann…Wenn Sohn-Rethel nämlich den gesellschaftlichen Rahmen der unterm Faschismus praktizierten absoluten Mehrwertproduktion dadurch charakterisiert sieht, daß dieser ,nach innen und nach außen…die Brachialgewalt an die Stelle der ökonomischen Kapitalsfunktion (setzt)’, bringt er ,damit das Kapital wieder auf den Nenner seines Ursprungs, seine Akkumulation auf den der sog. >ursprünglichen<’.“ (27) Ein wichtiger Gedanke und richtig insoweit, als das NS-Regime durch seinen Zwangscharakter und die barbarischen Methoden die Produktion absoluten Mehrwerts (Verlängerung des Arbeitstags, Intensivierung der Arbeit, Lohnsenkungen) effektiv durchsetzen konnte. Doch nur indirekt richtig ist die Gleichsetzung von Produktionsmethoden des absoluten Mehrwerts mit ursprünglicher Akkumulation, der Schaffung des doppelt freien LohnarbeiterInnentyps. Diese erhöht real „nur“ die Masse des Mehrwerts, wenn die freigesetzten ehemaligen KleinbesitzerInnen als produktive ArbeiterInnen Beschäftigung finden. Zweitens forciert der Nationalsozialismus an der Regierung auch die für die große Industrie typischen Methoden des relativen Mehrwerts (Konzentration und Zentralisation, forcierte Produktion von Produktionsmitteln und Rüstungsgütern, Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals durch Einführung neuer und von mehr Maschinerie). Indirekt erhöht die durch ursprüngliche Akkumulation gebildete zusätzliche Masse an LohnarbeiterInnen durch Vergrößerung der industriellen Reservearmee auch den Druck auf die Löhne der Beschäftigten nach unten und den Mehrwert/die Mehrwertrate nach oben. Bei aller Richtigkeit der von Sohn-Rethel betonten äußersten Möglichkeiten des NS-Zwangsregimes für die Produktion absoluten Mehrwerts gilt dort auch weiterhin der kombinierte Charakter (aller Methoden) der Mehrwertproduktion.

Die plebiszitäre Mobilisierbarkeit der faschistischen Massenbewegung nach der Machtergreifung spielte im NS-Deutschland eine wichtige Rolle bei der für die Kriegswirtschaft elementaren Mobilisierung von ZwangsarbeiterInnen, einer Art ursprünglicher Akkumulation durch Zwangsenteignung von Hab und Gut – allerdings nicht mit dem Resultat der Schaffung neuer Lohnarbeitskräfte, sondern eines millionenstarken Heeres von de facto SklavInnen. In diesem Sinn macht auch Sohn-Rethels Hypothese mehr als Sinn.

Die Parole vom „Lebensraum im Osten“ erwies sich als zugkräftiges Versprechen für die enteigneten KleinbürgerInnen im Reich, ihren Status als LohnarbeiterInnen dort bald aufgeben und ihren alten bzw. sogar besseren Status wiedererlangen zu können. Dazu mussten aber Juden und Jüdinnen und „slawische Untermenschen“ besiegt, vertrieben, enteignet und durch Zwangsarbeit vernichtet werden. Diese „Perspektive“ fürs ehemalige deklassierte KleinbürgerInnentum machte es zum Rammbock in Uniform. Theorien, denen zufolge der Faschismus eine neue totalitäre Form von Klassengesellschaft darstelle, finden in diesen Tatsachen mehr als ein Körnchen Nahrung. Auch Trotzki spekulierte kurz vor seinem Tod, wenn auch beiläufig, mit dieser möglichen Perspektive. Ehemalige TrotzkistInnen wie Burnham favorisierten die Idee einer universellen totalitären Managerklassengesellschaft, wobei Trotzki diese Bezeichnung für die stalinistische Sowjetunion kritisierte. Auch methodisch ist diese Annahme äußerst fraglich, bezeichnete doch Marx im „Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie“ als höchste Klassengesellschaft die, die die menschliche „Vorgeschichte“ der unbewussten, hinter dem Rücken vor sich gehende, unkontrollierte, indirekten Vergesellschaftung aus unfreien Stücken abschließe. Der Faschismus und insbesondere der deutsche Nationalsozialismus zeigen aber die barbarischen Umrisse eines drohenden Zerfalls der Zivilisation, ein „Ende der Geschichte“ in der Katastrophe. Er ist ein Menetekel dessen, was der Menschheit durch einen Superfaschismus mit den heutigen Massenvernichtungswaffen drohen kann: die Auslöschung der Menschengattung, wenn die von Rosa Luxemburg genial zugespitzte Alternative „Sozialismus oder Barbarei“ von der internationalen ArbeiterInnenklasse nicht zugunsten der ersteren entschieden wird! Doch schließen wir das Thema Massenbasis und NS-Regime nach der faschistischen Machtergreifung mit Saages Resümee: „Schon im Ansatz verstellt er (Heinrich August Winkler; d. Red.) sich damit den Blick dafür, daß die NSDAP nur in Zusammenarbeit mit den traditionellen Eliten die Macht erwerben und erhalten konnte und daß sie gleichzeitig zur Aufrechterhaltung ihrer ,Identität’ des ständigen plebiszitären Rekurses auf die mobilisierbaren mittelständischen Massen bedurfte.“ (28)

Faschismusanalyse anderer Strömungen der ArbeiterInnenbewegung

Die Sozialdemokratie

Die sozialdemokratische Literatur zu unserem Thema ist vor allem pragmatisch-apologetischer Natur: Das eigene Versagen ist „Schuld des/r GegnerIn“. Die „Gewalt der objektiven Bedingungen“ gesellt sich einträchtig dazu. Die „Kräfteverhältnisse“ erlaubten halt nichts Besseres. Dass das eigene Handeln dieses hätte ändern bzw. abwenden können, das passt nicht zur politischen Passivität der SPD. Eine weitere These schiebt der radikalen Agitation der KommunistInnen die Schuld in die Schuhe, dass nämlich dem Faschismus die Möglichkeit bzw. der Vorwand zur Mobilisierung der verängstigten konservativen Bevölkerungsschichten geliefert worden sei. Dabei war es doch gerade der Bankrott der „gemäßigten“ parlamentarischen Alltagspolitik unter den Bedingungen der verschärften Strukturkrise, der die verzweifelten KleinbürgerInnen in die Arme der FaschistInnen trieb. Wird ihnen keine klassenkämpferische Alternative angeboten und bleibt dem deklassierten, pauperisierten Mittelstand nur die Wahl zwischen ohnmächtigem Parlament und aufmarschierendem Faschismus, wird er sich für letzteren entscheiden. Besonders hilflos ist die Haltung, um jeden Preis an der Legalität festhalten zu wollen. So argumentiert die Sozialdemokratie: Wenn die Nazis den Boden der Legalität verlassen, müssten die Organisationen der Lohnabhängigen umso fester und ausschließlich auf ihm ausharren. „Legalität“ und „Staat“ sind aber immer Institutionen und Ausdruck konkreter Gesellschaftsinteressen der herrschenden Klasse. In der Endphase der Weimarer Republik standen die RichterInnen, Oberste und Majore der Reichswehr fest an der Seite ihrer „Kameraden“ von „Stahlhelm“ und SS. Sie hassten und bekämpften die organisierte ArbeiterInnenbewegung genauso wie es parallel die FaschistInnen taten, nur ziviler und „legal“.

Auch die Faktoren Wirtschaftskrise und Erwerbslosigkeit werden ins Feld geführt, als ob ein Konjunkturaufschwung den Aufstieg Hitlers automatisch gestoppt hätte. Erstens handelte es sich um mehr als eine konjunkturelle Rezession, zweitens stoppte z.B. die Beschäftigungs„planwirtschaft“ (Arbeitsbeschaffungsprogramme) der belgischen Sozialdemokratie unter Spaak und de Man, die mit der Preisgabe wichtiger Errungenschaften der belgischen ArbeiterInnenschaft bezahlt wurden, keineswegs das Wachstum des belgischen Faschismus!

Einzig Léon Blum sprach die Wahrheit aus über den Kern hinter diesen sozialdemokratischen Rechtfertigungsideologien. Diese Wahrheit fiel genau entgegengesetzt zu den Weisheiten dieser TheoretikerInnen aus. Der Sieg Hitlers, so Blum, sei die Strafe dafür, dass die SPD nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs die Ansätze zur proletarischen Revolution erstickt und dadurch alle jene Faktoren entfesselt und bestärkt habe – von der Reichswehr bis zu den Freikorps, die sie nun schmählich davonjagen würden.

Komintern

Die Faschismusideologie der KI besteht aus fünf Elementen: a) Verkennung des eigenständigen Massencharakters der faschistischen Bewegung, Reduzierung des Faschismus auf einen reinen Agenten und direkten Ausdruck der Interessen der „aggressivsten Teile des Monopolkapitals“; b) Theorie des Faschismus als „Zwilling“ der Sozialdemokratie; c) Theorie der graduellen, schrittweisen „Faschisierung“, die die Werktätigen über den katastrophalen Charakter der faschistischen Machtergreifung täuscht und sie vom Kampf gegen noch bevorstehende Gefahren abhält; d) Theorie des „Sozialfaschismus“ in extremer Form: erst müsse man die SPD geschlagen haben, bevor man den Faschismus schlagen könne; e) der typisch sozialdemokratisch-defätistische Zusatz, Hitler würde rasch abwirtschaften (durch seine Unfähigkeit, die Wirtschaftskrise zu lösen) und „nach Hitler kommen wir“. Das bedeutete praktisch, sich bereits mit der Unabwendbarkeit der Hitler’schen Machtergreifung bereits abgefunden zu haben und wiederum ihre Auswirkung auf die Zerschlagung der ArbeiterInnenbewegung zu unterschätzen.

Erst 25 Jahre später zog die offizielle kommunistische, moskaustalinistische Weltbewegung (Togliatti, DDR-„Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“) ansatzweise die Lehren aus dieser Ideologie. Praktisch hatte die KI sie bereits vorher revidiert, aber erst, als es bereits zu spät war. Der VII. WK verwarf 1935 die Theorie vom „Sozialfaschismus“ und vollzog eine sprunghafte Rechtswende zur Volksfrontpolitik. Diese war noch fehlerhafter als das Ultralinkstum der 3. Periode, Ausdruck des Übergangs vom Zentrismus zum Reformismus ab 1934. „In der Theorie vom >>Sozialfaschismus<< wird die objektive Rolle der sozialdemokratischen Führung…gegenüber ihrer Massenbasis und ihrer spezifischen Form (die das Fortbestehen der Arbeiterorganisationen impliziert) willkürlich isoliert; in der Volksfronttheorie wird dagegen der antifaschistische Wille der Massen und der Zwang der sozialdemokratischen Führung, sich gegen die Gefahr der Vernichtung durch den Faschismus zur Wehr zu setzen, ebenso willkürlich vom gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang der Strukturkrise des Kapitalismus isoliert. Im ersten Fall werden die Massen durch Spaltung paralysiert, im zweiten durch Rücksichtnahme auf den >>liberal<<-bürgerlichen Partner der Volksfrontpolitik entscheidend gebremst.“ (29)

Die Politik der Volksfront stellt, wie der Faschismus zur Rechten, zur Linken die letzte Karte der Bourgeoisie dar, durch Klassenzusammenarbeit von offen bürgerlichen Parteien, Organisationen oder auch nur einzelnen RepräsentantInnen („Schatten“ der Bourgeosie, meistens Armeeoffiziere) mit reformistischen Arbeiterparteien in Zeiten einer zugespitzten (vor-)revolutionären Krise den Vormarsch zur proletarischen Revolution entscheidend zu bremsen. Beispiele für eine solche Politik sind Spanien 1936–39 und Chile 1970–73. In modifizierter Form gilt dies auch für die russische Kerenski-Regierung 1917 und die zwischen Ebert und der General Groener von der Obersten Heeresleitung 1918–19.

Die Theorien von der „graduellen Faschisierung“ und vom „Sozialfaschismus“ sind gewissermaßen Zwillinge. „Der Faschismus ist nicht bloß eine neue Etappe der Stärkung und Verselbständigung der Exekutive des bürgerlichen Staates. Er ist nicht bloß >>die offene Diktatur des Monopolkapitals<<. Er ist eine besondere Form der >>starken Exekutive<< und der >>offenen Diktatur<<, die sich durch völlige Zerschlagung sämtlicher Arbeiterorganisationen, auch der gemäßigten, sicher der sozialdemokratischen – kennzeichnet. Er ist der Versuch, durch völlige Atomisierung der Werktätigen jegliche Form des organisierten Klassenkampfes, der organisierten Selbstverteidigung der Lohnabhängigen, gewaltsam zu verhindern. Man sieht, wie falsch die Theorie ist, die besagt: weil die Sozialdemokratie dem Faschismus den Weg ebne, seien Faschismus und Sozialdemokratie Verbündete, und man könne sich nicht mit der letzteren gegen den ersteren verbünden.

Gerade das Umgekehrte trifft zu. Die Sozialdemokratie bereitete tatsächlich die Machtergreifung des Faschismus vor, indem sie die Kampfkraft der Werktätigen durch ihre Politik der Klassenkollaboration untergrub und sich mit dem Bankrott der parlamentarischen Demokratie identifizierte. Die Machtergreifung des Faschismus ist aber gleichzeitig der Untergang der Sozialdemokratie.“ (30)

In der Theorie von der „Faschisierung“ liegt jedoch zugleich auch ein richtiges Element: „Es wäre aber falsch, etwa den Regierungsantritt Hitlers im Frühjahr 1933 zeitlich gleichzusetzen mit jener alles entscheidenden Niederlage, die der Faschismus an der Macht für das Proletariat bedeutet.

Die faschistische Diktatur wird nicht von einem Tag zum anderen installiert. Mit dem Machtanritt der Faschistsne [Faschisten; d. Red.] verändern sich die Bedingungen zuungunsten des Proletariats. Damit die Gefahr des Bürgerkriegs aber endgültig beseitigt werden kann, benötigt der Faschismus eine gewisse Zeitspanne, um sich als Regime zu festigen. Die Länge dieser Zeitspanne wird davon bestimmt, in wie kurzer Zeit die Organisationen der Arbeiterklasse aufgelöst, wie schnell die politischen Gegner ausgeschaltet und die Fraktionskämpfe in den eigenen Reihen beendet werden können. Nur in diesem Zusammenhang kann man den Begriff der ,Faschisierung’ verwenden: als Prozess der Konsolidierung des faschistischen Regimes…“ (31)

Die Länge dieser Zeitspanne kann genauer als nur summarisch bestimmt werden. Die ArbeiterInnenorganisationen wurden in folgender Reihenfolge verboten bzw. gleichgeschaltet: KPD – SPD – ADGB, zuletzt die bürgerlichen Parteien mithilfe des Gesetzes „Gegen die Neubildung von Parteien“ vom 14. Juli 1933, darunter auch die kurzzeitige NSDAP-Koalitionspartnerin DNVP. Bereits am 24. März hatte sich der „Führer“ sämtliche legislative Gewalt im „Ermächtigungsgesetz“ gesichert. Damit und mit der Verhaftung aller bedeutenderen ArbeiterInnenfunktionärInnen ab 1. März 1933 war der kalte, einseitige Bürgerkrieg de facto beendet. Einseitig, weil SPD und Gewerkschaften keinen Widerstand leisteten. Die offen bürgerlichen Parteien stimmten dem „Ermächtigungsgesetz“ allesamt zu, nur die 94 Abgeordneten der SPD dagegen. Die Sitze der KPD waren bereits einkassiert. Damit konnte die NSDAP   den konsequenten Aufbau einer totalitär-bonapartistischen Diktatur beginnen. 1934 wurde ihre ursprüngliche radikale Massenbasis quasi entwaffnet („Röhm-Putsch“), um die militärischen Funktionen der SS zu übergeben.

Die unter a) genannte Reduzierung des Faschismus auf lediglich eine Agentenrolle der aggressivsten Teile des Monopolkapitals, knüpft in verballhornter Form an die Hilferding’sche These von der Kongruenz zwischen der politischen Macht im bürgerlichen Staat und der „höchsten Form der Konzentration des Kapitals“, dem Finanzkapital, an, die schon im Jahre 1907 bei aller Genialität eine Vereinfachung implizierte, der zufolge der bürgerliche Staat einfach übernommen werden und über das „Generalkartell“ der Kapitalismus friedlich in den Sozialismus hineinwachsen könne. Letzteres brach mit Marx’ Feststellung, die Konkurrenz gehöre essenziell zum Begriff des Kapitals, sowie mit der Engels’schenThese , das Staatseigentum sei nicht die Überwindung des Kapitalismus, biete jedoch eine bessere Handhabe dafür. Die Hilferding’sche Formel war also 1907 bestenfalls potenziell opportunistisch, in den Jahren vor und nach Hitlers Machtübernahme unzutreffend. Max Horkheimer „löste“ sie zugunsten einer Variante der Kominternhypothese, die 1935 die Grundlage für Dimitroffs Volksfrontkonzept lieferte. Er bezeichnete den Faschismus als modernste Form der monopolkapitalistischen Gesellschaft. Paul Sering (Richard Löwenthal) favorisierte die andere mögliche „Lösung“: Für ihn war der NS-Staat ein „Planimperialismus“. „Man kann den Faschismus nicht begreifen, wenn man von zwei entscheidenden Momenten der Analyse abstrahiert: daß die höchste Form der Zentralisation des bürgerlichen Staates nur durch die politische Selbstentmachtung des Bürgertums erreicht werden kann…, und daß es sich nicht um die >>modernste Form der monopolkapitalistischen Gesellschaft<<, sondern um den Ausdruck der schärfsten Form der Krise dieser Gesellschaft handelt.“ (32)

Otto Bauer

Otto Bauer, Cheftheoretiker des Austromarxismus und von 1918 bis 1934 stellvertretender Parteivorsitzender der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs (SDAP-Ö), sieht im Faschismus (33) eine Verbindung dreier Momente: Deklassierung von Teilen des Kleinbürgertums im Krieg; Verelendung weiter Teile des Mittelstands durch die Wirtschaftskrise, die zu deren Bruch mit der bürgerlichen Demokratie führte; Interesse des Großkapitals an vermehrter Ausbeutung der Arbeitskraft, wozu der Widerstand der ArbeiterInnenorganisationen notwendig gebrochen werden muss. Der Faschismus habe gesiegt, als das Proletariat längst geschwächt und in die Defensive gedrängt gewesen sei. Folglich habe die Kapitalistenklasse die Staatsmacht den faschistischen Gewalthaufen nicht übertragen, um einen revolutionären Sozialismus zu unterdrücken, sondern um die Errungenschaften des „reformistischen Sozialismus“ zu zerschlagen. Dieser Ansatz, so sehr er auch der rechtsreformistischen Position überlegen ist, demzufolge Mussolinis und Hitlers Siege Resultate der „bolschewistischen“ Agitation verkörperten, unterschätzt die kapitalistische Strukturkrise 1918–1927 in Italien und 1929–1933 in Deutschland. Sie erschütterte und schwächte diese Gesellschaftsordnungen und verbesserte dadurch zugleich die objektiven Möglichkeiten einer Machteroberung durch die ArbeiterInnenklasse. Der Sieg des Faschismus ist eben keine zwangsläufige Folge nach der Niederschlagung der Ansätze proletarischer Revolution 1921 bzw. 1923. Die 15 Jahre von 1918 bis 1933 in Deutschland waren keineswegs durch einen geradlinigen Abstieg revolutionärer Möglichkeiten gekennzeichnet, sondern durch deren periodisches Auf und Ab.

Diese Analyse von Otto Bauer führte zu schweren taktischen Fehlern: Da man sich in einer „defensiven Phase“ befand, glaubte Bauer, sich Gewehr bei Fuß aufs Abwarten beschränken zu müssen, bis die ArbeiterInnenorganisationen von der klerikal-faschistische Reaktion angegriffen wurden. So führte der heroische Schutzbundkampf vom Februar 1934 zu einer Niederlage, wenn auch zu einer weit weniger schmachvollen als in Deutschland. Die Tiefe der Strukturkrise machte es notwendig, dass die ArbeiterInnenbewegung ihren Willen zum Ausdruck brachte, sie mit eigenen Mitteln, d.h. ihrer Machteroberung, zu lösen. Nur so hätte es ihr gelingen können, die am Status quo (und auch an der bloßen Verteidigung der ArbeiterInnenorganisationen) nicht mehr interessierten Mittelschichten und schwankenden Bevölkerungsteile auf ihre Seite zu ziehen. Es blieben 1930 noch drei Jahre Zeit, um durch aktiven Kampf der ArbeiterInnenschaft zwar nicht die bürgerliche Demokratie zu retten (34), aber die Bollwerke der ArbeiterInnendemokratie und sozialen Errungenschaften innerhalb des bürgerlich-parlamentarischen Systems, die es zu erhalten lohnte, in den Sozialismus mit herüberzunehmen. Dazu war aber erforderlich, dass die proletarischen Führungen nicht versagten.

Bauer folgerte überdies eine Symmetrie zwischen Faschismus und Bolschewismus (35). „Aus der Ideologie des ,neutralen, demokratisch-parlamentarischen Staates’, in dem Sozialdemokraten des linken Flügels für die Machtergreifung des Proletariats kämpfen wollten, ergab sich mit logischer Konsequenz die Ideologie des ,neutralen’, ,unabhängigen’ ,über den Klassen stehenden’ Bonapartimus/Faschismus (bzw. Bolschewismus). Diese Herrschaftsformen seien, wie Bauer postulierte, ,über den Klassen stehende Diktaturen’…“ (36)

August Thalheimer

August Thalheimers Analyse kommt der Trotzkis am nächsten. Das Aktionsprogramm der KPD-O von 1931 näherte sich in seiner Perspektive der Linken Opposition an. Es enthielt nicht nur unmittelbare Tagesforderungen, sondern auch ein Verständnis von Übergangslosungen, die das Proletariat aus seiner „Verteidigung gegen den Faschismus und die Angriffe auf seine Lebensgrundlagen bis zum Kampf um die staatliche Macht vorantreiben“ sollten. Führte die SPD den Kampf als „Verteidigung der Demokratie“ und unterstützte das Kabinett Brüning bedingungslos und die KPD zuallererst den gegen die Sozialdemokratie, so wurde für die KPD-O der Kampf gegen die Brüning-Regierung zur Voraussetzung der proletarischen antifaschistischen Einheitsfront.

Ihr taktischer Fehler resultierte letzten Endes aus ihrer Theorie der „schrittweisen Faschisierung“ und einer zu engen Anlehnung an die Marx’sche Analyse des Bonapartismus des 19. Jahrhunderts. Ferner reduzierte Thalheimer das Faschismusproblem auf die gesellschaftspolitischen Kräfteverhältnisse, ohne den Zusammenhang mit der Strukturkrise zu beleuchten: Die ArbeiterInnenschaft sei noch nicht fähig, die politische Herrschaft auszuüben, das Großbürgertum bereits nicht mehr. Er unterschätzte den qualitativen Unterschied zwischen Bonapartismus und Faschismus, verwechselte die objektiv-historisch bedingte Unreife der französischen ArbeiterInnenklasse in den Jahren 1848–1850 mit der nur subjektiven (Führungskrise) der deutschen ArbeiterInnenbewegung1918–1933. Aufgrund einer mechanischen, schematischen Gegenüberstellung einzelner Elemente beider Herrschaftsformen konnte er letztlich im Faschismus nur noch eine „Ergänzung“, „Vollendung“ des bonapartistischen Regimes sehen, das als „Übergangsprogramm des Faschismus“ bezeichnet wurde. Die faschistische Partei ist für ihn das Gegenstück zur „Dezemberbande“ des Louis Bonaparte; die Klassenkampfsituation nach 1850 sei die gleiche wie beim Übergang von von Schleicher zu Hitler. Der Faschismus ist aber eben keine militärische Verschwörung, sondern eine kleinbürgerliche Massenbewegung, – was das französische Kleinbürgertum (Parzellenbauernschaft) des 19. Jahrhunderts nicht war – Es war im Wesentlichen nur plebiszitär passiver Unterstützer Napoleons des III. Zwischen aufsteigendem französischem Kapitalismus und deutschem Imperialismus liegt zudem die „Kleinigkeit“ einer ganzen Epoche (37)! Eine Differenzierung zwischen faschistischer Massenbewegung während ihres Aufstiegs und ihrer Machtergreifung und dem sich danach mehr und mehr in einen Bonapartismus verwandelnden Herrschaftsapparat kann auf dieser Basis erst recht nicht gelingen (38).

Umgekehrt bestand Thalheimers Analyse aus einer Aufzählung von Äußerlichkeiten. Den Faschismus verstand er als größtmögliche Quantität an Repression. Das führte ihn zur Ablehnung der Analogie zwischen den vorfaschistischen Regimen in Deutschland und dem Bonapartismus: „Dieselben Stalinisten und Brandlerianer lehnten sich auf gegen die Analogie zwischen dem vorfaschistischen Regime in Deutschland (>>Präsidial<<-Kabinette) und dem Bonapartismus. Sie zählten Dutzende von Zügen auf, durch die sich das Papen-Schleicher-Regime vom klassischen Bonapartismus unterschied, und übersahen darüber jenen Grundzug, der sie einander näherte: das Balancieren zweier unversöhnlicher Lager…Jetzt kann man schon ohne weiteres von einer tiefen Gesetzmäßigkeit der >>bonapartistischen>> Übergangsperiode zwischen Parlamentarismus und Faschismus sprechen.“ (39)

Ein gutes Resümee der Widersprüche im KPD-O-Konzept zieht Dahl-Arnold: „Thalheimer ging nicht von einer absoluten Verselbständigung der Exekutivgewalt aus, sondern sehr wohl – und hier blieb er Marx und Engels treu – beim Faschismus/Bonapartismus von einer spezifischen Klassendiktatur der Bourgeoisie…Im Gegensatz zu Trotzkis Analyse identifizierte Thalheimer tendenziell Bonapartismus und Faschismus, während er Trotzkis Analyse des präfaschistischen Bonapartismus rundheraus ablehnte…Entgegen der Analyse der Linken Opposition subsumierten die ,Brandlerianer’ sowohl das faschistische Regime als auch den ,Bonapartismus faschistischen Ursprungs’, der sich von seiner kleinbürgerlichen Basis gelöst hat, unter den Begriff Faschismus.

Die Identifizierung von Faschismus und Bonapartismus führte die KPD-O darüber hinaus zum ,Überspringen’ der Periode der Vorbereitung des faschistischen Staatsstreiches durch den Bonapartismus Brünings und Papen/Schleichers…Praktisch führte diese Position die KPD-O dazu, nicht unähnlich der KPD, eine ,Faschisierung’ der staatlichen Institutionen der Weimarer Republik festzustellen und bei der Ablösung des Brüning-Regimes im Sommer 1932 voreilig den ,ersten Akt des faschistischen Staatsstreichs’ zu konstatieren…“ (40)

Die Widersprüche äußerten sich in einer schwankenden Praxis zwischen Ultralinkstum und linkssozialdemokratischem Opportunismus: „Faschisierung“ – ja, aber nicht schleichend (41); Einheitsfront mit der SPD – ja, aber zuvor muss sie die Unterstützung Brünings aufgeben; die proletarische Machtergreifung – ja, aber durch eine (strategische) Einheitsfront, also als Hybrid zwischen Partei und Aktionseinheit.

Lehren für heute

Hier können wir festhalten: die ausgereifte Faschismustheorie nach 1929 ist allen Konkurrentinnen überlegen. Im Kern besteht sie aus dem Zusammenhang zwischen schwerer Strukturkrise des Kapitalismus und der unzureichenden Politik der ArbeiterInnenführungen; der Analyse des Klassencharakters der faschistischen Massenbasis wie des Faschismus an der Macht; Ablehnung der Sozialfaschismus- wie der Volksfronttheorie der KI; Ablehnung des bürgerlichen Legalismus der Sozialdemokratie, ihrer Unterstützung bürgerlicher Regierungen und Präsidialkabinette; Anwendung der klassischen Einheitsfronttaktik der KI in Form der antifaschistischen ArbeiterInneneinheitsfront gegen ultralinke (Einheitsfront nur von unten) wie opportunistische (Volksfront, strategisch-programmatische Einheitsfront) Abweichungen; Verteidigung der Errungenschaften der ArbeiterInnenbewegung (Bollwerke) innerhalb der bürgerlichen Demokratie statt Verteidigung parlamentarisch-demokratischer Herrschaftsform als Endzweck; Zusammenhang zwischen antifaschistischer Selbstverteidigung und dem Kampf um die Staatsmacht.

Trotzkis Analyse entstand im Zusammenhang mit dem Aufkommen des Faschismus in imperialistischen Ländern. Dies bedeutet nicht, dass faschistische Massenbewegungen in Halbkolonien nicht existieren können. Sie spielten oft Steigbügelhalterinnen für Militär- bzw. halbfaschistische Diktaturen (Franco-Spanien, Indonesien, Chile) oder kamen unter deutsch-italienischer Schutzherrschaft sogar an die Macht (kroatische Ustascha). Doch können sie kein eigenes imperialistisches Regime errichten, das nach der Weltmacht greift, und bleiben Vasallen des ausländischen Monopolkapitals.

Das Aufkommen rechtspopulistischer Bewegungen – ein Schwerpunkt dieser Ausgabe des Revolutionären Marxismus – verleitet viele Linke, ihnen ein faschistisches Etikett aufzukleben. Dieser inflationäre Gebrauch der Faschismusdefinition bildet die eine Gefahr. Die andere verkörpert eine Blindheit gegenüber Instrumentalisierungsversuchen des Rechtspopulismus durch echte FaschistInnen. MSI in Italien und Front National in Frankreich stellten vor einigen Jahren faschistische Frontparteien dar, überwiegend geführt von faschistischen Kadern, die eine extrem nationalistische und rassistische Politik verfolgten. Von einer solchen Organisation können wir heute in beiden Fällen zwar nicht (mehr) sprechen – der FN hat sich in eine rechtspopulistische Partei wie viele andere verwandelt, die MSI existiert nicht mehr – aber AfD und Co. bieten ein weites Betätigungsfeld für die FaschistInnen. Wo sie zu rassistischer Hetze mobilisieren und gemeinsam mit diesen marschieren wie in Chemnitz müssen wir ihnen mit den gleichen physischen Mitteln entgegentreten wie . damals der SA.

Endnoten

(1) Wir folgen in diesem Kapitel weitgehend der dankenswerterweise vom Autor zur Verfügung gestellten Arbeit von Dahl-Arnold, Henning: „Trotzkismus“ und Faschismus 1922–1933. Magisterarbeit am Fachbereich Geschichtswissenschaften der Freien Universität Berlin. Berlin 1991, S. 6–39.

(2) a. a. O., S. 15.

(3) a. a. O., S. 16.

(4) a. a. O., S. 18.

(5) Die Polemik Dahl-Arnolds gegen die Anwendung der ArbeiterInnenregierungstaktik lässt zumindest Fragen offen. Er schließt aus der Formulierung des VIII. KPD-Parteitags in Leipzig: „Die Arbeiterregierung ist weder die Diktatur des Proletariats noch ein friedlicher parlamentarischer Aufstieg zu ihr“, dass „die KPD ihre Bereitschaft zur Bildung einer SPD/KPD-Koalition im Rahmen des Parlamentarismus…, de facto zum Eintritt in eine bürgerliche Regierung“ erklärt habe. Die Parteitagsformel ist zwar ungenauer als die Resolution des IV. WK, aber nicht opportunistisch. Der Autor geht nicht auf die Frage ein, ob die o. a. KI-Resolution auch unter sein Verdikt fällt. Wenn er ihren wesentlichen Gehalt teilen sollte, nämlich dass eine echte ArbeiterInnenregierung die Tür zur Diktatur des Proletariats (DdP) aufstößt, aber nicht mit dieser identisch ist, sondern eine – nicht zwingend ins Leben tretende – Übergangsregierung dazu, so ist seine Kritik an Ruth Fischer zumindest verwirrend: „Fischer argumentierte dabei allerdings auf einer Grundlage, die prinzipiell die Bildung einer Arbeiterregierung – verantwortlich ausschließlich proletarischen Organen – als Weg zur Festigung der Arbeiterdiktatur ausschloß…“ Das kann doch nur heißen: Festigung einer DdP, oder welche „Arbeiterdiktatur“ kennt Dahl-Arnold noch? Aber die proletarische Staatsmacht ist ja bereits die Krone der echten ArbeiterInnenregierung und hat das Übergangsstadium, wo der Staat von einer zur anderen Klasse übertragen wird, bereits hinter sich. Bestenfalls hat er hier (unfreiwillig?) die Fischer’sche These, ArbeiterInnenregierung könne nur ein populärer Ausdruck für die DdP sein, bestätigt. Der IV. WK hätte sich seine ganze Mühe sparen können! Allerdings stellten die Politik der loyalen Opposition ggü. einer Koalition aus SPD und offen bürgerlicher DDP (Deutsche Demokratische Partei, linksliberal) in Thüringen (diese wurde von der USPD sogar geduldet) sowie der Tolerierung (Duldung, Mehrheitsbeschaffung als Blankoscheck ohne Regierungseintritt der KPD) der SPD (Sachsen) bzw. SPD/USPD-Koalition (Thüringen) rechte Abweichungen von der korrekten taktischen Linie dar. Das Gleiche gilt für den Eintritt in die dortigen Landesregierungen und ihre Bezeichnung als (echte) ArbeiterInnenregierung.

(6) a. a. O., S. 22.

(7) Dahl-Arnold geht auch auf den Umgang mit der revolutionären deutschen Situation durch KPD und KI ein. Die KI wurde erst nach dem Antifaschistentag Ende Juli – viel zu spät – hellhörig. Er schildert auch interessante Details zur Rolle Sinowjews und Trotzkis. Sein Urteil, dem wir uns anschließen, lautet: „Zu spät, und dann der bereits rückläufigen revolutionären Welle nicht angepasst. Reagierte nicht nur die KPD-Führung, sondern auch die Komintern-Führung mechanisch auf die deutsche Entwicklung.“ A. a. O., S. 23.

(8) Siehe dazu: a. a. O., S. 24 f. Dahl-Arnold spricht von einer „vollständigen Überschätzung des bisher erreichten kommunistischen Einflusses“. Trotzkis Verteidigung des Eintritts in die sächsische und thüringische Landesregierung hält er für falsch, was er jedoch nicht seiner Konzeption, sondern seiner verfehlten Einschätzung der Lage dort anlastet.

(9) Im August 1923 präzisierte Trotzki seine Position zur Aufstandsfrage im Oktober 1923 in Deutschland dahingehend, dass er nicht die Absage des Aufstands im Oktober für falsch hielt. Die verpassten Chancen lagen viel früher, v. a. im August (Streik gegen die Cuno-Regierung). Notes sur les conversations entre Trotsky et Walcher. Arbeterrörelsen Arkiv, Stockholm; Trotsky, Léon: Oeuvres 2, S. 91–110. Zur Einschätzung in Trotzkis „Lehren des Oktober“ (Berlin 1925, Reprint) siehe: Dahl-Arnold, a. a. O., S. 113, Anm. 166.

(10) Dahl-Arnold, a. a. O., S. 31 f.

(11) Dieser Artikel lag den Delegierten der 13. Parteikonferenz der RKP erst Mitte Januar 1924 vor. Siehe Trotzki, Leo: Der Neue Kurs (Dezember 1923 – Januar 1924), Kapitel V. In: Schriften 3, Band 3.1. Linke Opposition und IV. Internationale 1923–1926 (Hrsg. Dahmer, Helmut u. a.). Hamburg 1997, S. 209–314. Laut Dahl-Arnold (a. a. O.) scheint die englische Übersetzung gegenüber der deutschen Ausgabe (Trotzki, Leo: Der Neue Kurs, Berlin/West 1972 [Intarlit]) präziser zu sein (ders.: Challenge of the Left Opposition 1923–1925. New York 1975).

(12) Dahl-Arnold, a. a. O., S. 33. Die Analogie zu den russischen Julitagen galt vollständig für die „Märzaktion“ 1921 im Mansfelder Revier (heute: Sachsen-Anhalt), wo die KPD ganz anders als knapp vier Jahre zuvor sich in einen abenteuerlichen Aufstandsversuch hineinziehen ließ. Für den Oktober 1923 hinkt sie jedoch; hier handelte es sich nicht um einen spontanen, unverantwortlichen Aufstand. Dahl-Arnold ist in der Sache aber vollständig recht zu geben. Die Paralyse der KPD zeigte sich im Fehlen eines Planes B, den er durchaus zutreffend skizziert. Ihr Repertoire bestand im Oktober 1923 nur aus den Alternativen Absage oder Durchführung eines Aufstandes, was die Komplexität der Situation inadäquat widerspiegelte. Um die Bedingungen für einen siegreichen Aufstand zu verbessern, musste man dem Hauptelement der gegebenen Situation Rechnung tragen und das konnte nur heißen: ArbeiterInneneinheitsfront – durchaus nicht nur in Sachsen und Thüringen – gegen einen drohenden Militärputsch, Bonapartismus im ganzen Reich. General von Seeckt war kein deutscher Mussolini, sondern ein preußischer Kornilow. Eine analog zu der der Bolschewiki während der Kornilowiade im August 1917 durchgeführte Einheitsfrontpolitik hätte sich als Schlüssel für den Sieg des deutschen Kommunismus erweisen können, als welche sie sich in Russland erwies. Sie war der einzige Weg aus der Sackgasse und die wahre, vollständige Analogie zur Russischen Revolution!

(13) Trotsky, Leon: The first five years of the Communist International, 2 Bände. New York 1972.

(14) Dahl-Arnold, a. a. O., S. 35 f.

(15) Trotzki, Leo: Faschismus und Reformismus, in: Leo Trotzki – Schriften über Deutschland (SüD; Hrsg: Dahmer, Helmut), Band 2, S. 721 sowie ders.: Aussichten der Weltentwicklung, in: Wohin treibt England? – Europa und Amerika. Berlin/West 1972. Werk 2, S. 17.

(16) Dahl-Arnold, a. a. O., S. 39.

(17) Mandel betont, dass nur bestimmte Formen des Kapitalismus angegriffen werden wie „Zinsknechtschaft“, Warenhäuser, „raffendes“ im Gegensatz zu „schaffendem“ Kapital. Wir würden „jüdisches“ Kapital hinzufügen. Privateigentum als solches oder Unternehmerherrschaft im Betrieb wird nicht attackiert.

Mandel, Ernest: Einleitung. Trotzkis Faschismustheorie. In: Leo Trotzki – Schriften über Deutschland (SüD; Hrsg: Dahmer, Helmut), Band 1. Frankfurt am Main 1971, S. 24, Anm. 21.

(18) Mandel, Ernest: Einleitung. Trotzkis Faschismustheorie. In: Leo Trotzki – Schriften über Deutschland (SüD; Hrsg: Dahmer, Helmut), Band 1. Frankfurt am Main 1971, a. a. O., S. 21–26.

(19) Allerdings bedeutet das nicht, dass er Fehlurteilen entgangen wäre oder schwankende Einschätzungen vermieden hätte. Dahl-Arnold weist darauf hin, dass Trotzki auf seine Fehleinschätzung der von Seeckt-Diktatur 1923–24 nicht mehr eingegangen sei (a. a. O., S. 59) und stellt dies in Zusammenhang mit dem Ausbleiben einer systematischen Diskussion innerhalb der Internationalen Linken Opposition (ILO, Vorläuferin der IV. Internationale) über die Niederlage der deutschen Revolution 1923. Trotzki hatte zu Anfang der 1920er Jahre in Nebenbemerkungen die Regime Zankows in Bulgarien sowie Horthys in Ungarn als faschistisch bezeichnet, ebenso 1926 die Militärdiktatur Pilsudskis. Über letzteres gab es einen Disput in der ILO. Ausführlich widerrufen hat Trotzki später seine frühere Charakterisierung der Regierungen Primo de Riveras in Spanien und Tschiang Kai Scheks in China als faschistische (a. a. O., S. 60 f.). Fraglich beim Pilsudski-Regime war auch, ob der Ausgangspunkt überhaupt richtig war, es unter einem präfaschistischen Gesichtspunkt zu diskutieren. Die Geschichte, nicht nur des Monopolkapitalismus, kennt bonapartistische Regime auch ohne diesen Kontext (Portugal, Spanien, Afrika, Asien, Lateinamerika).

Auch Trotzkis Bemerkung, der Sieg des Faschismus habe dazu geführt, dass sich das Finanzkapital aller Einrichtungen und Organe der Herrschaft, Verwaltung und Erziehung direkt und unmittelbar bemächtigt, kann als Widerspruch zur Argumentation der politischen Enteignung des Bürgertums verstanden werden (a. a. O., S. 117, Anm. 49).

(20) Spartacusbund/IKL: Faschismus – eine historisch-materialistische Analyse. Ergebnisse & Perspektiven, Theoretisches Organ von: Spartacusbund [BRD] – Internationale Kommunistische Liga [Österreich], Nr. 9, Frankfurt am Main Juni 1979, S. 7 f.

(21) a. a. O., S. 9.

(22) Zahlen bei Mandel, Ernest: Einleitung…A. a. O., S. 38–45.

(23) In: Das Argument 41 – Staat und Gesellschaft im Faschismus. Faschismus-Theorien (IV). 8. Jahrgang, Heft 6. Berlin/West 1966, S. 473–494.

(24) Mandel, Ernest: Einleitung…A. a. O., S. 40 f.

(25) a. a. O., S. 41, Anm. 52.

(26) Saage, Richard: Faschismustheorien. München 19772, S. 80 f.

(27) a. a. O., S. 68 f.

(28) a. a. O., S. 141.

(29) Mandel, Ernest: Einleitung…, a. a. O., S. 31 f., Anm. 32.

(30) a. a. O., S. 32 f.

(31) Spartacusbund/IKL: Faschismus, a. a. O., S. 27.

(32) Mandel, Einleitung…, a. a. O., S. 33 f. Mandel liefert noch einen wichtigen Gedanken bezüglich der Selbstentmachtung des Bürgertums: „Es wäre interessant, die tieferen Wurzeln dieses Zwangs zu untersuchen. Er liegt u. E. nicht nur in der Notwendigkeit, die Atomisierung der Arbeiterklasse durch Massenterror zu gewährleisten, wozu ein >>normaler<< Repressionsapparat nicht ausreicht, sondern auch in der Natur der auf Privateigentum an Produktionsmitteln errichteten Produktionsweise selbst, der immer ein Element der Konkurrenz anhaftet, und in der es den direkten Vertretern der Konzerne nur auf dem Umweg des Feilschens und der gegenseitigen Aussöhnung widerspruchsvoller Teilinteressen gelingen kann, zum Gesamtinteresse der Klasse (oder genauer: ihrer entscheidenden Schicht) vorzustoßen. Soll dieses Gesamtinteresse unmittelbar und zentralisiert, also ohne lange Besprechungen und schwierige Verhandlungen sich auswirken, dann muß die Interessenvertretung des Gesamtinteresses von der gleichzeitigen Verteidigung von Patikularinteressen getrennt werden, d. h.: dann muß die Personalunion der Großkonzerne und der politischen Führung aufgehoben werden. Deshalb die Neigung der bürgerlichen Gesellschaft zur politischen Selbstentmachtung in Krisenzeiten, in ihrer stürmischen Jugend ebenso wie in ihrem dekadenten Alter.“ (a. a. O., 33 f., Anm. 56) Mandel meint mit „Selbstentmachtung in ihrer stürmischen Jugend“ offensichtlich die Integration der monarchisch-absolutistischen Staatsmaschine in die bürgerliche Produktionsweise unter Zurückdrängung ihres feudalen Aspekts. Engels hat dies am Beispiel Bismarcks und der Verwandlung des junkerlich-feudalen Staatsapparats in den preußisch-deutschen bonapartistischen untersucht.

(33) Bauer, Otto: Der Faschismus. Aus: Zwischen zwei Weltkriegen? Die Krise der Weltwirtschaft, der Demokratie und des Sozialismus. Bratislawa 1936. In: Abendroth, Wolfgang: Faschismus und Kapitalismus. Theorien über die sozialen Ursprünge und die Funktion des Faschismus. Frankfurt am Main 19742, S. 145–167.

(34) Nur in diesem Sinne muss die ArbeiterInnenbewegung die bürgerlich-parlamentarische Demokratie verteidigen, nicht als Selbstzweck. Innerhalb des Kapitalismus musste das jedoch den Eintritt für den Erhalt der vollen Bürgerrechte bedeuten. Trotzki geißelte die KPD-O, deren Führer Brandler und Thalheimer nur „für die demokratischen Rechte der Werktätigen: Versammlungs-, Vereinsrecht, Pressefreiheit, Koalitions- und Streikrecht“ ins Feld zogen: „Versammlungs- und Pressefreiheit nur für die Werktätigen ist nicht anders denkbar als unter der Diktatur des Proletariats…“ (Trotzki, Leo: Faschismus und demokratische Losungen. Prinkipo, 14. Juli 1933. In: SüD, Band 2, a. a. O., S. 601.

35 Bauer, Otto: Das Gleichgewicht der Klassenkräfte, in: Der Kampf 17, 1924, S. 57–67. Quelle zitiert nach Dahl-Arnold, a. a. O., S. 120, Anm. 87.

36 Dahl-Arnold, a. a. O., S. 57.

37 Spartacusbund/IKL: Faschismus…A. a. O., S. 20.

38 Siehe: a. a. O., S. 17–20; auch: Mandel, Ernest: Einleitung…, a. a. O., S. 35–36.

39 Trotzki, Leo: Der „4. August“ (Prinkipo, 4. Juni 1933). In: SüD, Band 2, a. a. O., S. 568.

40 Dahl-Arnold, a. a. O., S. 58.

41 Eine Variante davon stellte die Faschisierungsthese des Kommunistischen Bundes/Nord (KB/Nord) dar. Siehe die Polemik dagegen in: Spatacusbund/IKL, a. a. O., S. 52–58.

 




Bürgerlich oder proletarisch? Zum Charakter der Novemberrevolution

Revoutionärer Marxismus 26, Theoretisches Journal der Liga für eine revolutionär-kommunistische Internationale (heute: Liga für die Fünfte Internationale), Winter 1998/99

Klasseninhalt der Revolution zuwenden, gilt es, drei hartnäckig gepflegte Legenden zu zerstören. Die erste besteht ganz einfach in der Leugnung der Revolution. Ihr zufolge ließ nur die Schwäche der Ordnungsgewalten im Augenblick der Niederlage eine Matrosenmeuterei als Revolution erscheinen.

Diese löste aber in der ersten Novemberwoche 1918 ein Erdbeben aus, das ganz Deutschland erschütterte: das gesamte Heimatheer, die gesamte städtische Arbeiterschaft, in Bayern überdies noch ein Teil der Landbevölkerung erhoben sich. Dabei ging es um die Umgestaltung eines Staats, um den Sturz der herrschenden Klasse bzw. zumindest um ihre Entmachtung respektive die Einschränkung ihrer politischen Macht. Was ist eine Revolution anderes? Und daß die Revolution natürlich in einem Augenblick der Schwäche und Blamage der alten Ordnung losbrach und ihren Sieg zum Teil dieser Schwäche verdankte, ist ebenfalls selbstverständlich. Das ist in keiner Revolution der Geschichte anders gewesen.

Die zweite von der SPD verbreitete Legende beinhaltet, daß sie nicht die von den Sozialdemokraten seit 50 Jahren proklamierte Revolution, sondern eine bolschewistische Revolution gewesen sei. Die SPD habe sie vor dem Chaos gerettet. Nicht die zahlenmäßig, organisatorisch und politisch ganz unzulängliche Spartakusgruppe machte die Revolution, sondern Millionen sozialdemokratisch wählende Arbeiter und Soldaten. Die Regierung, die diese Millionen – auch noch im Januar 1919 – forderten, war leider nicht eine kommunistische, sondern eine Regierung der wiedervereinigten sozialdemokratischen Parteien.

Die Verfassung, die sie erstrebten, war keine Diktatur des Proletariats, sondern eine in Richtung “Volksherrschaft” erweiterte bürgerliche Demokratie mit Kontrolle des alten Zwangsapparates durch die Arbeiter- und Soldatenräte als ersten Schritt zu dessen sukzessiver Auflösung durch eine gewählte, jederzeit absetzbare und rechenschaftspflichtige Exekutive durch die in der Nationalversammlung repräsentierte Volksmehrheit.

Das Proletariat wollte herrschen, aber demokratisch, nicht diktatorisch. Die “entmachteten” Klassen und ihre Parteien sollten parlamentarisch mitreden dürfen, ungefähr so, wie im Wilhelminischen Deutschland die Sozialdemokraten hatten parlamentarisch mitreden dürfen. In dieser Halbherzigkeit lag der Keim ihres Scheiterns. Eine revolutionäre Partei hätte diese demokratischen Illusionen nur positiv überwinden können, indem sie den fortschrittlichen Wunsch nach demokratischer Volksherrschaft aufgegriffen und ihn zu der Schlußfolgerung geführt hätte, daß nur die Diktatur der Arbeiterklasse in Form einer deutschen Räterepublik die vollständigste Demokratie, d.h. Herrschaft der Mehrheit, gegen die politische und soziale Macht der Bourgeoisie und ihres Staats gewährleisten konnte. Insofern war die Rätediktatur auch die Erfüllung des in Händen des Kleinbürgertums utopisch gewordenen Programms der revolutionären Demokratie und die Revolution eine permanente.

Die dritte große Legende wurde von Hindenburg und Ludendorff öffentlich aufgestellt, sowie Ebert und Noske mit der Niederwerfung der Revolution fertig geworden waren: daß nämlich die sozialdemokratische Revolution die deutsche Niederlage verschuldet, “die siegreiche Front von hinten erdolcht” habe. Dieser Vorwurf hätte Ebert nie so tief treffen, ihn zu Tode hetzen können, wenn er nicht einen anderen Verrat tatsächlich begangen hätte: er hatte nicht die “siegreiche” Front, wohl aber die siegreiche Revolution von hinten erdolcht.

Ludendorff hatte am 29. September 1918 seine Niederlage auf die Sozialdemokraten geschoben, um sie später als die Schuldigen hinstellen zu können. Die Revolution kam ihnen zu Hilfe; sie setzte dazu an, die Falle, die er ihnen gestellt hatte und in der sie ahnungslos saßen, zu zerschlagen. Sie aber verrieten die Revolution – und die Falle schnappte zu. Leider traf die Strafe für den großen Verrat an der deutschen Revolution von 1918 nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie die, die sie verdient hatten.

Von 1955 bis 1958 wurde in der SED der damaligen DDR eine innerparteiliche Diskussion über den Charakter der Novemberrevolution geführt. Dabei handelte es sich keineswegs um eine rein akademische Diskussion. Die Bewertung und Charakterisierung der deutschen Revolution von 1918 brachte für die DDR – Bürokratie politische Konsequenzen mit sich.

Nach einem Beschluß der 2. Tagung des Zentralkomitees der SED am 18./19.9.1958 wurden Thesen verabschiedet, die die Novemberrevolution von 1918 als eine bürgerlich-demokratische bezeichneten, die in gewissem Umfang mit proletarischen Mitteln und Methoden durchgeführt worden sei.

Im Gegensatz zu den fünfziger Jahren gab es in den ersten zwanziger und dreißiger Jahren innerhalb der KPen kaum Meinungsverschiedenheiten bezüglich des Charakters der Novemberrevolution. Liebknecht sprach von der “Vollendung der bürgerlichen Revolution” und auch das Manifest des 2. Weltkongresses der KI bezeichnete die Novemberrevolution als “bürgerliche”. Aber aus diesen Äußerungen ergab sich auch, daß sie die Künstlichkeit der Entwicklung betonten, denn man sah im bürgerlichen Charakter eine “Fehlgeburt der Geschichte” (Protokoll des 2. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale, Hamburg 1921, S. 772).

Diese Auffassung verfiel also nicht in den Fehler, den Charakter einer Revolution an der erfolgreichen Durchsetzung einer neuen Staats- und Gesellschaftsform festzumachen. Gemäß dieser Logik könnte die deutsche Revolution 1918/19 ebenso wie die russische von 1905 nur dann eine proletarische sein, wenn sie in der Errichtung einer Diktatur des Proletariats, eines Arbeiterstaates, endete. Mit gleichem Recht könnte dann die Revolution in den deutschen Ländern von 1848 als feudale qualifiziert werden.

Niemand in der Komintern glaubte an die Möglichkeit einer genuin bürgerlichen Revolution in der Epoche des niedergehenden Imperialismus und der sozialistischen Weltrevolution. Trotzki bezeichnete die Novemberrevolution als eine von der Sozialdemokratie enthauptete proletarische Revolution bzw. als eine bürgerliche Konterrevolution, die nach ihrem Sieg gezwungen war, eine scheindemokratische Form zu wahren. Die Revision dieser Position kam durch die Abkehr der Komintern von der ultralinken Linie der “dritten Periode” und der Hinwendung zum Volksfrontbündnis mit der liberalen Bourgeoisie in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre zustande.

Diese Wendung geschah ganz offensichtlich um aktueller, tagespolitischer Vorteile willen. Wenn die bürgerliche Revolution noch nicht vollendet war, sondern einige demokratische Aufgaben noch ungelöst waren, so konnte man sich guten Gewissens auf ein Bündnis mit den “demokratischen” und “friedlichen” Teilen der Bourgeoisie einlassen, um die antimonopolistische Demokratie zu erkämpfen. In den dreißiger Jahren war es die “Volksfront” gegen den deutschen Faschismus und Ende der vierziger Jahre der Versuch, die “demokratischen” und “patriotischen” Teile der Kapitalistenklasse gegen den pro- amerikanischen Flügel der Bourgeoisie zu manövrieren, um die “antifaschistische” Demokratie aufzubauen.

Auch die Entwicklung der SBZ/DDR seit 1945 mußte als Beweis für die Charakterisierung der Novemberrevolution als bürgerlich herhalten. Demzufolge wurden in den Jahren 1945 – 48 die Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Revolution unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer Partei auf dem Gebiet der DDR gelöst.

Gleichzeitig vertrat die SED in ihren Thesen von 1958 zur Novemberrevolution, daß in Westdeutschland die sozialistische Revolution nicht auf der Tagesordnung stehen würde. Die SED behauptete sogar, der Versuch der unmittelbaren Errichtung des Sozialismus unter den damaligen BRD – Bedingungen wäre eine sektiererische Schützenhilfe für die Herrschaft des “staatsmonopolistischen Kapitalismus”.

Fragwürdig bei dieser absurden SED – Auffassung ist nur: wenn die Novemberrevolution eine bürgerliche war, warum mußten noch auf dem Gebiet der SBZ/DDR die Aufgaben der bürgerlich- demokratischen Revolution gelöst werden? Unverständlich ist auch die Aussage, daß nach der bürgerlichen Novemberrevolution im Deutschen Reich von 1918 keine sozialistische Revolution im Westdeutschland des Jahres 1958 auf der Tagesordnung stehen sollte.

Hier zeigt sich, daß der ostdeutsche Stalinismus an der Macht in reformistischer Art und Weise sich mit dem westdeutschen Imperialismus aussöhnen wollte und von daher auch kein strategisches Interesse daran hatte, den westdeutschen Imperialismus zu stürzen. Denn eine sozialistische Revolution in der BRD hätte dann sehr schnell zu einer politischen Revolution gegen die bürokratische SED – Herrschaft in der DDR geführt.

Auch Arthur Rosenberg, der in den zwanziger Jahren dem ultralinken Leninbund angehörte, definierte die Novemberrevolution als eine bürgerliche. Rosenbergs Definition hängt damit zusammen, daß er Deutschland vor 1918 zu einem feudal- absolutistischen Staat mit Junkern als herrschender Klasse erklärte. Aufgrund der nicht vollendeten bürgerlich- demokratischen Revolution von 1848 war das deutsche Reich nach seiner Auffassung eine halb-absolutistische Demokratie.

Diese extreme Position verkennt die Veränderungen in Deutschland nach 1848. Auch wenn die bürgerliche Revolution von 1848 aufgrund der Angst der Bourgeoisie vor dem Proletariat gescheitert war, gab es doch wesentliche bürgerlich – kapitalistische Umwälzungen. Unter der Oberfläche des Sieges der politischen Konterrevolution konnten sich die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse weiterentwickeln. Industrie und Handel erfuhren einen starken Aufschwung. Die Junker machten einen weiteren Schritt bei der Entfeudalisierung. Nach dem Ablösungsgesetz wurden die Bauern endgültig Eigentümer des Bodens. Sie mußten sich von den feudalen Pflichten durch hohe Entschädigungen freikaufen, sofern diese noch bestanden.

Da die wenigsten die Summen aufbringen konnten, gerieten sie in die Schuldknechtschaft. Diese Ablösesummen investierten die Junker in Maschinen und Kunstdünger. Die vollständige Abhängigkeit vom Getreideweltmarkt führte zu zahlreichen Bankrotten von Rittergütern. Immer mehr Junkergüter gingen in bürgerliche Hand hinüber, während sich die Großagrarier in der Schwerindustrie ansiedelten. Die Umwandlung der Feudalklasse in den agrarischen Flügel der Bourgeoisie modifizierte den sozialen Charakter des preußischen Staates.

Die Regierung des Reichskanzlers Otto von Bismarck nach der Einigung des Reiches im Jahre 1871 trug bonapartistischen Charakter. Unter Bismarck hörte der preußische Staat auf, vorrangig die Kasteninteressen der Junker zu vertreten. Er wurde zum Sachwalter der kapitalistischen Gesamtinteressen. Bismarck verstand es, die verschiedenen Flügel der Kapitalistenklasse gegeneinander auszuspielen. Der preußische Militarismus war der Kitt, der die Junker – Industrie – Allianz zusammenhielt.

Trotz dieser wesentlichen kapitalistischen Veränderungen nach 1848 blieben noch zahlreiche bürgerlich-demokratische Aufgaben ungelöst, die die Novemberrevolution aufgreifen und lösen mußte: die Monarchie existierte im Reich und den Einzelstaaten weiter, der Einfluß der Junker auf Armee und Administration war weiter vorherrschend, die Vorrechte des Adels waren nicht vollständig beseitigt, die Allmacht der Junker auf dem Lande blieb unverändert, die bevorrechtigte Stellung einiger Einzelstaaten (z.B. Preußen) bestand fort.

Die Aufgaben, die die SED der “bürgerlich-demokratischen” Novemberrevolution (Säuberung des Staatsapparates, Enteignung der Junker und der Kriegsverbrecher) zudachte, waren keineswegs so ohne weiteres mit den Interessen der Kapitalistenklasse vereinbar. Die Säuberung des Staatsapparates wäre vielleicht noch mit der Macht des Kapitals vereinbar gewesen, jedoch nicht die Enteignung der Kriegsverbrecher, d. h. der Rüstungsindustrie. Die Enteignung der Rüstungsindustrie hätte eine empfindsame Schwächung entscheidender Komponenten des Monopolkapitals bedeutet. Und die Vernichtung des Militarismus wäre auf die Abschaffung des Imperialismus hinausgelaufen.

Kurzum: die Lösung dieser Aufgaben entwickelte unweigerlich einen antikapitalistischen Charakter. Diese Probleme konnten nur durch die Diktatur des Proletariats konsequent gelöst werden. Unter den Klassenkonstellationen des Kaiserreiches mußte sich der erfolgreiche demokratische Kampf der Arbeiterklasse gegen Junker und Monarchie gleichermaßen auch gegen die Macht des Kapitals überhaupt richten.

Die Monopolbourgeoisie hatte objektiv kein Interesse an einer Revolution. Das Kaiserreich vertrat ihre Interessen hervorragend. Die bürgerliche Opposition, die linksliberale Freisinnige Partei, welche Kaufleute und Intellektuelle repräsentierte, lehnte jeden außerparlamentarischen Kampf für die Demokratisierung ab.

Die Novemberrevolution von 1918 steht in der Kontinuität der proletarischen Klassenkämpfe der darauffolgenden Jahre bis 1923. Die Novemberrevolution leitete die revolutionäre Phase in Deutschland ein, in der Arbeitermassenkämpfe häufig unter der Führung der Kommunistischen Partei Deutschlands stattfanden. Der niedergeschlagenen Novemberrevolution folgten die Kämpfe der Ruhrarmee 192O, der Generalstreik gegen den Kapp-Putsch 192O, die März-Aktion 1921, die Streiks gegen die Cuno-Regierung im August 1923, die sogenannten Landesarbeiterregierungen in Sachsen und Thüringen 1923 sowie der Hamburger Aufstand im Oktober desselben Jahres. Die revolutionäre Phase fand dann ihr vorzeitiges Ende 1923, als der von der Komintern geplante Aufstand in Hamburg scheiterte und im übrigen Reich nicht zustande kam.

Der Charakter einer Revolution wird zum einen durch den objektiven Klasseninhalt bestimmt, d. h. die Frage, gegen welche Klasse die betreffende Revolution sich richtet, von welcher Klasse sie getragen wird und welchen Klasseninteressen sie dient; zum anderen durch ihren sozialen Gehalt. Die Novemberrevolution konnte, selbst um nur die demokratischen Aufgaben zu lösen, sich nur gegen die Herrschaft des Kapitals richten. Von daher war die Novemberrevolution eine gescheiterte proletarische Revolution.

Die Novemberrevolution war die erste Phase der deutschen proletarischen Revolution (vom Kieler Matrosenaufstand bis zur Weimarer Nationalversammlung). Auch niedergeworfene Revolutionen schaffen ein neues Kräfteverhältnis zwischen den herrschenden Schichten und Klassen; letzteres ist ohne ersteres möglich, aber ersteres immer mit letzterem verbunden. Sie brachte den Obrigkeitsstaat zum Einsturz, in dem das Bürgertum nur indirekt herrschte und den es aus Angst vor sozialer Revolution nicht zu stürzen wagte. Dieser Zusammenbruch brachte schließlich die Bourgeoisie an die Macht, die diese aber nur als siegreiche Konterrevolution übernehmen konnte.

Der Kollaps setzte die proletarische Revolution auf die Tagesordnung; ihre objektive Reife kam auch in den Losungen zum Ausdruck (“sozial[istisch]e Republik”). Die “schwarz-rot-goldene Republik” war Ziel der MSPD und blieb damit weit hinter dem eigentlichen Ziel zurück. Sie mußte sich der Gegenrevolution ausliefern. Die “schwarz-rot-goldene Republik” wurde auch nur als Karikatur des politischen Ziels von 1848 verwirklicht – unter Verzicht auf Großdeutschland (einschließlich Deutsch-Österreichs) und Beibehaltung der vormärzlichen Kleinstaaterei, die in Deutschland Ergebnis der nur halbherzig erfolgten absolutistischen Dezimierung des Adels war. Infolge dessen hatte es die Arbeiterklasse mit 26 “Staatsmaschinchen” aufzunehmen.

Darin zeigt sich der insgesamt reaktionäre Charakter der Bourgeoisie in der imperialistischen Epoche, selbst die Lösung bürgerlich-demokratischer Aufgaben nicht erfüllen zu können. Was an demokratischen Fortschritten von der Novemberrevolution hinterlassen wurde, war nur das halbherzige Beiwerk einer bürgerlichen Konterrevolution, deren Abschluß auch nicht die Weimarer Verfassung bildete (wie es bürgerliche und sozialdemokratische Geschichtsschreiber gern zurechtbiegen möchten), sondern die nach einer Reihe weiterer revolutionärer Krisen und konterrevolutionären Verschiebungen im Faschismus endete.

Die bürgerlichen Aufgaben der Revolution hätten nur im Zuge der sozialistischen Machtergreifung, nur durch die Diktatur des Proletariats dauerhaft verwirklicht werden können, kurzum nur durch die Strategie der permanenten Revolution.

“Die Novemberrevolution in Deutschland war der Beginn einer proletarischen Revolution; da sie jedoch gleich zu Beginn von der kleinbürgerlichen Führung gebremst wurde, konnte sie nur weniges von dem, was die Revolution des Bürgertums an ungelösten Problemen übriggelassen hatte, erledigen. wie soll man nun die Novemberrevolution nennen: eine bürgerliche oder eine proletarische Revolution? Das eine wie das andere wäre falsch.” (Trotzki, S. 332)




Den Worten folgen Taten – Trotzki und die bolschewistische Partei

Vorwort der Redaktion, Revolutionärer Marxismus 38, Oktober 2007

Mit diesem Beitrag wollen wir den im Folgenden abgedruckten Artikel Trotzkis „Den Worten folgen Taten“ würdigen. 9o Jahre nach seiner Veröffentlichung in der Zeitung „Wperjod“ (Vorwärts) am  28. Juni 1917 ist er in der Geschichte von Trotzkis Annäherung an Lenins Partei ein Schlüsseldokument. „Wperjod“ war die Zeitung der überregionalen Organisation der Vereinigten Sozialdemokraten, der „Meschrajonzi“. Sie wurde 1913 von Jurenew und anderen Mitgliedern der russischen sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAPR), die die Disziplin des bolschewistischen und des menschewistischen Parteiflügels ablehnten, gegründet. Jurenew schrieb später: „Wir weigerten uns v.a., die bolschewistische Konferenz von 1912 als Konferenz der gesamten SDAPR anzusehen.“ Ihr ursprüngliches Vorhaben war, die Bolschewiki und linken Menschewiki in einer Partei der ‚Vereinigten Internationalisten‘ zusammenzuschließen.

Dieses Ansinnen stand in Gleichklang mit dem Trotzkis zwischen 1907 und 1916. Seit der Spaltung 1903 hatte Trotzki eine Position auf dem äußersten linken Flügel des Menschewismus eingenommen, in der Hoffnung, dass der objektive Druck der revolutionären Ereignisse den Menschewismus in eine revolutionäre Richtung treiben würde (wie zeitweilig 1905). Nach 1914 wurde Trotzkis „menschewistisches Versöhnungsprogramm“ auf internationale Ebene ausgeweitet, was ihn in eine Position zwischen dem sozialpazifistischen „Zentrum“ und der revolutionär-defätistischen Linken auf der Zimmerwalder Antikriegskonferenz von 1915 manövrierte.

Aber der Krieg und die russische revolutionäre Erhebung zeigten in der Praxis die menschewistische Unfähigkeit, eine revolutionäre Orientierung zu entwickeln, immer deutlicher. Im Mai 1917, als Trotzki nach Russland zurückkam, waren die Menschewiki gemeinsam mit den kapitalistischen und kleinbürgerlichen Parteien eine Koalitionsregierung eingegangen, wo sie ihre Energie daran setzten, die erlahmende Unterstützung der ArbeirInnen für die kapitalistischen Kriegsanstrengungen wieder anzuspornen.

Bei seiner Rückkehr traf Trotzki ohne Umschweife den Meschrajonzi bei. 1914 zählten sie 350 Mitglieder, 1917 waren es nur noch 150. Sie wuchsen nicht so wie die Bolschewiki, obwohl einzelne linke Menschewiki und einige ex-Bolschewiki wie Lunatscharski, Joffe, Uritzki, Rjasanow und Wolodarski dazu stießen.

Während Stalin und Kamenew im April die Bolschewiki zur Unterstützung der bürgerlichen provisorischen Regierung und des Krieges führten, setzten sich die Meschrajonzi für einen neuen Aufstand und für Sowjetmacht ein. Als Trotzki in Petrograd ankam, hatte Lenin bereits den Kampf gegen die „alte bolschewistische Linie“ von Kamenew und Stalin zu Ende geführt und entwickelte in seinen „Aprilthesen“ die Losung „Alle Macht den Sowjets!“.  Es gab keine  politische Differenz zwischen den Meschrajonzi und den Bolschewiki mehr. Deutscher schreibt: „In öffentlichen Veranstaltungen wurden die Meschrajonzi dauernd gefragt, worin sie sich von den Bolschewiki unterschieden und warum sie sich nicht die Hände reichten. Auf diese Frage hatten sie in Wirklichkeit keine zufriedenstellende Antwort.“

Am 10. Mai trafen sich Lenin, Kamenew und Sinowjew mit Trotzki und den Meschrajonzi-Führern und schlugen die sofortige Fusion mit Beteiligung in den bolschewistischen Führungsgremien und der Redaktion der „Prawda“ vor. Trotzki sagte, dass er mit Lenin seit den Aprilthesen politisch völlig übereinstimme, machte aber trotzdem Ausflüchte. Doch im Mai und Juni wurde zusehends klar, dass das, was er als bolschewistisches Sektierertum („Cliquenwesen“) bezeichnete, durch den großen Zustrom von revolutionären ArbeiterInnen in die Partei ad absurdum geführt war.

Zur Zeit des Artikels bereitete sich Trotzki darauf vor, mit den Bolschewiki zu fusionieren und Jurenews Versöhnlertum zu bekämpfen. Dieser Prozess wurde verkürzt durch die Periode der Reaktion, die den  Julitagen folgte. Lenin floh in ein Versteck, während Trotzki verhaftet wurde. In dieser Zeit trat Trotzki den Bolschewiki bei. Von seiner Zelle aus erklärte er sich bereit, sich im August ins Zentralkomitee wählen zu lassen.

Am 1. November sagte Lenin auf einer ZK-Sitzung, dass es, seit Trotzki unter seine Versöhnungsversuche mit dem Menschewismus einen Trennungsstrich gezogen habe, „keinen besseren Bolschewiken“ gab. Trotzkis Artikel dokumentiert den klarsten Moment des Bruches. Sein Titel „Den Worten folgen Taten“ war nicht nur eine Ermunterung für die zögernden Meschrajonzi. Er war ein Sinnbild für Trotzkis eigene Handlung vom linksmenschewistischen Publizisten und Redner zum Führer einer revolutionären Kampfpartei.

Trotzki, „Den Worten folgen Taten“

Seit der Konferenz der Petrograder Bezirksverbund-Organisation sind schon anderthalb Monate vergangen, aber das Problem der Vereinigung der Internationalisten ist noch keinen Schritt vorangekommen. Mehr noch: jeder, der auf der Konferenz anwesend war und die vorherrschende Stimmung dort miterlebte, würde sagen, dass wir damals der Einigung näher waren als jetzt.

Damals erschien es in jeder Beziehung eine praktische Aufgabe zu sein. Heute wird es zu oft in eine fromme Floskel umgemodelt, die uns zu keiner praktischen Lösung zwingt. Auf der Konferenz wurde festgestellt, dass wir keine grundsätzlichen Differenzen zu den Bolschewiki haben. In allen Fragen, die durch den Krieg, die Revolution oder die Internationale aufgeworfen wurden, kamen wir zu ein und demselben Schluss. Doch eine separate organisatorische Existenz kann nur durch große programmatische oder praktische Differenzen gerechtfertigt werden. In Ermangelung solcher Differenzen folgt notwendigerweise die Konsequenz: totale organisatorische Fusion (Hervorhebung im Original)

Auf der Konferenz wurden die Probleme in Ableitung aus den Gewohnheiten und Methoden des bolschewistischen Cliquenwesens gesehen. Natürlich ist es unmöglich, diese Probleme abzustreiten, die auch jetzt nicht gerade selten mit äußerst abstoßendem Gehabe in der Organisationspolitik des Zentralkomitees und auf den Seiten der Prawda erscheinen. Gleichzeitig hat der Genosse Lunatscharski auf der Konferenz absolut korrekt gesagt, dass dieses Cliquenwesen unter der Bedingung der offenen Existenz einer Arbeitermassenpartei auf einen mächtigen Gegendruck stößt. Auf jeden Fall ist es unmöglich, gegen das Cliquenwesen anzugehen, wo es keine grundsätzlichen Differenzen gibt, es sei denn, man widersetzt sich ihm innerhalb der Schranken einer gemeinschaftlichen Organisation, d.h. durch demokratischere Methoden in der Parteiarbeit. Künstlich eine separate Organisation zum Zwecke des Kampfes gegen das Cliquenwesen zu erhalten, würde bedeuten, die Voraussetzungen für unser eigenes Sektierertum in kleinerem Umfang zu schaffen. Ohne Zweifel steht die Bezirksverbund-Organisation vor dieser Gefahr. In Wperjod Nr. 3 sah Genösse Jurenew einen der Vorteile, die Schritte zur Vereinigung zu verschieben, darin, sich auf die menschewistische Internationale zu beziehen. Er schrieb: „Vereinigung ist für uns in der Form einer separaten organisatorischen Fusion mit den bolschewistischen Genossen unannehmbar. Obwohl wir mit ihnen in der zentralen Frage der Revolution übereinstimmen, wäre es falsch, nicht alle Möglichkeiten für die Bildung einer einzigen revolutionären Sozialdemokratie auszunutzen, indem man sofort fusioniert. Nach Petrograder Maßstab wäre das ein Vorteil, nach einem gesamtrussischen Maßstab ein Nachteil. Wir sehen den Ausweg nicht in einer solchen Fusion, sondern in der gemeinsamen Vorbereitung auf eine allgemeine gesamtrussische Konferenz der Internationalisten.“

Es ist grundsätzlich falsch, die Streitfrage so zu stellen. Es geht nicht um eine separate Fusion mit den Bolschewiki, sondern gerade die Vereinigung mit ihnen. Diese Form der Vereinigung ist schon durch voraufgegangene Entwicklungen vorbereitet. Das grundlegende Fundament dafür ist in unseren Beschlüssen formuliert. Unsere gesamte Arbeit in Petrograd wird in Form einer separaten Kooperation mit den Bolschewiki vollführt. Das Problem ist nun, ob die organisatorische Trennung die gemeinsame politische Arbeit stört und zerschlägt. Genösse Jurenew hat selbst erkannt, dass diese Vereinigung für Petrograd ein Vorteil sein würde. Er denkt allerdings, dass es ein Nachteil für die Provinzen wäre. Die Bezirksverbund-Organisation ist v.a. eine Petrograder Organisation. Folglich wäre die Vereinigung der internationalistischen Kräfte zweifellos der größte Gewinn für die Petrograder Bewegung. Dies kann keineswegs mit den Schäden, die solch eine Petrograder Vereinigung für die Provinzen mit sich bringen würde, verglichen werden. Ein Vorteil für Petrograd unter den gegenwärtigen Bedingungen, wo „Petrograd“ eine wütende Verfolgung durch alle konterrevolutionären Elemente erfährt, kann für uns nur ein ausschlaggebendes Merkmal sein.

Wie könnte dies eine Gefahr für die Provinzen darstellen? Genösse Jurenew ist der Ansicht, es wäre offenkundig eine Gefahr. Die Provinzen hinken hinter Petrograd her. Die politischen Gruppen dort sind immer noch meist konturlos. Vielleicht können sich die Internationalisten in der Provinz, die mit den Defensisten brechen möchten, nicht entscheiden, sich den Bolschewiki anzuschließen, sondern würden sich lieber mit den vereinigten Internationalisten zusammentun.

Diese Logik wäre mehr oder minder überzeugend, wären wir ein einfacher Block von Internationalisten, der sich weder auf die Seite der Bolschewiki noch auf die der Menschewiki schlägt. Aber dies ist nicht der Fall. Wir scharen uns um eine bestimmte Plattform, die nicht von den Bolschewiki abweicht. Unter diesen Umständen kann sich die Aufrechterhaltung unserer von den Bolschewiki getrennten Organisation nur in Form von Rückschlägen und Verwirrung für die Provinzen auswirken. Das kann nie als ein Plus gerechnet werden. Im allgemeinen wäre es naiv gewesen, zu glauben, wenn alle Problemfragen sich so klar stellen, dass dann die politischen Gruppen in der Arbeiterklasse oder ihre sozialistische Vorhut auf zweitrangige Eigenschaften innerparteilicher Art gebaut werden könnten. Genosse Jurenew sagt: „Aber die Partei von sozialdemokratischen Internationalisten kann sich nicht selber als eine Sekte begreifen, die vollkommen ohne Menschewiki organisiert ist. Selbst wenn die menschewistischen Internationalisten von uns in der Frage der Organisation der Macht abweichen, besteht die Möglichkeit einer gemeinsamen Arbeit mit ihnen sowie die Möglichkeit und Notwendigkeit zur Einheit.“

Dass die Partei keine Sekte sein sollte, ist absolut korrekt. Doch unglücklicherweise beantwortet dieser allgemeine Gedanke nicht die Frage, die sich uns stellt. Wenn jemand eine Wahl zwischen der Vereinigung mit den Bolschewiki und den menschewistischen Internationalisten oder nur mit den Bolschewiki vorschlüge und wir von diesen beiden die letztere Möglichkeit wählten, könnten wir von Sektierertum reden. In Wirklichkeit hat niemand von uns diese Wahl vorgeschlagen. Die menschewistischen Internationalisten haben nirgendwo ihre Bereitschaft angezeigt, sich mit uns zu vereinigen. Im Gegenteil, sie unterscheiden sich besonders von der Position, die uns und den Bolschewiki in der grundsätzlichen Frage der Revolution – der Machtergreifung – gemeinsam ist. Keineswegs brechen sie mit ihren Defensisten, um sich mit uns und den Bolschewiki zu vereinigen, sie betonen vielmehr in jeder Hinsicht das, was sie von uns getrennt hat. Sie schränken ihre Taktiken innerhalb der Formen der defensistischen Organisation ein und gestatten sich keine selbständige politische Handlung. Müssten wir wiederum unsere Arbeit für die Vereinigung auf die Entwicklung der Beziehungen zwischen den menschewistischen Fraktionen stützen, würde dies bedeuten, dass wir den schon zu einer Gesinnung vereinigten Elementen im Namen der bevorzugten Kräfte, die keinen Willen zu einer Einigung mit ,uns zeigen, den Rücken zukehren. Jederzeit hätten die Unterstützer des Genossen Martow zur Vereinigung mit uns und den Bolschewiki finden können, was wir erfreut zur Kenntnis genommen hätten. Für uns und die Menschewiki hätte es keinen Unterschied gemacht, ob wir von den Bolschewiki getrennt oder in einer vereinigten Organisation wären, die auf der Grundlage einer Plattform revolutionärer Aktivität vereinigt ist.

Für uns ist die vergleichsweise breite Schicht von Arbeitern, die immer noch zu den Menschewiki und Sozialrevolutionären schauen, wichtiger. Wir können annehmen, dass diese mehr rückständigen Massen aufgrund der Logik ihrer Position auf die Seite des revolutionären Sozialismus gedrückt werden. Dabei stellen sie die Regierungspolitik auf die Probe, v.a. den Test der Offensive!

Jeden Tag wird die am stärksten unterdrückte Schicht der Bauern und des Kleinbürgertums, zuerst in der Armee, ihre Enttäuschung über die Politik der Koalitionsregierung auf die Probe stellen und eine revolutionäre Lösung suchen. Diese Massen brauchen klare, aufrichtige und einfache politische Gruppen. Dem Lager des kleinbürgerlichen Defensismus muss ein geeintes Lager des revolutionären Sozialismus entgegengestellt werden. Für die Provinzen, wenn wir über die provinziellen Massen und nicht über die provinziellen Zirkel reden, ist die getrennte Existenz der vereinigten Internationalisten und der Bolschewiki kein Vorteil, sondern ein Nachteil.

In der Frage der Einheit ist es Zeit, dass den Worten Taten folgen. Zusammen mit der gemeinsamen Vorbereitung eines Generalkongresses von Internationalisten ist es jetzt schon nötig, die organisatorische Einheit gesprochener und gedruckter Agitation und eine grundsätzliche Einheit politischer Aktion zu garantieren.

Genosse Jurenew sagt, dass die Vereinigung nicht von oben, sondern von unten hergestellt werden muss. Dies ist richtig, wenn Druck von unten benötigt wird, um die Vereinigung an der Spitze zu beschleunigen. Ich glaube, dass es für die Petrograder Arbeiter, Bolschewiki und Bezirksverbund-Organisation nun an der Zeit ist, voll Tatendurst zusammenzukommen.




100 Jahre Roter Oktober – Die Aktualität der Revolution

Tobi Hansen, Neue Internationale 223, Oktober 2017

Epochemachende Ereignisse prägen die Geschichte und das Denken ganzer Generationen. Die Oktoberrevolution war ein solches Jahrhundertereignis. Wie die Pariser Kommune als Beispiel für den Kampfeswillen des Proletariats galt, so die Oktoberrevolution für die Möglichkeit, den Kampf gegen Staat und Kapital zu gewinnen. Viele tausende Organisationen und Parteien wie auch Hunderttausende und Millionen Menschen werden sich an die Taten des russischen Proletariats, der Soldaten und BäuerInnen erinnern, die im Oktober 1917 die Grundlage für die Bildung der Sowjetunion legten.

In diesem Artikel wollen wir auch an die Geschichte erinnern. Wir verweisen an dieser Stelle für eine weit umfassendere Darstellung auf die letzte Ausgabe des „Revolutionären Marxismus“, in dem wir ausführlich Programm, Methode und Lehren der bolschewistischen Politik behandeln. Erst in Bezug auf ihre Aktualität erhält das genaue Studium der Geschichte der Klassenkämpfe, der Triebkräfte der gesellschaftlichen Entwicklung ihren politischen Sinn. Ansonsten droht sie zum historischen Andenken, zur bloßen Traditionspflege zu verkommen.

Das trifft nicht nur auf „wohlwollende“ bürgerliche Geschichtsbetrachtung zu, die den revolutionären Kern des Oktober als „Ausrutscher“ der Vergangenheit entsorgen will. Es trifft auch auf „VerteidigerInnen“ wie „KritikerInnen“ des Bolschewismus zu, die wie die StalinistInnen Lenin zum Vorläufer Stalins umdichten wollen oder, wie ultralinke Strömungen, die spätere Bürokratisierung der Revolution als unvermeidliche, wenn auch nicht unbedingt gewollte Folge der Politik von Trotzki und Lenin interpretieren.

1917-2017

Wenn wir uns die sonst übliche antikommunistische, antirevolutionäre Hetze vergegenwärtigen, ist bislang zumindest in Deutschland diesbezüglich nicht viel geschehen. Etwas Beileid mit den Romanows im Frühjahr auf den Kanälen, ansonsten relativ wenig bürgerliche Hetze gegen die Oktoberrevolution.

Das mag vor allem daran liegen, dass das System der bürgerlichen Klasse derzeit kein „Erfolgsmodell“ darstellt. Man könnte sagen, dass die objektiven Umstände, welche die Russische Revolution begünstigten, im großen Stil wieder Realität werden.

Erst neulich trat die Nr.1 der „freien“ Welt, der US-Präsident, vor die diplomatische Plauderrunde der UN, um in dort eher ungewohnter Wortwahl (vor diesem Gremium, nicht beim Präsidenten) dem „Schurkenstaat“ Nordkorea mit „vollständiger Zerstörung“ zu drohen, was auch den Einsatz von Massenvernichtungswaffen mit einschließe.

Dies ist nur ein Beispiel für die aktuelle Phase des Imperialismus, in der sich die Fratze der Reaktion, des Rassismus, Nationalismus und des Faschismus wieder auf der Bühne der „Weltpolitik“ zeigen darf. Nach 1990 versprachen die westlichen Mächte Wohlstand, Frieden, Demokratie für alle, die sich unterwerfen bzw. denen sie im Zuge der kapitalistischen Restauration gerade die Segnungen der Marktwirtschaft verkündeten. Dazu waren auch die gewendeten BürokratInnen der UdSSR und Chinas bereit, nur folgte keine soziale Sicherheit, sondern „nur“ das globale Diktat des Imperialismus.

Unter dem Schlagwort „Globalisierung“ setzte er sein System weltweit durch, eine neue Ära der Konkurrenz, der Monopolisierung und der Marktdurchdringung wurde zur Realität. Mit der Krise 2007/2008 zeigte das kapitalistische System, was von seinen Versprechen nach 1990 übrig blieb – nämlich nichts. Die Verluste der Börsen, Banken und SpekulantInnen wurden als neue Staatsschulden „sozialisiert“, Billionen von Euro und US-Dollar in die Finanzmärkte gepumpt, und die Sparmaßnahmen kürzten die Löhne, Renten und Sozialleistungen weltweit. Nicht Frieden, Demokratie und Wohlstand, wie vorm Irakkrieg versprochen, waren angesagt, sondern Krieg, Elend und Verzweiflung. Der Arabische Frühling war eine Rebellion der Volksmassen gegen die Marionetten des Imperialismus. Die Niederlage dieser Bewegungen läutete eine globale Phase der Reaktion ein. Der Aufstieg des „Islamischen Staats“, die Konterrevolution in Ägypten, die Bürgerkriege in Syrien, Libyen und dem Jemen beendeten diesen „Frühling“ in den nordafrikanischen und arabischen Halbkolonien.

Die politische Reaktion zeigt sich im globalen Rechtsruck, auch in der EU. Nach Jahren der Schuldenkrise, der Spardiktate sind es jetzt die RassistInnen und NationalistInnen, welche sich als SystemgegnerInnen profilieren wollen, vor allem gegen die Geflüchteten, die MuslimInnen und sozialen Minderheiten.

Das imperialistische System ist in der Krise, in einer zugespitzten Konkurrenz miteinander. Die USA als Weltmacht Nr. 1 werden von China und der EU auf den globalen Märkten herausgefordert. Hier geht es um Profite, um Marktanteile, um Übernahmen – ein neuer Kampf um die Neuaufteilung der Welt ist entbrannt!

Diese globale Lage steuert auf die Verhältnisse ähnlich jenen vor 1917 objektiv zu. Nicht nur die ökonomischen Angriffe und die Konkurrenz werden schärfer, auch die Kriegsgefahr steigt. Natürlich wiederholt sich die Geschichte nicht (sonst wäre sie auch keine). Aber die der kapitalistischen Gesellschaft innewohnenden Widersprüche drängen heute, ebenso wie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, mit Macht an die Oberfläche, drohen, sich in eruptiven Krisen und Kriegen zu entladen. Damit aber entwickeln sich, wenn auch auf dem Boden neuer Technik, veränderter Klassenzusammensetzung, neuer Erscheinungsformen des Systems jene Widersprüche, die auch zur Oktoberrevolution und zur internationalen Krisenperiode nach 1917 geführt haben. In diesem Sinne hat die Machtergreifung der ArbeiterInnen und BäuerInnen, haben der Sturz von Zarismus und Kapitalismus sowie die Errichtung der Räteherrschaft bis heute ihre Aktualität behalten.

Umrüstung von Partei und Programm

Eine der wichtigen Lehren aus der Russischen Revolution betrifft die zentrale Rolle und den Charakter der kommunistischen Partei. Bekannt sind die Parteien stalinistischen Musters, ohne innere Demokratie, mit einem abstrakten Personenkult, welcher dann meist je nach Bürokrat auch wechseln kann. Im Vergleich zu dem, was die Bolschewiki in der Russischen Revolution taten und verkörperten, handelt es sich hier um komplett verschiedene Organisationen, abschreckende Beispiele.

Die Bolschewiki wuchsen im Jahr 1917 zu einer Massenpartei an. Von wenigen Tausend, die in der Illegalität des Krieges die Partei und Organisationsarbeit aufrechterhielten, wurden sie innerhalb weniger Monate zu einer Partei von Hunderttausenden. Gleichzeitig veränderte die Partei ihr Programm in grundlegenden Fragen, ihre Methode und Taktik im Angesicht der Februarrevolution und der Aufgaben, die auf sie zukamen.

In dem Artikel „Bruch und Wandel des Bolschewismus“ haben wir die Entwicklung der Bolschewiki von einer Partei, die zu Anfang 1917 in vielen Punkten immer noch die Methoden und Taktiken der Zweiten Internationale verinnerlicht hatte, zur Partei des Oktober nachgezeichnet.

Bekanntlich ging die große Mehrzahl der Bolschewiki vor 1917 davon aus, dass die russische Revolution ihrem Wesen nach eine bürgerliche Revolution sein müsse, dass sie nicht zur Diktatur des Proletariats, sondern zur „demokratischen Diktatur“ der ArbeiterInnen und BäuerInnen führen müsse. Dies im besten Fall widersprüchliche Formel erwies sich angesichts der realen Entwicklung der Revolution, der objektiv gestellten Aufgaben als unhaltbar. Sie musste entweder nach rechts, d. h. hin zu eine Anpassung an die bürgerliche Klasse, „gelöst“ werden, also zu einem strategischen Block mit Menschewiki oder Sozialrevolutionären – oder nach links, zur Übernahme der Konzeption der „permanenten Revolution“.

Die „Aprilthesen“ Lenins vollzogen diesen Schritt nach links. Als er sie nach seiner Rückkehr nach Russland präsentierte, waren sie auch unter der Mehrheit der Partei kein umjubeltes Dokument, sondern wurden scharf vom rechten Flügel, von führenden Genossen wie Kamenew, Sinowjew und Stalin kritisiert. Lenin musste Vorwürfe des „Blanquismus“ über sich ergehen lassen.

Lenins Politik war schließlich ein direkter Bruch mit der bisherigen Konzeption der Bolschewiki. Die „Aprilthesen“ stellten die Lösung der Doppelmacht zwischen Provisorischer Regierung und den Sowjets in den Mittelpunkt – und somit auch die Machtfrage zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Weil das Bürgertum seine historisch fortschrittliche, revolutionäre Rolle bereits ausgespielt habe, sei die kommunistische Partei verpflichtet, ein Programm für die proletarische Revolution, gestützt auf die Bauernschaft, zu entwerfen.

Diese Strategie war maßgeblich von der Beschäftigung mit der Analyse der imperialistischen Epoche geprägt, wie sie Lenin unter anderem in seiner Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ darlegt, und von der Vorstellung, dass der Erste Weltkrieg die internationale proletarische Revolution auf die Tagesordnung stellt. Hier konvergierte Lenins Theorie mit der Trotzkis von der permanenten Revolution. Beide vollziehen einen grundlegenden Bruch mit den alten Vorstellungen der Zweiten Internationale, deren geschichtliche Erben Sozialdemokratie und Stalinismus werden sollten.

Dieser Wechsel mit allen seinen Implikationen wie alle großen politischen Wendungen des Bolschewismus im Jahr 1917 wurden sehr aktiv in der Partei diskutiert. Bei den ArbeiterInnen in den Bezirksorganisationen, den VertreterInnen der Bolschewiki in den Räten, bei den Soldaten standen die Debatten um Programm und Taktik im Mittelpunkt.

Charakter der Partei

Vielfach wird das Bild der einigen, der einheitlichen Partei gezeichnet, welche, erleuchtet von Lenin, geschlossen marschierte. Auch wenn die Bolschewiki sicher viel einheitlicher waren als andere Parteien, so musste diese Geschlossenheit immer wieder im inneren Streit, in der offenen Auseinandersetzung um die politische Linie errungen werden.

„Die Vorstellung, dass Lenin ein ‚chemisch’ reiner Bolschewismus vorschwebte, der keine inneren Differenzen geduldet hätte, ist für jede Phase der Entwicklung der Partei vor der Machtergreifung schlichtweg falsch – und selbst danach bedurfte es einiger Jahre, bis die bürokratische Konterrevolution die Partei zu jener Karikatur des ‚Leninismus’ machen konnte, wie sie in den stalinistischen Geschichtsmythen gefeiert wird.

Der Streit, die Auseinandersetzung um die richtige Linie, um revolutionäre Klarheit ist das unerlässliche Terrain, auf dem sich überhaupt nur eine revolutionäre Politik entwickeln kann. Nur in diesem Rahmen kann sie verallgemeinert und zur Konzeption, zur Programmatik einer Organisation und ihrer Mitglieder werden, nur in diesem Rahmen können Entwicklungen aufgenommen werden.

Erst recht kann nur auf einer solchen Basis eine Kampfpartei jene Elastizität entwickeln, die es ermöglicht, ihr Handeln rasch an wechselnde politische Situationen (z. B. Phasen der Reaktion auf jene der revolutionären Offensive, Illegalität auf jene der Legalität usw. usf.) anzupassen.“ (Bruch und Wandel des Bolschewismus, RM 49, Seite 32)

Eine solche Partei war in der Lage, von einer kleinen Minderheit zur Führerin der Klasse zu werden, diese für ihr Programm zu gewinnen und ihr Handeln zu bündeln.

„Das Programm der Partei muss aber zugleich auch eine Vermittlung darstellen zu den aktuellen Grundfragen des Klassenkampfes, eine Verbindung herstellen zwischen den unmittelbaren nächsten Konflikten, dem Bewusstsein der Klasse im Hier und Heute, den strategischen Aufgaben der aktuellen Periode, der Frage der politischen Macht und des Übergangs zum Sozialismus. Ein solches Programm muss die aktuellen Tageskämpfe mit dem strategischen Ziel verknüpfen. Daher nimmt es die Form eines Aktionsprogramms, einer Anleitung zum Handeln an.“ (Ebenda, S. 75)

Diese Tradition der Bolschewiki, als aktive Kampfpartei, nach außen wie nach innen, zu handeln, muss für uns heute die Hauptlehre aus der Russischen Revolution sein. Das ist das Vermächtnis, das zukünftigen kommunistischen Massenparteien Vorbild sein soll.

Programmatisches Erbe

Wir stehen heute am Beginn einer weltgeschichtlichen Periode, die in vielem der Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts gleicht. Auch wenn sich Geschichte nicht wiederholt, hinterlässt die Politik des Bolschewismus ein theoretisch-programmatisches Erbe, das auch heute noch, ja wieder aktuell ist und an das es anzuknüpfen gilt.

  1. Der internationale Charakter der Revolution

Der Kapitalismus ist schon immer ein internationales gesellschaftliches System gewesen. Seine inneren Krisen treiben notwendigerweise zu revolutionären Zuspitzungen – und zwar im globalen Maßstab. Kommunistische Politik darf daher den internationalen Klassenkampf nicht als Summe nationaler Kämpfe begreifen, sondern muss umgekehrt von den Gesamtinteressen der Klasse weltweit ausgehen. Der Sozialismus in einem Land hat sich im Stalinismus als das erwiesen, was er seinem Begriff nach schon immer war – eine reaktionäre Utopie.

  1. Anti-Imperialismus

Der Kampf um die Neuaufteilung der Welt droht der Menschheit mit neuen Handelskriegen, Zuspitzungen bis hin zum großen Krieg. Die ArbeiterInnenklasse darf in diesem reaktionären Ringen keine Gruppe imperialistischer Staaten und Mächte unterstützen, sondern muss sich im Konflikt der Methode des „revolutionären Defaitismus“ bedienen und des Klassenkampfes gegen die „eigene“ Bourgeoisie . Liebknechts Losung „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“ hat nichts an Aktualität verloren.

Antiimperialismus bedeutet nicht nur Klassenkampf gegen die eigene Bourgeoisie, er bedeutet auch die Unterstützung nationaler Befreiungskämpfe unterdrückter Nationen, von Aufständen und Klassenkämpfen gegen die ImperialistInnen und die „nationale“ Bourgeoisie in den halb-kolonialen Ländern.

  1. Permanente Revolution

Der niedergeschlagene „Arabische Frühling“ war ein weiterer Beweis dafür, dass demokratische Forderungen im Zeitalter des Imperialismus nicht allein durch eine „demokratische Revolution“ errungen werden können. Die Abhängigkeit des Bürgertums in den Halbkolonien von den imperialistischen Bourgeoisien ist heute genauso gegeben wie die Abhängigkeit der russischen Bourgeoisie vom Großgrundbesitz und dem französischen und britischen Finanzkapital. Daher braucht das Proletariat eine unabhängige Klassenpolitik. Nur diese kann die Basis für ein Bündnis mit den ausgebeuteten Schichten von Stadt und Land, speziell den unteren Schichten der Bauernschaft in den Halbkolonien sein. Dies bedeutet auch, dass Proletariat, Bauernschaft und die städtische Armut nicht auf die Illusionen in eine „westliche“ Demokratie setzen dürfen, sondern stets deren Abhängigkeit vom Imperialismus berücksichtigen und für die proletarische Demokratie, die Rätedemokratie kämpfen.

  1. Verteidigung demokratischer Rechte

Gerade angesichts der reaktionären Züge unserer Zeit gewinnen die Verteidigung demokratischer Rechte und das Einstehen für demokratische Forderungen eine wichtige Bedeutung. Wir stehen an der Seite derjenigen, welche die Meinungs- und Pressefreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Koalitionsfreiheit auf gewerkschaftlicher und Parteiebene gegen staatliche Eingriffe und Repressionen verteidigen. Dabei ist uns aber auch klar, dass dieser Kampf nicht abstrakt für die parlamentarische Demokratie geführt werden kann, sondern auf eine proletarische Demokratie, eine Rätedemokratie abzielen muss.

  1. Soziale Unterdrückung

Die kapitalistische Ausbeutung stützt sich zusätzlich auf mannigfaltige Unterdrückung verschiedener Teile der Bevölkerung und insbesondere unter den ProletarierInnen. Rassismus, Sexismus, Homophobie werden benutzt, um die Spaltung der Klasse zu vertiefen und chauvinistische Vorurteile und rückständiges Bewusstsein zu stärken. Deswegen treten wir für besondere Rechte der unterdrückten Teile der ArbeiterInnenklasse ein, wollen die Selbstorganisierung von Frauen, von MigrantInnen, der Jugend und von sexuell Unterdrückten stärken. So können diese ihren Kampf als Teil des Proletariats führen, wie wir auch in der Klasse gegen Vorurteile und rückständiges Bewusstsein kämpfen. Der Kampf wie der gegen Rassismus, für offene Grenzen und gleiche Rechte aller MigrantInnen und Flüchtlinge ist integraler Bestandteil des Klassenkampfes.

  1. Taktik der Einheitsfront

RevolutionärInnen suchen die größtmögliche Einheit der ArbeiterInnenklasse im Kampf gegen das Kapital, die Regierung, den bürgerlichen Staat. Diese Forderung richten sie – wie die Bolschewiki 1917 – an die ArbeiterInnenparteien und Massenorganisationen, deren Basis wie deren Führungen. Der gemeinsame Kampf für klar definierte Ziele darf dabei nie auf Kosten der Freiheit der Propaganda und Kritik an den zeitweiligen reformistischen, gewerkschaftlichen oder kleinbürgerlichen BündnispartnerInnen gehen. Eine revolutionäre Anwendung der Einheitsfronttaktik verfolgt nämlich immer zwei Ziele gleichzeitig – größtmögliche Einheit in der Aktion und die Ablösung der ArbeiterInnen und Unterdrückten von reformistischen, zentristischen oder kleinbürgerlichen Führungen.

  1. Zerschlagung des bürgerlichen Staats – Kampf um die Rätemacht

Ein entscheidendes Merkmal der erfolgreichen Russischen Revolution waren die Sowjets, die Räte, welche den gesammelten Willen des Proletariats, der Bauernschaft und der Soldaten 1917 repräsentierten und daher die wichtigste Stütze der Revolution verkörperten. Diese können nur in revolutionären und vorrevolutionären Situationen entstehen. So wichtig die Räte dabei als elementare Form der Selbstorganisation der Klasse sind, so können sie ihr Potential als Kampforgane und Kern einer zukünftigen proletarischen Staatsmacht nur verwirklichen, wenn sie von einer revolutionären Partei geführt werden. Alle Theorien, die die Räte der Partei entgegenstellen, müssen daher strikt zurückgewiesen werden. Nur durch eine revolutionäre Führung kann die Klasse, gestützt auf Räte, auf Milizen – den bewaffneten Teil der ArbeiterInnenklasse – und in Räten organisierte Soldaten die Macht erobern, eine Doppelmachtsituation aufheben, die bürgerliche Staatsmaschinerie zerschlagen und durch einen proletarischen Halbstaat ersetzen.

  1. Proletarier aller Länder vereinigt Euch!

Diese bekannte Losung aus dem Kommunistischen Manifest hat an Strahlkraft nichts von ihrer Bedeutung verloren, im Gegenteil. Ein revolutionärer Kampf, eine Befreiung der Menschheit vom Kapitalismus, die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft kann nur auf internationaler Basis stattfinden – oder eben nicht. Dies war die Erkenntnis von Marx und Engels, von Lenin und Trotzki bis zu ihrem Tod. Die Entfremdung dessen, ja sogar völlige Verzerrung durch die Ideologie des „Sozialismus in einem Land“ hat nicht nur die Degeneration und schließlich das Ende des ArbeiterInnenstaates eingeläutet, es hatte auch verheerende Folgen für den internationalen Klassenkampf und die politischen Organisationen. Letztlich führte dies zur Abschaffung der Komintern, welche zuvor den nationalen Bedürfnissen der Sowjetbürokratie untergeordnet wurde.

Deswegen ist der Aufbau einer Weltpartei der sozialistischen Revolution, einer 5. Internationale heute die zentrale Aufgabe unserer Zeit. Nur ein internationales Programm gegen den Imperialismus, welches die aktuellen Kämpfe weltweit via der Übergangsmethode mit dem Kampf gegen die herrschende Ordnung verbindet, kann diesen auch herausfordern und stürzen.

  1. Für die revolutionäre Partei!

Wir treten ein für das methodische und taktische Rüstzeug der linken Opposition in der Sowjetunion, für die Theorie und Praxis der Bolschewiki-LeninistInnen. Mit ihrer Methode und ihren Analysen haben sie die Weiterentwicklung des wissenschaftlichen Sozialismus betrieben und real die „Lehren des Oktober“ gezogen. An diesen Fundus knüpfen wir mit unserer Programmatik, unserer Strategie und Taktik an und wollen diese in den Aufbau einer neuen kommunistischen Partei und Internationale einbringen, da nur auf dieser Grundlage eine lebendige kämpferische Organisation aufgebaut werden kann. Zu den Werkzeugen des Marxismus, des Leninismus wollen wir eine Herangehensweise entwickeln, die im folgenden Zitat gut wiedergegeben ist:

Und wenn irgendetwas tödlich für das geistige Leben der Partei und die theoretische Erziehung der Jugend sein kann, dann dies, nämlich den Leninismus aus einer Methode, zu deren Anwendung Initiative, kritisches Denken und ideologischer Mut notwendig sind, in einen Kanon zu verwandeln, der nur Interpreten braucht, die ein für alle Mal ernannt wurden.“

(Trotzki, Der Neue Kurs, in: Wolter, Ulf [Hrsg.]: Die Linke Opposition in der Sowjetunion 1923-1928“, Band I, 1923-1924, Berlin/West [Olle & Wolter], 1976, S. 390)




Leo Trotzki – Die nationale Fragen in Katalonien

Leo Trotzki, 13. Juli 1931

Aus: The Militant vom 19. September 1931, abgedruckt in: Leo Trotzki: Revolution und Bürgerkrieg in Spanien 1931-39, Band 1: 1931-1936, Frankfurt/Main, 1975, Text 27, S. 141-143

Ein weiteres Mal über die anstehenden Fragen in der spanischen Revolution.

1.) Maurin, der „Führer“ des Arbeiter- und Bauernblocks, bekennt sich ebenfalls zum Separatismus. Nach einigem Zaudern hat er sich mit dem linken Flügel des kleinbürgerlichen Nationalismus ausgesöhnt. Ich habe früher schon geschrieben, dass der katalanische kleinbürgerliche Nationalismus im gegenwärtigen Stadium progressiv ist – aber nur unter einer Bedingung: dass er seine Aktivität außerhalb der Reihen des Kommunismus entfaltet, und dass er andauernd unter den Schlägen kommunistischer Kritik steht. Gestattet man dem kleinbürgerlichen Nationalismus, sich unter der Fahne des Kommunismus zu verbergen, so teilt man zur gleichen Zeit einen hinterlistigen Schlag an die proletarische Avantgarde aus und zerstört die progressive Bedeutung des kleinbürgerlichen Nationalismus.

2.) Was bedeutet das Programm des Separatismus? Zweifellos die ökonomische und politische Zerstückelung Spaniens, oder mit anderen Worten die Umwandlung der Iberischen Halbinsel in eine Art Balkan-Halbinsel, mit unabhängigen Staaten, die durch Zollschranken getrennt sind, und mit unabhängigen Armeen, die unabhängige Spanische Erbfolgekriege führen. Natürlich wird der weise Maurin sagen, er wolle das nicht. Aber Programme haben ihre eigene Logik, etwas, was Maurin nicht besitzt.

3.) Sind die Arbeiter und Bauern der verschiedenen Parteien Spaniens an einer Zerstückelung interessiert?   Absolut nicht. Deshalb bedeutet die Gleichsetzung des entschiedenen Kampfes um das Recht der Selbstbestimmung mit der Propaganda für den Separatismus ein äußerst gefährliches Vergehen. Wir treten in unserem Programm für eine spanische Föderation mit der unentbehrlichen Beibehaltung der ökonomischen Einheit ein. Wir haben nicht die Absicht, dieses Programm den unterdrückten Nationalitäten Spaniens mit Hilfe der Waffen der Bourgeoisie aufzuzwingen. In diesem Sinne sind wir aufrichtig für das Recht auf Selbstbestimmung. Wenn sich Katalonien abspaltet, wird die kommunistische Minderheit Kataloniens, ebenso wie Spaniens, einen Kampf für eine Föderation zu führen haben.

4.) Im Balkan stellte die alte Vorkriegs-Sozialdemokratie bereits die Losung der demokratischen Balkanföderation auf – als Ausweg aus dem von den getrennten Staaten geschaffenen Irrenhaus. Gegenwärtig ist die kommunistische Losung für den Balkan die Balkanische Sowjetföderation (nebenbei: die Komintern gab die Losung der Balkanischen Sowjetföderation aus, verwarf aber gleichzeitig diese Losung für Europa!). Wie können wir unter diesen Umständen die Losung der Balkanisierung der spanischen Halbinsel übernehmen? Ist das nicht ungeheuerlich?

5.) Die Syndikalisten, oder zumindest ein gewisser Teil ihrer Führer erklären, dass sie gegen den Separatismus sogar mit den Waffen kämpfen werden. In diesem Falle würden sich Kommunisten und Syndikalisten auf entgegengesetzten Seiten der Barrikaden befinden: ohne die separatistischen Illusionen zu teilen, und mit dauernder Kritik an ihnen, müssten die Kommunisten sich unentwegt gegen die Henker des Imperialismus und ihre syndikalistischen Lakaien stellen.

6.) Sollte es der Kleinbourgeoisie gelingen – gegen den Rat und die Kritik der Kommunisten – Spanien zu zerstückeln, dann würden die negativen Folgen eines solchen Regimes nicht lange auf sich warten lassen. Die Arbeiter und Bauern würden sehr schnell zu diesem Schluss kommen: die Kommunisten hatten wirklich recht. Das aber bedeutet ganz genau, dass wir nicht die geringste Verantwortlichkeit für Maurins Programm übernehmen dürfen.

7.) Monatte hofft, die spanischen Syndikalisten würden einen neuen „syndikalistischen Staat“ schaffen. Stattdessen integrieren sich die spanischen Freunde von Monatte mit Erfolg in den bürgerlichen Staat. Das ist die Geschichte des armen Vogels, der Kuckuckseier ausbrütet. Es ist momentan sehr wichtig, alles zu verfolgen, was die spanischen Syndikalisten sagen und tun. Das wird der Linken Opposition in Frankreich Möglichkeiten eröffnen, dem französischen Anarchosyndikalismus einen schweren Schlag zu versetzen. Es ist keine Sekunde zweifelhaft, dass die Anarchosyndikalisten sich unter revolutionären Bedingungen bei jedem Schritt selbst diskreditieren werden. Die blendende Idee der Syndikalisten besteht darin, die Cortes zu kontrollieren, ohne sich an ihnen zu beteiligen. Revolutionäre Gewalt anzuwenden, um die Macht zu kämpfen, die Macht zu ergreifen – all das ist nicht gestattet. Anstelle dessen empfehlen sie die „Kontrolle“ der Bourgeoisie, die an der Macht ist. Ein wunderbares Bild: die Bourgeoisie frühstückt, isst Mittag und Abendessen, und das von den Syndikalisten geführte Proletariat „kontrolliert“ diese Vorgänge – mit leerem Magen.