Zur “Revolutionären Realpolitik” der Linkspartei: Revolution oder Transformation?

Martin Suchanek, Neue Internationale 279, Dezember 2023 / Januar 2024 ursprünglich veröffentlich im Dezember 2016

Die Berliner LINKE koaliert mit dem Segen der Parteispitze, Bodo Ramelow führt eine Rot-Rot-Grüne Koalition in Thüringen an.

In der Luxemburgstiftung, dem hauseigenen Think Tank, wollen sich deren Vordenker:innen mit der platten Rechtfertigung dieser Politik oder gar den unvermeidlichen Verrätereien durch Teilnahme an den Regierungen allein nicht zufriedengeben. An etlichen Stellen kritisieren sie sogar die allzu euphorischen Anhänger:innen rot-roter oder rot-rot-grüner Koalitionen offen, zu viele Zugeständnisse an die „Partner:innen“ zu machen.

Das ist nicht nur selbstgefälliger, entschuldigender Gestus linker Theoretiker:innen angesichts der unvermeidlichen Niederungen reformistischer Regierungspolitik. Es geht ihnen auch darum, der Partei eine höhere strategische Ausrichtung zu verleihen. Dazu prägen sie seit Jahren Begriffe wie „Transformationsstrategie“, „revolutionäre“ oder „radikale Realpolitik“, um die Programmatik der Linkspartei als eine moderne Version einer „sozialistischen Partei“ zu präsentieren.

Es ist immerhin ein Verdienst dieser politisch-ideologischen Richtung, dass sie in den Veröffentlichungen der Stiftung ihre Anschauungen darlegt; so z. B. in der Broschüre „Klasse verbinden“, herausgegeben im April 2016 vom US-amerikanischen Magazin Jacobin und der Luxemburg-Stiftung, oder im Aufsatz „Rückkehr der Hoffnung. Für eine offensive Betrachtungsweise“ von Michael Brie und Mario Candeias.

Revolutionäre „Realpolitik“

Seit Jahren wird neben Antonio Gramsci ausgerechnet Rosa Luxemburg als Patin für die „Transformationsstrategie“ der Linkspartei ins Feld geführt.

Sie selbst verwendet den Begriff „revolutionäre Realpolitik“ unter anderem in der Schrift „Karl Marx“, die anlässlich seines 20. Todestags verfasst wurde:

„Es gab vor Marx eine von Arbeitern geführte bürgerliche Politik, und es gab revolutionären Sozialismus. Es gibt erst mit Marx und durch Marx sozialistische Arbeiterpolitik, die zugleich und im vollsten Sinne beider Worte revolutionäre Realpolitik ist.

Wenn wir nämlich als Realpolitik eine Politik erkennen, die sich nur erreichbare Ziele steckt und sie mit wirksamsten Mitteln auf dem kürzesten Wege zu verfolgen weiß, so unterscheidet sich die proletarische Klassenpolitik im Marxschen Geiste darin von der bürgerlichen Politik, dass bürgerliche Politik vom Standpunkt der materiellen Tageserfolge real ist, während die sozialistische Politik es vom Standpunkt der geschichtlichen Entwicklungstendenz ist.“ (Luxemburg, Werke, Band 1/2, S. 375)

Und weiter: „Die proletarische Realpolitik ist aber auch revolutionär, indem sie durch alle ihre Teilbestrebungen in ihrer Gesamtheit über den Rahmen der bestehenden Ordnung, in der sie arbeitet, hinausgeht, indem sie sich bewusst nur als das Vorstadium des Aktes betrachtet, der sie zur Politik des herrschenden und umwälzenden Proletariats machen wird.“ (Ebenda, S. 376)

Luxemburg betont zwar, dass Reform und Revolution nicht als ausschließende Momente einander entgegengestellt werden dürfen, hält aber zugleich fest, dass die Revolution das entscheidende Moment dieses Verhältnisses darstellt. Nur in Bezug auf diesen Zweck kann eine revolutionäre (Real-)Politik bestimmt werden.

Sie grenzt sich daher gegen zwei politische Fehler innerhalb der Arbeiter:innenbewegung ab: einerseits den utopischen Sozialismus, andererseits die bürgerliche Realpolitik. Der Revisionismus oder Reformismus des 20. und 21. Jahrhunderts stellen letztlich Spielarten dieser bürgerlichen Realpolitik dar.

Das Revolutionäre an Luxemburgs „Realpolitik“ besteht genau darin, dass sie den Kampf für Reformen als Moment des Kampfes um die revolutionäre Machtergreifung des Proletariats bestimmt.

„Real“politik ist revolutionäre Politik in dem Sinne und Maß, wie eine Partei ihre Taktik auf einem wissenschaftlichen Verständnis der inneren Widersprüche des Kapitalismus und deren Entwicklungslogik aufbaut. Daraus ergibt sich, dass die Revolution nicht „jederzeit“ als reiner Willensakt „gemacht“ werden kann, sondern eine tiefe Krise des Gesamtsystems voraussetzt, eine Zuspitzung der inneren Widersprüche, die zu ihrer Auflösung drängen.

Innere Widersprüche

Für Luxemburg (und generell für den Marxismus) zeigt die Analyse der inneren Widersprüche des Kapitalismus zweitens, dass die Arbeiter:innenklasse in der bürgerlichen Gesellschaft noch keine neue, eigene Produktionsweise vorfindet, die sie mehr und mehr ausbauen könnte, sondern dass vielmehr die gegenteilige Entwicklung prägend ist. Der innere Widerspruch zwischen zunehmend gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung spitzt sich zu in der Konzentration des Reichtums in den Händen einer immer kleineren Schicht von Kapitalbesitzer:innen.

Genau deshalb greift Luxemburg auch Bernsteins Idee an, dass Genossenschaften, selbstverwaltete Betriebe und der zunehmende Kampf der Gewerkschaften für soziale Verbesserungen Schritt für Schritt zum Sozialismus führen könnten. Allenfalls stellen sie begrenzte Hilfsmittel zur Verbesserung der Lage der Klasse dar und können, im Fall der Gewerkschaften, Mittel zur Selbstorganisation und für die Entstehung von Klassenbewusstsein werden. Für sich genommen sprengt der gewerkschaftliche Kampf jedoch nicht den Rahmen des bestehenden Systems der Lohnarbeit (und erst recht nicht tun dies selbstverwaltete Betriebe).

Schließlich greift sie die darauf aufbauende, korrespondierende Vorstellung des Revisionismus an, dass der Parlamentarismus, die Sammlung einer numerischen Mehrheit bei Wahlen, Mittel zur erfolgreichen „Transformation“ der Gesellschaft sein könnten. Im Gegenteil: Luxemburg erblickt in der Integrationskraft des bürgerlichen Parlamentarismus auch eine Basis für das Vordringen der bürgerlichen „Realpolitik“ in der Arbeiter:innenbewegung, über „sozialistische“ Regierungen auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft mehr und mehr den „Sozialismus“ einführen zu können.

Für sie hingegen zielt „revolutionäre Realpolitik“ wesentlich auf den Übergang der politischen Macht von einer Klasse auf die andere, durch das Zerbrechen der bürgerlichen Staatsmaschinerie, den Übergang der Macht an die Arbeiter:innenräte, auf die Diktatur des Proletariats.

Was die Luxemburg-Stiftung aus Luxemburg macht

Die Theoretiker:innen der Linkspartei rekurrieren zwar gern auf Luxemburgs Begrifflichkeit und präsentieren ihre Strategie so, als würde sie ihr Verständnis von Reform und Revolution aufgreifen.

Dieser Schein wird nicht nur durch Entstellungen ermöglicht, sondern auch durch einen anderen Ausgangspunkt der Theorie Bernsteins und der aktuellen Theoretiker:innen der Luxemburg-Stiftung untermauert. Bernstein behauptete, dass sich Marx und Engels in ihrer Analyse der inneren Widersprüche des Kapitalismus geirrt hätten, dass diese nicht nur ihr Tempo überschätzt, sondern auch ihre grundlegende Entwicklungsrichtung verkannt hätten. Demgegenüber hält Luxemburg mit Marx und Engels an der grundlegenden Krisenhaftigkeit des kapitalistischen Systems und der ihm innewohnenden Tendenz zum Zusammenbruch fest.

Zu Recht weist sie darauf hin, dass die Leugnung dieser Schlussfolgerungen aus der Marxschen Analyse des Kapitals einer Preisgabe des wissenschaftlichen Sozialismus gleichkommt. Die Überwindung des Kapitalismus stellt dann keine gesellschaftliche Notwendigkeit mehr dar, sondern kann nur moralisch begründet werden.

Anders als Bernstein geht die Luxemburg-Stiftung von einer Systemkrise des Kapitalismus aus.

„Die strukturelle Krise ist nicht gelöst und sie lässt sich im alten Rahmen auch nicht lösen. Die Versuche, den Finanzmarkt-Kapitalismus zu stabilisieren, verlängern nur die Agonie und zerreißen die Europäische Union und unsere Gesellschaften. Die Situation ist jedoch nicht durch Aufbruch gekennzeichnet, vielmehr gilt ein altes Zitat von Gramsci: ‚Das Alte stirbt, das neue kann nicht zur Welt kommen. Es ist die Zeit der Monster.’“ (Brie/Candeias)

Das obige Zitat zeigt aber auch eine Differenz zur marxistischen Analyse. Aus den Fugen geraten ist nicht der Kapitalismus als System, sondern nur der „Finanzmarktkapitalismus“. Bei aller verbalen Radikalität wird so ein theoretisches „Hintertürchen“ für eine reformistisch gewendete „revolutionäre Realpolitik“ geöffnet.

Hinzu kommt, dass der Kapitalismus zwar in einer historischen Krise stecken mag, eine sozialistische Revolution jedoch der Partei auch ausgeschlossen erscheint. Was bleibt also? Eine „Transformationsstrategie“. Was steckt aber hinter diesem unschuldigen Wort? Sind  nicht auch revolutionäre Marxist:innen dafür, erkennen sie nicht auch an, dass der revolutionäre Bruch mit dem Kapitalismus eine ganze Periode des Übergangs einschließt, dass nicht alle überkommenen gesellschaftlichen Verhältnisse und vor allem nicht die tradierte grundlegende Arbeitsteilung der alten Gesellschaft mit einem Schlag „abgeschafft“ werden können? Standen nicht die frühe Kommunistische Internationale und der Trotzkismus auf dem Boden eines Programms von Übergangsforderungen, das den Kampf für Reformen in eine Strategie zur Machtergreifung einbettet?

Genau diese Ausrichtung ist bei der Luxemburg-Stiftung nicht gemeint.

Da die sozialistische Revolution, die revolutionäre Machtergreifung der Arbeiter:innenklasse als unmöglich, fragwürdig erscheint, bezieht sich das Ziel der Transformation nicht auf das der „revolutionären Realpolitik“ einer Rosa-Luxemburg,  sondern darauf, dass die „Linke“ sich auf einen „Macht“wechsel auf dem Boden des Parlamentarismus vorbereiten müsse.

In einer offenen Krisensituation entsteht eine radikal neue Situation, in der sich die Eliten spalten, ein Richtungswechsel möglich wird – hin zu einem autoritären Festungskapitalismus wie aber auch hin zu einer solidarischen Umgestaltung. Die Linke muss sich jetzt vorbereiten, daran arbeiten, dass sie fähig wird, in eine solche Situation überzeugend einzugreifen. Darauf ist sie nicht eingestellt.“ (Brie/Candeias)

Wir möchten nicht widersprechen, dass die Linke auf diese Situation nicht vorbereitet ist. Entscheidend ist jedoch, dass die TheoretikerInnen der Linkspartei die eigentliche Alternative, die in einer solchen Phase aufgeworfen wird, verkennen – es geht um Revolution oder Konterrevolution, um Sozialismus oder Barbarei.

Für die Ideolog:nnen der Linkspartei stellt sie sich jedoch anders dar – „autoritärer Festungskapitalismus“ (womit Regierungen wie jene von Trump gemeint sind) oder „solidarische Umgestaltung“.

Hier wird die sozialistische Revolution aus der „revolutionären Realpolitik“ verabschiedet.

Regierung als Ziel

Daher ist es kein Wunder, dass die Strategie in eine Regierungsbeteiligung münden muss. Natürlich ist auch das Zeil einer jeden kommunistischen Strategie, eine revolutionäre Arbeiter:innenregierung zu schaffen. Diese ist aber letztlich nur als Mittel zum Übergang zur Herrschaft der Arbeiter:innenklasse oder, in ihrer eigentlichen Form, als „Diktatur des Proletariats“, möglich. Die „Realpolitik“ der Arbeiter:innenklasse kann nämlich nur vom Standpunkt ihrer zukünftigen Herrschaft und deren Vorbereitung richtig verstanden werden.

Diese grundlegende Schlussfolgerung Rosa Luxemburgs verschwindet bei der Luxemburg-Stiftung gänzlich, wird sogar in ihr Gegenteil verkehrt. Zur strategischen Zielsetzung wird die „realistische“, „grundlegende“ Reform, die „solidarische Umgestaltung“.

Den Vordenker:innen der Linkspartei ist jedoch klar, dass eine solche „Umgestaltung“ keine Chance hat, wenn sie sich nur auf parlamentarische Mehrheiten stützt. Daher beurteilen sie das Regierungshandeln in Thüringen durchaus skeptisch, weil dieses keinem nennenswerten Druck von außen oder aus der Partei ausgesetzt ist. Sie halten eine Regierung auf Bundesebene erst recht für „verfrüht“ und erkennen, dass eine „Reformregierung“, die den Kurs der Großen Koalition fortsetzt, letztlich einer weiteren Stärkung der Rechten, v. a. der AfD, den Weg bereitet. Wie soll dieses Problem gelöst werden?

„Und schließlich muss die Linke an einer politischen Machtperspektive arbeiten. Dies darf nicht auf Wahlen verengt werden… Die punktuelle, aber konzentrierte Mobilisierung kann durchaus Erfolge zeitigen, sie ist aber immer prekär, wenn die Mobilisierung nicht mit einer nachhaltigen Verankerung und Organisierung verbunden wird. Eine politische Linke in den Vertretungsorganen ohne eine starke, eigenständige, kritische gesellschaftliche Linke, die in den Nachbarschaften, in Betrieben, in Initiativen und Bewegungen verankert ist, muss scheitern.“ (Brie/Candeias)

Die Linkspartei müsse einen „Spagat“ vollziehen zwischen „Bewegungspartei“ („Netzwerkpartei“) und „strategischer Partei“, die die verschiedenen Bewegungen, zusammenführt, Klassenfragen und Fragen der sozialen Unterdrückung vereint und ihnen eine Ausrichtung gibt.

Solcherart könne eine Umgestaltung vollzogen werden, die parlamentarische und institutionelle Mittel des Staates nutzt, den Kampf gewissermaßen „um den Staat und im Staat“ führt und gleichzeitig auch Gesamtstratege der heterogenen Widerstandsmilieus wäre.

Im Gegensatz zu naiven Bewegungslinken sehen sie ein, dass sich aus der Addition der spontanen Initiativen „von unten“, von Bewegungen, sozialen Kämpfen, Platzbesetzungen, Streiks, Betriebsbesetzungen, Selbstverwaltung oder „Produktion unter Arbeiter:innenkontrolle“, wie manche Projekte übertrieben genannt werden, keine gemeinsame Strategie ergibt. Eine „verbindende“ Partei reicht dazu nicht aus, es braucht eine strategische.

Es erhebt sich aber die Frage, warum Parteien wie Syriza diesen Spagat nicht durchzuhalten vermochten. In der Broschüre „Klasse verbinden“ wird lediglich festgehalten, dass sie die „Bewegungswurzeln“ nicht beibehalten konnte, dass eine  solche Entwicklung auch dem Linksblock in Portugal drohe oder auch die Bilanz der „linken“ Stadtverwaltung in Barcelona diskussionswürdig sei.

Strategische Partei und Staat

Die Lösung liege in einer „strategischen Partei“, die Elemente der „verbindenden Partei“ (Partei der Bewegungen) aufnimmt. Das sei notwendig, damit sie im Zuge der gesellschaftlichen Transformation eine doppelte Aufgabe erfüllen könne. Als Partei müsse sie den Staatsapparat transformieren, in dessen Institutionen eindringen. Dies könne aber nur gelingen, wenn sich ihr Handeln nicht auf den Staatsapparat, Parlament und Regierung konzentriert, wenn sie sich zugleich auf Massenbewegungen außerhalb stützt bzw. von diesen unter Druck gesetzt werden kann.

„Als Linke in die Institutionen zu gehen, ob in Athen, Barcelona oder Madrid, führt in einen politischen Limbo, sofern es nicht gelingt, diese Institutionen zu öffnen für die Initiative der Bewegungen, Nachbarschaftsgruppen und Solidaritätsstrukturen aus der Zivilgesellschaft und damit eine weiterreichende Partizipation aller populären Klassen zu verankern.“ (Candeias, Gedanken zu Porcaros „strategischer Partei“, in: Klasse verbinden, S. 20)

Dazu bedürfe es „eigener ‚stabiler Institutionen‘ jenseits des Staates, die heute zur strategischen Partei und morgen zum sozialistischen Staat einen dialektischen Gegenpol bilden können.“ (Ebenda, S. 20)

Reformismus reloaded

Diese „Institutionen“ sind einerseits politische und gesellschaftliche Bewegungen, andererseits wären es aber auch „Institutionen“, die „schon heute eine ‚materielle Macht‘ ausbilden, die eine Art unabhängige soziale Infrastruktur und produktive Ressourcen einer solidarischen Ökonomie entwickelt, um den Attacken des transnationalen Machtblocks standzuhalten – der oft zitierte Plan C.“ (Ebenda, S. 20). Dieser Plan ist nur eine Reformulierung des alten Revisionismus und der Sozialstaatspläne der Nachkriegssozialdemokratie auf niedrigem Niveau.

Die aktuelle Periode engt den „Spielraum“ für solche Pläne ein, verurteilt sie rasch dazu, zum reinen Reparaturbetrieb zu werden. Daran ändert auch die Verklärung von  selbstverwalteten Betrieben, besetzten Häusern, Nachbarschaftshilfe oder Beteiligungshaushalten zu Institutionen gesellschaftlicher „Gegenmacht“ nichts.

Die Strateg:innen der Linkspartei kommen hier bei Bernstein an – allerdings in einer widersprüchlicheren Form. Der „alte“ Revisionismus oder auch die Politik der Sozialdemokratie der 60er und frühen 70er Jahre versuchten ihre Politik durch angebliche Wandlungen des Kapitalismus zu begründen, die den Boden für eine schrittweise Verbesserung der Lage der Arbeiter:innenklasse und eine immer größere Demokratisierung des Systems abgeben würden.

Die mit Entstellungen der Arbeiten von Luxemburg oder Gramsci getränkte strategische Ausrichtung der Luxemburg-Stiftung akzeptiert hingegen, dass wir in einer Krisenperiode leben. Sie will aber nichts davon wissen, dass diese eine Strategie der revolutionären Machtergreifung der Arbeiter:innenklasse erfordert.

Syriza ist in Griechenland nicht daran gescheitert, dass der Spagat zwischen „Regierung“ und „Bewegung“ nicht funktionierte. Sie ist vielmehr an den inneren Widersprüchen einer reformistischen Realpolitik gescheitert – einerseits die Lage der Massen verbessern zu wollen und andererseits die gesellschaftlichen Grundlagen ihrer Verelendung, also den Kapitalismus selbst, nicht anzugreifen, sondern „mitzuverwalten“.

Klassencharakter des Staates

Die „Transformation“ des griechischen Staates ist nicht an einzelnen Fehlern von Syriza-Politiker:innen und am mangelnden Druck der Bewegung gescheitert. Sie wurde vielmehr unvermeidliches Opfer dieser Institutionen, weil der bürgerliche Staat selbst nicht zu einem Mittel der sozialistischen Umwandlung der Gesellschaft „transformiert“ werden kann. Genau das vertreten aber der „alte“ wie moderne Revisionismus, indem sie den Klassencharakter des bürgerlichen Staates negieren. Mit Luxemburg werden so auch gleich Marx‘ Lehren aus der Pariser Commune oder Lenins „Staat und Revolution“ entsorgt.

Die „revolutionäre Realpolitik“ entpuppt sich letztlich als bürgerliche, die bei allem Beschwören von „Bewegungen“ und „Gegenmacht“ letztlich auf einen friedlichen, graduellen, parlamentarischen Übergang zum Sozialismus, also auf den Sankt-Nimmerleinstag orientiert.

Für die Strateg:innen der Linkspartei ist der bestehende, wenn auch zu transformierende Staat, das entscheidende politische Instrument. Abgestützt werden müsse dieses durch Eroberung ideologischer Positionen und Vorherrschaft („Hegemonie“) in der Zivilgesellschaft und den Aufbau von „Gegenmacht“. Solcherart wäre eine schrittweise Transformation möglich. Dabei wird die Revolution zu einer Reihe von Reformen. Auch hier befindet sich die Linkspartei in Gesellschaft von Bernstein, nicht von Luxemburg:

„Es ist grundfalsch und ganz ungeschichtlich, sich die gesetzliche Reformarbeit bloß als die ins Breite gezogene Revolution und die Revolution als die kondensierte Reform vorzustellen. Eine soziale Umwälzung und eine gesetzliche Reform sind nicht durch die Zeitdauer, sondern durch das Wesen verschiedene Momente. Das ganze Geheimnis der geschichtlichen Umwälzungen durch den Gebrauch der politischen Macht liegt ja gerade in dem Umschlagen der bloßen quantitativen Veränderungen in eine neue Qualität, konkret gesprochen: in dem Übergange einer Geschichtsperiode, einer Gesellschaftsordnung in eine andere.“ (Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution?, Werke, Band 1, S. 428)




PDS, Linkspartei und die Wohnungsfrage: „Rebellisches“ Regieren in Berlin

Susanne Kühn, Neue Internationale 279, Dezember 2023 / Januar 2024

Gern präsentiert sich DIE LINKE als einzige Partei im Berliner Abgeordnetenhaus, die „konsequent“ für die Enteignung von Deutsche Wohnen und Co. eingetreten wäre. Stolz verweist die Partei darauf, dass sie 2021 zehntausende Unterschriften gesammelt hat und viele ihrer Mitglieder aktiv an der Kampagne teilgenommen haben.

Dieser rosigen Seite der Mietenpolitik der Berliner Linkspartei und ihrer Vorläuferorganisation stehen jedoch zahlreiche dunkle Kapitel gegenüber, die die Grenzen „linker“ Reformpolitik deutlich machen.

Vom Saulus zum Paulus?

Über das unrühmlichste und wohnungspolitisch geradezu kriminelle Kapitel der eigenen Parteigeschichte hüllt DIE LINKE in Berlin gern den Mantel des Schweigens. Unter der rot-roten Landesregierung wurde massiv privatisiert. Von den knapp 400.000 landeseigenen Wohnungen bei Antritt des SPD-PDS-Senats blieben nur ca. 250.000 übrig.

Darüber hinaus wurden in Berlin in dieser Periode auch die Wasserwerke teilprivatisiert und Krankenhäuser an Vivantes, Helios und die Rhön-Kliniken verscherbelt.

Kurz gesagt, die Regierungsrebell:innen um Gregor Gysi und Harald Wolf rührten die Scheiße am Wohnungsmarkt mit an, die die Linkspartei seither beklagt. Gelernt hatte sie aber schon damals nichts aus der Enttäuschung ihrer Wähler:innen. Trotz Stimmenverlusten von beinahe 10 Prozent verblieb DIE LINKE als Juniorpartnerin im Senat unter Klaus Wowereit und werkelte von 2006 – 2011 weiter als treue Vasallin der SPD.

In der Opposition 2011 – 2016 reorganisierte sie sich ein wenig und erzielte 2016 15,6 % (ein Plus von 3,9 % gegenüber 2011). Von 2016 bis 2021 war sie, ebenso wie von 2021 bis zur Nachwahl 2023, Teil des Senats mit SPD und Grünen.

Anders als in den vorherigen Senatsperioden versuchte sich DIE LINKE darin, ihr tristes Regierungsdasein mit „oppositionellen“ Regungen zu verbinden, was noch 2021 dazu führte, dass sie relativ wenig Stimmen verlor. Doch gerade diese Zeit, die die Linkspartei am ehesten als „rebellisches Regieren“ verkaufen möchte, verdient eine genauere Betrachtung.

Gleich 2016 versuchte DIE LINKE mit der Ernennung des linken, antikapitalistischen Gentrifizierungskritikers Andrej Holm zum Staatssekretär unter der Senatorin für Stadtentwicklung und Wohnen, Katrin Lompscher, einen Akzent zu setzen. Innerhalb weniger Monate wurde Holm jedoch durch eine reaktionäre Kampagne bürgerlicher Medien, von CDU und FDP sowie unter kräftiger Mithilfe des rechten Flügels von SPD und Grünen zum Rücktritt gezwungen – ein klares Signal, dass die Immobilienlobby und ihr politischer Anhang vor nichts zurückschrecken würden, um jede wohnungspolitische Wende zu verhindern, die sich auch nur im Ansatz gegen ihre Interessen richtet.

Zugleich musste der Senat und damit auch DIE LINKE versuchen, dem wachsenden Druck unzufriedener Mieter:innen und von Protestansätzen Rechnung zu tragen. Hierbei sollte der Mietendeckel helfen, den Lompscher 2019 auf den Weg brachte und der im Januar 2020 vom Abgeordnetenhaus beschlossen wurde. Der durchaus löchrige Deckel sollte die Mietpreissteigerungen für Hunderttausende Mieter:innen begrenzen. Die Bundestagsfraktionen von CDU und FPD klagten gegen diesen Anschlag auf den „freien Markt“. Das Bundesverfassungsgericht gab der Immobilienlobby Recht und kassierte das Berliner Gesetz – mit verheerenden Folgen für rund 1,5 Millionen Mieter:innen, denen  teilweise massive Nachzahlungen, vor allem aber weitere Mieterhöhungen ins Haus standen.

Die beiden Beispiele verdeutlichen das ganze Dilemma der Reformpolitik der Linkspartei, selbst wenn sie, anders als im rot-roten Senat, keine Verschlechterungen, sondern Verbesserungen in Angriff nahm. Unter dem Druck der bürgerlichen Öffentlichkeit knickte sie wie im Falle Holm ein. Kassierte ein Gericht die Reformen, war sie mit ihrem Latein am Ende. Einen Plan B, der über letztlich symbolische Demonstrationen und Proteste gegen die Urteile hinausging, hatte sie nie.

Deutsche Wohnen und Co. enteignen

Das Kassieren des Mietendeckels beflügelte auf seine Art die größte und auf ihrem Höhepunkt auch erfolgreichste von Linken und der Mieter:innenbewegung getragene Kampagne „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“. DIE LINKE unterstützte die Kampagne von Beginn an, auch wenn sie deren massiven Erfolg bei der Volksabstimmung 2021 wie viele andere nicht voraussehen konnte. Am 26. September stimmten 59 % für die Enteignung der großen Immobilienkonzerne in Berlin.

Nicht nur die Wohnungswirtschaft, AfD, CDU und FDP waren wild entschlossen, die Entscheidung der Bevölkerung nicht umzusetzen. Auch die rechte SPD-Führung um Giffey und Geisel wollte den Volksentscheid politisch kippen. Natürlich konnte sie das nicht direkt tun. Daher zauberten Geisel und Giffey eine sog. Expert:innenkommission aus dem Hut, die überprüfen sollte, ob der Volksentscheid umsetzbar und in welches Gesetz er gegebenenfalls zu gießen wäre.

So sollte in einer im Geheimen tagenden Kommission zuerst einmal Zeit gewonnen werden, ohne offen den Mehrheitswillen zu ignorieren. Zweitens erklärten denn Giffey und Geisel auch deutlich, dass selbst ein positives Ergebnis der Kommission längst nicht bindend wäre, sondern der Senat darüber entscheiden müsse. Kurzum, die SPD-Führung machte klar, dass es sich nur um eine Verschleppung handelte und sie ohnedies immer den Volksentscheid blockieren würde.

Dieses Manöver war nicht nur ein Hohn auf jede Demokratie, sondern natürlich ganz im Interesse des Kapitals. Die Grünen spielten gern mit und die SPD machte die Expert:innenkommission zur Bedingung für eine Fortsetzung der rot-grün-roten Koalition.

Und DIE LINKE? Die spielte das schäbige Spiel mit. Sie lief sehenden Auges in die offene Falle, die Giffey und Geisel gestellt hatten. Dass auch die Mehrheit der Kampagne von Deutsche Wohnen und Co. um die Interventionistische Linke das üble Spiel mitgstaltete, diente der Mehrheit der Linkspartei zwar als Entschuldigung für ihre Kapitulation vor der SPD, macht die Sache aber nicht besser.

Ein Mitgliederentscheid sprach sich für die Fortsetzung der Koalition aus. Insgesamt beteiligten sich 4.220 (53,64 %) der 8.016 Parteimitglieder am Entscheid über den Koalitionsvertrag, davon waren 3.926 Stimmen gültig. 2.941, also 74,91 %, votierten für Rot-Grün-Rot, 880 oder 22,4 % stimmten mit Nein, 105 (2,67 %) enthielten sich.

Die Landesparteivorsitzende Katina Schubert und mit ihr die gesamte Senatsriege konnten ihre Freude kaum verbergen. „Das ist ein klarer Auftrag für uns. Das gute Ergebnis ist Rückenwind für die aktuellen und kommenden Herausforderungen,“ erklärte sie und ließ weiter verlauten: „Wir haben angekündigt, den Berlinerinnen und Berlinern die Stadt zurückzugeben.“

In Wirklichkeit halfen sie der Immobilienlobby mit, ihre volle Verfügungsgewalt über ihr Privateigentum zu behalten. Die Expert:innenkommission werkelte über Monate vor sich hin, die Bewegung und die Strukturen von Deutsche Wohnen und Co. schrumpften und brachen mehr und mehr in sich zusammen. Mit der Neuwahl 2023 und der Bildung des CDU/SPD-Senats war der Volksentscheid endgültig erledigt.

Opportunismus und Blindheit

Das Beispiel verdeutlicht das Problem des „rebellischen Regierens“, selbst wenn DIE LINKE eine Bewegung aktiv unterstützt. Letztlich stößt eine solche Bewegung, gerade wenn sie das kapitalistische Privateigentum und seine rechtliche Absicherung, also ein gesellschaftlich wesentliches Verhältnis, berührt, an die Grenzen des bürgerlichen Systems. Das ist unvermeidbar.

Sowohl die Mehrheit der Kampagne Deutsche Wohnen und Co. enteignen als auch DIE LINKE weigerten sich jedoch bewusst, diese Problematik von Beginn an zu thematisieren. Der Opportunismus setzte auf politische Blindheit – und wunderte sich dann, dass er das Offensichtliche nicht vorausgesehen hatte.

Was die Führung der Linkspartei betrifft, so erfüllt diese jedoch auch einen Zweck. Sie sollte jede vorausschauende Diskussion, jede strategische Debatte darüber verhindern, wie die Kampagne erfolgreich weitergeführt werden könnte, auch wenn der Senat sabotiert und DIE LINKE nicht mehr in der Landregierung vertreten ist. Dazu hätten nämlich sowohl die Kampagne wie auch DIE LINKE auf eine Strategie der klassenkämpferischen Mobilisierung, auf den Aufbau von Mieter:innenkomitees, auf Verbindung mit betrieblichen und gewerkschaftlichen Organisationen, auf die Verbreiterung von Miet- und politischen Solidaritätsstreiks orientieren müssen. Genau das wollten aber die Vertreter:innen des „rebellischen Regierens“ nicht, weil sie selbst viel stärker unter den direkten und demokratischen Druck einer solchen Kampagne geraten wären, weil es viel schwerer geworden wäre, 2021 weiter im Senat zu hocken und dafür den Volksentscheid faktisch zu opfern.

Die Lehre aus diesen Kämpfen muss aber gezogen werden. Es ist natürlich grundsätzlich richtig, DIE LINKE wie auch andere reformistische Parteien oder Gewerkschaften zur Unterstützung solcher Kampagnen aufzufordern, ja, wenn möglich, dazu zu zwingen. Aber zugleich braucht sie demokratische Kampfstrukturen und eine offen geführte Diskussion und Entscheidung über die zentralen Fragen zur Umsetzung ihrer Ziele – in diesem Fall der Enteignung – und der dafür notwendigen Kampfmethoden und Strukturen. Natürlich können auch dann Reformist:innen und Opportunist:innen eine Kampagne in die Irre führen, aber bieten sich unter diesen Bedingungen viel günstigere Möglichkeiten für klassenkämpferische Kräfte, ihre Vorschläge, ihre Positionen zu vertreten und im günstigsten Fall die Mehrheit dafür zu gewinnen. Hinzu kommt, dass eine solche Methode erlaubt, dass wir nach einem politischen Ausverkauf durch Reformist:innen und deren Senatsambitionen nicht mit leeren Händen, sondern einer politisch aktiven Kampagne dastehen, die weiter kampffähig ist.




Linkspartei: Die Bewegungslinke als Retterin in der Not?

Jaqueline Katherina Singh, Neue Internationale 276, September 2023

Es ist wie ein Unfall, bei dem man nicht wegsehen kann, oder Gossip Girl im Real Life: die Krise der Linkspartei. Seit Beginn des Jahres hat sich die Situation stetig zugespitzt.

Mitte März gab Wagenknecht ein Interview bei ZDFheute, in dem sie erklärte, über die Gründung einer neuen Partei nachzudenken. Nachvollziehbar fand das der aktuelle Parteivorstand weniger unterhaltsam – nach mehreren offenen inhaltlichen Abweichungen von Positionen der Parteitage und nach Veröffentlichung des Buches „Die Selbstgerechten“, was als Gegenprogramm zur eigenen Partei gelesen werden kann.

Es folgte am 25. Juni ein Treffen von Wissler, Schirdewan und Wagenknecht mit Amira Mohamed Ali und Bartsch als Vermittler:innen, bei dem Wagenknecht eine Frist gesetzt wurde.

Dies wurde ihrerseits mit einem weiteren Interview, diesmal für Die Welt, beantwortet. Der Parteivorstand verabschiedete daraufhin Mitte Juni einen Brief mit einem Appell, dass jene, die darüber nachdenken, eine neue Partei zu gründen, ihr Mandat niederlegen sollten. Das ist sicher nachvollziehbar, denn welche Partei will schon die Neugründung ihrer Konkurrenz aus eigenen Mitteln finanzieren? Somit ging die öffentliche Schlammschlacht in die nächste Runde.

Die Fraktionsvorsitzende Mohamed Ali trat Anfang August zurück und Klaus Ernst stellte nach 15 Jahren Mandat fest, dass es Leute in der Partei gibt „deren Kontakt zur Arbeit sich darauf beschränkt, dass sie mal als Schüler oder Student ein Regal bei Aldi eingeräumt haben“. Der Parteivorstand wäre „eine große Truppe politikunfähiger Clowns in der Partei“. Kurzum: Die Grabenkämpfe verschärfen sich und die Stimmen, die nach Einheit rufen wie Gysis oder Pellmanns, wirken nur noch unfreiwillig komisch. Denn es ist mittlerweile klar, dass es so nicht weitergehen kann und ein Parteitag zur „,Verständigung und Versöhnung’ der verschiedenen ‚Lager’“, wie es der Leipziger Verband vorschlägt, nichts richten kann.

Seit der Bundestagswahl haben rund 8.000 Mitglieder die Partei verlassen. Bei einem offenen Bruch der Wagenknecht-Anhänger:innen wird noch ein Teil mitgehen, der sich rund um #aufstehen oder die Populäre Linke formiert hat.

Von den Landtagswahlen in Bayern erhofft man in der Regel nicht viel, daher spielt das Resultat für die Zukunft der Partei keine große Rolle. Doch Hessen konnte in der Vergangenheit auch Wahlerfolge erzielen. Daher kommt den zu erwartenden Verlusten Bedeutung zu. Der öffentliche Zersetzungsprozess hilft natürlich recht wenig im Wahlkampf, zum anderen ist der hessische Landesverband seit dem #linkemetoo ohnedies nicht bestens aufgestellt.

Das Problem ist Folgendes: Auch wenn Schirdewan und Wissler jetzt konsequent erscheinen wollen und harte Kante gegenüber Wagenknecht zeigen, so ist die Partei seit Jahren in einer Krise. Wagenknecht macht dies, Wagenknecht sagt das, Wagenknecht geht – die politischen Debatten um die inhaltlichen Fragen werden dabei medial um sie fokussiert. Das scheint die Debatte zu entpolitisieren. Eine inhaltliche Abgrenzung erfolgt zwar teilweise, aber auch nur indirekt, beispielsweise durch die Vorschläge für die Kandidat:innen zur Europawahl. Trotzdem bleibt es dabei: Darauf zu warten, dass Sahra geht, bedeutet für die, die bleiben, eine Schwächung ihrer eigenen Position. Doch wenn Wagenknecht geht, wird zwangsläufig die Frage aufgeworfen: Was machen die Hinterbliebenen? Und wer bleibt überhaupt?

Wer bleibt?

Denn es gibt sie. Die Leute, die weitermachen wollen. Die glauben, dass die Partei zu retten ist, und Hoffnung hegen. Bisher am deutlichsten dazu bekannt haben sich Anhänger:innen der Bewegungslinken, die seit den letzten beiden Parteitagen auch zahlreich im Vorstand der Partei vertreten sind. Sie planen ihrerseits eine „Zukunftskonferenz“, bei der ganze 350 Leute teilnehmen können. Nach diversen internen Regionalkonferenzen versuchen sie, die Grundlage für einen „Neustart“ in die Wege zu leiten.

Natürlich werden auch die Regierungssozialist:innen bleiben, denn schließlich sind sie – und nicht der Vorstand – neben der Parlamentsfraktion das eigentliche Machtzentrum der Partei. Beiträge zur Debatte liefern sie wenig bis keine. Weder Bodo Ramelow noch Klaus Lederer lassen vernehmen, was sie eigentlich von der Krise der Partei halten und wie beziehungsweise wo sie ihre eigene Zukunft sehen. Das haben sie aber auch nicht nötig, denn ihre Regierungspolitik wird von der Bewegungslinken nicht in Frage gestellt (und sie wurde es auch nicht von den Wagenknecht-Leuten).

So kommt es, dass seit rund 1,5 Monaten die Debattenseiten brodeln und vornehmlich Ideen aus dem linken Flügel diskutiert werden, ob bei luXemburg, Jacobin, dem nd oder den Kommentarspalten der sozialen Medien. Die Ideen sind dabei vielfältig. Da mit der Partei fast nichts möglich scheint, kann auch jede/r eigene Utopien mit zum Besten geben. So formuliert Thomas Goes den Wunsch nach einer neuen ökologischen Arbeiter:innen- und Volkspartei, Ulrike Eifler fordert, dass sich DIE LINKE mehr auf Gewerkschaften zu fokussieren hätte. Thies Gleiss spricht von der Notwendigkeit des Neustarts durch die Einbindung der Basis und Abschaffung von Posten.

Die Linke und der Neustart?

Die beiden bekanntesten Texte sind wohl der erste Aufschlag von Mario Candeias „Linke Krise und Neubeginn“ sowie die Antwort von Ines Schwerdtner und Michael Brie „Für eine konstruktive Erneuerung der Partei DIE LINKE“.

Candeias beginnt damit, dass sich DIE LINKE gesamtgesellschaftlich in der Defensive befindet. Dieser Zustand würde ein Jahrzehnt anhalten und verursacht durch eine „innergesellschaftliche Polarisierung zwischen den Trägern einer grün-liberalen Modernisierung und den autoritären Verteidigern einer fossilistischen Lebensweise“.

Hochgestochene Worte, die nichts anderes heißen als eine Zunahme der Zersplitterung und Fragmentierung innerhalb der Flügel des bürgerlichen Lagers anhand der Klimakrise. So weit so gut. Es ist letztlich eine Stärke des Texts, sich zuerst mit den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen auseinanderzusetzen, um daraus Schlüsse für die kommende Zeit abzuleiten.

Neben der Fragmentierung des bürgerlichen Lagers, der Defensive der Linken darf die zunehmende Krisenhaftigkeit nicht fehlen. Auch wenn dies alles richtige Punkte sind, so muss man diese eher aus den Thesen herausfiltern. Verloren geht dabei das Verhältnis der unterschiedlichen Problematiken zueinander, was dann letzten Endes dazu führt, dass die Krise der Partei recht unspektakulär in der 2. These heruntergebrochen wird:

„Ursächlich für die Krise der Partei war auch, dass politische Konfliktlinien und Widersprüche sich mit Fragen innerparteilicher Macht und des Kampfes um Ämter und Positionen verwickelten. Es geht um eine Neuordnung des Parteiensystems, sowohl zwischen den Parteien wie auch in ihrem Inneren. Besonders zugespitzt trifft es jene, bei denen der reale Wille zur Macht angesichts von Wahlergebnissen und Umfragen nicht mehr als Kitt zwischen den Strömungen und Flügeln wirkt. Dann schlägt die mediale Dynamik zu, die eben solche Differenzen zu mächtigen Gegensätzen werden lässt, in denen einzelne sich gegen die Partei profilieren und die Zentrifugalkräfte die Partei auseinandertreiben.“

Diese Aussage bringt gleich mehrere Probleme mit sich. Zum einen stellt sie den Machtkampf zwischen den politischen Flügel um Ämter als Problem besagter Posten dar. Auch wenn die Art und Weise, wie die Ämter in der Linkspartei gestaltet sind, problematisch ist (und sinnvoll durch Thies Gleiss kritisiert wurde), so ist es doch nur logisch, dass jede politische Strömung versucht, den eigenen Einfluss zu stärken.

Das heißt: Das grundlegende Problem besteht viel eher darin, dass die inhaltlichen Differenzen zu groß sind und sich dementsprechend die Partei im internen Machtkampf jahrelang selber blockiert hat. Die Fliehkräfte, die dabei entstehen, werden durch die Medien (und mangelnde Parteidisziplin) verschärft, aber nicht, wie im Folgenden behauptet, erst durch die Medien verursacht.

Nicht sie sind es, die Differenzen zu mächtigen Gegensätzen ausarten lassen, sondern die inhaltlichen Punkte an sich. Denn zwischen Regieren und Nicht-Regieren, offenen Grenzen und Abschottung, Militarismus, Pazifismus und Internationalismus kann man letztlich keine Kompromisse herbeireden und versuchen, ihre friedliche Koexistenz herbeizuzaubern. Spätestens wenn diese Fragen praktisch gestellt werden, fliegt die „Einheit“, die nie eine war, auseinander. Das Problem der Linkspartei ist nicht, dass jetzt Wahlniederlagen und mangelnde Machtoptionen, also Regierungsämter, die Partei auseinandertreiben. Die reformistische Partei war vielmehr schon immer auf der Unvereinbarkeit des Unvereinbaren aufgebaut – Regierung und „Opposition“ gleichzeitig sein zu wollen. Richtig an Candeias’ Bemerkung ist letztlich nur, dass sich die inneren Gegensätze leichter kitten lassen, wenn die Partei elektoral erfolgreich ist, wenn also alle Seiten ihren Anteil am Erfolg und den Pfründen, die damit einhergehen, erhalten können.

Das eigentlich „Neue“ ist letztlich bloß die Einschätzung, dass auf das „linkskonservative Spektrum um Sahra Wagenknecht keine Rücksicht mehr genommen werden (muss) – von ihr selbst erklärt, haben wir bereits eine Situation Post-Wagenknecht.“

Zu wirklichen Ideen der Erneuerung treibt das aber nicht. So heißt es unter anderem in These 2: „Solidaritätsinitiativen können wichtige Ausgangspunkte dafür sein. Im besten Falle gesellen sich dazu Enklaven eines rebellischen Regierens in Städten und Räumen, in denen es der Linken gelingt, relative Mehrheiten zu organisieren und gesellschaftliche Bewegungen, Organisierung und institutionelle Politik in ein produktives Verhältnis zu bringen.“

Dies ist nichts anderes als Gramscis Konzept des Stellungskrieges, reformistisch neu aufgewärmt, verbunden mit einer klaren Ansage, dass Regieren auf jeden Fall möglich sein sollte. Kritiker:innen fragen sich an dieser Stelle zu Recht: Wo ist dann der Unterschied zur bisherigen Politik und Strategie? Denn die Phrase des rebellischen Regierens wurde auch fleißig in Berlin verwendet, wo dann durch die Berliner Linkspartei der Volksentscheid zu Deutsche Wohnen & Co enteignen erfolgreich verschleppt wurde – aus Angst, die Koalition zu sprengen, die Posten zu verlieren und in Opposition für die Verbesserungen der Klasse zu kämpfen. Besonders viel hat das nicht gebracht. Aber gut, man konnte die Umfragewerte auch immer auf den Zustand der Bundespartei schieben.

Candeias redet auch nicht unmittelbar von der Notwendigkeit des Sturzes des Kapitalismus, sondern formuliert nur den alten Gedanken des reformistischen Gradualismus neu, indem er den Sozialismus zur weit entfernten Zukunftsvision erklärt:  „Dazu gehört, eine Perspektive offenzuhalten, die an einem Ende des Kapitalismus arbeitet, an einer solidarischen Gesellschaft“. Dazu gehört die langsame Transformation durch „selbstverständliche Dinge“ wie kostenlose Gesundheitsvorsorge, bezahlbaren Wohnraum oder „demokratische Mitsprache, die etwas bewegt“. Die Bewegung ist – wie schon bei Bernstein – alles, das Ziel ein schöner Trost, also nichts.

Die Partei soll dadurch gerettet werden, dass man inhaltlich weitermacht wie bisher. Aber – und das ist jetzt die „Neuerung“ – es brauche eine disruptive Neugründung. Wem der Begriff jetzt nichts sagt, der/die braucht sich nicht dumm zu fühlen. Vielleicht könnte man auch einfach meinen, dass der Begriff an sich nicht sinnvoll gewählt ist. In der Praxis heißt das laut Candeias ein „umgekehrter Weg von #aufstehen, vergleichbar eher mit Momentum in Großbritannien: Es wird eine Struktur für Aktive, Gewerkschafter*innen und zivilgesellschaftliche Organisationen geschaffen, die nicht Teil der Partei sein wollen (oder können) und sich dennoch in eine verbindliche Unterstützungsstruktur einbringen wollen.“ Denn sobald die „mediale Diskursdynamik“ einsetzt, hat man eh nur zwei Wege: diese Form der Neugründung nach Corbyn oder die Gründung einer neuen Organisation wie Podemos in Spanien. Es geht also nur um einen Imagewechsel, damit man nicht als Verlierer:innen dasteht, wenn Wagenknecht geht. Das ist zwar ein reales Problem, was sich aus der mangelnden Politisierung des Bruchs heraus ergibt, löst aber die Kernprobleme nicht, sondern sorgt allenfalls dafür, dass Aktivist:innen getäuscht und letztlich enttäuscht werden.

Drei Gespenster gehen um

Eine Antwort auf den Beitrag ließ nicht lange auf sich warten. Die wohl bekannteste stammt von Ines Schwerdtner und Michael Brie. Während ihre Kritik an Candeais nur mäßig ist, werfen sie im zweiten Abschnitt ihres Textes zentrale Fragen auf.

Ihr Gegenmodell zur disruptiven Neugründung ist die „konstruktive Erneuerung“. Damit diese erfolgreich ist, müssen ihrer Meinung nach mehrere Fragen diskutiert werden:

„Eine solche konstruktive Erneuerung der Partei DIE LINKE verlangt, dass Richtungsentscheidungen getroffen werden. […] Es geht erstens um Inhalte, zweitens den Politikstil und drittens die Führungsfähigkeit in einer aktiven Mitgliederpartei, es geht um das Was, es geht um das Wie und es geht um das Wer. […] Die erste Entscheidung, die die Partei DIE LINKE treffen muss, ist die nach ihrer Funktion. Was will sie sein: Will sie der soziale Flügel des herrschenden Parteienblocks von Grünen und SPD bis FDP und CDU/CSU sein, oder will sie einen eigenen parteipolitischen Pol einer Politik repräsentieren?“

Diese Feststellungen mögen banal scheinen, doch wer längere Zeit in der Partei oder ihrem Umfeld verbracht hat, weiß, dass das die Fragen sind, die DIE LINKE seit Jahren umtreiben. Ohne klare Aussage zur Regierungsbeteiligung, wer das Subjekt der Veränderung ist, oder zum Verständnis des bürgerlichen Staates kommt es unweigerlich immer wieder zu den Flügelkämpfen, wie oben bereits ausgeführt.

Ebenso der 2. Punkt: „Die zweite Entscheidung betrifft den Typus von Politik. Es geht um das Wie: Soll Politik – und sei es die richtige – verordnet werden oder aus demokratischen Prozessen und der Selbstermächtigung der Betroffenen hervorgehen?“ Kritischer zu sehen ist jedoch die im Anschluss aufgestellte These: „Sozialistische Klassenpolitik bedeutet, die Fragen ausgehend von den Lohnabhängigen zu stellen, ihre Lage, ihre Sichtweisen, ihren Stolz auf die eigene Leistung, ihre Ansprüche auf Selbst- und Mitbestimmung zum Ausgangspunkt zu nehmen. Die Gewerkschaften sind dabei der wichtigste gesellschaftliche Partner. Zugleich ist linke Politik nur dann möglich, wenn sie dazu beiträgt, dass Klimabewegung, Friedensbewegung, feministische, antirassistische und antifaschistische Bewegungen sich aktiv in die sozialen Kämpfe einbringen und sie gemeinsam prägen. Eine wirklich linke Partei ist vor allem der politischen Vertretung der Lohnabhängigen im weitesten Sinne verpflichtet und hat die Aufgabe, dies mit Projekten des solidarischen Umbaus der Gesellschaft mit sozialistischem Ziel zu verbinden. Das ist radikale, transformatorisch orientierte Realpolitik im Sinne von Rosa Luxemburg.“

Auch hier treten zwei Probleme auf: Während es richtig ist, dass es Aufgabe einer revolutionären Organisation ist, zentrale Fragen seitens der Lohnabhängigen aufzuwerfen, muss auch dazu gesagt werden, dass es ihre Aufgabe ist, eine Perspektive zu zeigen, wie die jeweiligen Fragen positiv beantwortet werden können. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass man nicht immer das gegebene Bewusstsein als Ausgangspunkt nehmen kann und auch manchmal Bewegung initiieren muss, wenn es keine gibt. So wäre es beispielsweise notwendig gewesen, während der Coronapandemie nicht nur auf dem Balkon zu stehen und zu klatschen, sondern praktische Initiativen zu setzen wie eine Solidaritätskampagne für bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege, die im Kern aufzeigt, warum Reproduktionsarbeit im Kapitalismus immer schlechter bezahlt wird. Darüber hinaus kann man vieles über Rosa Luxemburg sagen, sie aber als Ausgangspunkt für „radikale, transformatorisch orientierte Realpolitik“ zu nehmen, stellt eine komplette Verkehrung ihrer Theorie und Praxis dar. Dies wird spätestens da ersichtlich, wo man sich ihr Staatsverständnis anschaut, das nicht darauf hindeutet, dass man sich an realpolitischen Fragen dauerhaft abarbeiten sollte. In ihrer Polemik gegen Bernstein bringt Luxemburg bekanntlich das Verhältnis von Reform und Revolution auf den Punkt:

„Die gesetzliche Reform und die Revolution sind also nicht verschiedene Methoden des geschichtlichen Fortschritts, die man in dem Geschichtsbuffet nach Belieben wie heiße Würstchen oder kalte Würstchen auswählen kann, sondern verschiedene Momente in der Entwicklung der Klassengesellschaft, die einander ebenso bedingen und ergänzen, zugleich aber ausschließen, wie z. B. Südpol und  Nordpol, wie Bourgeoisie und Proletariat.

Und zwar ist die jeweilige gesetzliche Verfassung bloß ein Produkt der Revolution. Während die Revolution der politische Schöpfungsakt der Klassengeschichte ist, ist die Gesetzgebung das politische Fortvegetieren der Gesellschaft. Die gesetzliche Reformarbeit hat eben in sich keine eigene, von der Revolution unabhängige Triebkraft, sie bewegt sich in jeder Geschichtsperiode nur auf der Linie und solange, als in ihr der ihr durch die letzte Umwälzung gegebene Fußtritt nachwirkt, oder, konkret gesprochen, nur im Rahmen der durch die letzte Umwälzung in die Welt gesetzten Gesellschaftsform. Das ist eben der Kernpunkt der Frage.“ (Luxemburg, Sozialreform oder Revolution, Luxemburg, Gesammelte Werke 1/1, S. 427f.)

Brie und Schwerdtner hingegen fassen die „Revolution“ letztlich rein reformistisch, als in die Länge gezogene kontinuierliche gesetzliche und soziale Reform auf. Der Klassenkampf zielt nicht auf die revolutionäre Machteroberung der Arbeiter:innenklasse, sondern bildet nur das Druckmittel zur stetigen Reform, die auf wundersame Weise zur Transformation der Gesellschaft führen soll.

So ist es nicht verwunderlich, dass auch der dritte Punkt Bauchschmerzen hervorruft. „Die dritte Entscheidung, die getroffen werden muss, ist die der Herstellung eines strategischen Zentrums, das zugleich die wichtigsten vorhandenen kooperationswilligen Orientierungen in der Partei zusammenführt und in der Lage ist, die oben genannten zwei Aufgaben des Was und Wie überzeugend anzugehen. Es ist diese Aufgabe, die zuerst gelöst werden muss, um endlich überzeugend das Was und Wie linker Politik anzugehen. Es gibt Anzeichen, dass Kräfte in der Linken zunehmend bereit sind, sich dieser Aufgabe gemeinsam zu stellen, doch sie bedingt eine politische Führung, die konstruktiv integrierend agiert.“

Man könnte auch sagen – zuerst brauchen wir eine Führung, dann ergeben sich Strategie und Taktik. Dass diese Auffassung ernsthaft vertreten wird, verweist aber auch darauf, dass die beiden verbliebenen Flügel der Linkspartei – Bewegungslinke und Regierungssozialist:innen – beide fest auf dem Boden des Reformismus stehen, dass beide mit der Formel des „rebellischen Regierens“ einverstanden sind, wobei die Bewegungslinke das Rebellieren, die Ramelows und Lederer das Regieren übernehmen. Die Aufgabe des „strategischen Zentrums“ besteht dann vor allem darin, die Politik der beiden Flügel, Parlamentarismus und Protestbewegung, zu vermitteln.

Reformismus reloaded?

Aus den Debattenbeiträgen zeichnet sich ab: Es gibt ein Bewusstsein, dass die Krise der Linkspartei weit tiefer geht als Sahra Wagenknecht. Zugleich wird jedoch auch deutlich: Weder bei der „disruptiven Neugründung“ noch bei der „konstruktiven Erneuerung“ geht es im eine grundsätzliche Veränderung der Politik der Linkspartei.

Wenn große Worte wie „Arbeiter:innenpartei“ oder „sozialistische Klassenpolitik“ mehr als Phrasen sein wollen, braucht es eine Bilanz der inhaltlichen Orientierung, der programmatischen Grundlagen und Praxis der letzten Jahre. Während Anhänger:innen der vereinenden Flügel mit den Augen rollen werden, so bleiben die Probleme der Linkspartei weiterhin gleich.

Natürlich ist es nicht ausgeschlossen (wenn auch keineswegs gesichert), dass ein reformistischer Neustart eine Zeit lang gelingt und man sich unter einem Label Linke+ vorübergehend retten kann. Doch selbst wenn er DIE LINKE als Partei retten sollte, so werden die Problem, die zu ihrer aktuellen Krise führten, nur in neuer Form wieder auftauchen.

Man sollt sich daher auch nicht der Illusion hingeben, dass Machtkämpfe verschwinden oder Demoralisierung Geschichte wird. Denn was Candeias wie auch Brie und Schwerdtner vorschlagen, ist nur der gleiche Inhalt neu eingekleidet. Ein bisschen radikaler, ein bisschen direkter. Aber wer keine klare Linie aufzeigt, wird sich früher oder später an einem ähnlichen Punkt wiederfinden wie heute, spätestens wenn es darum geht. mitzuregieren oder die Interessen einer Bewegung praktisch zu erkämpfen.

Was ist also die Aufgabe von Revolutionär:innen und Linken innerhalb und außerhalb der Linkspartei?

Erstens muss die aktuelle Debatte mit Inhalten gefüllt werden. Und das heißt, es muss nach der tiefen Existenzkrise der reformistischen Partei grundsätzlich die Frage gestellt werden, welche Partei wir brauchen? Eine reformistische, also auf dem Boden mehr oder weniger „radikaler“ Reformpolitik verbleibende, bürgerliche Partei – oder eine revolutionäre Kampfpartei, deren Ziele die Errichtung der Herrschaft der Arbeiter:innenklasse und die sozialistische Weltrevolution bilden?

Diese Grundsatzfrage müssen sich gerade die Sozialist:innen und Kommunist:innen in um die Partei stellen. Denn auch sie haben in den letzten Jahren keine Politik betrieben, in der Partei den Bruch mit dem Reformismus herbeizuführen, sondern das Elend mehr oder weniger mitverwaltet oder, im Falle von marx21, auch mitgestaltet.

Damit diese Frage nicht bloß auf der Ebene eines Bekenntnisses verbleibt, einer bloßen Überzeugung und Gesinnung, braucht es auch eine Diskussion um ein Aktionsprogramm, das zentrale Fragen des gewerkschaftlichen und betrieblichen Kampfes, der Klima- und Frauenbewegung beantworten kann, aber auch gleichzeitig aufzeigt, wie man dem bürgerlichen Staat und dem Reformismus innerhalb der Arbeiter:innenklasse die Stirn bietet. Vor allem aber muss es eine Brücke von den gegenwärtigen Tageskämpfen zum Kampf für den Sozialismus schlagen.

Um dieses lohnt es sich, in der aktuellen Situation klassenkämpferische Aktivist:innen zu sammeln, die Interesse haben, eine solche Kraft aufzubauen – in dem Wissen, dass man nicht alle anderen mitnehmen kann. Klar, es ist schöner, wenn man größer ist. Es ist bequemer und man kann sich selbst der eigenen Wichtigkeit vergewissern. Doch jene, die auf die Notwendigkeit einer breiten, politisch aber in Grundfragen gespaltenen Linken verweisen, weil man sonst so zersplittert und geschwächt ist, sollten auch beantworten, ob ein sich streitender Haufen, der keine Kämpfe für die Verbesserung der Arbeiter:innenklasse und Unterdrückten praktisch anführt, wirklich so relevant ist, dass man daran festhalten muss. Denn eine andere Welt ist möglich, wenn wir einen Plan haben, wie wir den Kapitalismus zerschlagen können.




Degrowth: Grüne Alternative zum Kapitalismus?

Alex Zora, Infomail 1229, 1. August 2023

Wer sich in den letzten Jahren mit den Themen Klima, Umweltschutz und Nachhaltigkeit auseinandergesetzt hat, wird wahrscheinlich auch irgendwann über das Thema Degrowth (Direktübersetzung: Wachstumsrücknahme bzw. Entwachstum) gestoßen sein. Oft wird auch das Wort Postwachstum für dasselbe Konzept verwendet. Vertreter:innen der Degrowth-Bewegung üben Kritik am Kapitalismus und seinem Wachstumszwang. Sie treten stattdessen für eine Gesellschaft ein, die sozial und ökologisch sein soll. Hört sich erstmal alles ganz vernünftig an, doch kann Degrowth wirklich eine Strategie zu Überwindung von Umweltzerstörung und Kapitalismus sein?

Eine kurze Geschichte

Die Ursprünge der Degrowth-Bewegung liegen Mitte der 1970er Jahre. 1972 publizierte der „Club of Rome“ (im Wesentlichen ein bürgerlicher Think-Tank aus einer Zeit bevor der Begriff Think-Tank populär wurde) „Die Grenzen des Wachstums“. In dieser Systemanalyse, basierend auf Computersimulationen, wurde festgestellt, dass aufgrund begrenzter Ressourcen kein unbegrenztes Wirtschaftswachstum möglich ist: „Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht.“

Der Bericht löste zwar große Debatten aus und ist mit 30 Millionen verkauften Exemplaren weltweit das meistverkaufte ökologische Buch, die Degrowth-Bewegung ist aber eigentlich erst ein Produkt des 21. Jahrhunderts. Wichtigen Input dafür lieferte das 2002 in Lyon gegründete „Institut zur Wirtschafts- und Sozialforschung für nachhaltigen Degrowth“[1], später breitete sich die Bewegung – vor allem im akademischen Bereich – weiter aus. Seit 2008 gibt es internationale Degrowth-Konferenzen, die alle 2 Jahre stattfinden. Heute ist Degrowth bzw. Wachstumskritik wichtiger Bestandteil der meisten Organisationen der Klimabewegung.

Was ist Degrowth?

Innerhalb der Degrowth-Bewegung gibt es sowohl radikale wie gemäßigte Teile. Teile der Grünen in Österreich und Deutschland sind Anhänger:innen des Konzepts, ehemalige Umwelt-Aktivist:innen wie Kathrin Henneberger sind als Degrowth-Anhänger:innen mittlerweile sogar im deutschen Bundestag vertreten, die deutsche Parteistiftung der Grünen war auch Unterstützer:in der Degrowth Konferenz 2014 in Leipzig. Aber auch in Österreich ist Degrowth z.B. in der Grünen Parteiakademie ein wichtiges Thema[2].

Gleichzeitig gibt es auch radikalere Teile, insbesondere die, die auch in der realen Klima(-gerechtigkeits-)bewegung aktiv sind. Teile der Degrowth Bewegung beziehen sich sogar positiv auf den Sozialismus (wie zum Beispiel der griechische Ökonom Giorgis Kallis) bzw. Teile des Ökoszialismus beziehen sich positiv auf Degrowth (wie zum Beispiel Michael Löwy). Eine gesonderte Auseinandersetzung mit den linken Auslegern der Postwachstum-Bewegung wäre mit Sicherheit auch fruchtbar, doch wir werden uns an dieser Stelle vor allem mit dem Mainstream der Degrowth-Bewegung auseinandersetzen.

Das Webportal degrowth.info beschreibt Postwachstum folgendermaßen: „Unter Degrowth oder Postwachstum verstehen wir eine Wirtschaftsweise und Gesellschaftsform, die das Wohlergehen aller zum Ziel hat und die ökologischen Lebensgrundlagen erhält. Dafür ist eine grundlegende Veränderung unserer Lebenswelt und ein umfassender kultureller Wandel notwendig. Das aktuelle wirtschaftliche und gesellschaftliche Leitprinzip lautet „höher, schneller, weiter“ – es bedingt und befördert eine Konkurrenz zwischen allen Menschen. Dies führt zum einen zu Beschleunigung, Überforderung und Ausgrenzung. Zum anderen zerstört die Wirtschaftsweise unsere natürlichen Lebensgrundlagen sowie die Lebensräume von Pflanzen und Tieren. Wir sind der Überzeugung, dass die gemeinsamen Werte einer Postwachstumsgesellschaft Achtsamkeit, Solidarität und Kooperation sein sollten. Die Menschheit muss sich als Teil des planetarischen Ökosystems begreifen. Nur so kann ein selbstbestimmtes Leben in Würde für alle ermöglicht werden. Praktisch gesehen heißt das:

  • Eine Orientierung am guten Leben für alle. […]

  • Eine Verringerung von Produktion und Konsum im globalen Norden, eine Befreiung vom einseitigen westlichen Entwicklungsparadigma und damit die Ermöglichung einer selbstbestimmten Gestaltung von Gesellschaft im globalen Süden.

  • Ein Ausbau demokratischer Entscheidungsformen, um echte politische Teilhabe zu ermöglichen.

  • Soziale Veränderungen und Orientierung an Suffizienz, statt bloßen technologischen Neuerungen und Effizienzsteigerung, um ökologische Probleme zu lösen. Wir betrachten die These von der Möglichkeit der absoluten Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch als historisch widerlegt.

  • Regional verankerte, aber miteinander vernetzte und offene Wirtschaftskreisläufe.  […]“

Ein zentrales Konzept der Degrowth-Bewegung ist die Ablehnung des Bruttoinlandsprodukts (der Summe aller in einem Jahr erzeugten Dienstleistungen und Waren minus aller Vorleistungen) als zentrales Maß gesellschaftlicher Entwicklung. Statt eines fortschreitenden Wirtschaftswachstums soll die Wirtschaft gezielt geschrumpft werden. Ergänzt wird das oft damit, dass insbesondere der Throughput (also die Rate, mit der sich Waren (und Dienstleistungen) durch den Wirtschaftskreislauf bewegen) reduziert werden soll. Damit solle die Kopplung zwischen Wirtschaftswachstum und Treibhausgasausstoß (und Umweltzerstörung) bekämpft werden. Im Kapitalismus ist dieses gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis in den Daten recht klar ersichtlich. Die einzigen Zeitpunkte seit dem Ende des Nachkriegsbooms, zu denen der Ausstoß von Treibhausgasemissionen gegenüber dem jeweiligen Vorjahr relevant gesunken ist, waren 1974 (1. Ölpreiskrise), Anfang der 1980er Jahre (2. Ölpreiskrise), 1992 (Zusammenbruch der UdSSR), 2009 (globale Finanzkrise) und 2020 (Corona-Krise). Die Verknüpfung von wachsender Wirtschaft und wachsender Belastung für die Umwelt sind deshalb – zumindest im heutigen Wirtschaftssystem – sehr eindeutig.

Es gibt durchaus Beispiele einzelner Länder oder Kontinente (z.B. der EU), die es zwar schaffen Wirtschaftswachstum mit sinkenden Treibhausgasemissionen zu verbinden. Hierbei werden aber Auslagerungseffekte (z.B. wird CO2-intensive Produktion aus Europa nach China oder Indien verlagert, die dort hergestellten Produkte aber weiterhin in Europa konsumiert) berücksichtigt. Der zentrale Punkt ist jedoch, ob die Summe (also Einsparung in Land A + Erhöhung in Land B) der Emissionen steigt oder sinkt, was zumindest auf globaler Ebene außerhalb der oben erwähnten Wirtschaftskrisen bisher nicht passiert ist. Das Argument, im Kapitalismus wäre Wirtschaftswachstum mit sinkenden Emissionen vereinbar, ist deshalb zumindest mehr als fraglich. Abseits davon umfasst ökologische Nachhaltigkeit noch um einiges mehr als das Thema Treibhausgase.

Degrowth als Lösung?

Wir können also einige wesentliche Argumente der Degrowth-Bewegung nachvollziehen. Die Feststellung von Teilen der Bewegung, dass Nachhaltigkeit und Kapitalismus unvereinbar sind, teilen wir – auch wenn die Auffassung über das, was den Kapitalismus genau ausmacht, bei der Degrowth-Bewegung mehr als fraglich ist. Aber auch, wenn es einige Übereinstimmungen gibt, bestehen gleichzeitig wesentliche Unterschiede sowohl in der Analyse wie in den vorgeschlagenen Lösungen.

Analytisch ist das Problem bei den meisten Teilen der Degrowth-Bewegung, dass der Kapitalismus als Produktionsweise nicht verstanden wird. Denn sehr oft wird der Fokus der Kritik am Kapitalismus auf dessen Ideologie bezogen. Wachstumsideologie, Konzern-Gier oder kapitalistische Denkweise werden hier zum zentralen Ziel der Kritik. Kultureller Wandel, gesellschaftliches Umdenken und neue Werte stehen als Lösungen im Zentrum. Insbesondere bei den gemäßigten Teilen der Bewegung geht es deshalb in erster Linie darum, das „Wachstumsparadigma“ des Kapitalismus zu überwinden, nicht notwendigerweise um die Überwindung des Kapitalismus selbst. Die radikaleren Teile der Bewegung hingegen sehen die Lösung der Umweltprobleme und eine weitere Existenz des Kapitalismus als unvereinbar an. Doch wie und durch wen so eine Überwindung geschehen soll oder kann, ist dann auch wieder wenig ausformuliert. Meistens hängt man sich am neuen Modewort des linken Reformismus – Transformation – an. Ob damit auch zentrale Konzepte wie gramscianische Hegemonietheorie oder Poulantzas Staatstheorie [3] übernommen werden, bleibt meistens unklar, die Vermutung liegt aber nahe.

Für uns ist an dieser Stelle zentral festzuhalten, dass es zwar durchaus so etwas wie eine Wachstumsideologie im Kapitalismus gibt, aber dass diese ein Ausdruck der ökonomischen Verhältnisse und Zwänge des Kapitalismus selbst ist. Der Kapitalismus ist eine Gesellschaft basierend auf Privateigentum an Produktionsmitteln, Konkurrenz auf einem mehr oder weniger freien Markt und der Produktion für eben diesen Markt in Form von Waren. Unternehmenswachstum (was nichts anderes ist als Anhäufung bzw. Akkumulation von Kapital) ist ein essentieller Bestandteil der kapitalistischen Ökonomie. Wenn ein Unternehmen aufhört zu wachsen und seine Konkurrenz am Markt aber weiterhin gute Wachstumsraten zu verzeichnen hat, dann wird es im Wettbewerb verlieren. Wachstum ist deshalb ein essentieller Bestandteil des Kapitalismus, es erwächst aus dessen ökonomischen Prinzipien und nicht aus irgendwelchen falschen Denkweisen oder Paradigmen.

Postwachstumsgesellschaft

Erklärtes Ziel der Degrowth-Bewegung ist der Aufbau einer Postwachstumsgesellschaft als Alternative zu unserem aktuellen Wirtschaftssystem. Über die Frage, wie weitreichend diese Transformation sein muss – also ob es reicht, lenkend in die Marktwirtschaft einzugreifen und das Denken der Menschen zu ändern, oder ob das ganze kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem auf dem Misthaufen der Geschichte landen soll – besteht auch in der Degrowth-Bewegung keine Einigkeit.

Auch die zentrale Frage, was die Grundpfeiler einer Postwachstumsgesellschaft sein sollen, bleiben zumeist sehr vage beantwortet. Echte Demokratie, Nachhaltigkeit, gesundes Schrumpfen und viele andere werden als zentrale Werte einer Postwachstumsgesellschaft proklamiert, doch WIE eine Gesellschaft organisiert sein kann, die solche Werte umsetzen kann, wird nicht beantwortet. Solange keine Brücke geschlagen wird zwischen den materiellen Grundlagen sowie der gesellschaftlichen Organisation von Politik und Ökonomie auf der einen Seite und den angestrebten Werten auf der anderen Seite, bleibt Degrowth utopistisches Wunschdenken. Wie bei den utopischen Sozialist:innen des 19. Jahrhunderts fehlt die Verbindung zwischen Ideen für eine neue Gesellschaft, den materiellen Verhältnissen der heutigen Gesellschaft und der sich daraus ergebenden Möglichkeiten dafür, wie eine neue Gesellschaft organisiert sein kann. Die Fragen, wie produziert wird und wer darüber bestimmt, welche Eigentumsverhältnisse und welche Organisation von Produktion und Verteilung es braucht, wird außerhalb eines kleines Teils der Degrowth-Bewegung mit explizit sozialistischem Anspruch nicht beantwortet.

Unserer Ansicht nach liegt der Schlüssel zur Überwindung des Kapitalismus in den widersprüchlichen Interessen der Klassengesellschaft. Um Waren zu produzieren und Gewinne zu realisieren, benötigt der Kapitalismus eine globale Klasse von Arbeiter:innen. Diese Arbeiter:innenklasse (darunter fallen überausgebeutete Näher:innen in Bangladesch genauso wie IT-Programmierer:innen mit Studienabschluss in Japan) hat die ökonomische Macht und das grundsätzliche Interesse, dieses System zu überwinden und die Grundlage für eine Gesellschaft ohne Ausbeutung (sowohl von Mensch als auch Natur) und Unterdrückung zu legen.

Wachstumskritik und Kapitalismus

Wie weiter oben schon erwähnt, ist unserer Meinung nach ein grüner Kapitalismus nicht möglich. Solange das Motiv der Wirtschaft die Maximierung von Profit ist und die Entscheidungsmacht bei einzelnen Unternehmer:innen, Aufsichtsräten und CEOs liegt, wird der Kapitalismus weiterhin Mensch und Natur ausbeuten. Sie tun das nicht aus Böswilligkeit, Gier oder Unwissenheit, sondern wegen der Gesetze des Marktes, der Konkurrenz und der sich daraus ergebenden Notwendigkeit zur Profitmaximierung. Doch die Kritik der Degrowth-Bewegung richtet sich ja nicht gegen kapitalistisches Wachstum, sondern gegen jegliches Wirtschaftswachstum an sich.

Grundsätzlich sehen wir auch die Möglichkeit und Notwendigkeit, wesentliche Teile der kapitalistischen Ökonomie zu schrumpfen bzw. gänzlich abzuschaffen. In einer globalen, nachkapitalistischen Gesellschaft gäbe es keine Notwendigkeit mehr für eine Rüstungsindustrie und die Produktion von Luxusgütern; nahezu die gesamte Finanzbranche könnte ersatzlos gestrichen werden; weite Teile der Wirtschaft, die heute auf Werbung und Marketing ausgerichtet sind, würden entfallen; gesellschaftliche Ausgaben für Repression, Justiz und Strafvollzug würden massiv abnehmen; schnell verschleißende Billigproduktion könnte durch qualitativ hochwertige und langlebige Erzeugnisse ersetzt werden. Darüber hinaus gibt es bestimmt noch viele andere Branchen, in denen aktuell unnötig Ressourcen und Güter verschwendet werden.

Gleichzeitig gibt es Branchen, die massiv ausgebaut werden müssten. Große Teile der Welt brauchen einen massiven Ausbau der Infrastruktur; Sozial-, Bildungs- und Gesundheitssysteme werden massiv ausgeweitet werden müssen. Und viele Probleme, die der Kapitalismus verursacht hat, erfordern auch nach Überwindung des Kapitalismus massive gesellschaftliche Ressourcen (z.B. wird die globale Verschmutzung insbesondere durch Mikroplastik nicht verschwinden, nur weil der Kapitalismus aufhört zu existieren).

Insgesamt ist es deshalb allein aus dieser Perspektive unklar, ob die vielfältigen Probleme des Kapitalismus eine schrumpfende oder eine wachsende Wirtschaft erfordern. Von Degrowth-Seite wird der kapitalistische Zwang zum Wachstum mit dem Zwang zum Schrumpfen beantwortet, der Fokus liegt damit nicht direkt, sondern nur indirekt auf Nachhaltigkeit und Ökologie. Statt sich anzusehen, wie die Wirtschaft demokratisch gestaltet und geplant werden kann, um die sozialen und ökologischen Probleme des Kapitalismus zu lösen, wird ein negatives Vorzeichen vor die ökonomischen Gesetze des Kapitalismus gesetzt. Nicht gesehen wird, dass mit einer Überwindung des Kapitalismus auch die blinden Kräfte des Marktes überwunden werden können.

Gleichzeitig ist dabei auch eine grundlegende Betrachtung dessen wesentlich, wie menschliche Arbeit und Produktion funktionieren. Alles, was heute an Infrastruktur, Wissen, Produktionsstätten, etc. existiert, ist das angehäufte Produkt von Jahrtausenden menschlicher Arbeit. Weil Menschen nicht ausschließlich alles, was produziert wurde, auch wieder unmittelbar konsumierten, konnte eine Entwicklung in Gang gesetzt werden, die es erlaubte, die Produktivkräfte massiv auszubauen. Es muss nicht mehr wie früher der Großteil der Gesellschaft an der unmittelbaren Produktion von Lebensmitteln beschäftigt sein. Die Gesellschaft, in der wir heute leben, lässt zwar hunderte Millionen Menschen in Armut, Hunger und ohne sauberes Trinkwasser leben, doch die materiellen Möglichkeiten sind geschaffen worden für ein gutes Leben für mittlerweile 8 Milliarden Menschen (wenn es nicht so etwas wie das Privateigentum an Produktionsmitteln gäbe).

Wenn wir deshalb zukünftigen Generationen ein fortschreitendes Maß an individueller und kollektiver Freiheit geben wollen, die Arbeitszeit nicht bei X Stunden pro Tag einfrieren, sondern nach und nach weiter reduzieren möchten und der Menschheit als Ganzes insgesamt mehr kollektive und individuelle Möglichkeiten geben wollen, dann braucht es eine Anhäufung von menschlicher Arbeit. Das ist natürlich nicht beschränkt auf unmittelbar materielle Güter (z.B. automatisierte Produktionsstätten und Supercomputer), sondern hat genauso eine wissenschaftlich-technisch-strategische Komponente. Beispielsweise hat die Frage, wie eine Gesellschaft ihr Gesundheitssystem so aufbauen kann, sodass Vorsorge und Prävention in einem optimalen Verhältnis zu Behandlung und Therapie stehen, einen bedeutenden Einfluss auf die Möglichkeit, die Produktivkräfte massiv zu steigern, ohne gleichzeitig unmittelbar auf abzubauende oder zu verheizende Ressourcen angewiesen zu sein. Eine sozialistische Akkumulation[4] müsste keineswegs nur eine quantitative Anhäufung von immer mehr und mehr materiellen Gütern, Maschinen und Co. bedeuteten, sondern kann auch eine qualitative Weiterentwicklung der Produktivkräfte bedeuten (wie zum Beispiel die Ersetzung von Glühbirnen durch LEDs; den massiven Ausbau des globalen Bildungssystems oder die alleine durch Abschaffung von Patenten ausgehenden Möglichkeiten von kollektiver Arbeit).

Unbegrenztes Wachstum und begrenzte Ressourcen?

Von Vertreter:innen der Degrowth-Bewegung wird gerne eines der ursprünglichen Probleme angeführt, das den Club of Rome dazu brachte „Die Grenzen des Wachstums“ herauszugeben. Wie funktioniert exponentielles Wirtschaftswachstum in einer Welt mit begrenzten Ressourcen. Und in der kapitalistischen Produktionsweise ist das eine mehr als berechtigte Frage, sind hier doch die Möglichkeiten rational in die Wirtschaft einzugreifen stark limitiert. Selbst dort, wo eingegriffen wird (z.B. durch eine CO2-Steuer, Subventionen für PV-Anlagen oder Förderungen für den öffentlichen Verkehr), passiert das in den meisten Fällen vermittelt über Marktanreize. Die Entscheidungen, was und wie produziert wird, werden von einer kleinen Klasse an Kapitalist:innen mit Hinblick auf Wettbewerb und Profitlogik getroffen.

Dabei muss eine Steigerung von Effizienz und Produktivität nicht unbedingt aus einem immer größeren Verbrauch von materiellen Ressourcen erwachsen. Zum Beispiel die hat die Einführung von Schrift vor vielen tausend Jahren unmittelbar sehr wenig materielle Ressourcen erfordert (abgesehen von Tontafeln und Papyrusrollen), doch die dadurch ermöglichten Fortschritte in Produktivität und Wissen(saustausch) waren enorm. Gleichzeitig gibt es rein technisch gesehen schon recht viele Möglichkeiten zum Recyceln im großen Stil. Doch solange die Entscheidung, ob die Förderung von Kobalt durch Kinderarbeit im Kongo oder durch das Recyceln von alten Batterien passiert, vom Preis der Produktion abhängt, wird sich an der Ausbeutung von Mensch und Natur wenig ändern. Wenn diese Entscheidung aber demokratisch von der Gesellschaft und nicht von der Klasse der Besitzenden getroffen wird, kann diese sich auch dafür entscheiden nachhaltig zu handeln, auch wenn das unmittelbaren Profitbetrachtungen im Weg stehen würde.

Demokratische Planwirtschaft

Die heutigen massiven Probleme, vor denen die menschliche Zivilisation steht, sind vielfältig. Nicht nur der in den Medien extrem präsente Klimawandel ist ein Problem für unsere Gesellschaft. In den letzten Jahrzehnten ist auch der globale Stoffwechsel massiv in Mitleidenschaft gezogen worden. Stickstoff- und Phosphorkreislauf sind hoch gefährdet, die Übernutzung von Boden und die Vernichtung von Biodiversität erreichen mittlerweile gefährliche Ausmaße. Insgesamt bedroht der Kapitalismus unmittelbar die Zukunft unseres Planeten.

Die Lösung dafür besteht, wie auch schon weiter oben erwähnt, nicht in einer Ökologisierung des Kapitalismus (nach Bild eines Green New Deal), in mehr Marktanreizen für grünere Produktion (etwa CO2-Steuer oder Emissionszertifikatshandel), sondern letztlich müssen wir als Gesellschaft direkt darin eingreifen können, was wie produziert wird. In einem System, in dem diese Entscheidungen privatisiert sind und das Recht auf Eigentum an Produktionsmitteln demokratische Entscheidungen darüber verhindert, gewinnt Profitorientierung immer über Nachhaltigkeit.

Stattdessen braucht es eine Organisation der Wirtschaft, in der demokratisch und rational entschieden werden kann was wie produziert wird – auch wenn das nicht unmittelbare Profite produziert. Es braucht außerdem eine globale Abstimmung und Arbeitsteilung über Produktion und Verteilung. Damit kann auch gewährleistet werden, dass die aufgrund imperialistischer Interessen gezielt unterentwickelt gehaltenen Länder des globalen Südens auf dasselbe Level von Produktivität und kollektiven Wohlstand kommen können. Für all das ist es sekundär, ob die Wirtschaft wächst oder schrumpft. Das zentrale Element ist die schnellstmögliche Reduktion von Treibhausgasemissionen, die Umstellung auf eine nachhaltige Landwirtschaft und so gut wie möglich die Lösung der ökologischen Probleme des Kapitalismus. Entscheidungen können nach modernsten wissenschaftlichen Erkenntnissen rational von der Mehrheit der Gesellschaft getroffen werden. All das bedeutet nicht, dass das auch automatisch alles von allein passieren wird, aber eine demokratische Planwirtschaft ist die Voraussetzung dafür, dass solche Entscheidungen überhaupt erst getroffen werden können.

Um zu einer demokratischen Planwirtschaft zu gelangen, die sich bewusst und deutlich von den bürokratischen Planwirtschaften des Stalinismus abgrenzen muss, braucht es die Vergesellschaftung von Produktion und Verteilung. Die Arbeiter:innenklasse muss die Macht in den Betrieben übernehmen und sie in gesellschaftliches Eigentum überführen. Auf verallgemeinerter Ebene (und nicht nur in isolierten Hochburgen inmitten des kapitalistischen Marktes) kann das nur durch die Übernahme der Staatsmacht durch die Arbeiter:innenklasse gelingen. Der bürgerliche Staat kann aber nicht übernommen oder transformiert werden, er muss zerschlagen und durch eigene Organe der proletarischen Gegenmacht (Räte) ersetzt werden. So ein Programm mag sich sehr entfernt anhören, doch eine langsame Transformation des Kapitalismus in einer sozial-ökologischen Wende ist nicht nur noch viel weiter weg, sondern letztlich auch eine gefährliche Illusion.

Endnoten

[1] Institut d’Etudes. Economiques et Sociales pour la Décroissance Soutenable, http://www.decroissance.org/

[2] https://wien.gbw.at/artikelansicht/beitrag/gruenes-wachstum-im-wandel/

[3] Für eine ausführliche Kritik am Konzept der Transformationstheorie siehe „Modell Oktoberrevolution – Aktualität und Diskussion der bolschewistischen Revolutionskonzeption“ in Revolutionärer Marxismus Nr. 49

[4] Sie hierzu auch Die Neue Ökonomik von Jewgeni Preobraschenski




Nach dem Parteitag: Die Agonie der Linkspartei

Jaqueline Katharina Singh, Neue International 266, Juli/August 2022

Am Wochenende des 25./26. Juni tagten die G7 auf Schloss Elmau bei Garmisch-Partenkirchen im Zeichen von Ukrainekrieg und ökonomischer Krise. Zeitgleich wurde in Erfurt versucht, eine ganz andere Art der Krise einzudämmen – auf der Tagung des 8. Bundesparteitages der Linkspartei.

Allein die Tatsache, dass sich DIE LINKE schon vor Monaten entschlossen hatte, die eigene Veranstaltung auf dieses Wochenende zu legen, spricht Bände über die Prioritätensetzung einer Organisation, die sich nach wie vor gern als Bewegungs- und Friedenspartei geriert. Doch warum sollte ausgerechnet eine, dem Anspruch nach sozialistische Oppositionspartei der Mobilisierung gegen die imperialistischen Ausbeuter:innen dieser Welt und die „eigene“ Regierung Priorität zumessen?

Angesichts des Krisenzustandes der Partei, des katastrophalen Wahlergebnisses bei der Bundestagswahl und des Rücktritts des Parteivorstandes im Zusammenhang mit #linkemetoo hat man schließlich Wichtigeres zu tun. Die Terminfestlegung symbolisiert gewissermaßen den Zustand einer Partei, für die es kein Problem gewesen wäre, die eigene Tagung um eine Woche zu verschieben.

Doch wer sich vom Wochenende richtungweisende Entscheidungen, ein politisches Kräftemessen der Flügel oder wenigstens eine klärende Auseinandersetzung erwartet hatte, wurde enttäuscht. Die Konfrontation, die zumindest in etlichen Artikeln vor der Tagung durchklang, fand nicht oder allenfalls schemenhaft statt. Letztlich blieb die inhaltliche Debatte aus, oder um es mit den Worten von Thies Gleiss zu beschreiben: „Mit der bekannten durchgestylten, synthetischen und immer furchtbar übertrieben wirkenden Inszenierung des Profiparteitagorganisationsstabes der LINKEN fand am letzten Juni-Wochenende in Erfurt die ‚1. Tagung des 8. Parteitages’ statt. Wie immer war es teuer, unauthentisch und langweilig.“

Was hätte es gebraucht?

Statt der gespielter Einigkeit zwischen den Flügeln, dass es nach außen nicht einen weiteren Eklat braucht, hätte die inhaltliche Klärung in den Vordergrund gerückt werden müssen. Die SAV schreibt dazu: „Auf dem Parteitag waren aber nur zwei Stunden für eine Generaldebatte vorgesehen, und eine Stunde für eine Diskussion zum Kampf gegen patriarchale Machtstrukturen, Gewalt und Sexismus. Dass diese Zeit nicht ausreichen würde, hätte klar sein müssen. Über 70 Beiträge kamen in der Generaldebatte nicht zu Wort. Stattdessen nahmen Grußworte, Einspieler, Promi-Reden und Abstimmungsprozeduren großen Raum ein – in Anbetracht der Erwartungen an den Krisenparteitag eine unglückliche Parteitagsregie.“

Stattdessen hätte es in der Tagesordnung die bewusste Möglichkeit für die Delegierten geben sollen, die inhaltlichen Differenzen in Debatten und Anträgen offen auszudiskutieren. Warum? Ein Überspielen dieser Differenzen lässt sie nicht verschwinden.

Vielmehr ist der „Pluralismus“ der Partei eben einer der Gründe, warum das Außenbild so zerrüttet erscheint. Mit bloßen Ermahnungen oder erzwungener Nettigkeit können die Probleme nicht gelöst werden, da sie ihren Ursprung selten in der Form, sondern im Inhalt tragen. Stattdessen entschied sich der alte Parteivorstand, dessen Mehrheiten im neuen faktisch fortbestehen, die Krise der Linkspartei weiter zu verwalten.

Ursache der Krise

Was in den Medien als ewig währender Kleinkrieg zwischen Wagenknecht und dem Rest der Partei dargestellt wird, ist in der Realität facettenreicher. Dennoch kann man den Kern des Konfliktes recht gut zusammenfassen. So lautet die Hauptfrage letzten Endes, was Sozialismus ist und wie man dahin kommt, wobei insbesondere die Rolle des bürgerlichen Staates eine tragende Rolle spielt. Dabei kann man im Groben drei Flügel ausmachen: Während der der Regierungssozialist:innen wie beispielsweise um Bodo Ramelow zwar verbal ab und zu den demokratischen Sozialismus erwähnt, besteht seine Politik in nichts anderem als einer linken Spielart der Sozialdemokratie. Offen und praktisch strebt er die Beteiligung an bürgerlichen Regierungen an – und letztlich, ohne Widerstand von einem anderen Flügel in der Partei erwarten zum müssen.

Die linkspopulistische Strömung um Sahra Wagenknecht hat gegen Regierungsbeteiligungen grundsätzlich nichts einzuwenden. Allenfalls wirft sie Ramelow und Co. vor, sich zu billig zu verkaufen. Sie versucht, sich als letzte Bastion der „Friedenspolitik“ der Linkspartei und als Anwältin der Lohnabhängigen und ihrer sozialen Nöte in Stellung zu bringen, was jedoch am national-zentrierten und sozial-chauvinistischen Charakter dieser Politik nichts ändert.

Als dritter Flügel hat sich in den letzten Jahren die sog. Bewegungslinke in Stellung gebracht, die im alten wie neuen Vorstand die meisten Mitglieder stellt.

Sie reklamiert für sich gern eine grundlegende Kritik an der faktischen Schwerpunktsetzung auf parlamentarische Arbeit, inklusive der in regionalen und kommunalen Vertretungen. Dieser bürgerlichen Realpolitik möchte sie eine andere entgegenstellen, die auf Mobilisierungen und Arbeit in sozialen Bewegungen setzt. Mehr als andere Strömungen beschwört sie auch das sozialistische Ziel – freilich nicht im Sinn einer Übergangsprogrammatik, sondern vielmehr als ein von der realen Arbeit DER LINKEN in Gestalt von Abgeordneten, Gewerkschafter:innen, Aktiven in sozialen Bewegungen losgelöstes in der Ferne.

Aber selbst die meisten Sprecher:innen der Bewegungslinken sehen darin kein Problem, weil auch für sie der „Sozialismus“ nur eine Vision darstellt, die erst in ferner Zukunft Realität werden kann. Derweil ist „Transformationsstrategie“ angesagt, also die mehr oder minder pragmatische Kombination von Regierungsbeteiligungen und Bewegungsaktivismus.

Was alle Flügel eint

Dass es ihr bei aller Beschwörung eines letztlich mehr moralisch verstandenen „Sozialismus“ nie um eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft ging, gehört zum Gründungskonsens der Partei. Ganz wie die Sozialdemokratie oder der Labourismus verstand und versteht sie ihre Aufgabe in der „Reform“ des Kapitalismus, die über zahlreiche Fortschritte und Rückschläge nach einem langwierigen, im Kern aber graduellen Transformationsprozess zum Sozialismus führen soll.

Dieses Konzept ist, wie Geschichte und Degeneration der Sozialdemokratie verdeutlichen, historisch gescheitert und theoretisch vom Marxismus längst widerlegt. Das sozialistische Endziel der „Transformation“ dient natürlich auch nicht als reales, sondern vor allem als ideologische Beschwörungsformel, als utopische Begleitmusik zu den Niederungen der „Realpolitik“.

Wer jedoch ablehnt, die Herrschaft des Kapitalismus durch eine Revolution zu brechen, wer von der Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates und seiner Ersetzung durch die Herrschaft der Arbeiter:innenräte nichts wissen will, der/die ist letztlich gezwungen, auf den bürgerlichen Staat als Instrument der Veränderung zu setzen. Unter dieser Voraussetzung sind Beteiligungen an bürgerlichen Regierungen notwendig, ja folgerichtig. Offen bleibt nur, ob der Kurs auf Rot-Grün-Rot aktuell oder erst zu einem „günstigeren“ Zeitpunkt opportun erscheint.

Innerhalb dieses Rahmens werden die Machtkämpfe der Partei ausgetragen. Dass sie aktuell so scharf ausfallen, hängt freilich damit zusammen, dass DIE LINKE selbst im bürgerlichen Spektrum zur Zeit wenig reüssieren kann und fraglich ist, wozu eine linkssozialdemokratische Partei neben dem SPD-Original überhaupt gebraucht wird. Da dies aber nicht in die Debatte des Parteitages einfloss, führt uns das zur Frage: Was wurde dann besprochen und beschlossen? Bevor wir auf die personellen Entscheidungen zu sprechen kommen, widmen wir uns den inhaltlichen Debatten.

Für oder gegen die NATO?

Zwar bemühte sich die bürgerliche Presse vorab, das Bild der Linkspartei als Putinversteherin zu zeichnen und auch, wenn es davon Mitglieder in der Partei geben mag, stellen sie nur einen marginalen Teil dar. Der Leitantrag 3 „Keine Aufrüstung, kein Krieg“ des Parteivorstandes bezüglich des Ukrainekrieges stellt dies ebenfalls mehr als deutlich klar. Dafür liegt eine andere Stolperschnur: die Rolle des westlichen Imperialismus und die Positionierung bezüglich der NATO. Im Antrag wird die Vorgeschichte des Krieges ausblendet, die NATO-Kritik fällt recht handzahm aus. Klare Forderungen, dass es keine NATO-Interventionen geben darf, oder gar Kritik an deren Plänen zur Osterweiterung sind nicht enthalten.

Eine Alternative dazu stellte der Ersatzantrag des linken Lagers dar, der scheinbar unter der Federführung von marx21, aber auch Mitarbeit der AKL stand und von Landesvorständen in Hessen und NRW sowie von einigen Kreisverbänden und vielen Delegierten unterstützt wurde.

In ihm heißt es: „Dieser Krieg ist nicht nur ein Krieg Russlands gegen die Ukraine, er ist auch ein Krieg um die Ukraine, nämlich ein Machtkampf zwischen der NATO (der EU und USA) auf der einen und Russland auf der anderen Seite.“ Der Antrag sprach sich zudem gegen einen Wirtschaftskrieg aus (in gesamter Länge hier nachzulesen: https://linke-gegen-krieg.de/).

Trotz breiten Bündnisses der linken Kräfte scheiterte der Ersetzungsantrag, bekam aber respektable 43 % der Delegiertenstimmen. Der Parteivorstand sah sich offenbar sogar gezwungen, die Parteilinke Wissler vorzuschicken, um den Leitantrag inhaltlich zu verteidigen und eine Mehrheit für den linken Antrag zu verhindern.

Weitere Anträge, die die Positionierung weiter in Richtung Waffenlieferungen oder gar Pro-NATO verschieben sollten, wurden ebenso abgelehnt wie solche, die Sanktionen insgesamt ablehnten wie beispielsweise der Antrag eines Sol-Mitgliedes aus Bad Cannstatt.

Auffällig dabei ist, dass der Jugendverband den rechten Flügel des Parteitags stellte und beispielsweise zu den Kräften gehörte, die gerne per se für Sanktionen und Waffenlieferungen wären.

Doch warum gibt es überhaupt die Debatte? Dieser Konflikt – und die Art, wie er ausgetragen wird – ist nur ein anderer Ausdruck der Krise der Linkspartei. Weil die Stimmen der Regierungssozialist:innen bereits vor dem Ukrainekrieg ihre NATO-Solidarität festgeschrieben hatten, da dies für mögliche Koalitionen auf Bundesebene notwendig wäre, zeigt sich auch hieran, wie fehlende Analyse und gemeinsame Methodik sich negativ auswirken können. Zwar lehnt DIE LINKE Waffenlieferungen und Kriegseinsätze ab, aber sie vermag den imperialistischen Charakter der deutschen und westlichen Politik nicht zu erkennen. Dennoch stellen die 43 % für den linken Antrag einen, wenn auch den einzigen Erfolg der Linken auf dem Parteitag dar und einen Ansatz, eine Opposition in der Partei um eine zentrale politische Frage herum zu formieren.

#linkemetoo

Einen anderen inhaltlicher Schwerpunkt stellte die Debatte zu #linkemetoo dar. Obwohl Gregor Gysi seine Redezeit nutzte, um geschlechtsinklusive Sprache zu kritisieren und es nach Wisslers Wahl zu empörten Ausrufen kam, wurde jedoch der Antrag „Den Grundkonsens erneuern. Für eine feministische LINKE“ angenommen. Inhaltlich setzt dieser positive Noten: Die sexualisierte Gewalt innerhalb der Linkspartei wird als Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse begriffen. Das sei aber keine Entschuldigung, diese zu ignorieren, sondern bedeute, dass es Strukturen für den Umgang damit brauche – und diese zu schaffen, sei nicht nur Aufgabe von FLINTAs.

Was wohl eine Schwierigkeit ausmachen wird, ist die angedeutete Debatte bezüglich der Definitionsmacht. In dem Antrag selbst wird sich positiv auf die Unschuldsvermutung bezogen, eine klare Ablehnung der Definitionsmacht erfolgt im Umkehrschluss daraus jedoch leider nicht und wäre wohl hitziger diskutiert worden.

Schade an dieser Debatte insgesamt ist, dass sich die Linke zwar als Spiegel der Gesellschaft begreift, aber nicht die Konsequenzen daraus zieht, für gesamtgesellschaftliche Verbesserungen zu kämpfen. Die Neuerungen innerhalb der Partei, die Erarbeitung von Richtlinien und Sensibilisierung sind richtig und wichtig. Eine reale Verbesserung für Betroffene kann es aber nur geben, wenn z. B. fortschrittliche Reformen des Sexualstrafrechts erkämpft, Betroffene finanziell unterstützt werden oder die Möglichkeit zur Meldung von Übergriffen massiv vereinfacht wird. Zu unseren Vorschlägen siehe: https://arbeiterinnenmacht.de/2022/04/18/linkemetoo-aus-den-fehlern-lernen/.

Personalfragen

Insgesamt fokussierte sich die Partei auf Personalfragen. Als Vorsitzende wurde das Tandem aus Janine Wissler und Martin Schirdewan gewählt, also eine Neuauflage des letzten Vorsitzes mit Schirdewan statt Hennig-Wellsow. Die Kandidat:innen, die dem Wagenknecht-Flügel zugeschrieben wurden, haben je rund ein Drittel der Stimmen bekommen. Aber in der Wahl zum Parteivorstand konnten sie sich nicht durchsetzen.

Der Parteivorstand selbst wurde von 44 auf 26 Mitglieder verkleinert. Hier kritisiert die AKL zu Recht, dass es erneut keine Entscheidung gab, Ämter und Mandate zu trennen oder eine Kontrolle dieser Funktionen einzuführen. Die aktuelle Entwicklung wird eher als weitere Zentralisierung beschrieben. So schreibt sie: „Vor allem aber haben nun die Berufspolitiker*innen und Parlamentsfraktionen die Macht annähernd vollständig übernommen. Von den acht direkt gewählten geschäftsführenden Vorstandsmitgliedern sind vier hauptberufliche Abgeordnete, zwei qua Amt Angestellte der Partei, ein Abgeordneten-Mitarbeiter und eine Gewerkschafts-Hauptamtliche. Im 18-köpfigen Restvorstand sind jeweils drei Abgeordnete, Mitarbeiter*innen bei Abgeordneten, bezahlt durch RL-Stiftung oder politische Initiativen sowie Gewerkschaftshauptamtliche, ein Beschäftigter bei der Partei. Dazu kommen zwei Studierende, eine Journalistin und ein Polizist im höheren Dienst.“

Allein das illustriert, dass die Partei fest im Griff einer Bürokratie steckt – und daran stößt sich bezeichnenderweise keiner der drei großen Flügel.

Ähnlich wie beim letzten Parteitag mischt die Bewegungslinke (BL) zahlenmäßig im Vorstand gut mit. Wer das anfangs noch als Linksverschiebung hätte deuten können, ist nach dieser Periode wohl vorsichtiger in der Bewertung. 11 Mitglieder im 26-köpfigen Vorstand werden ihr zugerechnet. Die zweitgrößte Gruppierung stellen die Regierungssozialist:innen, deren Ziel natürlich darin liegt, R2G zur Realität werden zu lassen. Zur zu erwartenden Praxis schreibt die AKL: „Das sind keine guten Ausgangsbedingungen, um die Krise der Partei zu lösen. Bereits nach den letzten Vorstandswahlen hatte die ‚Bewegungslinke’ eine Mehrheit im Parteivorstand, die sie aber in allen wichtigen Entscheidungen nicht nutzte, sondern regelmäßig vor der Fraktion und dem dort dominierenden ‚Hufeisen’ zurückruderte. In nur wenigen Monaten zerlegte sich diese Parteivorstandsmehrheit. Es steht zu fürchten, dass sich das wiederholt.“

Was sagen die Zentrist:innen?

Während sich marx21 bereits vor dem Parteitag mit Optimismus nicht zurückhalten konnte, sieht es bei SAV und Sol anders aus. Beide Gruppen bewerten den Parteitag mit gemischten Gefühlen und halten fest, dass der versprochene Krisenparteitag ausblieb, um „Weiter so!“ zu verfahren, was der Partei letztendlich schadet. Die Konsequenzen bleiben jedoch schwammig. So setzt die SAV weiter Hoffnungen in die Bewegungslinke und schreibt: „Wenn die Bewegungslinke für eine Partei kämpft, die sich auf Bewegungen orientiert, ihr politischer Ausdruck sein kann, mit dabei hilft, die Arbeiter*innenbewegung aufzubauen, sich auf die kommenden Proteste gegen steigende Lebenskosten, die Klimakrise, noch mehr zwischen-imperialistische Kriege vorbereitet, und darin für eine sozialistische Gesellschaftsalternative kämpft, kann die vereinte Parteilinke DIE LINKE noch retten. Die Bewegungslinke muss dafür allerdings ihre Hasenfüßigkeit gegenüber den Reformer*innen ablegen.“

Das klingt zwar schön. Doch nicht nur das Verhalten der Bewegungslinken seit ihrer Gründung hat gezeigt, dass die Mitglieder zwar motiviert sein mögen und einzelne inhaltlich gute Forderungen aufwerfen, aber in zentralen Fragen einknicken – und zwar nicht nur wegen persönlich-pragmatischen Opportunismus‘, sondern auch, weil es der inneren Logik der sog. Transformationsstrategie, also der strategischen Ausrichtung dieser Strömung entspricht.

Um Druck auf die Bewegungslinken aufzubauen, reichen Vorschläge für gemeinsame Aktionen nicht – es bedarf auch einer Kritik ihrer grundlegenden, reformistischen Strategie, um die Notwendigkeit eines Bruchs mit dieser Spielart des Reformismus deutlich zu machen.

Die Sol hält sich fast noch bedeckter, wenn sie in einem Auswertungsartikel schlussfolgert: „Sol-Mitglieder haben auf dem Parteitag als Delegierte für konsequente sozialistische Positionen gestritten. Wir konnten 61 Zeitungen verkaufen und für mehrere hundert Euro Literatur des Manifest-Verlags verkaufen. Eine Reihe von Parteimitgliedern wollen mit der Sol die Diskussion darüber fortsetzen, wie es mit der LINKEN weitergehen kann und wie eine starke sozialistische Kraft in der Bundesrepublik aufgebaut werden kann.“

Schön für die Sol. Ein Konzept zum Kampf für eine revolutionäre Position ist das aber nicht.

Zusammengefasst heißt das: marx21 will beim Postenschacher nicht außen vor bleiben, ignoriert die Rechtsentwicklung der Partei und setzt weiter auf die Bewegungslinke und das Prinzip Hoffnung. Von der Krise wird zwar gesprochen, gleichzeitig aber jeder kleinster Gewinn als Schritt Richtung Sozialismus gefeiert.

Die anderen Kräfte sind an dieser Stelle realistischer in ihrer Einschätzung, aber vage und unzulänglich bezüglich der Konsequenzen.

DIE LINKE und der Kampf für revolutionäre Politik

Der Parteitag verdeutlicht einmal mehr, dass sich die Linkspartei in einer Existenzkrise befindet – egal, ob nun die „populäre Linke“ um Sahra Wagenknecht austritt oder nicht. Es mag der Krise nur eine andere, schockartige Form verleihen. Ansonsten geht einfach das politische Siechtum weiter, bei dem ein Teil der Linken auf der Straße sein mag, die anderen eben in den Parlamenten und nicht so wenige an Regierungen oder Kommunalverwaltungen zu finden sind.

Grundsätzlich müssen wir aber festhalten: Wer denkt, dass aus der Linken noch eine sozialistische Arbeiter:innenpartei wird, die diesen Namen verdient, kann auch auf eine parallele Sonnen- und Mondfinsternis warten. Falls revolutionäre Linke in oder außerhalb der Linkspartei mehr erreichen wollen, als einzelne Mitglieder für sich zu gewinnen, sondern die Krise der Partei zu nutzen anstreben zwecks Formierung einer größeren politischen Kraft, die unzufriedene, klassenkämpferische, antiimperialistische Mitglieder sammelt und politisch formiert, steht sie vor mehreren miteinander verbunden Aufgaben.

1. Die kämpferischen Elemente müssen um konkrete Kampagnen aktiv formiert werden

43 % für den linken Antrag gegen den Krieg zeigen, dass es in der Linkspartei hunderte, wenn nicht tausende Aktive gibt, die zumindest per Unterschrift für eine Politik gewinnbar sind, die die Invasion des russischen Imperialismus in der Ukraine verurteilt und zugleich gegen die westliche imperialistische Politik von NATO, USA, EU und Deutschland angehen will.

Doch damit die 43 % nicht nur in den Protokollen des Parteitages auftauchen, müssen sie zu einer Kraft formiert werden, die aktiv eine Bewegung gegen den Krieg und die mit ihm verbundene ökonomische Krise, Preissteigerungen oder drohende Schließungen von Betrieben aufbaut. Eine solche müsste auch aktiv in den Gewerkschaften gegen Sozialpartner:innenschaft und nationalen Schulterschluss und für eine Politik des Klassenkampfes auftreten.

2. Formierung um ein revolutionäres Aktionsprogramm

Um eine politische Alternative zur reformistischen, bürokratischen Strategie der Parteiführung auszuarbeiten, reichen Kampagnen um einzelne Forderungen aus zwei Gründen nicht. Erstens werfen in der aktuellen Periode die großen Frage des Klassenkampfes – ökologische Katastrophe, massive Preissteigerungen, Flucht/Migration, Krieg, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, um nur einige zu nennen – die Eigentumsfrage und die nach der Reorganisation der Gesellschaft selbst, also nach dem Kampf gegen den Kapitalismus, auf. Eng damit verbunden sind die Fragen nach einem Verständnis des Imperialismus als globaler kapitalistischer Ordnung wie nach dem Charakter des bürgerlichen Staates und der sozialistischen Revolution.

Kurzum, es braucht ein Programm, eine Antwort, die diese Fragen verbindet und ein System von Übergangsforderungen, das eine Brücke vom Kampf gegen aktuelle Angriffe und für Verbesserungen mit dem für eine sozialistische, revolutionären Umwälzung darstellt.

Zweitens bedarf es einer grundlegenden Alternative zur Politik der Linken selbst, eines politisch-programmatischen Gegenentwurfs zum Erfurter Programm und zur Transformationsstrategie – vom pragmatischen Regierungssozialismus und Linkspopulismus ganz zu schweigen. Genau dieser Aufgabe haben sich die Linken in der Linkspartei bisher nicht gestellt. Die Bewegungslinke macht – bestenfalls – aus der Not, dem Fehlen eines eigenen Programms, eine Tugend. Auch die AKL vermochte über Jahre (!) nichts vorzulegen. Marx21, SAV und Sol haben sich der Aufgabe entweder erst gar nicht gestellt oder nur halbherzig.

3. Vorbereitung eines Bruchs

In der gegenwärtigen Lage muss das Ziel einer solchen Formierung der politisch-programmatisch organisierte Bruch mit der Linkspartei sein, um in dieser Auseinandersetzung isolierte, politisch ratlose Mitglieder zu sammelen, so dass nicht nur einzelne unabhängig voneinander und frustriert austreten, sondern dies in DER LINKEN und in [’solid] einen organisierten Charakter annimmt.

Gerade die Auseinandersetzung in der Partei und um einen Fraktionskampf wäre auch wichtig, um das Bewusstsein und die politische Ausrichtung zu klären und Genoss:innen, die bisher nur das politische Leben in einer weitgehend passiven reformistischen Partei kennen, auf eine Zukunft nach der Linkspartei vorzubereiten.

In diesen Prozess sollten von Beginn an auch alle revolutionären Kräfte außerhalb der Linkspartei einbezogen werden, die das Ziel einer revolutionären, kommunistischen Umgruppierung auf Basis gemeinsamen Eingreifens in den Klassenkampf und einer klaren programmatischen Grundlage teilen. Dabei darf, um nicht den Fehler der Linkspartei selbst zu wiederholen, die Diskussion der bestehenden, teilweise sehr tiefen politischen, theoretischen und programmatischen Differenzen unter den verschiedenen Strömungen mit revolutionärem Anspruch nicht hintangestellt werden. Sie müsste vielmehr selbst in die Programmdebatte integriert werden.

Die drei Punkte wie auch unser eigenes Programm wollen wir als Arbeiter:innenmacht in einen solchen Prozess, sollte er zustande kommen, einbringen. Wir verstehen dies nicht als Vorbedingung, wohl aber als Beitrag, der alle anderen Strömungen in- und außerhalb der Linkspartei zur Diskussion darüber auffordert, die das Ziel der Schaffung einer revolutionären Alternative zum Reformismus im Hier und Jetzt angehen wollen.




Strategiepapier der Linkspartei: Nicht einmal alter Wein in neuen Schläuchen

Susanne Kühn, Neue Internationale 262, Februar 2022

DIE LINKE beschwört einmal mehr den Aufbruch. Das tun schließlich alle Parteien, die gerade eine vernichtende Niederlage erlitten haben und eine solche hat sie bekanntlich bei den Bundestagswahlen 2021 eingefahren. Auch für die kommende Landtagswahl im Saarland, in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein sieht es nicht gerade rosig aus.

So soll der Jahresauftakt am 16. Januar wenigstens Mut machen. „Die Linke wird gebraucht“, versichert sich die Parteiführung selbst – und verdeutlicht mit dieser Beschwörungsformel ungewollt, dass sie selbst ihrer eigenen Existenzberechtigung nicht sicher ist. Gefordert wird vor allem das, was der Partei fehlt: Einigkeit, Geschlossenheit, Zusammenhalt, Solidarität, Vision, Strategie.

Die Parteispitze will daher Abhilfe schaffen. Die beiden Vorsitzenden, Janine Wissler und Susanne Hennig-Wellsow, präsentieren ein sog. Strategiepapier: „Für eine LINKE Transformation. Sozial UND klimagerecht“.

Transformationsstrategie?

Alter Wein in neuen Schläuchen ist noch eine höfliche Beschreibung für einen Text, der an saueren Essig erinnert. Im Grunde unterscheidet das „Transformationskonzept“ von älteren Papieren aus den Reihen der Grünen, der SPD, diverser NGOs oder Umweltverbände nur, dass DIE LINKE diesen Parteien eine Abkehr von ihren Versprechungen einer sozial gerechten und ökologisch wirkungsvollen Transformation vorhält. Trotzig wiederholt das Papier, was auch diese Parteien jahrelang in Wahlprogrammen oder Sonntagsreden beschworen haben: Klimaneutralität bis 2035, Kohleausstieg bis 2030, Klimacheck für alle Gebäude bis 2025, gerechter Lastenausgleich, ehrgeiziger und rascher Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor, Ausbau des öffentlichen Verkehrs.

Das Papier spricht sich für staatliche Eingriffe und Regularien aus, weil es der Markt allein nicht richten wird. Marktwirtschaft und Privatkapitalismus werden an keiner Stelle in Frage gestellt. Allerdings sollen nur noch solche Unternehmen gefördert und subventioniert werden, die soziale Standards einhalten, nach Tarifverträgen zahlen, Arbeitsplätze erhalten, den Betrieb demokratisieren und ökologischen Umbau vornehmen. Für diese winken Gelder aus einem staatlichen Transformationsfonds. So sollen AktionärInnen, InvestorInnen und private Konzerne „in die Pflicht genommen“ werden. Außerdem wollen Wissler/Hennig-Wellsow auch die Übernahme von krisengeschüttelten Unternehmen durch die Belegschaften fördern. Diese müssten ein Vorkaufsrecht beim Verkauf von Unternehmen genießen.

Schließlich sollen auch die öffentliche Daseinsvorsorge gefördert und die Armut durch Transferleistungen oberhalb der Armutsgrenze abgeschafft werden. Am Schluss schlägt DIE LINKE auch noch eine „echte“ Agrarwende vor.

Das war es dann auch. Diese Kernpunkte der „Transformationsstrategie“ sind selbst für ein reformistisches Programm überaus handzahm. In besseren Zeiten hatten nicht nur Grüne und SPD, sondern auch die Linkspartei Weitergehendes und Umfassenderes zu bieten.

An manchen Stellen – z. B. beim Vorschlag, krisengeschüttelte Betriebe in Belegschaftseigentum umzuwandeln – geht das Transformationspapier sogar in eine direkt falsche Richtung und würde sich nur als Fallstrick für die Beschäftigten erweisen, die zu Verantwortlichen für die Sanierung ihres eigenen Betriebes mutieren würden.

Was erst gar nicht erwähnt wird

Bemerkenswert am Papier ist freilich weniger die dünne politische Bettelsuppe, die darin zusammengebraut wurde, sondern was erst gar nicht erwähnt wird. Wohlgemerkt, das Strategiepapier soll nach Aussage von Janine Wissler „Konturen eines inhaltlichen Aufbruchs“ darstellen. Zu diesem gehören folgende Themen und Fragen (Aufzählung unvollständig) offenkundig nicht:

Internationale Fragen

Am Beginn des Textes wird zwar festgehalten, dass die vom Kapitalismus verursachte Ungleichheit und Zerstörung unserer Lebensgrundlagen den Fortbestand unseres Planten bedrohen würde. Das war es dann aber auch. Im Papier finden Weltmarkt, Imperialismus, Kriegsgefahr, Militarismus, Aufrüstung, rassistische Abschottung oder die globale Dimension der ökologischen Katastrophe erst gar keine Erwähnung. Die Transformationsstrategie endet an der Landesgrenze.

Bei früheren Strategiepapieren oder inszenierten Auftaktveranstaltungen hatte sich die Linkspartei gern als Friedenspartei, als Anti-NATO-Partei, als Kritikerin von Auslandseinsätzen, Rüstungsexporten und Interventionen präsentiert. Manche beschworen sie gar als „Bewegungspartei“, konsequente antirassistische Kraft oder wollten sie als Partei für eine „neue Klassenpolitik“ fit machen. Natürlich stand das auch damals im Gegensatz zur Regierungspraxis in verschiedenen Bundesländern und/oder zur mangelnden Mobilisierung. Beim diesjährigen Jahresauftakt verzichtet die Führung der „linken“ Opposition im Bundestag gleich von vornherein darauf.

Streitpunkte

Das hängt sicher auch damit zusammen, dass mittlerweile jede wichtige politische Frage in der Linkspartei eine Streitfrage ist. Das betrifft Auslandseinsätze, die Haltung zur EU, Migration, Regierungsbeteiligung, Pandemiepolitik, Eigentumsfrage, Identitätspolitik und vieles mehr. Das Strategiepapier umschifft möglichst alles, was in der Partei strittig ist. So beschränkt sich die ökologische Transformation für Leute wie Klaus Ernst, der etwa zur Zeit der Jahreswende zum Vorsitzenden des Umweltausschusses ernannt wurde, bekanntlich auf die Umrüstung der PKWs von Verbrennungs- auf Elektromotoren. Das empört zu Recht Tausende GenossInnen der Linkspartei, die den offenen Brief „Nicht Euer Ernst“ an die Bundestagsfraktion der Partei unterzeichneten.

Zwischen solchen, letztlich unvereinbaren Richtungen versucht das Strategiepapier zu vermitteln, indem es den kleinsten gemeinsamen Nenner der Partei als Zukunftsvision schönredet. Dieser Etikettenschwindel, der den Autorinnen bewusst sein mag oder auch nicht, kann jedoch die Krise der Linkspartei allenfalls fortschreiben. Wo die Partei auseinanderdriftet, helfen Beschwörungsformeln nichts, zumal wenn sie diese von den Regierungsparteien SPD und Grüne, die man zu bekämpfen vorgibt, nur schwer unterscheidbar machen.

Die Regierungsfrage

Kein Wunder also, dass die Regierungsfrage im Strategiepapier nicht vorkommt. Wie die bescheidenen Vorschläge der Partei gegen die herrschende Klasse durchgesetzt werden sollen, ob auf der Straße, in Klassenkämpfen oder durch imaginierte parlamentarische Kombinationen – dazu hüllt sich die Parteispitze vornehm in Schweigen.

Derweil werkelt Ramelow unverdrossen als Ministerpräsident in Thüringen, kaum unterscheidbar von anderen LänderchefInnen, munter weiter. Die Bourgeoisie hat sich mit dem „Roten“ längst abgefunden. Auch in Berlin, Bremen und Mecklenburg-Vorpommern führt sich DIE LINKE als handzahme Partnerin an der Regierung auf. Unter SPD-Führung trabt sie brav weiter Richtung Untergang, verrät Massenkampagnen, die sie unterstützt hat oder zu unterstützen vorgibt, wie Deutsche Wohnen und Co. enteignen, und rechnet sich womöglich noch hoch an, dass sie sich selbst aufgibt, um zu verhindern, dass die SPD in Berlin zur FDP oder in Mecklenburg-Vorpommern zur CDU wechselt.

Klassenkampf

Bei der Transformationsstrategie von Wissler und Hennig-Wellsow findet die Welt außerhalb Deutschlands praktisch nicht statt. Doch auch Ausbeutung, Klassenverhältnisse, Klassenkampf werden erst gar nicht erwähnt. Die Lohnabhängigen treten bloß als Objekte staatlicher und tarifrechtlicher Reformen auf. An der Ausbeutung selbst wird gleich gar nichts grundsätzlich kritisiert, solange sie zu tariflichen Vereinbarungen und oberhalb der Armutsgrenze stattfindet.

In den letzten Jahren präsentierte ein Bernd Riexinger als Parteivorsitzender noch eine linksreformistische Konzeption von Transformation und versuchte, eine neue Klassenpolitik als strategische Grundlage der Partei zu präsentieren, was ihn zum Teil in offenen, zum Teil in verdeckten Gegensatz zum regierungssozialistischen wie auch zum populistischen Flügel um Wagenknecht brachte.

Eigentum

Ein wichtiger Bestandteil dieser linksreformistischen Konzeption war auch das Aufgreifen der Eigentumsfrage, wie sie auch von Kampagnen wie DWe populär gemacht wurde oder in der ökologischen Bewegung vermehrt diskutiert wird. Selbst Kevin Kühnert, damals noch Kritiker der SPD-Spitze und der Großen Koalition, brachte ehedem die Enteignung von BMW in Spiel. Selbst dazu reicht es bei der neuen Führung der Linkspartei nicht. Im krampfhaften Bemühen, alle Unterschiede zwischen den Flügeln der Partei und wohl auch zwischen den beiden Vorsitzenden, jeden als zerstörerisch empfunden Streit zumindest im Strategiepapier aus der Welt zu schaffen, wird es so ausgehöhlt, so schal, belanglos und erbärmlich, dass selbst eine reformistische Sonntagsrede noch als klassenkämpferische Offenbarung erscheinen würde. Unmittelbar werden von solchen Formelkompromissen nur die RegierungssozialistInnen, mag vielleicht auch der populistische Flügel der Partei profitieren.

Ein Teil der Parteispitze DER LINKEN mag es für eine kluge Taktik halten, Differenzen und Richtungsstreit unter den Tisch zu kehren. Der Verzicht auf eine offene Konfrontation zwischen letztlich miteinander unvereinbaren Positionen in der Linkspartei wird den Laden jedoch nicht retten, sondern nur die Krise verschärfen. Er wird Unvereinbares nicht vereinbar machen und schon gar nicht zur Formierung einer linken Opposition beitragen, die den längst überfälligen politischen und organisatorischen Bruch mit dem Reformismus in die Weg leiten könnte. Der Schritt ist längst überfällig, wenn im neuen Schlauch nicht einmal mehr alter Wein aufgetischt wird, sondern nur sauerer Essig.




Europäische Linke: Lässt sich der Kapitalismus transformieren?

Alex Zora, Infomail 1174, 28. Dezember 2021

„Die Arbeiter haben kein Vaterland.“ Dieses bekannte Marxzitat ist wohl den meisten Linken ein Begriff. Schon früh galt der Anspruch der ArbeiterInnenbewegung, sich auch international zu organisieren. Heute ist der größte Zusammenschluss der Linken links von Sozialdemokratie und Grünen in Europa die Europäische Linke (EL). Wir wollen uns im Folgenden ansehen, wie sie ihrem Anspruch „Transformierung von Gesellschaften und die Überwindung des heutigen Kapitalismus“ gerecht wird.

Wer ist die Europäische Linke?

Die Europäische Linke wurde 2004 in Rom gegründet. Sie ist der organisierte Zusammenschluss von 28 europäischen linken Parteien – großteils aus EU-Staaten, aber nicht ausschließlich. Die wichtigsten und größten Parteien bilden die deutsche Linkspartei, die französische Bewegung von Mélenchon (La France Insoumise) – die jedoch nur Beobachterstatus hat –, die spanische Izquierda Unida sowie Griechenlands Syriza. In Österreich ist die KPÖ Mitglied in der Europäischen Linken und Der Wandel – Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt ist Partnerorganisation.

Im Europäischen Parlament steht ihr die Fraktion der Linken GUE/NGL nahe, in der Abgeordnete von 19 linken Parteien sitzen. Hiervon kommt der Großteil, aber wiederum nicht alle, der Abgeordneten aus Mitgliedsparteien der Europäischen Linken. Insgesamt zählen die Parteien der Europäische Linken ungefähr eine halbe Million Mitglieder.

Die Grundsätze

Auf dem Gründungskongress 2004 in Rom wurde auch ein Manifest angenommen. Der Name sollte dabei nicht täuschen, handelt es sich doch eher um sehr kurz gefasste Grundsätze, die grob die politische Richtung vorgeben. Es sieht sich in der Tradition und den Werten von Sozialismus, Kommunismus, ArbeiterInnenbewegung, Feminismus, internationaler Solidarität, aber auch von Humanismus und liberalem Denken. Es stellt die Zentralität der Europäischen Union als Raum der politischen Auseinandersetzung fest, bei gleichzeitig grundlegender Kritik an der Richtung der Entwicklung sowie den Ausformungen des modernen Kapitalismus in Europa. Man möchte „der EU einen anderen Inhalt geben: selbstständig von der US Hegemonie, offen gegenüber dem globalen Süden, alternativ zum Kapitalismus in seinem sozialen und politischen Modell [ … ]“. Dafür wird die „Notwendigkeit einer tiefgreifenden sozialen und demokratischen Transformation“ gesehen.

Grundsätzlich stammt die Europäische Linke in erster Linie aus der Tradition des Eurokommunismus und vertritt eine offene Kritik am „Kommunismus“ sowjetischer Prägung. Diese Kritik kommt aber nicht aus einer linken, revolutionären, sondern eigentlich aus einer rechten parlamentarisch-reformistischen Richtung. Die Tatsache, aber dass eine Kritik am „real existierenden Sozialismus“ geübt wird, führte in der Vergangenheit immer wieder zu Konflikten, in erster Linie mit den traditionalistisch ausgerichteten, stalinistischen Parteien (wie der KKE aus Griechenland, der PCP aus Portugal oder der ArbeiterInnenpartei Ungarns), die entweder nie Teil der Europäischen Linken wurden oder wieder austraten.

Transformationstheorie vs. Populismus

Die vorherrschende Ausrichtung der Europäischen Linken wird zumeist aus der Transformationstheorie abgeleitet bzw. mit ihr begründet. Kurz zusammengefasst geht es bei der Transformationstheorie (wahlweise auch als „radikaler Reformismus“, „radikale Realpolitik“ oder „revolutionäre Realpolitik“ bezeichnet) darum, den Widerspruch zwischen revolutionärer Politik (die fälschlicherweise zumeist mit den stalinistischen Parteien identifiziert wird) und Reformismus (also Sozialdemokratie) zu überwinden. An beiden wird Kritik geübt und – gestützt auf TheoretikerInnen wie Antonio Gramsci, Karl Polanyi oder Nicos Poulantzas – wird versucht, diesen Widerspruch zu überwinden. Hierbei wird mit zentralen Erkenntnissen der marxistischen Theorie gebrochen wie der Notwendigkeit einer sozialistischen Revolution, der Zerschlagung des bürgerlichen Staates und seiner Ersetzung durch die direkten Machtorgane der Arbeitenden und Unterdrückten. Kurz zusammengefasst lässt sich das beispielhaft an der Analyse von Nicos Poulantzas zeigen: „[D]as innere Kräfteverhältnis des Staates zu ändern, meint nicht aufeinanderfolgende Reformen als kontinuierlicher Fortschritt, die schrittweise Einnahme der staatlichen Maschinerie oder die Eroberung der höchsten Regierungsposten. Diese Veränderung besteht in der Ausweitung effektiver Brüche, deren kulminierender Punkt – und es wird zwangsläufig so ein Punkt existieren – im Umschlagen der Kräfteverhältnisse auf dem Terrain des Staates zugunsten der Volksmassen liegt.” (Poulantzas, Staatstheorie) Was diese Theorie in der Praxis bedeutet, werden wir weiter unten noch genauer beschreiben. Für jene, die an einer ausführlicheren Kritik der Transformationstheorie interessiert sind, verweisen wir auf „Aktualität und Diskussion der bolschewistischen Revolutionskonzeption“, zu finden in unserem Theoriejournal Revolutionärer Marxismus Nr. 47 oder auf unserer Homepage.

In den letzten Jahren hat sich aber innerhalb des europäischen Linksreformismus noch eine weitere Strömung dazugesellt. Mit Podemos in Spanien, La France Insoumise von Mélenchon in Frankreich oder dem Flügel von Sahra Wagenknecht in der deutschen Linkspartei kam noch eine dezidiert populistische Ausprägung hinzu. Teilweise gestützt auf TheoretikerInnen wie Chantal Mouffe und Ernesto Laclau, teilweise auch einfach beeinflusst durch die chauvinistischen Tendenzen innerhalb der ArbeiterInnenbewegung, kam es zu einer bewussten Ablehnung einer marxistischen Klassenanalyse und zu einer stärkeren Orientierung auf den Konflikt zwischen „dem Volk“ und „der Elite“. Zumeist geht das einher mit stärkeren Bezügen auf das Volk und die Nation und einer misstrauischen Haltung gegenüber Kämpfen gegen soziale Unterdrückungsformen wie Sexismus oder Rassismus (was hierbei gerne pauschal als Identitätspolitik bezeichnet wird).

Die Praxis der Europäischen Linken

Entscheidend für eine politische Partei ist natürlich nicht nur das politische Programm. Oft zeigt sich erst in der Praxis, aus welchem Holz vorgeblich fortschrittliche Kräfte wirklich geschnitzt sind. Das sieht man nur allzu oft, wenn sozialdemokratische oder grüne Kräfte an der Regierung beteiligt sind. Die nationalen Parteien der Europäischen Linken stehen natürlich im Vergleich zu diesen Kräften deutlich seltener in der Situation der Regierungsverantwortung, was die praktischen Beispiele stark einschränkt. Es gibt sie aber trotzdem.

Aktuell sind Kräfte der Europäischen Linken zum Beispiel in Spanien an der Regierung beteiligt. Gemeinsam mit der sozialdemokratischen PSOE, die den Regierungschef stellt, ist Unidas/Unidos Podemos – die Wahlallianz aus Podemos und dem EL-Mitglied Izquierda Unida – an der Regierung beteiligt. An den kapitalistischen Verhältnissen in Spanien hat sich dadurch aber überhaupt nichts geändert. Der Teil der Bevölkerung, der armutsgefährdet ist, hat sich seit ihrem Antritt nicht relevant verändert (21,5 % 2018; 21 % 2020), die Durchschnittslöhne setzten ihr kontinuierliches Sinken seit 2015 auch unter der Regierung mit Beteiligung der Europäischen Linken fort. Dass Spanien unter der „linken“ Regierung auch weiterhin eine Monarchie unterhält, Katalonien und dem Baskenland das Recht auf Selbstbestimmung verwehrt und das europäische Grenzregime mitträgt, muss dazu kaum noch extra erwähnt werden. Das Schlimmste aus Sicht der Europäischen Linkspartei ist aber, dass sie als Juniorpartnerin überhaupt nicht von einem möglicherweise seriöseren Image als Regierungspartei profitiert. Kam Unidos/Unidas Podemos bei den Wahlen 2016 noch auf über 20 %, hält sie sich aktuell in Umfragen bei ungefähr 10 %. Profitiert haben hiervon auf der einen Seite die regierenden SozialdemokratInnen, auf der anderen die radikale Rechte von Vox.

Doch aus Sicht der Europäischen Linken könnte man natürlich argumentieren, dass man als Juniorpartnerin in einer Regierung oft nicht wirklich das eigene Programm durchsetzen kann (Warum geht man dann aber überhaupt in solche Regierungen?). Aber als Beispiel, wo Parteien der Europäischen Linken dominant an der Regierung beteiligt sind, kann man sich beispielsweise regionale Regierungen wie in Thüringen ansehen. Dort wird im Wesentlichen der kapitalistische Status quo mitverwaltet: Abschiebungen und Zwangsräumungen sind weiterhin normal, die Situation für die ArbeiterInnenklasse ist nicht substantiell besser als in den umliegenden Bundesländern etc. Wie wenig sich die Parteien der Europäischen Linken an der Regierung von der Sozialdemokratie unterscheiden, zeigt sich auch darin, wie wenig sie in offene Konflikte mit den Zentralregierungen kommen. Sogar das sozialdemokratische Rote Wien war hier deutlich fortschrittlicher positioniert.

Doch das wichtigste Beispiel ist gleichzeitig das tragischste: Griechenland. Hier wurde Syriza Anfang 2015 getragen durch eine Welle der Proteste der ArbeiterInnenklasse zur stärksten Kraft. Die griechische ArbeiterInnenklasse setzte große Hoffnungen in sie und ihr teilweise radikales Programm. Doch Syriza verriet ihre Basis und eigenen Grundsätze auf ganzer Linie. Nach dem von Alexis Tsipras einberufenen Referendum über die Schuldenrückzahlung, bei dem sich mehr als 60 % der GriechInnen gegen die Schuldenrückzahlungspläne von EU, EZB und IWF aussprachen, verriet Syriza einfach diese überwältigende Mehrheit und führte ein hartes Sparprogramm durch, das teilweise sogar schlimmer ausfiel als das der davor regierenden Konservativen. Gleichzeitig wurden in den Wochen nach dem Referendum die linken Kräfte in Syriza aus den wichtigen Positionen der Partei gedrängt. Dabei war Griechenland 2015 das zentrale Land des europäischen Klassenkampfes, wo die Zukunft der Sparpolitik entschieden wurde. Anstatt die griechische ArbeiterInnenklasse, die klassenkämpferischer und geschulter in Streiks und Besetzungen als jede andere in Europa war, zum Kampf und auf europäischer Ebene die Linke für eine Kampagne der internationalen Solidarität zu mobilisieren, wurde lieber dem Kapital klein beigegeben. Das ist die praktische Konsequenz der Transformationstheorie, die sich in der Praxis in nichts vom klassischen Reformismus sozialdemokratischer Prägung unterscheidet!

Mit dem Kapitalismus brechen, statt ihn zu verwalten!

Was Beispiele wie Griechenland oder Spanien zeigen, ist, dass die grundlegende strategische Ausrichtung nicht einmal im Eigeninteresse der Parteien der Europäischen Linken funktioniert. Vielmehr profitieren andere politische Kräfte (in Spanien die Sozialdemokratie und radikale Rechte, in Griechenland die Konservativen) von den hohlen Versprechungen der Parteien der EL. Doch international gibt es auch Beispiele wie die „trotzkistisch“ geprägte Front der Linken und ArbeiterInnen (FIT) in Argentinien, die bei den Wahlen im November diesen Jahres mit fast 1,4 Millionen Stimmen und 5,9 % zur drittgrößten Kraft aufgestiegen ist und eine Beteiligung am kapitalistischen Status quo ablehnt.

Wer ernsthaft den Kapitalismus überwinden möchte, kann sich nicht zu seinem/r HandlangerIn machen. Wo sich eine Partei zur Regierungsverantwortung im bürgerlichen Staat aufschwingt – egal ob führend oder als Juniorpartnerin, national oder regional – gerät sie letztlich immer zur Verwalterin des kapitalistischen Elends und der entsprechenden Verhältnisse.




Riexingers Green New Deal: “System Change” statt Sozialismus

Mattis Molde, Neue Internationale 252, Dezember 2020/Januar 2021

Bernd Riexinger, der scheidende Vorsitzende der LINKEN, geht unter die BuchautorInnen. Schon 2018 legte er mit „Neue Klassenpolitik“ einen Text vor, in dem er die strategische Ausrichtung der Linkspartei zu begründen suchte. Mit seinem vor wenigen Monaten beim Hamburger VSA-Verlag erschienenen „System Change, Plädoyer für einen linken Green New Deal“ versucht er, eine langfristige, strategische Antwort auf die derzeitige Krise vorzulegen.

Er will deshalb die herrschenden Zustände angreifen, den „Status quo in Frage stellen“. Auch wenn er den Kapitalismus nicht abschaffen will, so will er eine andere „Formation“ desselben erreichen. Dass der Vorsitzende einer reformistischen Partei dem Reformismus treu bleibt, überrascht nicht weiter. Die Beschäftigung mit seinem Buch erweist sich dennoch als sinnvoll. Reformistische Parteien und ParteichefInnen begründen ihre „Realpolitik“ in der Regel erst gar nicht theoretisch, da sie diese ohnedies, ganz im Sinne ihres engen, pragmatischen Horizonts, für alternativlos betrachten.

Riexinger hingegen hält dies für nötig, weil er einen „neuen“ Linksreformismus begründen will, dessen Vorstellung von Systemwandel (System Change) und Green New Deal sich nicht nur vom revolutionären Marxismus, sondern auch von den Konzepten der Sozialdemokratie und der Grünen unterscheiden und abgrenzen soll.

Krisenerscheinungen

Dabei greift er reale Probleme auf: „Lange schon schwelen verschiedene Krisen des Kapitalismus: Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, Klimawandel, Grenzen des Wachstums, soziale Ungleichheit, Zusammenbruch der öffentlichen Daseinsvorsorge und das Gefühl von vielen, dass die Gesellschaft nicht mehr zusammenhält. Corona hat diese Vielfachkrise des Kapitalismus verschärft und zugespitzt.“ (System Change, S. 9) Er beschreibt Erscheinungen und Probleme, die mit dem Kapitalismus zu tun haben bzw. von ihm produziert werden. Punkte, an denen man spürt, dass etwas nicht in Ordnung ist auf dieser Welt. Aber eine marxistische Krisenanalyse stellt dies nicht dar. Die kommt auch später nicht.

Ein Beispiel: „Soziale Ungleichheit“: Ist das eine „Krise des Kapitalismus“? So wie dieses System funktioniert, produziert und reproduziert es immer Ungleichheit, da die BesitzerInnen von Kapital dieses ständig vermehren, während die Arbeitenden im Normalfall nur sich und ihre Familie reproduzieren können. Man könnte die Frage stellen, ob die Ungleichheit gewachsen ist oder ob soviel Kapital angehäuft worden ist, dass seine Verwertung so schwierig wird, dass dies zu einer Krise des Systems wird, die aus der Entfaltung seiner eigenen Gesetzmäßigkeiten erfolgt. Das wäre eine „Krise des Kapitalismus“ im marxistischen Sinne. Da solche Analysen in dem Buch nicht vorkommen, will uns Riexinger wohl nur sagen, dass die Ungleichheit zunimmt, dass dies ungerecht ist und bekämpft gehört.

Letztere Aussage ist ja unbestreitbar richtig. Wir werden später aber sehen, dass dieses Herumwerfen mit Begriffen eine politische Funktion hat.

Krisenursachen

Die Untersuchung des Kapitalismus findet also nicht statt und auch nicht, wie diese einzelnen „Krisen“ zusammenhängen. Er beschreibt die Erscheinungen meist ganz treffend und belegt, dass die vorgeblichen Bemühungen von Bundesregierung oder EU-Kommission, bestimmte Probleme, z. B. die globale Erwärmung, anzugehen, hilflos sind, Einzelmaßnahmen darstellen und durch die generelle Ausrichtung der Politik konterkariert werden.

Ein Beispiel: „ EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte bereits Ende 2019 ein Konzept für einen Green Deal auf den Weg gebracht, der die Klima- und Wirtschaftspolitik stärker aufeinander abstimmen soll. Ziel sind massive Investitionen in neue Technologien zur effizienteren Ressourcennutzung und zur Reduktion der Treibhausgas-Emissionen. Das klingt gut, erweist sich aber bei näherem Hinsehen wie eine Mischung aus „Greenwashing“ und Wettbewerbspolitik. Das Ziel, bis 2050 eine „grüne Null“ zu erreichen, ist für die EU ein Fortschritt, reicht aber nicht aus, um die Klima-Katastrophe zu verhindern. Während aus einem Fonds Investitionen in den Klimaschutz finanziert werden sollen, fördern zahlreiche EU-Töpfe mit Milliarden Euro klimaschädliche Großprojekte.“ (System Change, S. 24)

Aus all diesen Beispielen folgt für Riexinger, dass eine neue Politik nötig ist.

Wer soll es richten?

Riexingers Verdienst besteht darin, ein Projekt vorzulegen, das versucht, die ganzen Probleme in ihrer Vielfältigkeit anzugehen. Sein Ziel ist es, alle Bewegungen, die gegen diese aktiv sind, zu einer einzigen zu vereinen, die dann alles für alle erreicht, was sozial und ökologisch ist, unabhängig von Geschlecht und Herkunft.

Dieses Projekt stellt politisch sehr viel mehr dar, als was andere reformistische Führungen derzeit zu bieten haben: Die Sozialdemokratie besinnt sich gerade darauf, dass es ein Jahr vor den Bundestagswahlen vielleicht opportun wäre, wenigstens ein paar Forderungen zu haben, die klarmachen, wo sie steht, bzw. die den schäbigen sozialen Flicken der SPD am Kostüm der Großen Koalition mehr Glanz verleihen sollen. Die Gewerkschaften im DGB sind komplett unfähig, irgendeine Gemeinsamkeit für die ökonomischen und ökologischen Herausforderungen zu formulieren. Jeder Teil der Bürokratie bleibt borniert bei den Leisten seiner Branche.

Riexinger fasst sein Projekt so zusammen: „Entscheidend ist, ein Bündnis sozialer Bewegungen für den sozial-ökologischen Umbau und unteilbare Solidarität aufzubauen. Dafür ist der Green New Deal kein Masterplan, sondern ein strategischer Vorschlag, wie wir eine bessere Welt gewinnen können.“ (System Change, S. 132 f.)

Die Ziele, die er vorschlägt, basieren auf den bekannten Forderungen der Linkspartei:

  • Löhne, die zum Leben reichen, 13 Euro Mindestlohn, Leiharbeit verbieten, prekäre Arbeit abschaffen, Arbeitszeit um die 30-Stunden-Woche mit Lohnausgleich,
  • Rentenniveau auf 53 % anheben, Mindestrente von 1.200 Euro, AlG I auf 24 Monate verlängern, Elterngeld auf 24 Monate anheben.

Für die „Transformation der Auto-Industrie“ stellt Riexinger sich unter anderem vor, Fahrzeuge für kollektive Mobilitätskonzepte herzustellen und einen Ausbau der Bahn zu forcieren.

Utopie

Der Weg, diese guten Dinge zu erreichen, geht darüber, dass die Bewegungen, die es schon gibt und die sich ja noch mehr verbinden müssen, soviel Druck auf den Staat ausüben, dass dieser die Konzerne und das Kapital dazu zwingt. Am Beispiel der Auto-Industrie liest sich das so: „Der Staat muss die Auto-Konzerne auf einen sozial gerechten, ökologischen Transformationspfad verpflichten. Das wird nur gelingen, wenn Belegschaften, Gewerkschaften, Umweltverbände und Klimabewegung an einem Strang ziehen.“ (System Change, S. 59 f.) Er verweist darauf, dass es im Konjunkturpaket Gelder der Regierung für Transformation gebe.

Für die Zukunft will er dann die Wirtschaft demokratisieren. DAX-Unternehmen sollen mindestens zu 21 % in öffentlichem Eigentum stehen, 30 % Belegschaftseigentum, den Rest dürfen private AktionärInnen behalten (System Change, S. 62). Was er nicht sagt, ist wie den DAX-Konzernen 51 % ihres Kapitals genommen werden sollen.

Solche Utopien kann man nur schreiben, wenn man alles ignoriert, was MarxistInnen über den bürgerlichen Staat formuliert haben. Die Marx’sche Sichtweise erledigt Riexinger, indem er die Aussage, der „Staat sei nur ein Instrument in den Händen von Kapital und Konzernen“ (System Change, S. 103) so interpretiert, als würde sie bedeuten, dass sich der Kampf zwischen Lohnarbeit und Kapital nicht im Staat reflektieren würde, als könnten überhaupt keine politischen Reformen errungen werden. Darüber hinaus unterstellt er der marxistischen Staatstheorie, sie würde Staat und Kapital als identisch betrachten. Zwar weist er die platte bürgerliche Idee, dass „der Staat ein neutrales Instrument sei“ (ebenda) zurück und erklärt stattdessen, „dass sich im Staat Kräfteverhältnisse verdichten. Er ist das Feld, auf dem die verschiedenen Interessen (Klasseninteressen) ausgetragen werden.“ (ebenda)

Hinter diesen Ideen, die auf u. a. auf Poulantzas zurückgehen, steckt zwar ein Körnchen Wahrheit, nämlich dass rein gewerkschaftliche oder soziale Kämpfe alleine nicht ausreichen, um grundlegende Veränderungen zu erzielen, sondern dass ein politischer Kampf notwendig ist. Aber durch die Weigerung, den bürgerlichen Klassencharakter dieses Staates anzuerkennen, verkommt das Ganze nur zu einer komplexeren Begründung einer reformistischen, bürgerlichen Reformstrategie. Letztlich muss und kann die ArbeiterInnenklasse in Riexingers Augen den Staat in einem langwierigen gesellschaftlichen und institutionellen Kampf übernehmen und verändern.

Genau hier liegt der entscheidende Unterschied zur marxistischen Staatstheorie, die den bürgerlichen Staat als Herrschaftsinstrument des Kapitals begreift, das über tausende Fäden materieller Spitzenprivilegien die Armee, den Repressionsapparat, die Justiz- und Staatsbürokratie auf sich als herrschende Klasse verpflichtet, um die Interessen des Gesamtkapitals wahrzunehmen. Die Crux besteht gerade darin, dass der bürgerliche Staat als ideeller Gesamtkapitalist fungieren kann, weil er nicht mit einzelnen Kapitalien oder der ökonomischen Vertretung der Bourgeoisie identisch ist. So kann er deren Gesamtinteresse auch gegen einzelne dieser Fraktionen durchsetzen – wie ironischerweise beim New Deal der 1930er Jahre.

Das ist auch der Grund, warum ein revolutionäres kommunistisches Programm immer auf die Zerschlagung des bürgerlichen Staates und seine Ersetzung durch einen Rätestaat der ArbeiterInnenklasse, die Diktatur des Proletariats, zielt.

Kein Ausrutscher

Es würde aber auch reichen, die politische Realität wahrzunehmen: Es ist ja kein Ausrutscher, wenn in den Konjunkturpaketen keine Auflagen für die Lufthansa oder die Autokonzerne enthalten sind, denn es geht diesem Staat, seiner Regierung und seinem Apparat dabei immer um das, was im Wortsinn „systemrelevant“ ist: den Erhalt der Profitmaschinen der deutschen Bourgeoisie im Konkurrenzkampf mit ihren internationalen Konkurrentinnen. Dem werden alle sozialen und ökologischen Fragen untergeordnet.

Es zeigt sich an dieser Stelle, dass die Schwammigkeit zu Beginn des Buches bei der Darstellung der vielfältigen „Krisen des Kapitalismus“ ihre Ergänzung und Fortsetzung findet, wenn es um den Staat im Kapitalismus geht. Die Utopie schließt auch ein, dass dieser sozial und ökologisch gebändigte Kapitalismus funktioniert und nicht weiter Krisen produziert.

Riexinger hält seine Utopie für Realismus. Sein Credo ist, man müsse an den realen Bewegungen anknüpfen, weil nur Menschen in Bewegung etwas verändern können. Sein Irrtum besteht darin, dass er auch an den Irrtümern der Bewegungen festhält, ja sie zu seinen eigenen macht. Die Führung der Umweltbewegung beispielsweise glaubt, dass eine ökologische Wende in diesem System, ja sogar mit diesen Regierungen möglich sei.

RevolutionärInnen vertreten einen anderen Ansatz: Sie wollen, dass Menschen in der Bewegung lernen und ihre Ziele ändern. Dafür gilt es immer, Vorschläge zu unterbreiten, die realistisch sind, weil sie funktionieren können. Wir hoffen nicht, dass der Staat der Bourgeoisie durch eine Bewegung gezwungen werden könnte, Maßnahmen gegen jene durchzusetzen und sie teilweise zu enteignen. Wir propagieren, dass die ArbeiterInnenklasse ihre eigene Macht aufbaut. Dass die Beschäftigten Betriebe besetzen, die geschlossen werden sollen. Dass sie unter ihrer eigenen Kontrolle die Produktion oder die Umstellung dieser organisieren. Dass sie sich gegen die Übergriffe des Staates selbst verteidigen.

Eine solche Perspektive ist im revolutionären Sinne realistisch, weil sie von den realen gegensätzlichen Interessen der Klasse und der Rolle des Staates ausgeht und nicht selbst Luftschlösser produziert. Indem sie die Kämpfenden in den Bewegungen darauf vorbereitet, deren Illusionen und falschen Vorstellungen solidarisch kritisiert und darlegt, welche Aktionen und Forderungen notwendig sind, um kurz- und langfristige Ziele zu erreichen, tritt sie für einen revolutionären Realismus ein.

Gewerkschaften

Für seine Vision muss sich Riexinger aber nicht nur den Kapitalismus und seinen Staat schönreden, sondern auch die AkteurInnen seiner Bewegung. Das fängt an bei der Linkspartei, die sich „behauptet“ und die „stabil“ ist, aber auch in „ständiger Veränderung“ (System Change, S. 16). Dafür nennt er neue Mitglieder und WählerInnen im Westen. Meint er auch diejenigen, die die Linke an die AfD verloren hat? Stellt er sich die Frage, warum die Linke so gut wie nichts aus den Verlusten der SPD gewinnen konnte? Was ist mit der Politik der Linken an der Regierung? Martin Schulz sagt zu Recht: „Eine Regierung SPD-Grüne-Ramelow, zum Beispiel, vor der hat in Deutschland keiner Angst.“ Das sollte den Parteivorsitzenden der Linken Angst machen.

In den Gewerkschaften sieht Riexinger völlig zu Recht eine entscheidende Kraft für jede Veränderung. Er sieht auch, dass diese sich entscheiden müssen, „ob sie sich als mobilisierende, organisierende und konfliktorientierte Interessenvertretung stärken oder ob sie sich auf die korporatistische Zusammenarbeit mit (exportorientiertem) Kapital konzentrieren wollen.“ (System Change, S. 96) Dann lobt er das IG Metall-Vorstandsmitglied Urban, um anschließend festzustellen: „Selbstverständlich gibt es auch ganz andere Stimmen. Betriebsräte und GewerkschafterInnen, die Abwrackprämien auch für neue Dieselautos fordern.“ (System Change, S. 97) Diese „anderen“ Stimmen sind in der IG Metall die absolute Mehrheit. Auch Urban hat der Forderung nach Kaufanreizen für Verbrenner-Autos nicht widersprochen.

Aber die SozialpartnerInnenschaft floriert nicht nur in der Exportindustrie. Die maßgeblich von der Linkspartei und ihren FunktionärInnen in ver.di angestoßene Pflegekampagne wurde trotz breiter Wirkung von der ver.di-Bürokratie auf einzelne Betriebe beschränkt, eine Politisierung durch die Verbindung mit der Forderung nach Rekommunalisierung der Krankenhäuser bekämpft und die ganze Kampagne in die Sackgasse von BürgerInnenbegehren gelenkt.

Um die Gewerkschaften und ihre Millionen Mitglieder für antikapitalistische Kampagnen jeder Art zu gewinnen, ist also eine systematische Auseinandersetzung mit der SozialpartnerInnenschaft und ihrer Trägerin, der Gewerkschaftsbürokratie, nötig. Schon die Debatte darüber, wie diese aussehen könnte und sollte, wird in der Linken nicht geführt und auf den Streikkonferenzen der Luxemburg-Stiftung konsequent unterdrückt.

No Deal

Die Idee eines sozial gebändigten Kapitalismus‘ ist nicht neu. Riexinger legt dem Raubtier nur noch eine neue ökologische Schleife an. Dieser Traum ist immer wieder befeuert worden, weil es Phasen gab, in denen die Bourgeoisie Zugeständnisse an die ArbeiterInnenbewegung machen musste. Er wurde auch genährt, weil in Krisenperioden die gängigen bürgerlichen Ideologien selbst fraglich werden. Daher suchen auch viele nach radikalen Alternativen. Auch das versuchen Riexinger und die Linkspartei wie auch viele ähnliche Strömungen in Westeuropa, den USA und auf der gesamten Welt aufzugreifen, indem sie einen scheinbar radikaleren Reformismus als gangbare quasi-revolutionäre, antikapitalistische Politik zu begründen versuchen.

Wir wollen was anderes. Die Aufgabe für SozialistInnen und KommunistInnen bleibt es, in einer historischen Krise des kapitalistischen Systems nicht für eine neue sozialere Formation des Kapitalismus zu kämpfen, welche dieses verrottete System sofort wieder zerlegen würde, sobald es kann. Unser Ziel ist der Sieg über dieses System – seine endgültige Abschaffung!




Modell Oktoberrevolution – Aktualität und Diskussion der bolschewistischen Revolutionskonzeption

Markus Lehner, Revolutionärer Marxismus 49, März 2017

„Wo geht’s denn hier zum Winterpalais?“, titelte eine Diskussionsrunde zu „Reform, Transformation, Revolution“ auf dem UZ-Pressefest von 2014 zwischen den Vordenkern Leo Mayer (DKP), Conrad Schuhler (isw) und Walter Baier (KPÖ). Der Titel trifft die Orientierungsprobleme der „etablierten“ Linken in Bezug auf die Oktoberrevolution ziemlich gut. Von isw bis zu den „Thinktanks“ der Linkspartei in der Rosa-Luxemburg-Stiftung, ganz zu schweigen vom „akademischen Marximus“, tut man sich mit dem Bezug auf die Oktoberrevolution schwer.

Sie wird im besten Fall noch als ein wichtiges historisches Ereignis genannt. Spätestens seit den 70er Jahren gibt es von der revisionistischen Linken eine Abkehr vom „Modell Oktoberrevolution“, die sich heute in Schlagwörtern wie „Transformation statt Revolution“ oder auch „revolutionäre Reformpolitik“ ausdrückt. Ob diese Konzepte den Marxismus bereichern oder mit ihm brechen, soll u. a. im Folgenden erörtert werden.

Wir wollen im folgenden Artikel die von Lenin besonders in „Staat und Revolution“ zusammengefasste bolschewistische Revolutionskonzeption als rätedemokratisch basierte Zerschlagung des bürgerlichen Staates herausarbeiten, indem wir sie mit ihren Relativierungen und Kritiken von Gramsci, Althusser, Poulantzas konfrontieren, auf die sich moderne AnhängerInnen der „Transformationstheorie“ (s. o.) oft berufen.

Der erste Abschnitt beschäftigt sich mit den Grundprinzipien der marxistischen Staats- und Revolutionstheorie, die der strategischen Ausrichtung und den programmatischen Schlussfolgerungen Lenins zugrunde lagen.

In den folgenden Abschnitten setzten wir uns mit Autoren auseinander, die von den TransformationstheorikerInnen als theoretische Bezugspunkte genannt werden.

Dabei unterziehen wir zuerst die Konzeption Gramscis einer Kritik, untersuchen ihre Stärken und Schwächen. Wir werden dabei zeigen, dass die modernen RevisionistInnen diese Konzeption (ebenso wie die Rosa Luxemburgs) zwar entstellen, aber dabei auch wirkliche Anknüpfungspunkte in Gramscis Arbeiten finden.

Dem folgt eine Kritik der „Entmystifizierung“ der Oktoberrevolution durch Althusser und seiner „Enthegelianisierung“ des Marxismus. Schließlich unterziehen wir Poulantzas und seine anti-leninistische Staatstheorie einer Kritik. Während die theoretische Konzeption Gramscis in vielem widersprüchlich, gewissermaßen zentristisch bleibt, tritt der Revisionismus bei Althusser und Poulantzas offen zutage.

Nach dieser Darstellung und Kritik von Theoretikern, auf die sich „moderne“ Entstellungen der Oktoberrevolution stützen, beschäftigen wir uns mit Georg Lukács und auch Karl Korsch, zwei Theoretikern, die versuchen, die Lehren des Bolschewismus in den ersten Jahren nach der Revolution theoretisch zu verallgemeinern. Sie stellen daher einen Bezugspunkt für eine revolutionäre Betrachtung dar. In diesem Zusammenhang unterziehen wir auch Zizek und seine Interpretation der Russischen Revolution einer grundlegenden Kritik.

Den Abschluss des Artikels bildet die Diskussion über die Bedeutung der Räte in der sozialistischen Revolution und in der Übergangsperiode.

Damit wollen wir zeigen, dass das Verständnis der Räte untrennbar mit dem des Verhältnisses von revolutionärer Partei und Klasse wie auch der Umwälzung der Gesellschaft nach der Revolution verbunden ist. In diesem Sinne – nicht in der karikaturhaften Vorstellung einer „Wiederholung“ und mechanischen Übertragung – bleibt die Russische Revolution bis heute „modellhaft“.

Die Oktoberrevolution und „der Westen“

Einen guten Einstieg in die Problematik liefert die Lektüre des Artikels „Der Marxismus und das Ende des Kapitalismus“ von Conrad Schuhler (Leiter des isw, des Instituts für sozial- ökologische Wirtschaftsforschung, München e.V., 15. August 2013). Hierbei ist nicht so sehr der Teil des Artikels gemeint, der die Frage behandelt, ob die sozialistische Revolution in einem rückständigen Land wie dem zaristischen Russland nicht überhaupt der marxistischen Revolutionstheorie widerspricht – diese Frage wird auch in diesem Band an anderer Stelle behandelt. Hier ist besonders der Teil des Artikels gemeint, den Schuhler betitelt mit: „Warum die Arbeiterklasse im Westen dem Beispiel der KPdSU nicht folgen konnte – die Antworten von Antonio Gramsci“. Schuhler bezeichnet die angebliche Antwort Gramscis auf die Frage, warum die Revolutionen im Gefolge der Oktoberrevolution im Westen „scheitern mussten“ (!?), als „existenziellen Vorrat der heutigen Transformationstheorie“:

„Gramscis Grundthese besteht darin, dass in Russland die gewaltsame Übernahme der Staatsmacht in einer tiefen ökonomischen und politischen Krise hinreichen konnte, um die Gesellschaft in neue Bahnen zu lenken, dies jedoch niemals in den entwickelten kapitalistischen Ländern möglich wäre. In Russland war ,der Staat alles, die Zivilgesellschaft allerdings erst in ihren Anfängen und gallertenhaft‘. Ein ähnlicher Revolutionsversuch im Westen, wo ,zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein richtiges Verhältnis bestand und sich das System als robust erwies, konnte nur zu Niederlagen führen’“. (1)

Hinter dem repressiven Staatsapparat erhebe sich in entwickelten kapitalistischen Ländern eine viel mächtigere Verteidigungslinie: Die bürgerliche Zivilgesellschaft präge Denken und Verhalten der Menschen in einer Weise, die eine kulturelle Hegemonie der herrschenden Klasse begründe. Diese Hegemomie garantiere gerade in Krisenzeiten die Herrschaftskonformität der Unterdrückten, die das System jeweils in neuen Formen sich wieder regenerieren lasse. Das System erweise sich als fähig, immer wieder neue Formen zu finden, in denen der Protest der Ausgebeuteten scheinbar integriert und befriedet werde.

„Diese Sicht des Klassenkampfes, dass auf der Seite des Kapitals nicht nur ein staatlicher Zwangsapparat steht, sondern eine ideologisch dominante Kultur, die sich ständig über ihre Hegemonieapparate Schulen, Kirchen, Medien, Verbände des Denkens und Fühlens der Gesellschaftsmitglieder bemächtigt, führt zu einem Paradigmenwechsel in der marxistischen Revolutionsstrategie, zum Übergang „vom Bewegungs- zum Stellungskrieg“ (2). Daher schlussfolgert Schuhler, dass der alte Gegensatz von „Reform und Revolution“ überwunden werde müsse – eben in der „Systemtransformation“.

Warum also soll das Modell Oktoberrevolution auf „entwickelte kapitalistische Länder“ ab einer gewissen Stufe der Entwicklung der „Zivilgesellschaft“ nicht mehr anwendbar gewesen sein? Was ist überhaupt das Modell der bolschewistischen Revolution? Welche Grundlagen im Marxismus hat es, und was hätte besagte Transformationsstrategie dagegen noch mit marxistischer Systemüberwindung zu tun? Oder ist es nicht einfach ein Neuaufguss revisionistischer Theorie von Bernstein bis Kautsky?

Wir beginnen mit der Frage nach dem bolschewistischen Revolutionskonzept, wie es klassisch in „Staat und Revolution“ von Lenin dargestellt wurde.

Grundprinzipien der Lenin’schen Konzeption der Oktoberrevolution

Lenin schrieb „Staat und Revolution“ in der kurzen Atempause nach den Juli-Tagen 1917 in Vorbereitung auf den folgenden Oktobersturm. Es handelte sich um eine letzte Selbstvergewisserung in Bezug auf die bisherigen Lehren der Staats- und Revolutionstheorie, die Erfahrungen der Revolutionen von 1848/49 und 1871 und die Schlussfolgerungen daraus für den Charakter des kommenden Umsturzes. Herausgekommen ist eine klare Wegbeschreibung Richtung Winterpalais.

Lenin geht aus von Engels‘ (3) Ableitung des Staates als eines notwendigen Resultats der Entwicklung von Klassengesellschaften: als Struktur, die scheinbar zwischen den unversöhnlichen Klassenwidersprüchen vermittelt, tatsächlich aber der Aufrechterhaltung der Ausbeutungsbedingungen für die herrschende Klasse dient; zweitens als Struktur, die sich von Klassenherrschaft zu Klassenherrschaft immer mehr verfeinert und von der Gesellschaft, die sie hervorgebracht hat, entfremdet. Lenin folgert: „Wenn der Staat das Produkt der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze ist, wenn er eine über der Gesellschaft stehende und ,sich ihr mehr und mehr entfremdende‘ Macht ist, so ist es klar, dass die Befreiung der unterdrückten Klasse unmöglich ist, nicht nur ohne gewaltsame Revolution, sondern auch ohne Vernichtung des von der herrschenden Klasse geschaffenen Apparats der Staatsgewalt, in dem sich diese ‚Entfremdung‘ verkörpert“ (4).

Das erste Prinzip der marxistischen Revolutionstheorie ist also, dass sich die proletarische Revolution von allen vorangegangenen Revolutionen, die wieder nur andere Klassenherrschaften begründet haben, grundlegend dadurch unterscheiden muss, dass sie die bestehenden Unterdrückungsapparate in ihrer Essenz nicht übernehmen kann, sondern sie durch etwas ersetzen muss, das letztlich mit dem Verschwinden der Klassenherrschaft an sich auch jede Form von staatlicher Repression und administrativer Herrschaft zur Auflösung bringt.

Dabei ist auch bei Lenin klar, dass sich der Staat nur im Kern als „Organisation bewaffneter Menschen und ihrer sachlichen Anhängsel (Gefängnisse, Zwangsanstalten aller Art…)“ darstellt, darüber hinaus aber auch einen immer weiteren Kreis an Mechanismen zur Kontrolle und Steuerung der Unterdrückten umfasst – auch natürlich auf ideologischem Gebiet.

Die ArbeiterInnenklasse ist eben deswegen zu einer Revolution in der Lage, die den Weg zur klassenlosen, sozialistischen Gesellschaft öffnet, da in ihr (bzw. der Universalität der Lohnarbeit) die vergesellschaftende Tendenz der kapitalistischen Produktionsweise genauso verkörpert ist wie die auf die Spitze getriebene individuelle Ausbeutung von Mehrarbeit. Diese gleichzeitige Zuspitzung von Ausbeutung und Entfremdung einerseits sowie dem Fehlen von Privateigentum an den Produktionsmitteln andererseits in der Klassenlage des Proletariats befähigt dieses erst objektiv, durch die Vergesellschaftung der im Kapitalismus entwickelten Produktionsmittel die Grundlage aller Klassenspaltung (die Aneignung des Mehrprodukts durch eine herrschende Klasse) aufzuheben. Wie Engels im „Anti-Dühring“ festhält, bedeutet (was die Frage des Staates betrifft) damit schon der erste Akt der proletarischen Revolution einen qualitativen Sprung: „Das Proletariat ergreift die Staatsgewalt und verwandelt die Produktionsmittel zunächst in Staatseigentum. Aber damit hebt es sich selbst als Proletariat, damit hebt es alle Klassenunterschiede und Klassengegensätze auf, und damit auch den Staat als Staat“ (5).

Die Verstaatlichung, die zur tatsächlichen Vergesellschaftung durch ein sich selbst organisierendes Proletariat führen soll, verleiht zugleich dem Staat eine völlig andere Qualität: „Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiete nach dem andern überflüssig und schläft dann von selbst ein. An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht ‚abgeschafft‘, er stirbt ab“ (6). Für Lenin ist klar, dass sich „Aufhebung“ und „Absterben“ hier unbedingt auf unterschiedliche Staatscharaktere beziehen müssen. Die proletarische Machtergreifung, die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die Durchsetzung proletarischer Selbstorganisation etc. kann sich nicht unter Beibehaltung des bestehenden bürgerlichen Staatsapparates vollziehen – die „Aufhebung“ kann somit nichts anderes als eine Zerschlagung seiner Repressionsorgane und seiner Formen der Regierung über Personen sein. Das, was an die Stelle dieses alten Staatsapparates tritt, kann nur eine besondere, neue Form von Staat sein – ein Staat, der sein eigenes „Absterben“ eingebaut hat und betreibt, der sich mehr und mehr überflüssig macht.

Das zweite Prinzip der marxistischen Revolutionstheorie ist daher, dass zwar die proletarische Revolution zur Durchsetzung der Vergesellschaftung der Produktionsmittel in einer ersten Etappe weiterhin eines Staatsapparates bedarf, dieser aber in einem Bruch mit den bestehenden Unterdrückungsapparaten der Klassengesellschaften entstehen muss, und zwar durch ihre Zerschlagung bei gleichzeitiger Schaffung eines proletarischen Halbstaates, der auf sein Absterben hin ausgerichtet ist.

Marx bemerkte in diesem Sinn besonders aus der Erfahrung der Pariser Kommune von 1871: „Namentlich …hat die Kommune den Beweis geliefert, dass die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen kann“ ,und weiter, dass bei einem nächsten Versuch „nicht mehr wie bisher die bürokratisch-militärische Maschinerie aus einer Hand in die andere zu übertragen, sondern sie zu zerbrechen, …die Vorbedingung jeder wirklichen Volksrevolution“ sei (7). Diese Erkenntnis sprach er bereits 1852 im Gefolge der Revolution von 1848 aus („Der 18. Brumaire des Louis Napoleon Bonaparte“), sie wurde aber durch die Pariser Kommune bestätigt und ergänzt „durch die endlich entdeckte Form“ des Staates, mittels derer das Proletariat seine Diktatur ausüben und zum Sozialismus vorwärtsschreiten könne.

Kern des neuen proletarischen Halbstaates ist damit wie bei jedem Staat, nach der Zerschlagung der stehenden Heere und der anderen bürgerlichen Repressionsorgane, die Frage der eigenen Bewaffnung. D. h., sowohl vor der Revolution als auch danach ist das bewaffnete Proletariat die Grundbedingung für die gesellschaftlich Umgestaltung, zur Verteidigung der neuen Eigentumsverhältnisse und Abwehr der Versuche der Restauration. Umgekehrt bemerkte Engels in einem Vorwort zum „Bürgerkrieg in Frankreich“, dass in jeder modernen Revolution die Hauptsorge der Bourgeoisie die Entwaffnung der ArbeiterInnenklasse sei. Lenin bemerkt dazu: „Diese Bilanz der Erfahrungen der bürgerlichen Revolutionen ist ebenso kurz wie bedeutungsvoll. Das Wesen der Sache – unter anderem auch in der Frage des Staates (ob die unterdrückte Klasse Waffen besitzt) – ist hier treffend erfasst“ (8). In diesem Zusammenhang erwähnt Lenin, dass die Menschewiki seit ihrem Regierungseintritt die Wiederherstellung des staatlichen Gewaltmonopls und die Entwaffnung der Petrograder ArbeiterInnen zu ihrer politischen Hauptaufgabe erklärt hatten – ein klarer Beweis, wie Sozialdemokraten zu Hauptfunktionären der Konterrevolution werden.

Das dritte Prinzip ist daher, dass es keine proletarische Revolution ohne Zerschlagung der bestehenden bewaffneten Organe des bürgerlichen Staates und ohne eigene, vom Proletariat kontrollierte bewaffnete Organe geben kann, dass daher der revolutionäre Staat im Kern das bewaffnete Proletariat ist, das seine Bewaffnung zur Unterdrückung der bisher unterdrückerischen Klassen benutzt. Dies ist es, was die Klassiker „die Diktatur des Proletariats“ nennen – eine letzte Form der Klassenherrschaft, die notwendig ist bis zum endgültigen Absterben des Staates.

Was ist nun aber mit den administrativen und ökonomischen Funktionen des Staates? Gemeinsam mit Marx und Engels sah Lenin hier die Erfahrung der Kommune von Paris 1871 als die entscheidende geschichtliche Erfahrung des Proletariats in der Staatsfrage. Die aus allgemeinem Wahlrecht in Stadtteilen, Arbeitsstätten und bewaffneten Organen hervorgehenden Kollektivorgane ermöglichten es den bisher Unterdrückten, über ihre unmittelbaren Probleme selbst zu entscheiden und sich selbst zu verwalten. Diejenigen, die mit Verwaltungs- und Vertretungsaufgaben betraut sind, sollen jederzeit abrufbar, den Beschlüssen der Räte verpflichtet sein und ein normales ArbeiterInnengehalt erhalten. Schließlich sollen alle bewaffneten Organe aufgelöst werden außer denen, die unmittelbar unter der Kontrolle dieser Räte stehen (was sowohl Militär- als auch was Polizeifunktionen betrifft). Die unmittelbare Verbindung zur vergesellschafteten Produktion selbst (auf der Grundlage der Verstaatlichung der Produktionsmittel) ermöglicht es den Räten, wie Marx es nannte, „arbeitende Körperschaften“ zu sein, also entsprechend den prioritären Bedürfnissen praktische Entscheidungen über Produktion und Verteilung zu treffen. Angesichts der Ausdehnung, Zentralisation und komplexen Verbindungen der ökonomischen Basis erfordert dies damit auch eine entsprechende Assoziation und Zentralisation des Rätesystems in einem Delegiertensystem, das eine gesamte Räterepublik umspannen muss.

Gleichgültig ob die Begriffe „Kommune“, „Räte“ oder „Sowjets“ verwendet werden, von Marx bis Lenin ist klar, dass es keine erfolgreiche proletarische Revolution geben kann, ohne dass sich ein demokratisch-zentralistisches Netz von Selbstverwaltungsorganen des Proletariats bildet, das zum Motor der Umgestaltung von staatlichen und ökonomischen Strukturen wird, die mit der Errichtung der Diktatur des Proletariats an die Stelle von kapitalistischer Ökonomie und Staat treten. Nur das demokratisch sich selbst organisierende Proletariat kann letztlich die Nachwirkungen der kapitalistischen Arbeitsteilung, des Wertgesetzes, der Land-Stadt-Teilung, der sozialen Unterdrückung, der staatlichen Autoritäten und Repressionen etc. überwinden.

Das vierte Prinzip ist also, dass das rätedemokratisch organisierte Proletariat mit der Verstaatlichung der zentralen Produktionsmittel einen auf Rätebasis aufbauenden Halbstaat errichtet, der immer mehr die Aufgaben der Verwaltung und Leitung vereinfacht und – von Machtstrukturen befreit -somit das Absterben von Staat und staatlicher Repression einleitet.

Schließlich kommen wir zur Frage des Verhältnisses zur bürgerlichen Demokratie oder auch einer möglichen Koexistenz von Rätedemokratie mit der „bürgerlichen Zivilgesellschaft“ – einer Fragestellung, die viel mit der Eingangsfrage zu tun hat, wie wir später sehen werden. Einerseits ist es klar, dass bürgerliche Demokratie die bequemste Form der Herrschaft des Kapitals ist, da sie scheinbar auf Einbeziehung und Konsens der Unterdrückten und Ausgebeuteten zu ihrer Unterdrückung beruht. Als vereinzelte Einzelne, scheinbar freie Konsumenten und Verkäufer ihrer Arbeitskraft, sind auch die ArbeiterInnen bei „freien Wahlen“ der ungeheuren Marktmacht des Kapitals ausgesetzt und spielen Mitbestimmung, indem sie Regierungen alle paar Jahre mitwählen. Letztlich sind sie nur Erfüllungsorgane ganz anderer Interessen im Hintergrund, nämlich der Kapitalmächte, die bleiben, während Ministerdarsteller kommen und gehen. Aber gerade in Zeiten der Revolution, in denen sich gegenüber den bürgerlichen Machtorganen bewaffnete Räte als Gegenmacht etablieren und eine Situation der „Doppelmacht“ entsteht, werden jedoch die Institutionen Parlamente, „freie Wahlen“ und Ministerien zu entscheidenen Waffen der Konterrevolution. Diese Institutionen dienen zur Legitimation der bürgerlichen Gegenmacht, aus der im entsprechenden Moment der Schlag gegen die proletarische Demokratie im Namen des Kampfes gegen die „rote Diktatur“ geführt wird.

Gerade in der deutschen Novemberrevolution von 1918/1919 wurde eine lange Debatte um die Frage eines „reinen Rätesystems“ oder einer Mischung von Rätesystem und parlamentarischem System geführt – mit bekanntem Ausgang.

In Zusammenhang mit der Frage der Zerschlagung des bestehenden bürgerlichen Staatsapparates ist hier besonders die Einlassung von Lenin in Bezug auf die Debatte zwischen Kautsky und der Linken 1912 in „Staat und Revolution“ interessant. Gegenüber Pannekoeks Forderung, dass die Revolution Eroberung der Staatsgewalt sowie Zerschlagung des bestehenden Apparates bedeute, betonte Kautsky, dass es utopisch sei, die bestehenden Verwaltungen, Ministerien etc. aufzulösen. Dies sei Sache „des Zukunftsstaates“. Es komme vielmehr darauf an, durch Massendruck „Verschiebung der Machtverhältnisse innerhalb der Staatsgewalt“ zu erreichen und dadurch schrittweise zur „Eroberung der Staatsgewalt durch Gewinnung der Mehrheit im Parlament und Erhebung des Parlaments zum Herrn der Regierung“ zu erreichen (9). Kautsky erweist sich hier – wie wir noch öfter bemerken werden – als Urahne von „Stellungskrieg“ und „Transformation“.

Das fünfte Prinzip besagt also, dass die proletarische Revolution nicht siegen kann, wenn nicht die Doppelmacht zwischen bewaffneten, in Räten organisiertem Proletariat und den bürgerlichen Institutionen, auch den sogenannten parlamentarisch-demokratischen, aufgelöst wird. Der entscheidende Akt der sozialistischen Revolution wird immer eine Form der bewaffneten Machtergreifung, der Auflösung der restlichen bürgerlichen Machtorgane und die Etablierung einer Form der Räterepublik sein.

Gramsci und die Räte in der Revolution

Unstreitig sind die Erwartungen der Bolschewiki und ihrer internationalen Verbündeten, dass die Oktoberrevolution nur der Auftakt der Weltrevolution sein werde, nicht in Erfüllung gegangen. Die Frage ist nun, ob das Scheitern der Anwendung der oben genannten Prinzipien „im Westen“ nun tatsächlich etwas mit grundlegend anderen Bedingungen dort, mit Mängeln in diesen Prinzipien oder mit anderen Gründen zu tun hat?

Gegen die Behauptung Schuhlers, Gramsci hätte im Hegemonie-Problem eine grundlegende Schwäche von Lenins Revolutionsprinzipien für Revolutionen in „entwickelten kapitalistischen Ländern“ entdeckt, lässt sich ein interessanter Zeuge anführen: Antonio Gramsci selbst! 1919 und 1920 inmitten der revolutionären ArbeiterInnenkämpfe im Italien des „biennio rosso“ (der „zwei roten Jahre“) hat Gramsci, als ein auf das Engste mit der Turiner Rätebewegung verbundener Kommunist ganz andere Ursachen für das Scheitern der Revolution in Italien benannt.

Wie in vielen anderen kriegführenden Ländern war die Russische Revolution 1917 auch in Italien Ermutigung für Streiks und Aktionen gegen den Krieg. Im August 1917 war Turin in der Hand bewaffneter streikender ArbeiterInnen. Die Erfahrung der brutalen militärischen Niederschlagung der August-Streiks durch die italienische Republik führte dazu, dass die ArbeiterInnen nach dem Waffenstillstand Ende 1918 neue Kampf- und Organisationsformen suchten, sodass in den italienischen Industriezentren Räte gebildet wurden. Die Entstehung von ArbeiterInnenräten während und nach dem Ersten Weltkrieg war ein vielschichtiges Phänomen: Einerseits hatte es simple ökonomische Funktionen in einer von Versorgungskrisen und Stockungen in der Produktion gekennzeichneten Situation. Dazu kamen Räte als Steigerungsform der Klassenauseinandersetzung auf der Grundlage von Streikversammlungen, übergreifenden Komitees und Verteidigungsmaßnahmen gegen staatliche bzw. unternehmerische Zwangsmaßnahmen. Darüber hinaus war die Bildung von Räten ein Ausdruck der Unzulänglichkeit oder Gespaltenheit der bestehenden ArbeiterInnenorganisationen: In den zugespitzten Auseinandersetzungen mit Staat und Kapital bemerkten die ArbeiterInnen „naturwüchsig“, dass sie über die sozialdemokratischen Apparate in Partei, Parlament und Gewerkschaften hinausgehen mussten, dass sie umfassendere Organe für die Vorbereitung, Diskussion und Durchführung ihrer Aktionen brauchten. Räte wurden so zu einem zentralen Instrument proletarischer Gegenöffentlichkeit wie auch zur ideologischen Klärung innerhalb der Klasse.

Antionio Gramsci beschreibt in einem rückblickenden Artikel vom August 1920, wie er mit einer kleinen Gruppe von vier anderen Intellektuellen im April 1919 den Entschluss fasste, mit der „L’Ordine Nuovo“ eine Zeitschrift herauszubringen, die Fragen der „proletarischen Kultur“ und der Entwicklung der Betriebsräte besprechen und kommentieren sollte. Der Kopf der Gruppe, Angelo Tasca (später einer der Führer der rechten Opposition in der PCI) sah die Räte als etwas, das sich letztlich der PSI- und der Gewerkschaftsführung unterordnen, und die Zeitschrift als ein Organ, das der Erziehung der Räte in Richtung Sozialdemokratie dienen sollte. In der Redaktionssitzung der siebten Nummer der Zeitschrift „putschte“ Gramsci zusammen mit Togliatti und Terracini (beide später die zentralen Führungsfiguren der Nachkriegs-PCI), um die „L’Ordine Nuovo“ zum Organ der Räte zu machen:

„… und es geschah, was wir vorausgesehen hatten: Togliatti, Terracini und ich wurden aufgefordert, in Unterrichtsgruppen und Fabrikversammlungen zu sprechen und zu diskutieren, wir wurden von den Betriebsräten eingeladen, im engen Kreis der Vertrauensleute zu diskutieren. Wir machten weiter; das Problem der Entwicklung des Betriebsrats wurde zum Zentralproblem, wurde zur Idee des „L’Ordine Nuovo“; es wurde zum Grundproblem der Arbeiterrevolution erhoben, es war das Problem der proletarischen ‚Freiheit‘. Der „L’Ordine Nuovo“ wurde für uns und alle, die uns folgten, zur ‚Zeitung der Fabrikräte‘; die Arbeiter liebten den „L’Ordine Nuovo“ … und warum liebten sie ihn? Weil sie in den Artikeln der Zeitung einen Teil ihrer selbst wiederfanden, weil sie spürten, dass die Artikel vom Geist ihrer eigenen Suche durchdrungen waren“ (10).

Dieses Zitat gibt gut wieder, wie sehr die Rätebewegung auch ein Formations- und Bildungsprozess war, in dem sich das revolutionäre Bewusstsein genauso wie der revolutionäre Aktionsplan erst gegen die alten Apparate und Vorstellungen herausbilden musste. Doch was war der Inhalt, mit dem der „L’Ordine Nuovo“ in diesen Bildungsprozess intervenierte?

„Wir sind überzeugt, dass nach den revolutionären Erfahrungen in Russland, Deutschland und Ungarn der sozialistische Staat sich nicht in den Institutionen des kapitalistischen Staates verkörpern kann, sondern… in einer grundlegend neuen Schöpfung. Die Institutionen des kapitalistischen Staates sind zum Zweck der freien Konkurrenz organisiert; es genügt nicht, das Personal auszutauschen, um ihm eine andere Richtung zu geben. Der sozialistische Staat ist noch nicht der Kommunismus… er ist vielmehr ein Übergangsstaat, der die Aufgabe hat, mit der Aufhebung des Privateigentums, der Klassen und der nationalen Wirtschaft, die freie Konkurrenz aufzuheben: diese Aufgabe kann die parlamentarische Demokratie nicht lösen. Die Formel ‚Eroberung des Staates‘ muss in dem Sinn verstanden werden: es muss ein Staatstypus geschaffen werden, der aus den Erfahrungen der Vergesellschaftung der proletarischen Klasse hervorgeht und den demokratisch-parlamentarischen Staat ersetzt“ (11). Dies geht also in die Richtung des oben dargestellten Konzepts der bolschewistischen Revolution – auch wenn es noch vage in Bezug auf die Frage der Machtergreifungsstrategie bleibt.

Um so ausführlicher geht Gramsci auf die Frage der Ausgestaltung der Räte ein: „Die Organisation der Fabrikräte beruht auf folgenden Prinzipien: in jeder Fabrik, in jeder Werkstatt wird eine Organisation auf Vertretungsbasis gebildet…, das die Macht des Proletariats verwirklicht, gegen die kapitalistische Ordnung oder die Kontrolle über die Produktion ausübt und die ganze Arbeitermasse für den revolutionären Kampf und für die Gründung des Arbeiterstaates erzieht. … Jeder Betrieb ist in Abteilungen gegliedert und jede Abteilung in Arbeitsgruppen: jede verrichtet einen bestimmten Teil der Arbeit; jede Gruppe wählt einen Arbeiter mit imperativem und begrenztem Mandat. Die Delegiertenversammlungen der ganzen Betriebe bilden einen Rat, der aus seiner Mitte ein Exekutivkomitee wählt. Die Versammlung der politischen Sekretäre der Exekutivkomitees bildet das Zentralkomitee der Räte“ (12).

Gramsci betont den verallgemeinerten, „öffentlichen Charakter“ der Räte gegenüber Arbeiterparteien oder Gewerkschaften, die auf freiwilliger Mitgliedschaft beruhen – ArbeiterInnenräte organisieren die gesamte Klasse in ihren umittelbaren Arbeitsstellen. Von der kapitalistischen Ökonomie zu einem entfremdeten Teilglied eines riesenhaften, unüberschaubaren Apparates gemacht, kehrt die auf Räten basierte Kontrolle über die Produktion dieses Verhältnis um: „Indem sie diesen repräsentativen Apparat aufbaut, enteignet die Arbeiterklasse in Wirklichkeit die erste aller Maschinen, das wichtigste Produktionsinstrument: die Arbeiterklasse selbst nämlich, die zu sich selbst gefunden, das Bewusstsein ihrer organischen Einheit erlangt hat und sich geschlossen dem Kapitalismus widersetzt. Die Arbeiterklasse beweist damit, dass der Ausgangspunkt der industriellen Macht wieder die Fabrik sein muss, sie setzt vom Standpunkt des Arbeiters aus erneut die Fabrik als die Form, in der sich die Arbeiterklasse als determinierter, organischer Körper konstituiert, sie macht die Fabrik zur Zelle eines neuen Systems, des Rätesystems. Der Arbeiterstaat, der eine produktive Struktur hat, schafft bereits die Bedingungen für seine weitere Entwicklung, für seine Auflösung als Staat…“ (13).

Hier sind zentrale Fragestellungen der Theorie der Räte zusammengefasst: die bewusste Zusammenfassung der gesamten, bisher zerstückelten ArbeiterInnenschaft; die Neuformung des Produktionsprozesses, der Beziehungen der Produktions-, Verteilungs- und Komsumzentren auf der Basis eines repräsentativen, demokratischen Rätesystems; der Charakter des entstehenden neuen ArbeiterInnenstaates als produktiver Staat, der Staat als „arbeitende Körperschaft“.

Gleichzeitig betont Gramsci den enormen Fortschritt in der Organisation der Massenkämpfe, der durch die Festigung der Räte ermöglicht wird: „Die Tätigkeit der Fabrikräte und der Betriebsräte und ihre Aktionsfähigkeit trat während der Streiks noch mehr hervor; die Streiks verloren ihren impulsiven, zufälligen Charakter und wurden zum Ausdruck der bewussten Aktivität der revolutionären Massen. Die technische Organisation der Fabrikräte und der Betriebsräte und ihre Aktionsfähigkeit war derart perfekt, dass sie innerhalb von fünf Minuten sechstausend ArbeiterInnen, die über zweiundvierzig Abteilungen der Fiat-Werke verteilt sind, ihre Arbeit einstellen lassen konnten. Am 3. Dezember 1919 bewiesen die Fabrikräte greifbar ihre Fähigkeit, Massenbewegungen großen Stils zu leiten: auf Anordnung der sozialistischen Sektion, die den gesamten Mechanismus der Massenbewegung leitete, mobilisierten die Fabrikräte ohne jegliche Vorbereitung innerhalb einer Stunde hunderzwanzigtausend, nach Betrieben aufgeteilt. Eine Stunde später ergoß sich die proletarische Armee wie eine Lawine bis ins Stadtzentrum und fegte die ganze nationalistische und militaristische Kanaille von den Straßen und Plätzen“ (14).

Gramsci war auch klar, dass diese organisatorische Kampfstärke, die sich entwickelnde Doppelmacht, die Machtfrage stellte, die schnell zu beantworten war: „Niemals ist der revolutionäre Enthusiasmus im Proletariat Westeuropas glühender gewesen als heute. Aber es scheint uns, dass im Augenblick das klare Bewusstsein vom Ziel nicht von einem genauso klaren Bewusstsein der Mittel, wie das Ziel zu erreichen ist, begleitet wird. In den Massen hat die Überzeugung Fuß gefasst, dass der proletarische Staat sich im System der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte verkörpert. Jedoch ist noch keine taktische Konzeption entwickelt worden, die die Gründung eines solchen Staates objektiv sichert.. Die Macht des demokratischen Staates und der Kapitalisten ist noch sehr groß“ (15).

Gramsci und die Frage der revolutionären Partei

Sicherlich gibt es bei Gramsci auch in dieser Periode bestimmte, später von seinen EpigonInnen zum System ausgebaute Schwächen oder Unklarheiten: Es gibt eine Tendenz von einer sehr langen Periode der Räte-basierten Doppelmacht auszugehen, in der sich langsam überall in Stadt und Land die Keime des proletarischen Staates herausbilden: eines Doppelstaates, der von KommunistInnen geführt werden muss, die die erreichten Stellungen der ArbeiterInnenklasse gegen die Angriffe der parlamentarischen Irreführung, der pro-kapitalistischen SozialistInnen und GewerkschaftsführerInnen und der bewaffneten Bourgeoisie verteidigen müssen – bis schließlich das Proletariat für den entscheidenden Schlag bereit ist. Man kann beim Gramsci der „L’Ordine Nuovo“ eine Tendenz sehen, die Geschwindigkeit, mit der der Kampf um die Diktatur des Proletariats zu führen ist, zu unterschätzen. Was man aber beim Gramsci dieser Periode klar finden kann, ist, welche Gefahr er für die Revolution in den reformistischen ArbeiterInneninstitutionen, der Führung der SozialistInnen (die PSI befand sich zwar im Beitrittsprozess zur Komintern, war aber in parlamentaristische Rechte, ZentristInnen und einen revolutionären Flügel tief gespalten) und im Gewerkschaftsapparat sah:

„Den Kräften der Arbeiter und Bauern fehlt die Koordinierung und die revolutionäre Konzentration, weil die führenden Organe der Sozialistischen Partei gezeigt haben, dass sie die augenblickliche Phase der nationalen und internationalen Geschichte absolut nicht verstehen und die Mission nicht begreifen, die die Kampforgane des revolutionären Proletariats zu erfüllen haben. Die Sozialistische Partei folgt dem Lauf der Ereignisse als Zuschauerin, … sie gibt keine Losungen aus, die von den Massen aufgegriffen werden, eine allgemeine Richtung bezeichnen und die revolutionäre Aktion zusammenfassen könnten. … Auch nach ihrem Kongress in Bologna [Oktober 1919; endete mit der Niederlage des refomistischen Flügels und dem Beschluss zum Beitritt zur Komintern] ist die Sozialistische Partei eine rein parlamentarische Partei geblieben, die sich starr innerhalb der engen Grenzen der bürgerlichen Demokratie bewegt, die sich nur um die oberflächlichen politischen Bekundungen der Regierungskaste kümmert“ (16).

Trotz des vorgeblichen Siegs des linken Parteiflügels dominierte das Gewicht des parlamentaristischen und gewerkschaftlichen Apparats die Politik der PSI in der Praxis weiter: „Die Polemik mit den Reformisten und Opportunisten wurde nicht einmal aufgegriffen; weder die Parteiführung noch der ,Avanti‘ setzten der unaufhörlichen Propaganda, die die Reformisten und Opportunisten im Parlament und in den gewerkschaftlichen Organisationen betrieben, eine eigene revolutionäre Konzeption entgegen“ (17).

Gramsci analysierte mehrmals in „L’Ordine Nuovo“, dass sich der Reformismus in der ArbeiterInnenklasse sowohl auf gewerkschaftlichem Terrain (durch die Systemimmanenz des bloßen Kampfes um die Bedingungen des Verkaufs der Ware Arbeitskraft) als auch auf politischem Gebiet verfestigte, dadurch, dass die Auseinandersetzungen im Rahmen des bürgerlich-parlamentarischen Systems Bezugspunkte und materielle Basis des Parteiapparats wurden. Anders als die „kommunistische Fraktion“ unter Amadeo Bordiga (die „AbstentionistInnen“) lehnten die OrdinistInnen die Beteiligung am Parlament nicht ab. Nicht nur, da das Parlament als wichtige politische Bühne gerade auch in Krisenzeiten genutzt werden müsse, sondern auch, weil Parlamentsfraktion und Gewerkschaftsapparate nicht einfach dem rechten Flügel überlassen werden sollten. Bei aller Konsequenz und Radikalität der BordigistInnen, als Ergebnis gab das „Links-liegen-lassen“der reformistischen Bastionen den Apparaten in den entscheidenden Momenten 1920 die Macht zum Abwürgen der Revolution.

Sowohl im April als auch im September 1920 waren die Turiner Räte Ausgangspunkt mehrtägiger Massenstreiks, die das ganze Land paralysierten. Auch wenn es zunächst um klassische Forderungen wie den 8-Stundentag ging, war klar, dass derartige unbefristete Generalstreiks die Machtfrage stellten. Da die Gewerkschaftsführungen den Streik nicht unterstützten, wich auch die zentristische PSI-Führung um Serrati zurück und rief nicht zum landesweiten Generalstreik auf. Gramsci stellte im Protest dagegen ein 9-Punkte-Programm mit dem Kernpunkt „Alle Macht den Räten“ auf und erklärte der Parteiführung ausdrücklich, dass „entweder die Eroberung der politischen Macht durch das revolutionäre Proletariat folge oder eine furchtbare Reaktion durch die besitzende Klasse“ (womit er leider sehr Recht behalten sollte). Nachdem im September der Militäreinsatz gegen die Turiner Rätebewegung drohte, handelten PSI- und Gewerkschaftsführung. Aber statt die ArbeiterInnenklasse zu mobilisieren und zu bewaffnen, kungelten sie einen Kompromiss mit der Bourgeoisie aus. Angesichts der drohenden Niederlage waren Kapital und Regierung natürlich bereit, z. B. auf die Forderung des 8-Stundentages (vorübergehend) einzugehen. Doch die Macht, die praktisch auf der Straße gelegen hat, wurde so von der PSI-Führung für billige Reform-Münze verkauft.

Aus diesen historischen Zusammenhängen wird klar, dass, wenn Gramsci später von „Hegemonie“, „vorgeschobenen Bastionen“, „Befestigungen des bürgerlichen Systems“ jenseits des bloßen Staatsapparates spricht, er im Hinblick auf die eigene italienische Erfahrung nicht so sehr das weite Feld von zivilen Institutionen, Presse, Vereinen etc. vor Augen hatte, sondern vielmehr die reformistischen Apparate, die reformistische Ideologie, das rein gewerkschaftliche Bewusstsein etc., das sich auch in Italien als die entscheidende Bastion gegen die Machtergreifung des Proletariats erwies. Denn auch was die bürgerlichen Teile der „Zivilgesellschaft“ in dieser Periode betraf, war Gramsci 1920 sehr klar: „Als politische Kraft reduziert sich der Kapitalismus auf einen Interessenverband der Fabrikbesitzer; er verfügt nicht mehr über eine politische Partei, deren Ideologie auch die kleinbürgerlichen städtischen und ländlichen Schichten ergreift und somit das Weiterleben eines legalen Staates auf breiter Basis erlauben würde… Deshalb neigt die politische Kraft des Kapitalismus dazu, sich immer mehr mit der oberen Militärhierarchie, mit der Gardia Regia, mit den vielen nach dem Waffenstillstand umherschwirrenden Abenteurern zu identifizieren, die, sich untereinander befehdend, der Kornilow oder Bonaparte Italiens werden möchten“ (18).

Auch hier ist keine Rede davon, dass umfangreiche „Hegemonie-Institutionen“ und zivilgesellschaftliche Rückhalte die Kapitalherrschaft sicherten – dies waren vielmehr bewaffnete Teile des Staatsapparates zusammen mit den bewaffneten Horden der Faschisten. Wie Gramsci es richtig vorhergesagt hatte, folgten auf die verpasste Chance des „biennio rosso“ die zwei „schwarzen Jahre“ 1921/22, die mit der Machtergreifung der Faschisten endeten. Das Kapital wurde gerettet durch die Demoralisierung der Arbeiterklasse nach der vertanen revolutionären Chance und die Mobilisierung der kleinbürgerlich-faschistischen Reaktion mit massiver Finanzhilfe durch die Industriellen- und Agrarier-Vereinigungen.

Die Spaltung der PSI, die schließlich 1921 zur Gründung der PCI führte, kam letztlich zu spät. Unter Führung des ultralinken Flügels um Amadeo Bordiga war die PCI auch nicht in der Lage, die Wende von der revolutionären Offensive hin zur Verteidigung gegen die faschistische Gefahr zu vollziehen. Ausgerechnet Bordiga als PCI-Generalsekretär, die Verkörperung der Ablehnung der Einheitsfronttaktik, war natürlich nicht in der Lage, den jetzt notwendigen Schwenk hin zur Einheitsfront mit SozialistInnen, GewerkschafterInnen etc. gegen die faschistische Machtergreifung umzusetzen. Als Gramsci 1923 nach der Verhaftung Bordigas zum Generalsekretär der PCI gewählt wurde und von der Komintern mit dem Mandat zur Umsetzung der Einheitsfronttaktik ausgestattet wurde, fand er unter den Bedingungen der sich festigenden faschistischen Herrschaft keine erfolgreiche Gegenstrategie. Tatsächlich revidierte Gramsci die Einheitsfronttaktik nach rechts, in Richtung Volksfront. Besonders nach der Ermordung des sozialistischen Abgeordneten Matteotti im Juni 1924, die zu einem Auszug der „antifaschistischen“ DemokratInnen (einschließlich Liberaler und KatholikInnen) aus dem Parlament führte, sah Gramsci die Gelegenheit von einer „breiten Opposition“. Gramsci versuchte die folgende schwere innenpolitische Krise für die Bildung eines Gegenparlaments mit den bürgerlichen „AntifaschistInnen“ zu nutzen. Letztlich scheiterte diese Volksfront wie viele danach am unvermeidlichen Verrat der umworbenen bürgerlichen Kräfte, die sich letztlich vor einer Rückkehr der „roten Jahre“ mehr fürchteten als vor der Konsolidierung der Herrschaft Mussolinis. 1926 ließ Mussolini denn auch alle demokratischen Hüllen fallen – mit vielen seiner GenossInnen wurde auch Gramsci verhaftet und jahrelang unter schwerer Kerkerhaft gesundheitlich und psychisch zugrunde gerichtet. Er starb an den Folgen der Haftbedingungen im April 1937.

Gramscis „Gefängnishefte“ – ein Alternativkonzept?

In der Zeit nach 1929 war es Gramsci möglich, einige seiner Gedanken und politischen Reflexionen in einer ungeordneten Folge von Heften aufzuzeichnen. Aus Angst vor Entdeckung und Vernichtung wurden diese „Gefängnishefte“ in eine Fülle von philosophisch-historischen Studien verpackt, wobei offene Bezugnahme auf Marxismus und die kommunistische Bewegung vermieden wurde. So verwendete Gramsci statt „Marxismus“ die Phrase „Philosophie der Praxis“ u. v. m. Trotz vieler Unklarheiten des Zusammenhangs und der tatsächlichen Absichten Gramscis – der natürlich nichts davon mit anderen GenossInnen diskutieren konnte -, wurden diese „Gefängnishefte“ zu einem zentralen Anknüpfungspunkt für spätere „Neuinterpretationen des Marxismus“ – unter völliger Ausblendung des eigentlichen politischen Wirkens von Gramsci vor 1926.

Für den Kontext der Gefängnishefte ist auch noch ein anderer Faktor entscheidend: die Veränderung der politischen Verhältnisse in der Komintern. Spätestens seit 1923 war die Komintern vom Fraktionskampf und dem Aufstieg des bürokratischen Zentrums unter Stalins Führung geprägt. Einerseits führte dies zu einem wirren Zickzack in den taktisch-strategischen Direktiven der Komintern, andererseits führte die revisionistische Perspektive des „Aufbaus des Sozialismus in einem Land“ immer mehr zur Unterordnung der Kominterntaktik unter das Primat des außenpolitischen Nutzens für die Sowjetunion. Bordiga, der in einer kurzen Phase ohne faschistische Haft nochmal als der Vertreter der PCI am fünften Kominternkongress in Moskau 1924 auftrat, war wohl einer der letzten, der Stalin öffentlich und von Angesicht zu Angesicht als einen Verräter an der Sache der proletarischen Revolution bezeichnete. Gramsci rang sich im Namen des Zentralkomitees der PCI 1926 noch einen Brief ab, in dem er zwar auf Seiten der Mehrheit Position ergriff, jedoch zugleich gegen eine Spaltung und für die weitere Integration von Trotzki und den anderen linken Oppositionellen eintrat. Dieser Brief wurde allerdings durch Togliatti in Moskau „nicht zugestellt“ – was zu einem Zerwürfnis zwischen Gramsci und der späteren PCI-Führung unter Togliatti (der ihm als Generalsekretär folgte) führte.

Insbesondere war es wohl die Politik der „3. Periode“, der „Offensivstrategie“ gegen den Faschismus und die Gleichsetzung von Sozialdemokratie und Faschismus in der „Sozialfaschimus“-Theorie, die Gramsci nicht befürwortete. Insbesondere in Italien unter dem faschistischen Regime musste die stalinistische „Offensivstrategie“ zu einer Selbstmordoperation werden, die die mühsam aufgebaute illegale Struktur der Partei zerstörte. Der später immer wieder aus dem Zusammenhang gerissene Teil der Gefängishefte zu „Stellungs- und Bewegungskrieg“ kann nur in diesem Zusammenhang einer vorsichtigen und verklausulierten Stellungnahme zur aktuellen Kominternstrategie gelesen werden. Auch wenn Gramsci hier besonders Trotzki als den Vertreter des „Frontalangriffs“ kritisiert, ist wohl etwas ganz anderes gemeint – möglicherweise konnte Gramsci in der Haft auch gar nichts davon wissen, dass Trotzki zur selben Zeit einer der schärfsten Kritiker der Offensivstrategie und Verteidiger der Arbeitereinheitsfront auch mit den Sozialdemokraten gegen den Faschismus war.

Es wird hierbei auch unterschlagen, dass Gramsci im besagten Abschnitt „Politischer Kampf und militärischer Krieg“ in seine Analogiebetrachtung nicht nur Stellungs- und Bewegungskrieg, sondern auch den Untergrund/Partisanenkrieg mit einbezieht – eine Kriegsform, die insbesondere bei schwer militärisch überlegenem Gegner es ermöglicht, ihm sporadisch an wichtigen Stellen Niederlagen beizufügen, bis ein Übergang zu einer der anderen Kriegsformen möglich wird. Gramscis Hinweis, dass ein verfrühtes Losschlagen dem Gegener im Untergrundkrieg die Positionen und Stärke der eigenen Kräfte verrät, ist eine klare Anspielung auf Auswirkungen der Offensivstrategie auf die illegalisierte PCI im faschistischen Italien.

Bewegungs- und Stellungskrieg bei Gramsci

Tatsächlich findet sich in diesem Abschnitt aber auch der Ansatz einer Revision der bolschewistischen Revolutionstheorie. Das erklärt sich bei Gramsci vornehmlich aus der Demoralisierung durch die Niederlage gegenüber dem Faschismus, der sich insgesamt nach rechts bewegenden Situation in ganz Europa und der deprimierenden Entwicklung der Komintern. Kernpunkt ist die Analogie des Wandels vom Bewegungskrieg zur Dominanz des Stellungskrieges in der Kriegstaktik mit dem angeblich historischen Abschied von der Epoche der „permantenten Revolution“ hin zur Epoche des politischen Stellungskrieges. Im Ersten Weltkrieg bestanden die Frontstellungen nicht einfach aus Schützengräben – die Front war vielmehr ein kilometerweites System von vorgezogenen und nachgelagerten Grabensystemen, mit komplexen Verbindungssystemen, durchzogen von Befestigunganlagen und eigens gesicherten, weit zurückliegenden Artilleriestellungen. Die Eroberung vorgelagerter Schützengräben brachte kaum Geländegewinne und wurde durch Verschiebungen im Gräbensystem schnell wieder aufgefangen. Auf diese Weise bewegte sich auch bei großen Materialschlachten die Front oft nur wenige Meter hin und her.

In Analogie dazu bezeichnet Gramsci „in entwickelten kapitalistischen Staaten“ die bewaffneten Staatsorgane als nur noch „vorgeschobene Stellungen“. Dahinter stehe eine „bürgerliche Gesellschaft“, die rasch neue Verteidigungslinien aufbauen könne und die ersten Anfangserfolge des Proletariats als nutzlose Geländegewinne entlarve: „die Überbauten der bürgerlichen Gesellschaft sind wie das Grabensystem des modernen Krieges. Wie es hier vorkam, dass ein erbitterter Artillerieangriff das ganze gegnerische Verteidigungssystem zerstört zu haben schien, in Wirklichkeit aber nur dessen äußere Oberfläche zertrümmert hatte und im Augenblick des Angriffs und des Vordringens die Angreifer sich einer noch wirksameren Verteidigungslinie gegenübersahen, so geschieht es in der Politik während großer ökonomischer Krisen; durch die Auswirkungen der Krise werden weder die angreifenden Truppen blitzschnell in Raum und Zeit organisiert, und noch weniger machen sie sich einen aggressiven Geist zu eigen; umgekehrt werden die Angegriffenen nicht demoralisiert, noch verlassen sie die Verteidigungslinie, selbst wenn diese völlig zertrümmert ist, noch verlieren sie das Vertrauen in die eigene Kraft und in die eigene Zukunft“ (19). Gramsci fährt fort, dass das letzte Gegenbeispiel eines möglichen politischen Bewegungkrieges die Oktoberrevolution von 1917 war.

Zunächst fällt einmal auf, wie schwach schon die Analogie mit der Militärstrategie selbst ist. Gramsci erwähnt den italienischen General Cadorna als Beispiel einer verfehlten Frontalangriffsstrategie während der „Dominanz des Stellungskrieges“ (Warnung vor dem „politischen Cadornismus“). Tatsächlich war Cadorna ein Opfer der Fixierung auf den Stellungskrieg. In 11 blutigen Isonzoschlachten hatte er mehrere Armeen in sinnlosen Materialschlachten, konzentriert auf wenige Abschnitte dem Kriegsziel Triest gegenüber, im Stellungskrieg verbluten lassen. Nachdem die deutschen und österreichischen Gegner nach Ende des Kriegs im Osten zum Jahresende 1917 mehrere Reservearmeen zur Verfügung hatten, konzentrierten sie diese im Abschnitt zwischen Dolomiten- und Isonzo-Front. Der folgende Durchbruch im Karstgebirge führte zur Umfassung der gesamten befestigten italienischen Front, verwandelte den Stellungskrieg innerhalb eines Tages in einen rasenden Bewegungskrieg und führte zum Untergang der Isonzo-Armeen Cadornas. Die Analogie legt hier eher die taktische Weisheit Lenins nahe, dass die stärkste Kette nur so stark wie ihr schwächstes Glied sein kann. Noch so gut ausgeklügelte Verteidigungssysteme brechen zusammen, sobald der Gegner eben dieses schwächste Glied zum Einsturz gebracht hat. Übrigens bezeichnete Erwin Rommel, der am Durchbruch im Karst als Kompanieoffizier teilgenommen hatte, diese Erfahrung als Grunderkenntnis für die taktische Neuorientierung, wie sie im Zweiten Weltkrieg angewendet wurde – anders als Gramsci annahm, war der Stellungskrieg nicht das letzte Wort des „modernen Krieges“, vielmehr dominierte in den motorisierten und luftwaffenunterstützten Armeen des Zweiten Weltkrieges wiederum der Bewegungkrieg. Während Gramsci annahm, dass in Kriegen mit modernen industrialisierten Tötungsmaschinerien und Massenarmeen der Stellungskrieg die vorherrschende Erscheinung sei, führten Motorisierung und Luftkrieg dazu, dass sich umgekehrt dieser als taktische Ausnahme und zeitweise Atempause im Bewegungkrieg ergab.

Gramsci und der Begriff der Hegemonie

Genauso, wie die von der Entwicklung der Produktivkräfte bedingten Veränderungen in der Kriegsführung keineswegs den Stellungskrieg zur bestimmenden Form des modernen Krieges machen, ist zu hinterfragen, ob Gramscis Ausführungen zu den „Verteidigungsstellungen in entwickelten bürgerlichen Gesellschaften“ eine materielle Grundlage haben. Zentral verwendet Gramsci hierzu bekanntlich den Begriff der „Hegemonie“. Darunter versteht Gramsci in Anlehnung an Marx‘ Ideologiebegriff die Fähigkeit einer Klasse, ihre partikularen Interessen zurücktreten zu lassen hinter eine vorgebliche Vertretung gesellschaftlicher Gesamtinteressen. Hegemonie besteht vornehmlich in der Anerkennung der subalternen Klassen für den behaupteten Anspruch der herrschenden Klasse, die wesentlichen gesamtgesellschaftlichen Probleme und Fragen lösen zu können. Gramsci bezeichnet diesen Übergang von den Partikularinteressen zum gesamtgesellschaftlichen Anspruch als den Übergang zum Politischen: „[Es] bezeichnet den glatten Übergang von der Basis zur Sphäre des komplexen Überbaus. In dieser Phase werden die aufkommenden Ideologien ‚Partei‘, sie konfrontieren einander und bekämpfen sich, bis eine einzige Partei oder eine Parteienkombination die Vorherrschaft auf dem gesamten gesellschaftlichen Gebiet anstrebt. Diese Partei bestimmt außer der Einzigartigkeit der ökonomischen und politischen Ziele auch die geistige und moralische Einheit, indem sie alle Fragen, um die der Kampf entbrannt ist, nicht auf kooperativer, sondern auf ‚universaler‘ Ebene stellt und begründet dergestalt die Hegemonie einer fundamentalen gesellschaftlichen Klasse über andere untergeordnete Gruppen“ (20).

Hegemonie ist also einerseits durch ökonomische Klasseninteressen mit der gesellschaftlichen Basis verbunden, erhebt sich aber andererseits als universalistischer Anspruch anscheinend über den Klassenwiderspruch, entwickelt ein organisiertes, parteimäßiges System von scheinbar objektiven gesellschaftlichen Mechanismen für „gerechten Ausgleich“ und „Regieren im Sinne der Allgemeinheit“. Insofern bedeutet Gramscis Programm der Entwicklung von „Gegenhegemonie“ nichts anderes, als dass die proletarische Klasse und ihre Partei diese allgemeingesellschaftliche Problemlösungskompetenz der bürgerlichen Institutionen und Parteien erschüttern und das Proletariat sich selbst als die Klasse für die Lösung der zentralen gesellschaftlichen Fragen mehr und mehr durchsetzt.

Auch wenn die positive Darstellung der herrschenden Ideologie als befestigter Glaube der Subalternen an die Lösungskompetenz der Herrschenden für alle gesellschaftlichen Probleme und die so befestigte Einreihung aller in die „Einheit der Gesellschaft oder Nation“ eine Hilfe in der Analyse bestimmter historischer Situationen sein kann, ist wichtig zu sehen, was diese „Ideologiekritik“ nicht enthält: Die positive Darstellung als „Hegemonie“ lehnt sich zwar an Marx‘ Ideologiekritik an, verwendet aber nicht die Charakterisierung als „falsches Bewusstsein“, wie dies Marx in der „Deutschen Ideologie“ entwickelt hat. Was immer der Grund bei Gramsci gewesen sein mag (wie gesagt verwendete er in den „Gefängnisheften“ eine Art Code-Begrifflichkeit) – in der neo-marxistischen und post-modernen Rezeption wurde dieser Verzicht auf die Bezugnahme von „Wahrheit“ und „Falschheit“ geradezu Programm. Denn Marx‘ Begrifflichkeit impliziert natürlich, dass es einen dem verkehrten bürgerlichen Bewusstsein gegenüberstehenden, das Ganze der bürgerlichen Gesellschaft begreifenden und umstürzenden proletarischen Klassenstandpunkt gibt. Im „Hegemonie“-Begriff werden die grundlegende Widersprüchlichkeit des bürgerlichen Bewusstseins, seine Unfähigkeit, das Ganze der Gesellschaft zu erfassen, und die Aussichtslosigkeit seiner eigenen humanitär-freiheitlichen Ansprüche nicht deutlich – eine Widersprüchlichkeit, die sich von der wissenschaftlich-ideologischen Ebene bis auf die Ebene der Gesetze und Institutionen durchziehen muss. Damit kann es natürlich auch keine durchgreifende und in jedem Fall krisenfeste „Hegemonie“ geben, sondern nur zeitweise scheinbare Ruhigstellung und Vermittlung der Widersprüche, nur um sie in einer nächsten Entwicklungsphase wieder umso heftiger aufbrechen zu lassen.

Natürlich betont auch Gramsci die Bedeutung von „Hegemonie-Krisen“. Krisen im Kapitalismus, politische Führungskrisen (aufgrund verlorener Kriege oder unerwarteten sozialen Aufruhrs, Aufkommens spontaner Bewegungen) können eine „Autoritätskrise“ bis hin zu revolutionären Situationen ergeben (21). Die modernen bürgerlichen Staaten hätten jedoch, so Gramsci, die Fähigkeit entwickelt, in solchen Krisen rasch die politischen Strukturen und Führungseliten zu wechseln, neue Hegemonie-Insitutionen zu schaffen, in denen die „Revolutionäre“ oder Kritiker als integraler Bestandteil mit eingebaut werden (dies nennt Gramsci „passive Revolutionen“). Da diese Fähigkeit zur Integration für ihn ein wesentliches Moment der Hegemonie darstellt, bringt Gramsci die moderne bürgerliche Herrschaft auf die Kurzformel „Diktatur plus Hegemonie“ (22).

Sicherlich hat das bürgerliche System eine gewaltige Flexibilität in seiner Integrationsfähigkeit für oppositionelle Bewegungen und soziale Proteste entwickelt, ebenso wie es immer wieder gelingt, dass große Teile der Unterdrückten, von neuen bürgerlichen Scheinlösungen getäuscht, die Herrschaft des Kapitals in veränderter Form verteidigen. Trotzdem zeigte ja auch Gramscis eigene Erfahrung im Italien der „roten Jahre“, wie weit eine von der ArbeiterInnenklasse vorangetragene Hegemoniekrise das Problem der proletarischen Revolution auf die Tagesordnung setzen kann und sich die Rätebewegung zu großen Teilen nicht ins bürgerliche Sysem integrieren ließ. Die Verteidigungsstellungen der Bourgeoisie waren zunächst vor allem die alten Arbeiterorganisationen, der rechte Flügel der sozialistischen Partei und die Führung der Gewerkschaften. Natürlich zeigt dies an, wie zentral gerade der Reformismus zu einem integralen Bestandteil und Stablisierungsfaktor nicht nur der bürgerlichen „Hegemonie“, sondern auch der bürgerlichen Diktatur geworden ist. Die Integration der tatsächlichen revolutionären ArbeiterInnenbewegung war dem Kapital offenbar weder möglich, noch war es willens dazu – vielmehr ging es nach dem Verpassen des Moments der Revolution seinerseits zum Frontalangriff über, indem es bürgerliche und kleinbürgerliche Massen um die neuformierte faschistische Form der „Hegemonie der bürgerlichen Klasse“ sammelte. Offensichtlich taugt für diese rasche Aufeinanderfolge von revolutionärem Aufschwung und konterrevolutionärem Gegenschlag weder das Hegemonie/Integrations-Konzept noch dasjenige von der Dominanz des Stellungskrieges.

Bilanz

Es fragt sich auch, was die Konsequenz eines jahrelangen „politischen Stellungkrieges“ für die den „proletarischen Hegemonieanspruch“ verkörpernde kommunistische Partei und die Räte bedeuten soll. Gramsci betont ja mehrmals, dass der Stellungskrieg und seine zermürbende Wirkung eine streng disziplinierte und zentralisierte Organisation mit eisernen Disziplinierungs- und Kaderisierungsmaßnahmen gegenüber der eigenen „Front“ erfordere. Gramsci selbst mag sich hierbei eine konsequent kommunistische Partei, die in diesem oder jenem Gebiet Teilerfolge erringt, aber vornehmlich ihre Größe kontinuierlich steigert, gedacht haben, die eine Art Gegengesellschaft in Teilbereichen errichtet, um irgendwann ihre Hegemonie über die Gesamtgesellschaft herstellen zu können. Als die PCI im Nachkriegsitalien Gramscis Gefängnishefte veröffentlichte, war die Interpretation dagegen ganz klar: im Rahmen eines bürgerlichen Italiens mehr und mehr Positionen in Regionalregierungen zu erobern, bis hin zu Regierungsbeteiligun-gen mit den bürgerlichen Parteien, um so die bürgerliche Gesellschaft graduell in eine sozialistische zu transformieren. Dieser „Gradualismus“ wurde geradezu direkt mithilfe Gramscis führenden Theoretikern der PCI gerechtfertigt (insbesondere von Luciano Gruppi, dem „Chefideologen“ des „Eurokommunismus“). Es ist schon ein Hohn, dass Gramsci, der vor den antirevolutionären Wirkungen einer ArbeiterInnenbürokratie im Prozess der revolutionären Krise gewarnt hatte, letztlich zur Rechtfertigung einer bürokratischen Integration des italienischen Stalinismus in das bürgerliche System dienen sollte. Andererseits ist bereits sein Konzept des „politischen Stellungskrieges“ selbst fragwürdig – denn wer führt hier die „proletarische Stellung“ und was soll diese im politischen Sinn überhaupt darstellen? Die Schlussfolgerung, dass es sich bei der Stellung um einen stalinistischen Parteiapparat mit vielfältigen Vorfeld- und Frontorganisationen handeln könnte und bei den „Erfolgen im Stellungskrieg“ um Institutionen und Posten im bürgerlichen System, liegt eben einfach zu nahe, als dass man Gramsci davon freisprechen kann.

Bleibt letztlich die Frage, ob Gramsci damit recht hat, dass die ökonomisch-politische Krise in entwickelten kapitalistischen Staaten nie so tief sein kann, dass etwas wie der Oktoberumsturz von 1917 noch einmal möglich wäre. Hiermit wird behauptet, dass es in entwickelteren kapitalistischen Staaten, als es Russland 1917 war, Systeme der bürgerlichen Herrschaft gäbe, die in ökonomisch-politischen Krisen weitreichendere Abfangmechanismen bereithalten, als es das Russland des Zarismus bzw. der Kerenski-Regierungen zur Verfügung hatten. Wie schon gezeigt, bleibt Gramscis Analyse in Bezug auf diese angeblichen Mechanismen mit seinem Hegemoniebegriff äußerst vage und unfruchtbar in Bezug auf reale revolutionäre Situationen, in denen sich der Konflikt zwischen Reform oder Revolution historisch offenbar gemacht hat.

Althusser und die neo-marxistische „Entmystifizierung“ der Oktoberrevolution

Eine tatsächliche, wenn auch noch revisionistischere Begründung für diese Stabilität des bürgerlichen Systems und die Einmaligkeit der Oktoberrevolution lieferten erst die „neo-marxistischen“ Nachfolger von Gramsci in den 1960er/70er Jahren. Eine herausragende Rolle dabei spielte – zumindest im methodischen Sinn – Luis Althusser.

Der Artikel „Widerspruch und Überdetermination“ aus der bekannten „Für Marx“-Anthologie kann als Ausgangspunkt für die methodische Wende herangezogen werden, die Althusser dem „Wissenschaftsbegriff“ im Rahmen des Marxismus gab. Kernpunkt dieser Wende ist die Ablehnung oder Neuinterpretation des Marx’schen Diktums, dass die Hegel’sche Dialektik als Schlüssel für gesellschaftliche und historische Analyse „umgestülpt“, „vom Kopf auf die Füße gestellt“ werden müsse. Althusser beharrt dagegen darauf, dass nicht nur der idealistische Inhalt problematisch sei, sondern dass auch die dialektische Methode selbst von idealistischem Zukunftsglauben und vereinfachter historischer Logik, die zu einem „Zielpunkt der Geschichte“ hinführen sollen, durchtränkt sei. Althussers Programm ist daher, die marxistische Gesellschaftsanalyse auf „wissenschaftliche“ Grundlage zu stellen, auf einer Dialektik von Strukturanalysen zu begründen. Ein Muster dafür entwickelt er im Begriff der „Überdetermination“, den er im besagten Artikel an einem Beispiel erläutert: der Oktoberrevolution 1917.

Er beginnt die Analyse mit der Fragestellung, warum die Oktoberrevolution in Russland („ausgerechnet Russland“) möglich war und warum sie dort und nur dort erfolgreich gewesen sei.

In Bezug auf die Möglichkeit der Oktoberrevolution gibt Althusser eine klassische Antwort (gegenüber einem „Theoretiker“ des isw-Flügels der DKP, Conrad Schuhler, der im anfangs zitierten Artikel einen Widerspruch zur Marx’schen Revolutionstheorie sieht, hat der Revisionist Althusser hier eine durchaus klare und korrekte Sicht): „Sie war in Russland aus einem Grund möglich, der weit über Russland hinausging – weil nämlich mit der Entfesselung des imperialistischen Krieges die Menschheit in eine objektiv revolutionäre Situation eingetreten war. Der Imperialismus hatte das ‚friedliche‘ Gesicht des alten Kapitalismus erschüttert. Die Konzentration der Industriemonopole und die Unterwerfung der Industriemonopole unter die Finanzmonopole hatte die Ausbeutung der Arbeiter und der Kolonien gesteigert. Die Konkurrenz der Monople machte den Krieg unvermeidlich. Aber dieser gleiche Krieg, der bis zu den Kolonialvölkern, aus denen man Truppen bezog, ungeheure Massen in seine endlosen Leiden hineinzog, warf sein ungeheures Fußvolk nicht nur in die Massaker, sondern auch in die Geschichte. Das Erlebnis des Krieges sollte in allen Ländern dem langen Protest eines ganzen Jahrhunderts gegen die kapitalistische Ausbeutung als Transportgehilfe und als Enthüllungsmittel dienen; schließlich auch als ein Punkt, an dem sich dieser Protest festmachen konnte, indem er eine ganz überwältigende Evidenz und damit auch wirksame Mittel des Handelns gewonnen hat“ (23).

Warum wurde aus dieser Möglichkeit nur in Russland nachhaltig ein sozialistischer Umsturz (die Versuche in Deutschland und Ungarn scheiterten ja in relativ kurzer Zeit)? Althusser geht aus von Lenins Erklärung, dass Russland das „schwächste Glied“ im Staatensystem des Imperialismus war. Diese Schwäche habe sich aus der „Anhäufung und Zuspitzung aller damals möglichen Widersprüche in einem einzigen Staat“ (24) ergeben. Dies betraf die Verschärfung der weiter bestehenden feudalen Ausbeutung, die zu einer Zuspitzung der ländlichen Revolten führen musste und so, anders als 1905, ArbeiterInnen und Ba(e)uerInnen in eine Front gegen den Zarismus bringen sollte; verschärfte Konflikte durch die rasche Industrialisierung, die zu Erfahrungen harter Klassenkämpfe in allen großen Städten und Industriezentren geführt hatte; scharfe nationale Konflikte durch den inneren und äußeren Kolonialismus im „Völkergefängnis“ des Zarismus; „ein gigantischer Widerspruch“ zwischen dem Grad der Entwicklung kapitalistischer Produktionsmethoden (z. B. Konzentration von ArbeiterInnenmassen wie die 40.000 in den Putilowwerken in Petersburg) und der mittelalterlichen Rückständigkeit auf dem Land; Zuspitzung der politischen Konflikte nicht nur mit der ArbeiterInnenklasse, sondern auch in den herrschenden Klassen selbst (insbesonder auch was die bürgerliche und kleinbürgerliche Opposition gegen den „Despotismus“ betraf). „Dazu traten in den Einzelheiten der Ereignisse noch andere Umstände mit ‚Ausnahmecharakter‘, die ohne diese ‚Überlagerung‘ der inneren und äußeren Widersprüche unverständlich geblieben wären“ (25): Althusser nennt hier den „fortgeschrittenen Charakter der russischen revolutionären Elite“, die sich z. B. vor allem im Exil bildete, „das ganze Erbe der politischen Erfahrung der Arbeiterklassen des westlichen Europas (und vor allem: den Marxismus)“ aufsog – nicht zuletzt mit den Bolschewiki eine Partei entwickelte, „die an Bewusstsein und Organisation alle westlichen ‚sozialistischen‘ Parteien bei weitem übertraf“; die Generalprobe von 1905, die unter anderem das wesentliche Organisationsmoment der Sowjets hervorbrachte; schließlich das Moment der Erschöpfung der alten Mächte im dritten Jahr des verheerenden Krieges, die es den Bolschewiki ermöglichte, ihre Bresche in die Geschichte zu schlagen (die Politik der Alliierten, die den Zaren loswerden, aber mit der „demokratischen Regierung“ den Krieg fortsetzen wollten, ebenso wie die zumindest indirekte Unterstützung des deutschen Generalstabs für die Rückkehr der exilierten Revolutionäre, um gerade dies zu untergraben…).

Daraus schlussfolgert Althusser: „Die Ungleichmäßigkeit der Entwicklung des Kapitalismus mündete über den Krieg von 1914 in die Russische Revolution, weil Russland in der vor der Menschheit eröffneten revolutionären Periode das schwächste Glied in der Kette der imperialistischen Staaten war: weil es die größte Summe damals möglicher Widersprüche anhäufte; weil es zugleich die am meisten verspätete und die am meisten fortgeschrittene Nation war, ein ungeheurer Widerspruch, den ihre unter sich uneinigen herrschenden Klassen weder umgehen noch auch lösen konnten“ (26).

Dies konfrontiert Althusser nun mit der Revolutionserwartung der SozialdemokratInnen in Deutschland des 19. Jahrhunderts: „Sie glaubten offensichtlich, dass die Geschichte über die andere … Seite fortschreitet, die der größten ökonomischen Entwicklung, der größten Expansion, des auf seinen allerreinsten Aufriss reduzierten Widerspruchs (zwischen Kapital und Arbeit) – wobei sie aber vergaßen, dass sich dies alles im vorliegenden Fall in einem mit einem mächtigen Staatsapparat ausgestatteten Deutschland abspielte, das mit einer Bourgeoisie ausgestattet war, die schon seit geraumer Zeit ‚ihre‘ politische Revolution im Austausch für den polizeilichen, bürokratischen und militärischen Schutz erst Bismarcks, dann Wilhelms, ‚heruntergeschluckt‘ hatte, sowie für die ungeheuren Profite der kapitalistischen und kolonialen Ausbeutung, zudem ausstaffiert mit einem chauvinistischen und reaktionären Kleinbürgertum – wobei sie auch noch vergaßen, dass im vorliegenden Fall dieser so simple Aufriss des Widerspruchs ganz einfach abstrakt war: der wirkliche Widerspruch war so sehr mit diesen ‚Umständen‘ eins geworden, dass er nur durch sie hindurch und in ihnen überhaupt noch zu erkennen, zu identifizieren und zu handhaben war“ (27). Sicherlich ist diese Darstellung der deutschen Vorkriegs-Sozialdemokratie nicht gerecht, was viele ihrer führenden TheoretikerInnen betrifft – dies ist aber an dieser Stelle irrelevant.

Was sicher stimmt, ist, dass über die Frage der Bedingungen und des Charakters der proletarischen Revolution eine sehr unklare Vorstellung herrschte, wie sich speziell an der Staatsfrage zeigt (siehe den Abschnitt zu Kautsky im ersten Teil dieses Artikels). Sicher ist auch richtig, dass es eineTendenz zur mechanischen Ableitung des „Sieges der Revolution“ aus der Entwicklung des ökonomischen Klassenkampfes gab. Die Bemerkung Althussers, dass sich der ökonomische Klassenkampf in entwickelten kapitalistischen Ländern immer mehr mit Elementen der politischen Auseinandersetzungen verschränkt und Klassenkonflikte sich dort in „normalen Zeiten“ kaum in den rein ökonomischen Kämpfen widerspiegeln, ist sicher eine richtige Spitze gegen den Ökonomismus.

Bemerkenswert an dem Abschnitt ist zweierlei:

1) Althusser betont den „Ausnahmecharakter“ der Oktoberrevoluton anhand der genannten Anhäufung von Umständen und kontrastiert diese Umstände mit der ungünstigen Situation der deutschen Sozialisten in Bezug auf die Stärke von Staatsapparat und reaktionären politischen Kräften. Er führt aber dann nicht mehr aus, dass trotzdem nach dem November 1918 in Deutschland eine Situation entstehen konnte, die derjenigen in Russland 1917 an Schärfe in nichts nachstand, auch wenn im Vergleich zu Russland das Militär und der alte Staatsapparat noch weit intakter waren und die Hegemonie der sozialdemokratischen VerräterInnen weit weniger herausgefordert wurde.. In Deutschland entwickelte sich nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs und seines Generalstabs eine der umfassendsten Rätebewegungen dieser von Althusser richtig beschriebenen revolutionären Menscheitsperiode. Die Erschütterung des Machtapparats war derart, dass das kapitalistische Sytem 1918/1919 nur durch die Sozialdemokratie selbst (d. h. ihren rechten Flügel) gerettet werden konnte. Diese Situation war außerdem nicht auf Deutschland beschränkt, sondern entwickelte sich auch in den Nachfolgestaaten der Habsburger Monarchie, in denen entweder Räterepubliken errichtet wurden (Ungarn, Slowakei) oder nur die konterrevolutionäre Politik der Sozialdemokratie die Herrschaft der Bourgeoisie retten konnte (Österreich). Auf Italien haben wir schon weiter oben verwiesen. Selbst in Ländern wie Britannien zeigten sich in der Shop Steward-Bewegung und in der politischen Entwicklung bis zum Generalstreik 1926 massenhaft Formen proletarischer Selbstorganisation. Hinzu kommen die Entwicklungen der Revolutionen in den vom Imperialismus beherrschten Ländern, die auch die Frage der permanenten Revolution auf die Tagesordung stellten (China).

Althusser unterstellt einen „Ausnahmecharakter“ der Russischen Revolution, der von der realen historischen Entwicklung nicht gestützt wird. Wie schon beim späten Gramsci wird die Rolle der ReformistInnen zu einem nebengeordneten „Umstand“, als sei der Verrat der Sozialdemokratie im Westen eine Art objektive Notwendigkeit, ein Element der bürgerlichen Herrschaft wie alle anderen gewesen. Wie bei Gramsci verschwindet auch die subjektive Schwäche der RevolutionärInnen im Westen, rechtzeitig nach dem Vorbild der Bolschewiki eine aktionsfähige Einheit gebildet zu haben, die auf der Grundlage von Herrschaftskrise, Rätebewegung und Doppelmacht ähnlich wie in Russland in die „Bresche der Geschichte“ hätte schlagen können. Unerwähnt bleibt auch, dass Lenins Bemerkung, dass mit Russland „das schwächste Glied im System der imperialistischen Staaten“ gerissen sei, ja auch der Umstand gemeint war, dass diese Revolution natürlich ungeheure Stoßkraft auf alle Klassenkämpfe im Westen hatte – damit ja auch tatsächlich eine Kette internationaler Revolutionen möglich geworden war.

2) Methodisch entwickelt Althusser in der Gegenüberstellung „Anhäufung der Widersprüche“, „abstrakter Glaube an den Widerspruch von Kapital und Arbeit“ allerdings eine prinzipielle Relativierung der Bedeutung des ökonomischen Grundwiderspruchs. Althusser sieht es als das „mystisch-unwissenschaftliche“ Erbe des Hegelianismus, von zentralen, wesentlichen Widersprüchen, die in einem hierarchischen Gefüge zusammenwirken und letztlich von der Bewegungsrichtung der zentralen Widersprüche bestimmt seien und auf deren „Aufhebung“ (auch ein angeblich unwissenschaftliches Konzept) zustreben. Am klarsten: Wenn in der Althusser’schen Analyse die Oktoberrevolution so sehr als „Ausnahme“ erscheint, dann fragt sich: als Ausnahme von was?

„Etwa in Bezug auf eine gewisse ganz abstrakte, aber doch bequeme und beruhigende Vorstellung eines ‚dialektischen‘, bereinigten, einfachen Schemas, das in seiner Einfachheit gewissermaßen die Erinnerung des Hegel’schen Modells bewahrte oder aber einfach dessen Gangart wieder aufnahm – und zwar den Glauben an die lösende ‚Kraft‘ des abstrakten Widerspruchs als solchen. Im vorliegenden Fall ging es um den ‚schönen‘ Widerspruch von KAPITAL und ARBEIT. Ich leugne gewiss nicht, dass die Einfachheit des ‚bereinigten‘ Schemas gewissen subjektiven Notwendigkeiten der Massenmobilisierung entsprechen konnte“ (28).

Vielmehr würde sich in allen konkreten politischen Analysen von Marx und Engels etwas über das dialektische Schema Hinausreichendes finden: „Es zeichnet sich in ihnen ab, dass der Widerspruch Kapital-Arbeit niemals einfach ist, sondern dass er immer durch die Formen und die konkreten historischen Umstände spezifiziert ist, unter denen er wirkt. Spezifiziert durch die Formen des Überbaus (der Staat, die herrschende Ideologie, die Religion, die organisierten politischen Bewegungen etc.); spezifiziert durch die äußere und innere historische Situation,… nationale Vergangenheit (vollzogene oder zurückgenommene bürgerliche Revolution, völlig, teilweise, oder gar nicht beseitigte feudale Ausbeutung, lokale Sitten, spezifische nationale Überlieferungen beziehungsweise ein ‚eigentümlicher Stil‘ der politischen Kämpfe oder Verhaltensweisen etc.) … des jeweils bestehenden globalen Zusammenhangs… Kann das überhaupt etwas anderes bedeuten, als dass der scheinbar einfache Widerspruch immer überdeterminiert ist?“ (29)

Dies bedeutet, dass jede gesellschaftliche Situation jeweils durch ein Geflecht von Strukturen, mit jeweils eigenen Widersprüchen/Konflikten/Bewegungsformen ausgezeichnet ist, die sich jeweils gegenseitig beeinflussen/determinieren. Insofern ist auch der Kapital/Arbeit-Widerspruch bei Althusser seinerseits nur über das Geflecht der anderen Strukturwiderprüche gegeben bzw. selbst bestimmt, tritt nie in einer „reinen Form“ auf, sondern ist immer z. B. mit Widersprüchen in Überbau, Staat, Institutionen verknüpft bzw. äußert sich zugespitzt dort und nur untergeordnet in den unmittelbaren Produktionsstätten. Die Konstellation des Verhältnisses der verschiedenen Strukturen und ihrer Widersprüche führt entweder dazu, dass trotz derselben „Schärfe des Kapital-Arbeit-Widerspruchs“ die gesellschaftliche Entwicklung gehemmt ist oder aber zu einem „revolutionären Bruch“ (ein zentraler Begriff für Althusser) führen kann: „… dass der überdeterminierte Widerspruch überdeterminiert entweder im Sinne eines historischen Hemmnisses sein kann, einer echten Blockierung des Widerspruchs (Beispiel: das wilhelminische Deutschland) oder aber im Sinne des historischen Bruchs (das Russland von 1917)…“ (30).

Umkehrung der Hegel’schen Geschichtsphilosophie im dialektischen Materialismus

In Hegels Geschichtsdialektik muss sich die „sittliche Idee“ durch die Ebene der bürgerlichen Gesellschaft (der interessengeleiteten, ökonomisch handelnden Menschen) hindurchbewegen, um im Staat/Geistesleben zu sich selbst zu kommen – als „Wirklichkeit der sittlichen Idee“. Die „Idee“ wird zum bewegenden Faktor der Geschichte, indem sie sich in ihren verschiedenen Momenten durch die gesellschaftliche Wirklichkeit entfaltet, als „Wahrheit“ einer Epoche „erscheint“. Dabei scheitere diese Verwirklichung immer wieder am eigenen Anspruch, das „Sein“ entspricht nicht dem „Begriff“, werde damit zu „unwahrem Sein“. Daher strebe die gesellschaftliche Wirklichkeit über die jeweils erreichte Erscheinungsform, die bestehende staatliche Ordnung hinaus – wenn es sein muss. Sie verwende die „List der Vernunft“ dabei auch die ihr scheinbar widersprechenden gewalttätigen Perioden des Niedergangs. Doch nach jedem Umbruch, in jeder neuen Epoche, seien die bisher erreichten Momente der Idee in der neuen Stufe der Entwicklung aufgehoben, bis am „Ende der Geschichte“ die Idee der Vernunft in ihrer reichen und durch all die vorangegangen Stufen vervollkommneten Form im Zukunftsstaat erscheine.

Um die Wirkungskraft dieser Hegel’schen Fortschrittsmythologie zu demonstrieren, ist es eine gute Veranschaulichung, hier kurz auf den italienischen Neuhegelianer Benedetto Croce einzugehen, dessen historische Studien ein wichtiger Anknüpfungspunkt für Gramsci waren (die Hegemonietheorie entstand in einer Auseinandersetzung Gramscis mit Croces Machiavelli-Studien). Croces geschichtsphilosophisches Hauptwerk ist sicherlich seine „Geschichte Europas im neunzehnten Jahrhundert“ (31).

Darin führt er aus, dass mit der Französischen Revolution die „Idee der Freiheit“, die in vielen Jahrhunderten davor im Untergrund der Geschichte heranwuchs, unwiderruflich an die Oberfläche der Geschichte durchgebrochen sei. In allen Ereignissen bis zur Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, schildert nun Croce, wie bei allen Rückschläge der Drang nach Durchsetzung von Freiheit das nach vorne drängende Moment der europäischen Geschichte gewesen sei. Selbst den Faschismus, der ihn sein Buch unter Hausarrest schreiben ließ (wenn auch nicht unter ebensolch schlimmen Bedingungen wie denen des von ihm geschätzte Gramsci), sah Croce als einen extremen „Ausreißer“, der letztlich in einer Art „List der Vernunft“ die Völker Europas zur Besinnung bringen würde, so dass sie nach dem Zeitalter der Extreme unweigerlich eine Form der demokratischen und liberalen Vereinigung Europas anstreben würden. Nachdem die Entwicklung dann nach der Niederschrift seines Werkes in Europa unmittelbar doch „etwas“ anders verlief, schrieb Croce im Nachwort von 1947: „Für den Verfasser wie für andere Männer seiner Generation ist es gewiss schmerzhaft, dass der Lauf der Geschichte nach 1931 andere Wege eingeschlagen und dass keine Wiederentdeckung des Freiheitsideals stattgefunden hat. Einigen Trost kann man jedoch aus den Worten Hegels gewinnen: dass die Idee keine Eile hat“ (32).

Althussers Punkt ist, dass die übliche, vereinfachte Form der materialistischen Uminterpretation der Hegel’schen Geschichtsphilosophie, in der statt der Idee nunmehr die Entwicklung der Produktivkräfte im Verhältnis zu den Produktionsverhältnissen und der darauf beruhende Klassenkampf zum Motor der Geschichte würden, nichts anderes als eine neu eingekleidete Heilserwartung à la Hegel sei. In „materialistischer Paraphrase“ von Croce könnte man sagen: Mit der Oktoberrevolution ist die Periode der Weltrevolution, das letzte Gefecht gegen das todgeweihte kapitalistische System auf die Bühne getreten. Es mag diese oder jene Rückschläge geben, aber der Sieg der Weltrevolution ist nun nicht mehr aufzuhalten. Tausende Militante gingen beruhigt in den Tod, mit der Gewissheit, dass die Weltrevolution auf dem Marsch ist…

Althussers „wissenschaftliche Alternative“

Was ist nun Althussers „wissenschaftliche Alternative“ zu dieser angeblich materialistisch verkleideten „Heilslehre“?

Bekanntlich verlegt die marxistische Gesellschaftsanalyse die geschichtlich vorantreibenden Widersprüche nicht einfach (was eine einfache „Umstülpung“ Hegels wäre) von der politischen Bühne des Staates auf „die Gesellschaft“. Die unhistorische Auffassung Hegels von der „bürgerlichen Gesellschaft“ als eine durch den „ökonomisch handelnden Menschen“ geschaffene Welt der Interaktion zwischen egoistischen Individuen abstrahiert eben gerade von den zentralen materiellen Bedingungen der handelnden Menschen. Die „Idee der Freiheit“ kann nicht verwirklicht werden, wenn der Großteil der Gesellschaft die Bedingungen ihrer Verwirklichung nicht kontrollieren kann und vor allem um seinen Anteil an der Verteilung auch der grundlegend zum Überleben benötigten Güter erstmal kämpfen muss. In der marxistischen Gesellschaftsanalyse wird Hegels „bürgerliche Gesellschaft“ durch die jeweils herrschende Produktionsweise ersetzt.

Hier beginnt Althusser nun eine neue Terminologie einzuführen: Die mit der Produktionsweise gegebenen Eigentumsverhältnisse als Produktionsverhältnisse bestimmen laut Althusser eine ökonomische Struktur, der auf einer anderen Ebene, der Ebene des sozialen Handelns, Klassenverhältnisse entsprechen. Der Staat wiederum wird auf der Ebene des politischen Handelns angesiedelt, im Zusammenhang mit der Sicherung bestehender Klassenherrschaft. Wichtig ist hier, dass Althusser nicht nur wie Marx die Relationsglieder in den gesellschaftlichen Bestimmungsverhältnissen gegenüber der Hegel’schen Dialektik ändert, er ändert auch das, was „Bestimmung“ bzw. „Determination“ bedeuten. Was „unwissenschaftlich“ bei Hegel sei, soll das einfache, hierarchische Determinationsverhältnis sein: Die ökonomischen, sozialen, politischen, ideologischen Strukturen müssten vielmehr jeweils zunächst einzeln betrachtet, um dann in ihrer wechselseitigen Beeinflussung erfasst zu werden.

Die einfache Bestimmung des staatlichen Überbaus durch die ökonomische Basis wird bei Althusser zu einer „letztlichen Bestimmung“, die aber auch in umgekehrte Richtung wirkt. Dazu kommt, dass es in einer konkreten Gesellschaft jeweils zur Verschränkung verschiedener Strukturen auch auf denselben Ebenen kommt: Z.B. mögen neben der dominierenden kapitalistischen Produktionsweise Reste der feudalen noch eine gewichtige Rolle spielen, eine Gesellschaftsformation umfasse viele Produktionsweisen und Klassenverhältnisse, es wirkten vormoderne Ideologien nach, auf politischer Ebene könne die Feudalaristokratie weiterhin zentrale Positionen im Staatsapparat besetzen usw. usf. Insofern bestimmt laut Althusser der Kapital-Lohnarbeits-Widerspruch nur „im Letzten“ die historische Tendenz. Tatsächlich würde sie jedoch überdeterminiert durch das komplexe Zusammenwirken der verschiedenen, zum Teil sehr widersprüchlichen Teilstrukturen, aus denen sich in nicht-harmonischer Weise das Gesellschaftsganze zusammensetze.

Nicht durch den „Basiswiderspruch“, sondern auch durch die Widersprüche und Differenzen in der Gesamtheit der für die Situation wesentlichen Strukturen ergebe sich die Möglichkeit des „revolutionären Bruchs“. Das bedeutet das Auftreten einer Situation, in der eine revolutionäre Praxis auf allen Ebenen (der Ökonomie, der Politik, der sozialen Verhältnisse, der Ideologie…)von der Umwälzung der Produktionsweise ausgehend die Gesellschaft auf eine neue Grundlage stellen kann. Wie schon bei seiner Analyse der Oktoberrevolution ist dabei auch die revolutionäre Praxis selbst, hier in Gestalt der bolschewistischen Partei, ein Resultat einer „besonderen“ Entwicklung, ein weiteres hinzukommendes (kontingentes) Strukturelement. Auch der „subjektive Faktor“ wird bei Althusser zu einem Moment der objektiven Überdetermination.

Im Zusammenhang mit der Revolutionstheorie kommt dazu, dass Althusser davon ausgeht, dass sich, je mehr sich der Kapitalismus entwickelt, sich die Widersprüche und Auseinandersetzungen von der unmittelbaren ökonomischen Ebene umso mehr auf die von Politik und Überbau verlagern. In diesem Zusamenhang behauptet er (33), dass in der marxistischen Gesellschaftsanalyse die Analyse der Wirkungen des Überbaus und vor allem seiner Rückwirkung auf die ökonomischen Widersprüche unterbelichtet sei. Als rühmliche Ausnahme bezieht er sich auf Gramsci, der mit dem Begriff der Hegemonie „ein bemerkenswertes Beispiel für die Skizze einer theoretischen Lösung des Problems der wechselseitigen Durchdringung der Ökonomie und der Politik“ (34) aufgezeigt habe.

Mit seiner späteren „Theorie der ideologischen Staatsapparate“ begründete Althusser denn auch, warum die Subjektbildung im entwickelten Kapitalismus immer nur im Rahmen der beschriebenen überdeterminierten Widersprüche erfolge, eine selbstbestimmte Subjektivität nur selbst wieder ideologische Konstruktion sein könne. Im entwickelten Kapitalismus könne es nur in außergewöhnlichen Situationen von Brüchen zwischen diesen Strukturen dazu kommen, dass revolutionäre Praxis in jeweils ganz besonderer gesellschaftsspezifischer Form in jeweils zu analysierenden besonderen Kräften auf die Bühne tritt – ein allgemeines Modell wie die Errichtung der proletarischen Diktatur auf der Basis von Räteherrschaft à la Oktoberrevolution gebe es dann natürlich nicht.

Althussers „Austreibung von Hegel“ aus dem dialektischen Materialismus endet also eigentlich bei Kant: Die gesellschaftliche Wirklichkeit sei nur in Teilstrukturen erkennbar. Dahinterstehende, übergreifende Tendenzen zu ergründen wäre „unwissenschaftlich“, ein allgemeines Subjekt der Geschichte gebe es nicht, sondern in Ereignissen des revolutionären Bruchs, die aufgrund der kontingenten Anhäufung einer Vielzahl von Strukturproblemen möglich würden, seien jeweils spezifische soziale und politische Kräfte zu revolutionärer Praxis fähig.

Es ist hier nicht der Platz, eine ausführlichere Kritik dieser strukturalistischen Revision des dialektischen Materialismus auszuführen. Es sollen hier die wichtigsten Kritikpunkte, wie sie für das Verständnis einer auf die Oktoberrevolution bezogenen marxistischen Revolutionsauffassung zentral sind, angeführt werden:

  • Indem Althusser den „Widerspruch“ aus dem Kernbereich der Ökonomie in Gegensätze der verschiedenen Teilsysteme einer Gesellschaftsformation verlegt, die sich zum Widerspruch verschärfen können, verkennt er die grundlegende Dynamik des in den Grundlagen des Kapitals selbst angelegten Widerspruchs. Im Nachwort zur zweiten Auflage von „Das Kapital“, in dem Marx seinen Bezug auf die Hegel’sche Dialektik begründet, betont Marx gerade, dass sich „die widerspruchsvolle Bewegung der kapitalistischen Gesellschaft“ am schlagendsten in der Tendenz zur verallgemeinerten Krise zeige (35). Diese Tendenz sei die konkrete Form der Revolte der sich im Kapitalismus entwickelnden Produktivkräfte gegen die Fesseln der bürgerlichen Produktionsverhältnisse. Damit ist allerdings ein umfassender Rahmen gegeben, der alle Teilwidersprüche – unmittelbare ökonomische Klassenkämpfe, politische und soziale Auseinandersetzungen im Inneren und Äußeren, ideologische und institutionelle Erschütterungen etc. – zu einer „Totalität“ verbindet. Eine fundamentale Krisenperiode, wie sie der Oktoberrevolution vorausgegangen ist, ist keine „Einmaligkeit“ mit ganz „besonderer historischer Spezifik“. Krisenperioden, in denen von der Ökonomie bis zu den politischen und ideologischen Strukturen alles Bestehende grundsätzlich in Frage gestellt ist, sind für die bürgerliche Gesellschaft vielmehr notwendig wiederkehrende Bedrohung.
  • Die Behauptung, eine von den ökonomischen Grundwidersprüchen ausgehende allgemeine historische Dynamik anzunehmen, sei bloßer Hegel’scher „Geschichtsmystizimus“, verkennt, dass der dialektische Materialismus gerade die revolutionäre, subjektive Seite der Hegel’schen Dialektik in seinem System aufgehoben hat: Das Scheitern der Ideen und Ansprüche (z. B. des Freiheitsideals) an der Wirklichkeit führt gerade zur Frage eines Subjekts, eines Standpunktes, von dem aus dieses Scheitern nicht nur verstanden, sondern auch überwunden werden kann. Die materialistische Geschichtsauffassung gipfelt gerade darin, dass die objektiven historischen Voraussetzungen für einen solchen Standpunkt mit der Entwicklung der entscheidendsten Produktivkraft im Kapitalismus gegeben sind: im Klassenstandpunkt des Proletariats. Dies ist kein „Geschichtsmystizismus“, sondern darin begründet, dass mit dem Proletariat zum ersten Mal in der Geschichte eine Klasse die Herrschaft erobern kann, die die Grundlagen aller gesellschaftlichen Praxis selbst produziert und somit deren selbstbestimmte Gestaltung bewusst angehen kann.
  • Kern der materialistischen Umkehrung Hegels ist nicht wie bei Althusser eine neuerliche Trennung von Theorie und Praxis, eine bei Althusser wiederum vollzogene bloß betrachtende, analysierende Gesellschaftskritik. Die Alternative ist nicht, dass ein mystischer „Geist der Weltrevolution“ die Geschichte antreibe, sondern dass das Proletariat als revolutionäre Klasse tatsächlich zum bewussten Subjekt des geschichtlichen Handelns werden kann. Das ist die revolutionäre Praxis, in der sich der Klassenstandpunkt des Proletariats verwirklichen kann. D. h., das Proletariat ist nicht mehr nur Resultat verschiedenster objektiver Prägungen, ist nicht nur Resultat seiner ihm selbst entfremdeten Produkte seiner Arbeit, sondern zugleich in der Lage, eine Gesellschaft hervorzubringen, in der es seine Zwecke selbst bestimmen und die Folgen seiner Entscheidungen auch vorhersehen kann. In seiner revolutionären Praxis drückt sich daher das Verständnis sowohl der Grundlagen der bestehenden kapitalistischen Gesellschaft, der notwendigen Handlungen zu ihrer Überwindung als auch die Möglichkeit einer selbstbestimmten sozialistischen Gesellschaft aus.
  • Die Behauptung, der Kapitalismus in entwickelten kapitalistischen Ländern würde Hegemonie-Mechanismen entwickeln, die ihn widerstandsfähig gegen allgemeine Krisenperioden und fähig zur Integration aller Oppositionskräfte machen würden, ist nicht nur eine Revision der marxistischen Krisentheorie. Sie verkennt auch die Bedeutung des subjektiven Faktors: Ob das Proletariat tatsächlich in der Lage ist, die von seinem Klassenstandunkt aus mögliche revolutionäre Praxis erfolgreich umzusetzen, hängt davon ab, ob es in der Lage ist, tatsächlich in der Praxis die Frage von „Staat und Revolution“ zu lösen, also die Krise für die Umwälzung der Produktionsverhältnisse, die Zerschlagung der bürgerlichen Staatsmacht, die Durchsetzung der eigenen politischen Hegemonie gegenüber den Integrations- und Repressionsmöglichkeiten der Bourgeoisie zu nutzen. Gerade die Frage, warum die Ausdehnung der Revolution über Russland hinaus nach 1917 nicht gelang, zeigt eher nicht, dass es sich hier um eine Frage von „Bewegungs- oder Stellungskrieg“ handelte – sondern vor allem um eine Frage der Entwicklung des subjektiven Faktors, der revolutionären Praxis und Führung der ArbeiterInnenbewegung in Westeuropa.

Poulantzas als der Anti-Lenin – Transformation als „dritter Weg“

Die „Transformationstheorie“ sucht heute einen „dritten Weg“ zwischen Reform und Revolution. Nachdem unter Berufung auf Gramsci behauptet wird, dass die „Bewegungskriegstaktik“ der Oktoberrevolution für die entwickelten kapitalistischen Länder mit ihren komplexen Zivilgesellschaften und der durchgreifenden bürgerlichen Hegemonie nicht geeignet sei, wird als eine Taktik des Stellungskrieges die langwierige „Transformation“ des Kapitalismus vorgeschlagen, die durch immer radikalere Reformen und Aufbau von „Gegen-Hegemonie“ irgendwann in eine sozialistische Demokratie umschlagen werde.

Die theoretische Gründungsfigur dieses Transformationskonzeptes ist sicherlich Nicos Poulantzas, der auch explizit die VordenkerInnen in Linkspartei und DKP von Demirovic, Candeias bis Mayer und Schuhler methodisch geprägt hat.

Tatsächlich läßt sich Poulantzas‘ „Staatstheorie“ geradezu als Anti-Buch zu Lenins „Staat und Revolution“ lesen.

Poulantzas‘ Analyse des Staates im Kapitalismus steht in der Tradition der „Verwissenschaftlichung“ und „Entmystifizierung“ des Marxismus, wie sie hier schon am Beispiel von Althusser dargestellt wurde. So lehnt Poulantzas die „historisierende“ Herleitung des Staates aus der Entstehung von Klassengesellschaften und der daraus folgenden Notwendigkeit der politischen Absicherung von Klassenherrschaft ab. Die Reduktion des Staates auf dessen Klassen-Herrschaftsfunktion, die sich um den Kern des Gewaltapparates gruppiert, wie sie der „traditionelle Marxismus“ lehre, verkenne die verschiedenen Staatsfunktionen und die komplexe Überlagerung verschiedener Strukturen, die den Staat ausmachten. Der Staat basiere zwar auf den kapitalistischen Produktionsverhältnissen, habe aber unterschiedliche materielle Apparate und geistige Potenzen, die sich in jeweils besonderer Weise mit diesen Produktionsverhältnissen verbänden. So erklärt Poulantzas etwa, dass sich aus der verstärkten Trennung von Hand- und Kopfarbeit im Kapitalismus ergebe, dass sich immer mehr Funktionen der Wissenschaftsproduktion, -vermittlung, der intellektuellen Verarbeitung, der Informations- und Analysefunktionen etc. in den öffentlichen Raum verschöben und daher in staatliche oder halbstaatliche Apparate hineinwüchsen. Genauso würden immer mehr Bereiche des unmittelbaren Alltagslebens, auch durch Institutionalisierung von z. B. kommunalen oder regionalen Konfliktlösungsprozeduren, vom Mitwirken im Staat durchzogen. Dazu komme im entwickelten, immer mehr der Krisenbewältigung dienenden Staat eine größer werdende unmittelbare ökonomische Funktion des Staates, ob in staatlichen Industrien oder im Finanzbereich.

Alle diese Faktoren (Poulantzas entwickelt natürlich noch viel mehr) sollen zeigen, dass der Repressionskern des Staates bloß einer unter vielen Strukturelementen ist. Wie auch schon bei Althusser kommt dazu, dass der Staat selbst auch wieder zu einem Moment der Bestimmung der Basis, also der Produktionsverältnisse selbst werde: „Der Staat spielt also eine entscheidende Rolle in den Produktionsverhältnissen und im Klassenkampf, insofern er von Anfang an in ihrer Konstitution und Reproduktion präsent ist“ (36).

Die Betonung der „konstitutiven Rolle“ des Staates für die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse wie auch für die Mechanismen der Austragung von Klassenkämpfen bedeuten, dass die ökonomischen Machtverhältnisse und Konfliktaustragungen im Kapitalismus immer einen bestimmten staatlichen Rahmen voraussetzten, der mit dieser Rahmensetzung zugleich sowohl das Bestehen als auch die systemkonforme Transformation dieser Verhältnisse garantiere. Poulantzas lehnt daher das „übliche marxistische“ Vorgehen ab, den Staat und die „eigentliche dahinter stehende Macht“ zu trennen. Der Staat sei kein reines „Instrument“, sondern in seiner Verschränkung mit dem Prozess der Kapitalreproduktion zugleich eine der Materialisierungen von „Macht“ im Kapitalismus: „Jede Macht … existiert nur in materiellen Apparaten… Diese Apparate sind nicht einfach Anhängsel der Macht, sondern beeinflussen sie in konstitutiver Weise: Der Staat selbst spielt eine organische Rolle in der Machtbeziehung von Klassen“ (37). Hier kommen wir also bei der Umkehrung von Engels‘ materialistischer Herleitung der Entfremdung staatlicher Machtstrukturen aus Eigentums- und Ausbeutungsverhältnissen an: Die immer komplexere Entwicklung von staatlichen Strukturen und die sich in ihnen ausdrückenden Konflikte würden zur Grundlage der Entwicklung von Klassenherrschaft.

Insofern wird auch klar, dass Poulantzas die Strategie der Zerschlagung des Staates (des Kapitals) und seine Ersetzung durch eine neue Form von rätedemokratischem Halbstaat nicht teilen kann: „Die Analyse und die Praxis von Lenin durchzieht eine prizipielle Linie: Der Staat muss en bloc durch einen frontalen Kampf in einer Situation der Doppelmacht zerstört, und durch eine zweite Macht, die Sowjets, ersetzt werden, deren Herrschaft kein Staat im eigentlichen Sinn mehr wäre, weil er bereits ein absterbender Staat sei“ (38). Dabei „reduziere“ Lenin den Staat in der Gleichsetzung von repräsentativer Demokratie und Macht des Kapitals auf die „Diktatur der Bourgeoisie“. Dagegen behauptet Poulantzas: „Der kapitalistische Staat wird dabei als bloßes Objekt oder Instrument betrachtet, das von der Bourgeoisie, deren Produkt er ist, nach Belieben manipuliert werden kann – man gesteht ihm keine inneren Widersprüche zu. Ebenso wenig wie die Kämpfe der Volksmassen in ihrer Opposition gegenüber der Bourgeoisie einer der Faktoren der Konstitution dieses Staates sein könnten (z. B. im Fall der Durchsetzung repräsentativer Demokratie), könnten sie den Staat selbst durchziehen, der als monolithischer Block ohne Risse begriffen wird. Die Klassenwidersprüche liegen zwischen dem Staat und den dem Staat von außen gegenüberstehenden Volksmassen – bis zu jenem Krisenpunkt der Doppelherrschaft, jenem Moment, in dem der Staat de facto durch die Zentralisierung von Paralellmächten, die zur realen Macht werden (die Sowjets), vernichtet worden ist“ (39).

Konsequenzen der Revision

Hier wird kristallklar, wohin die Revision der marxistischen Staatstheorie und die strukturalistische Widerspruchstheorie führen: Statt die gesellschaftlichen Widersprüche als Grundlage des Klassenstaates zu verstehen und den Klassenstaat im Kern als ein durch alle Klassenherrschaften hindurch immer mehr verfeinertes Herrschaftsinstrument zu sehen, wird der Staat selbst zu einem aus vielen, in Widersprüchen miteinander stehenden Strukturen, die konstitutiv für die Austragung gesellschaftlicher Konflikte sind. Damit lässt sich der Staat, der alle gesellschaftlichen Ebenen durchzieht und wesentlicher Bestandteil der erreichten gesellschaftlichen Arbeitsteilung ist, für Poulantzas auch nicht einfach durch etwas ganz Neues ersetzen. Der Versuch, die erreichte staatlich vermittelte Vergesellschaftung durch Sowjets zu ersetzen, müsse in der mangelhaften Widerspiegelung der gesellschaftlichen Komplexität und der damit verbundenen Auseinandersetzungen enden – womit die Basisdemokratie dann zwangsläufig durch autoritären Etatismus überholt werden müsse, da ja repräsentative Demokratie zerschlagen wird. Poulantzas nimmt Luxemburgs Kritik an der Zerschlagung der konstituierenden Versammlung durch die Bolschewiki wieder auf: Da die Sowjets nicht wirklich zur sozialistischen Transformation in der Lage gewesen wären, hätten Elemente der repräsentativen Demokratie die daraus notwendig gewordene Rückkehr zu administrativer Staatlichkeit ergänzen müssen.

Hier sind zwei wesentliche Revisionen des Leninismus enthalten: Erstens wird davon ausgegangen, dass „komplexe, entwickelte kapitalistische Staaten“ gar nicht wirklich durch Räteherrschaft in eine neue Staats-Funktionsweise umgewandelt werden können. Es wird entsprechend behauptet, Ziel sei weniger die tatsächliche Hervorbringung des proletarischen Rätehalbstaates, als vielmehr die Machteroberung im Staat selbst: „Es geht im Grunde gar nicht um eine Transformation des Staatsapparates: Zuerst ergreift man die Staatsmacht, sodann stellt man eine andere Macht an ihre Stelle“ (40).

Zweitens wird damit das Verhältnis von „Umwandlung des Staatsapparates“ und Machteroberung umgekehrt: Poulantzas spricht von einem „langen Prozess“ der Veränderung der Klassenverhältnisse innerhalb des Staates, der „eine gleichzeitige Transformation seiner Apparate“ umfasse: „Die radikale Transformation des Staatsapparates auf einem demokratischen Weg zum Sozialismus impliziert, dass es nun nicht mehr um das gehen kann, was man traditionellerweise als ‚Zerschlagung‘ oder ‚Zerstören‘ dieses Apparates bezeichnet“ (41). Denn dies würde eine vorschnelle Beseitigung von Mechanismen wie z. B. der repräsentativen Demokratie bewirken, die jedoch für die Umgestaltung noch wesentlich seien. Andererseits müssten immer mehr Elemente des entfremdeten Parlamentarismus durch unmittelbare Beteiligung der Massen und basisdemokratische Strukturen ersetzt werden. Man müsse also noch im Rahmen der Kapitalherrschaft mit der Perspektive der Vergesellschaftung und des Absterbens des Staates beginnen.

Poulantzas ist sich dabei durchaus bewusst, dass die Vermeidung der Machtfrage die Gefahr des Reformismus bzw. der raschen Repression und Vernichtung aller „Transformationen“ durch die gegnerischen Klassenkräfte in sich birgt. Im Unterschied zu anderen „TransformationistInnen“ sieht Poulantzas daher die Veränderungen im Repressivapparat selbst als zentrales Element der „Bildung von Widerstandszentren im Staatsapparat“ an (und im Mangel davon den Grund des Scheiterns der Volksfront in Chile 1974).

Letztlich werde die „radikale Transformation“ zu einem langwierigen Prozess der „Kräfteverschiebung“ im Zwischenraum Staat-Klassenkämpfe, der über verschiedene „Linksregierungen“ durch viele Rückschläge hindurch zu einer immer breiteren Verankerung für die sozialistische Umgestaltung führe. Dies setzt Poulantzas der „Strategie der Ergreifung der Staatsmacht“ entgegen, die angesichts der fehlenden Umwandlung der gesellschaftlichen Strukturen nur entweder im sozialdemokratischen Reformismus oder im stalinistischen Etatismus enden könne. Bei der kontinuierlichen Transformation handle es sich dabei nicht um eine Anhäufung von Reformen, sondern um Reformen, die über das System hinausgingen.

„Das innere Kräfteverhältnis des Staates zu ändern, meint nicht aufeinanderfolgende Reformen als kontinuierlicher Fortschritt, die schrittweise Einnahme der staatlichen Maschinerie oder die Eroberung der höchsten Regierungsposten. Diese Veränderung besteht in der Ausweitung ‚effektiver Brüche‘, deren kulminierender Punkt – und es wird zwangsläufig ein solcher Punkt existieren – im Umschlagen der Kräfteverhältnisse auf dem Terrain des Staates zugunsten der Volksmassen liegt“ (42).

Dies sei dann der Punkt, an dem tatsächlich Organe der proletarischen Selbstorganisation den alten Staat durch einen proletarischen Halbstaat ersetzen – wobei Poulantzas nicht davon ausgeht, dass dieser Prozess „friedlich“ abläuft: „Es wäre falsch… aus der Präsenz der Volksklassen im Staat zu schließen, dass sie ohne eine radikale Transformation dieses Staates dort Macht besitzen oder auf lange Sicht behalten können. Die internen Widersprüche des Staates implizieren kein ‚widersprüchliches Wesen’…. nicht… eine Situation von Doppelherrschaft in seinem Inneren …. Selbst wenn sich das Kräfteverhältnis und die Staatsmacht zugunsten der Volksklassen verändern sollten, tendiert der Staat mehr oder weniger langristig dahin, das Kräfteverhältnis, manchmal in anderer Form, zugunsten der Bourgeoisie wiederherzustellen“ (43). Somit sieht Poulantzas die Aktionen und Reformen innerhalb des Staates nur als „hinreichende Bedingung“ der Transformation, die Selbstorganisation und Entwicklung rätedemokratischer Alternativen als notwendige Bedingung, die wohl oder übel an einem Punkt in gewaltsamen Konflikt mit den herrschaftssichernden Mechanismen des bestehenden Staates kommen würden: „Der Prozess bietet auch dem Gegner mehr Möglichkeiten, entweder das Experiment des demokratischen Sozialismus zu boykottieren oder aber brutal zu intervenieren, um ihm ein Ende zu setzen. Der demokratische Weg zum Sozialismus wird sicherlich kein friedlicher Weg sein“ (44).

In Verteidigung des Modells Oktoberrevolution

Wie leicht zu sehen ist, greift Poulantzas in neuem theoretischen Begründungszusammenhang die alten Diskussionen um die Fragen von Räteherrschaft, repräsentativer Demokratie und Diktatur des Proletariats wieder auf, wie sie angesichts der Oktoberrevolution innerhalb der Tradition der Zweiten Internationale geführt wurden: Natürlich erinnert die „Transformationsstrategie“ an Kautskys Vorstellung in „Der Weg zur Macht“, wo er die Koexistenz von Rätestrukturen und einer weiterhin parlamentarisch bestimmten Regierung, die langsame Umformung des Staatsapparates bis zum Umschlag der Kräfteverhältnisse skizziert. Erst dann könnten die unmittelbare Herrschaft des Proletariats und das Absterben des Staates beginnen. Auch hier war Kautsky nur Theoretiker einer vielfältigen, in verschiedenen Fraktionen der Rätebewegung vorherrschenden Vorstellung von einer langfristigen Transformationsperiode, in der die Rätebewegung mit fortbestehendem Kapitalismus und mit bloßer Kontrolle über fortbestehende Administrationen des alten Staatsapparates voranschreiten könne.

Die Problematik der Poulantzas’schen Theorie liegt nicht nur in einer undialektischen Analyse der gesellschaftlichen Grundlagen des Staates, die nicht erkennt, dass die zugrundeliegende gesellschaftliche Dynamik des Kapitalwiderspruchs eine wesentliche Machtverschiebung und Transformation innerhalb des bestehenden Staatsapparates natürlich nicht zulässt und jegliche solche Ansätze in kurzer Zeit in ihr Gegenteil verkehren muss. Sie verkennt auch die Frage des Subjekts der „Transformation“, die weitgehend als objektiver Prozess einer parallelen Reformpolitik und spontaner Selbstorganisation angesehen wird. Die Frage, wie schon dargestellt, ist aber: Mit welchem Bewusstsein, mit welchem Verständnis des Prozesses und seiner Zielsetzung wird dies von den beteiligten Massen vorangetrieben? Wie am Beispiel der Novemberrevolution oder der italienischen Rätebewegung dargestellt, war selbst das Bewusstsein der fortgeschrittensten ArbeiterInnen bzw. von subjektiv gutwilligen RevolutionärInnen der politisch agierenden ArbeiterInnenorganisationen weit entfernt von Klarheit über die Notwendigkeiten des Moments der gesellschaftlichen Zuspitzung, und das bedeutet in der Konsequenz den sicheren Weg in die Niederlage.

Das weiterhin von den kapitalistischen Zuständen geformte Bewusstsein der Unterdrückten, die Herrschaftsinstrumente zu dessen Befestigung, letztlich die Entschlossenheit der Bourgeoisie, „stabile Verhältnisse“ so schnell wie möglich wiederherzustellen, geben dem Proletariat ohne Machteroberung keine „lange Periode“, in der es langsam selbstorganisierte Vergesellschaftung, Entwicklung von Produktionskontrolle etc. ausprobieren und dabei dann langsam sich auch in Denken und Handeln von der kapitalistischen Prägung befreien könnte. Weitaus mehr und öfter als die „Strategie der Machteroberung“ zur Ermöglichung von Räteherrschaft hat sich bisher die „Strategie der Transformation“ als Utopie und sicherer Weg in die Niederlage erwiesen. Und ein Sieg der Konterrevolution, eine Niederlage von Hoffnungen, auf selbstbestimmte Weise seine Probleme lösen zu können – das führt nicht einfach zu einem Einfrieren des Kräfteverhältnisses im Sinne des Stellungskrieges. Solche Niederlagen sind zumeist auch Wendepunkte die, kombiniert mit reaktionären, konterrevolutionären Bewegungen, auch die Unterdrückten spalten und Nährboden für reaktionäre subjektive Lösungen wie Chauvinismus und Faschismus sind.

Poulantzas‘ Warnung davor, dass die Machteroberungsperspektive die Tendenz zu autoritärem Etatismus enthält, verkürzt seinerseits die „Transformationsperspektive“ der Diktatur des Proletariats. Es ist gerade die Erkenntnis, dass die wirkliche Umgestaltung von Ökonomie und gesellschaftlichen Verhältnissen von den bestehenden staatlichen Apparaten mit aller Macht hintertrieben wird. Dies muss dazu führen, ihnen einen radikal neuen Typ von Demokratie entgegenzusetzen: eine Demokratie, die auf Grund ihrer Verbindung zu den unmittelbaren Produktionsagenten tatsächlich gesellschaftliche Veränderungsmacht hat. Gleichzeitig ist sich die Perspektive der Rätemacht, wie auch gezeigt wurde, durchaus bewusst, dass die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung der Räte und die Vielfalt der staatlichen Aufgaben, die nicht unmittelbar und sofort überall durch Räte administriert werden können, dazu führen, dass der Rätestaat zunächst sogar zu einer Vergrößerung staatlicher Apparate führen kann. Die Frage des Abbaus und der Kontrolle dieser staatlichen Apparate ist sicherlich das Hauptproblem einer Übergangsgesellschaft zum Sozialismus. Und sicherlich ist die Sowjetunion mit der baldigen Degeneration ihres Rätesystems an dieser Aufgabe vollständig gescheitert. Dies heißt nicht, dass durch ein z. B. parlamentarisches Korrektiv zur „Sowjetmacht“ dieses staatlich-bürokratische Übergewicht wahrscheinlich vermieden worden wäre. Die schwierige Situation der Sowjetunion mit Bürgerkrieg, Blockaden und Hungersnöten hätte unter Fortbestestand einer Doppelmacht mit parlamentarischer Vertretung der Bourgeoisie wahrscheinlich bald zu einer Konterrevolution geführt, die in einer schrecklichen faschistischen Diktatur geendet hätte, sicher keine positivere Alternative.

Tatsächlich haben z. B. die Diskussionen in der Novemberrevolution gezeigt, dass es sehr wohl auch arbeiterInnendemokratische Alternativen gab: so etwa die Konzeption, die auf betrieblichen Räten basierende ökonomische Gesamtplanung zu ergänzen durch ein System politischer Räte, das die bürgerlichen Repräsentativorgane ersetzt als auch politische Kontrolle über die Wirtschaft im ArbeiterInnenstaat ausübt. Auch wenn die Perioden erfolgreicher Räteherrschaft bisher nicht sehr lange dauerten, so sind doch die geschichtlichen Erfahrungen eindeutig: Ohne Machteroberungsstrategie, ohne Diktatur des Proletariats keine wirkliche Räteherrschaft. Ohne sich entwickelnde Räteherrschaft, ohne immer umfassender werdende ArbeiterInnendemokratie keine nachhaltige sozialistische Umgestaltung, kein Übergang zum Sozialismus. Insofern bleibt die Oktoberrevolution von 1917 das bisher einzige erfolgreiche Modell einer sozialistischen Revolution. Durch das Scheitern der Sowjetunion nach ihrer bürokratischen Degeneration und der schließlich erfolgten Restauration des Kapitalismus bleibt sie für uns heute, ähnlich wie die Pariser Kommune von 1870/71, eine unumstößliche theoretische Errungenschaft der ArbeiterInnenbewegung: Jede zukünftige proletarische Revolution wird auf dem grundlegenden Konzept von Machteroberung und Räteherrschaft von 1917 aufbauen müssen und den unermesslichen Erfahrungsschatz dieser Revolution und der folgenden weltweiten Bewegung als Grundlage der Fortentwicklung des revolutionären Marxismus nutzen.

Die Oktoberrevolution als neue Entwicklungsetappe des Marxismus – Lukács und Korsch

Im Sinn der letzten Bemerkung haben zwei andere intellektuell sehr wirksame marxistische Theoretiker die Oktoerrevolution und das Scheitern ihrer Ausdehnung nach Westeuropa interpretiert: György Lukács und Karl Korsch. Althusser erwähnt sie an der Stelle, an der er sich lobend über Gramsci äußert, mit dem „Gott sei bei uns -Hegelianer!“-Schuldspruch. Dabei haben beide wesentlich treffendere theoretische Analysen der Problematik geliefert als Gramsci – zum Teil wohl auch deshalb, weil ihre wesentlichen Beiträge dazu schon 1923 veröffentlicht wurden, als die kommunistische Bewegung noch nicht derart degeneriert war wie zu dem Zeitpunkt von Gramscis Gefängnisheften.

Auch wenn Lukács und Korsch von ihren Gegnern (z. B. Sinowjew) gerne als „rote Professoren“ abgetan wurden (Korsch war Arbeitsrechtsprofessor, Lukács ein bekannter Literaturkritiker), so waren sie durchaus auch revolutionäre Praktiker: Lukács war nicht nur Volkskommissar für Erziehung und Kultur in der kurzlebigen ungarischen Räterepublik von 1919 – er befehligte als Politkommissar außerdem eine Division der ungarischen Roten Armee gegen die Invasion aus Rumänien und der Tschechoslowakei, die von den Entente-Mächten zur Niederschlagung der Räterepublik benutzt wurde. Korsch war ein Sprecher des ArbeiterInnen- und Soldatenrates seiner Heimatstadt und gehörte der Sozialisierungskommission für den deutschen Bergbau während der Novemberrevolution an; später wurde er in der kurzlebigen ArbeiterInnenregierung in Thüringen 1923 Justizminister für die KPD und war Mitorganisator für die proletarischen Hundertschaften. Die beiden zentralen Werke „Geschichte und Klassenbewusstsein“ (45) von Lukács und „Marxismus und Philosophie“ (46) von Korsch betonten vor allem eines: wie sich mit der Oktoberrevolution und der folgenden revolutionären Welle das Proletariat als revolutionäres Subjekt der Geschichte herausgebildet hat, wie der Leninismus zum Ausdruck dieser neuen Subjektivität geworden ist – und dass das Scheitern der Revolution außerhalb Russlands vor allem Resultat des Versagens der Führungen in entscheidenen historischen Momenten war. Korsch entwickelt in „Marxismus und Philosophie“, dass mit der Oktoberrevolution eine „dritte Entwicklungsperiode“ des Marxismus (nach der Gründungsperiode und der Periode der Zweiten Internationale) eingesetzt habe. Während sich der vorherrschende Marxismus der Zweiten Internationale dem Problem von Staat und Revolution nur abstrakt genähert habe, kündigt Lenins „Staat und Revolution“ nicht einfach eine „Wiederbesinnung“ auf die Klassik an, sondern die Konkretisierung der Frage von Zerschlagung des bürgerlichen Staates und Errichtung der proletarischen Diktatur. Mit der Einbeziehung dieser Fragen in die revolutionäre Praxis des Proletariats erweisen sich die aus der Vorperiode überkommenen staatssozialistischen Vorstellungen von Kautsky bis weit auch in die Reihen der Komintern hinein als wesentliches subjektives Hindernis. Lenins Polemik dagegen war auch in ihrer Schärfe berechtigt, um den richtigen Weg aufzuzeigen.

Nachdem die Betonung auf subjektive Fehler und die vielfache Übernahme alter Lehren der Zweiten Internationale auch ganz offen als Kritik an Fehlern der Komintern-Führung zu verstehen war, wurden beide Werke speziell von Sinowjew und im Gefolge dann von mehreren subalternen bezahlten Theorie-Bürokraten als „Subjektivismus“ verurteilt bzw. ins „ultralinke“ Eck gestellt.

Lukács hat auf die Kritik in einer Verteidigungsschrift mit dem Titel „Chvostismus und Dialektik“ geantwortet, die hier von besonderem Interesse ist. Als Kritiker von „Geschichte und Klassenbewusstsein“ fuhr die Komintern Deborin und Rudas auf. Insbesondere László Rudas war ein Kampfgenosse von Lukács aus der Räterepublik in Budapest, war aber inzwischen in Moskau zu einem Vertreter der sich etablierenden stalinistischen Schulphilosophie geworden. Deborin und Rudas gehörten zu den Vorläufern der Verflachung des Marxismus mit den bekannt-berüchtigten Schemata des DiaMat, auch wenn Deborin selbst ab 1930 zum Opfer stalinistischer Säuberungen wurde, als er sich weigerte, Stalins Autorität in philosophischen Fragen anzuerkennen (47).

Ähnlich wie die Adepten von Gramsci und Co. begründete auch schon Rudas, warum die ungarische Räterepublik unbedingt scheitern „musste“. Hier war es aber nicht die „Hegemonie“ oder die „Unterschätzung der Tiefe der Verteidigungslinien der Bourgeoisie“, hier waren es die „ungünstigen objektiven Bedingungen“ (die Lieblingsbegründung aller stalinistischen Bürokraten für „Rückschläge“). Dies wurde gegen Lukács angeführt, der darauf beharrte, dass die Verteidigung der Revolution 1919 auch in Ungarn möglich gewesen wäre.

Rudas führt insbesondere drei Faktoren an, an denen die Revolution scheitern musste: die Blockade durch die umliegenden kapitalistischen Staaten, der Verrat der Offiziere und die Ungunst des Territoriums, das eine Verteidigung gegen die Invasion schwierig machte. Lukács erwidert darauf: Ja, die Blockade führte zu Versorungsproblemen – aber die Situation erreichte nicht im Entferntesten die Hungerkatastrophe, die sich im russischen Bürgerkrieg ergab. Problematischer habe sich erwiesen, dass die Versorgungsprobleme auch in den Räten zu einer Verstärkung der sozialdemokratischen Propaganda führten, die versprach, „dass alle Probleme verschwänden, wenn man nur zur Demokratie zurrückkehrt“. Und hier erwies sich auch in Ungarn wieder das Problem, dass sich die KommunistInnen organisatorisch noch nicht von der Sozialdemokratie getrennt hatten.

„Was fatal in der Situation war, war, dass die Arbeiter der Demagogie glaubten – gerade weil ihr keine kommunistische Partei entgegentrat!“ (48). Auch der Verrat der Offiziere war natürlich fatal. „Aber Genosse Rudas als führender Kader musste wissen, dass überall, wo wir verlässliche und fähige Genossen in den Reihen der Armee hatten, die Divisionen standhaft blieben und zum Kampf bis zum Ende bereit waren. War es tatsächlich ‚objektiv‘ unmöglich, für unsere 8 Divisionen (und die entsprechenden Untereinheiten) kommunistische Kommissare und Kommandanten zu finden? Es war unmöglich, weil es keine kommunistische Partei gab, die die Auswahl traf, die Ernennungen durchführte und den richtigen Handlungsplan bestimmte“ (49).

Und zu den ungünstigen militärischen Voraussetzungen bemerkt Lukács: „Ich möchte Rudas daran erinnern, dass der Fall der Räteherrschaft nicht einfach eine militärische Angelegenheit war. Am 1. August befand sich die Rote Armee in einer vielversprechenden Gegenoffensive mit einigen militärischen Erfolgen (…), gerade als die Führung der Räterepublik zurücktrat – eben weil eine kommunistische Partei fehlte“.

Lukács bemerkt dazu, dass natürlich auch das Fehlen einer kommunistischen Partei zum damaligen Zeitpunkt in Ungarn objektive Gründe gehabt habe, aber diese „Objektivität“ habe auch mit einer Reihe subjektiver Momente zusammengehangen, die zu dieser Entwicklung geführt hätten. Die dialektische Herangehensweise verbietet eben gerade die mechanische Trennung von Subjekt und Objekt, muss ihre widersprüchliche Verbindung betrachten. In diesem Zusammenhang entwickelt Lukcas die Dialektik von „Prozess“ und „Moment“.

Der subjektive Faktor

Welche Rolle spielt in den durch objektive Faktoren der ökonomischen und sozialen Entwicklung bestimmten gesellschaftlichen Prozessen das Bewusstsein der in ihnen Handelnden? Abgesehen davon, dass die Absichten und Gedanken der Handelnden durch diese objektiven Faktoren nur zu oft hintertrieben oder umgekehrt werden, so ist jedenfalls die Widerspiegelung des Prozesses im Bewusstsein ein wesentlicher Faktor in der Entwicklung des Prozesses. Mit dem Standpunkt des Proletariats als dem des allgemeinen unmittelbaren Produzenten wird es zusätzlich möglich, diese objektiven Faktoren auch tatsächlich zu durchschauen und selbst zu verändern. Gesellschaftliche Prozesse, die auf der Grundlage widersprüchlicher Bedingungen sich entfalten, stellen nun im Allgemeinen nie einfach immer eine „stetige Steigerung“ der Bedingungen bis zu einem objektiven Umschlag in einen neuen Prozess dar:

“Was ist ein Moment? Eine Situation, die länger oder kürzer sein mag, die aber von dem Prozess, der zu ihm geführt hat, sich darin unterscheidet, dass er alle wesentlichen Tendenzen dieses Prozesses zusammenballt und eine Entscheidung verlangt über die zukünftige Entwicklung des Prozesses. Das heißt, dass die Tendenzen einen gewissen Zenit erreichen, und entsprechend dem, wie die Situation gelöst wurde, nimmt der Prozess nach dem Moment eine andere Richtung. Die Entwicklung läuft nicht in der Art einer ständigen Intensivierung, in der die Situation dann mal günstig ist für das Proletariat, und morgen ist sie dann sogar noch günstiger und so weiter. Es bedeutet dagegen, dass an einem bestimmten Punkt die Situation eine Entscheidung verlangt, und morgen mag es schon zu spät sein, noch eine Entscheidung treffen zu können“ (50).

Lukács führt hier verschiedene Aussagen Lenins zur Frage des Aufstands an. So, als Lenin im Oktober 1917 feststellte: „Die Tage, in denen friedliche Kompromisse geschlossen werden konnten, sind vorbei… Die Geschichte wird den Revolutionären nicht verzeihen, wenn sie heute gewinnen können (und natürlich werden wir siegen), und sie morgen schon so viel verlieren können, alles verlieren können“ (51). Mit dem Proletariat als Subjekt-Objekt der Geschichte sei es notwendig, dass solche Wendepunkte, solche Momente, in denen es auf das bewusste, subjektive Eingreifen ankomme, immer wieder in zugespitzten Situationen aufträten. Die kommunistische Partei, als „Form des proletarischen Klassenbewusstseins“ sei der entscheidende Faktor in solchen Momenten, wenn entschlossenes Handeln notwendig ist oder die Konsolidierung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse droht. Alles andere wäre Nachtrabpolitik hinter der Erwartung, dass „die Bewegung“ schon kommen werde, dass die Situation jetzt möglicherweise „noch nicht reif ist“, dass man „alles Aufgebaute jetzt nicht gefährden soll“. Lukács kritisiert an dieser Stelle auch Rosa Luxemburgs Vertrauen in die „Spontaneität der Massen“, die kein „bolschewistisches Kommando“ bräuchten – auch dies habe sich als verhängnisvolle Nachtrabpolitik hinter der Hoffnung auf den „objektiven Prozess“ herausgestellt.

Natürlich sei auch die Erwartung, dass der „subjektive Moment“ immer gegeben sei, falsch: Dies führe zu ultralinkem Abenteurertum, bei dem die Frage des Aufstands immer auf der Tagesordnung stehe und eigentlich nur eine Frage der technischen Vorbereitung sei. Lukács verweist hier auf die Entwicklung der Frage des Aufstands bei Lenin: Während die Revolution nach dem Februar beständig auf den Aufstand zugearbeitet habe (Krieg, Hunger, Bauernbewegung, das Schwanken der Herrschenden zwischen Kompromiss und Sammeln der Kräfte für das Zurückschlagen, die Verschiebung der Kräfteverhältnisse in den Sowjets etc.), sei es entscheidend gewesen, wie sich diese Frage in der ArbeiterInnenklasse entwickelt – im Juli seien die Arbeiter und Soldaten noch nicht bereit gewesen, für den Umsturz „zu kämpfen und zu sterben“. Bis zum Oktober veränderte sich die Situation im Hinblick auf den Aufstand der Klasse : „Nun das stille Verzweifeln der Massen, die fühlen, dass weitere Halbmaßnahmen nichts mehr helfen, dass die Regierung nicht mehr beeinflussbar ist, dass der Hunger alles wegfegen wird, alles anarchistisch zusammenbricht – wenn die Bolschewiki nicht wissen, wie sie uns in den entscheidenden Kampf führen“.

Die Frage der Bewältigung der revolutionären Krisensituation, der sozialistischen Lösung des objektiven gesellschaftlichen Krisenprozesses kulminiert letztlich darin, ob es eine bewusste, politisch organisierte Kraft mit sozialistischem Programm gibt, die auf die entscheidenden Momente des gesellschaftlichen Umschwungs vorbereitet ist oder nicht. Offensichtlich war es das Fehlen einer starken kommunistischen Avantgarde, das in den entscheidenden Momenten in der Novemberrevolution in Deutschland, in den „2 roten Jahren in Italien“ oder in der ungarischen Räterepublik wesentlicher Faktor für die letztliche Niederlage war. Lukács führt als aktuelles Beispiel (sein Text erschien 1923) das Versagen der KPD-Führung im Oktober 1923 an – ein weitaus katastrophaleres subjektives Versagen als 1919. Trotz schwerer politischer und ökonomischer Krise UND einer diesmal vorhandenen revolutionären kommunistischen Partei wurde die Frage des Aufstandes von vorne bis hinten in den Sand gesetzt.

Der subjektive Faktor ist natürlich nicht nur in den entscheidenden Momenten der Zuspitzung von Bedeutung. Viele kleinere Momente zuvor können entscheidende Weichenstellungen dafür sein, ob es denn dann, wenn es darauf ankommt, eine organisierte Avantgarde gibt. Lukács zitiert aus den Thesen zur Organisation des dritten Komintern-Kongresses: „Es gibt keinen Moment, in dem eine kommunistische Partei nicht aktiv ist“, d.h., es gebe eben keinen Moment, in dem der subjektive Charakter des gesellschaftlichen Prozesses völlig fehlt, es daher nicht möglich wäre, aktiv die subjektiven Momente im Prozess zu beeinflussen. Schließlich komme es nach der Machtübernahme noch viel mehr auf das subjektive Moment der kommunistischen Partei an: nicht nur in Fragen des Kampfes gegen die Wiederherstellung der alten Ordnung, sondern auch an entscheidenden Punkten, in denen es um Weichenstellungen zur Überwindung der Überreste der kapitalistischen Ökonomie geht.

Insofern ist es klar, dass die Erfahrung der Oktoberrevolution die marxistische Revolutionstheorie erweitern muss. Nicht nur die Zerschlagung des bürgerlichen Staates, die Bildung von Räten und die Durchsetzung von Räteherrschaft sind unumgänglich – eine erfolgreiche proletarische Revoltution bedarf auch einer kommunistischen Partei, die sich der revolutionären Aufgaben bewusst ist, die in der Avantgarde der Klasse verankert ist und der es gelingt, im entscheidenden Moment die Mehrheit der Klasse für den Aufstand zu gewinnen.

Natürlich ist Lukács Theorie des Moments das glatte Gegenteil von Gramscis „Stellungskriegsformel“ (zumindest wie dies Gramscis heutige Epigonen verstehen). Die Vorstellung, man könne durch radikale Reformpolitik die bürgerliche Hegemonie graduell schwächen und eigene Bastionen Stück für Stück ausbauen, verkennt nämlich, wie schnell beim Verpassen bestimmter Momente das allgemeine Rollback auch sicher geglaubte „Bastionen“ wieder wegräumt. Man denke nur an den Moment nach dem siegreichen OXI-Referendum in Griechenland 2015 und den Niedergang des Widerstands gegen das EU-Diktat nach dem Einknicken der Syriza-Regierung. Statt dass der „Machterhalt“ der Syriza-Regierung, wie es von den Transformisten erhofft wurde, zu einer „Kräfteverschiebung“ im EU-Krisenregime geführt hat, hat der Verzicht auf das Risiko des zugespitzten Zusammenstoßes mit den EU-Institutionen und die Perspektivlosikeit solcher „linken Alternativen“ inzwischen europaweit eine Kräfteverschiebung nach rechts vorbereitet.

Die Partei und das Klassenbewusstsein des Proletariats

Lukács begründet die zentrale Bedeutung der Partei für die Frage der proletarischen Revolution noch aus einem anderen Aspekt: der Entwicklung des proletarischen Klassenbewusstseins selbst. Es braucht nicht wiederholt zu werden, dass schon Marx und Engels eine Unterscheidung vornehmen zwischen dem tatsächlichen, empirisch vorhandenen Bewusstsein der einzelnen ArbeiterInnen, „dem, was dieser oder jener Proletarier denkt“, und dem Bewusstsein, das dem Klassenstandpunkt des Proletariats gemäß wäre, „dem, was das Proletariat aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung zu tun gezwungen ist“. Lukács selbst hat in „Geschichte und Klassenbewusstsein“ eine ausführliche Analyse für die materielle Befestigung bürgerlicher Ideologie in der Klasse geliefert, und zwar durch das Konzept der „Verdinglichung“ – also der mit dem Waren- und Geldfetisch in der kapitalistischen Ökonomie eingeübten Verhaltensweisen, die die Gesetzmäßigkeiten der bürgerlichen Gesellschaft genauso verschleiern, wie sie das gewöhnliche Arbeiterbewusstsein auf Lohnfetisch und den „gerechten“ Staat beschränken.

Dieses Bewusstsein wird nur durch einschneidende historische Erfahrungen, durch Zuspitzung von Kämpfen etc. so erschüttert, dass es aufnahmebereit für eine auf dem eigenen gesellschaftlichen Sein beruhende Gesamtsicht auf die bürgerliche Gesellschaft ist. „Das gesellschaftliche Sein stellt den einzelnen Arbeiter unmittelbar nur in den Kampf mit einem gewissen Kapital, während das proletarische Klassenbewusstsein erst Bewusstsein für sich wird, wenn es das Wissen um die bürgerliche Gesellschaft in ihrer Totalität einschließt“ (52).

Dies schließt also die Fragen der Politik und des Staates genauso ein wie die Frage der Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft. Insofern wiederholt auch Lukács die Lenin’sche Formel von der Notwendigkeit, das Klassenbewusstsein „in die Klasse zu tragen“ als zentrale Aufgabe der kommunistischen Partei. Natürlich stellt Lukács dazu die Frage, wie die Partei selbst dieses Bewusstsein erlange. Dazu macht er klar, dass die Entwicklung von Klassenbewusstsein ein Prozess ist, in dem Partei und Klasse die bewegenden Momente sind. D. h., dass natürlich auch die Partei nicht von Anfang an „vollständig entwickeltes“ Klassenbewusstsein haben kann, dass es immer wieder Momente gibt, in denen Klassenaktionen weit über das Parteibewusstsein hinausgehen. Dass es also auch hier „Momente“ gibt, in denen wesentliche Entwicklungsschritte sehr schnell vorangehen, während es nach Zeiten der Rückschläge oft nur auf die Bewahrung der Erfahrungen in der kommunistischen Organisation ankommt. Oft sind auch Rückschläge und Niederlagen wesentlich für das Vorantreiben des Klassenbewusstseins, wenn die Ursachen der Niederlage schonungslos erfasst werden (siehe z. B. die große Weiterentwicklung der kommunistischen Auffassungen vom Staat nach der Niederlage der Pariser Kommune).

Als zentrale Errungenschaft des Leninismus erkennt Lukács die Bedeutung von „organisatorischen Formen“ als Vermittlungsformen zwischen dem in aktuellen Arbeiterkämpfen entwickelten Bewusstsein und dem notwendigen Klassenbewusstsein. „Die organisatorischen Formen des Proletariats, allen voran die Partei, sind die tatsächlichen Vermittlungsformen, in denen und durch die sich das Bewusstsein entwickelt, das seinem gesellschaftlichen Sein entspricht“ (53).

Die organisatorischen Formen sind es, in denen sich die vergangene Erfahrung der Klasse genauso verkörpert wie die Entwicklung der eigenen Stärke in aktuellen Kämpfen. Durch das Aufstellen von Forderungen, die den unmittelbaren Klasseninteressen entsprechen, kann sich das Proletariat in der Erfahrung der Kampfergebnisse ein immer besseres Verständnis der eigenen Lage und der notwendigen nächsten Schritte erarbeiten. Letztlich ist es das Programm der Partei, das für den gegenwärtigen Moment die zentralen Forderungen, Lehren und organisatorischen Aktivitäten zusammenfasst, das den höchsten Entwicklungsstand des Klassenbewusstseins zum Ausdruck bringen muss. Lukács zitiert hier Lenin: „Wir Kommunisten sind ein Tropfen im Ozean des Volkes. Wir können nur führen, wenn wir ihm den richtigen Weg aufzeigen“.

Die erste Antwort auf die Frage nach der Aktualität des „Modells Oktoberrevolution“ ist also: Es ist nicht eine Frage der besonderen objektiven Bedingungen oder der außerhalb des zaristischen Russlands schon viel entwickelteren „Zivilgesellschaft“ und der in „entwickelten Kapitalismen“ ungeheuer ausgebauten Hegemonie-Mechanismen, die seither eine Wiederholung des „Oktober-Ereignisses“ so schwierig gemacht haben – es ist vor allem eine Frage des subjektiven Faktors, d.h. die Frage einer den objektiv krisenhaften Bedingungen gewachsenen revolutionären kommunistischen Partei, die in der Lage wäre, die revolutionären Massen auch zu führen. Diese Betonung der Bedeutung einer das proletarische Klassenbewusstsein in entschlossener, revolutionärer Praxis zum Ausdruck bringenden Partei ist der entscheidende Bruch mit der Tradition des Marxismus der Zweiten Internationale.

Auch die linkesten TheoretikerInnen aus letzterer Tradition wie Rosa Luxemburg waren zwar keine VertreterInnen einer „Spontaneitätstheorie“, die ihnen später untergeschoben wurde. Sie vertrauten aber darauf, dass der Druck der objektiven Entwicklung und die spontane Radikalisierung der Massen die gesamte ArbeiterInnenbewegung nach links, zur Revolution stoßen würde – entweder indem sie die zögerlichen FührerInnen zu mehr Entschlossenheit treiben oder rasch durch geeignetere ersetzen würde. Das erklärt auch, warum bei Luxemburg einerseits sehr früh überaus weitsichtige und pointierte Kritiken am Revisionismus wie auch am „marxistischen Zentrum“ Kautskys zu finden sind, andererseits aber viel später und inkonsequenter ein Bruch mit dem sich formierenden Reformismus erfolgt.

Im 1909 erschienenen „Der Weg zur Macht“, also beim „orthodoxen“ Kautsky, bleibt die Frage offen, auf welche Organe sich die Regierung in einer Revolution und beim Übergang zum Sozialismus stützen solle. Den größten Teil des Buches widmet Kautsky vielmehr der Darstellung der objektiven Entwicklungstendenzen, die den Eintritt in eine neue Periode der revolutionären Umwälzung verkünden würden. Programmatisch bleibt der Text aber gerade angesichts dieser Prognose äußerst vage. Als einziges klares Ziel wird die „demokratische Republik“ formuliert, für das in der kommenden Periode auch mit revolutionären Mitteln (Generalstreik) gekämpft werden müsse, was schon allein heftige Ablehnung von Seiten des Parteivorstandes und der Gewerkschaftsführungen hervorrief.

Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kausky selbst eine Regierung auf parlamentarischer Ebene nicht ausgeschlossen hat, sondern im Grunde auch als Ergebnis einer „Revolution“ nahegelegt. Die Lehren der Kommune spielen in „Der Weg zur Macht“ eigentlich keine Rolle. Die Revolution und der Übergang zum Sozialimus werden vielmehr als eine langgezogene Periode gradueller Machtverschiebungen im Staat vorgestellt: „Anfangs der neunziger Jahre habe ich anerkannt, dass eine ruhige Weiterentwicklung der proletarischen Organisationen und des proletarischen Klassenkampfes auf den gegebenen staatlichen Grundlagen das Proletariat in der Situation jener Zeit am weitesten vorwärts bringe. Man wird mir also nicht vorwerfen können, es sei das Bedürfnis, mich in Rrrevolution und Rrradikalismus zu berauschen, wenn mich die Beobachtung der heutigen Situation zu der Anschauung führt, dass die Verhältnisse seit dem Anfang der neunziger Jahre gründlich geändert sind, dass wir alle Ursache haben, anzunehmen, wir seien jetzt in eine Periode von Kämpfen um die Staatseinrichtungen und die Staatsmacht eingetreten, Kämpfen, die sich unter mannigfachen Wechselfällen durch Jahrzehnte hinziehen können, deren Formen und Dauer vorläufig noch unabsehbar sind, die aber höchst wahrscheinlich bereits in absehbarer Zeit erhebliche Machtverschiebungen zugunsten des Proletariats, wenn nicht schon seine Alleinherrschaft in Westeuropa herbeiführen.” (54)

Im Gegensatz zu späteren Schriften schließt Kautsky 1909 noch jede Koalition mit bürgerlichen Parteien kategorisch aus, aber auch in seiner „orthodoxen Phase“ wird die Revolution als eine lang gezogene Reihe von „Kräfteverschiebungen“ gedacht, in der es dem Proletariat vor allem darum gehen müsse, immer organisierter zu werden, den Staat immer mehr zu demokratisieren und „verfrühte“ Zusammenstöße zu vermeiden. Im Wesentlichen kehrt der „Transformationismus“ zu diesen Ideen Kautskys zurück.

Lenin und die Bolschewiki haben auf dem Weg zur Oktoberrevolution radikal mit diesem Gradualismus, dieser Nachtrabpolitik, dem bloßen Warten auf das spontane Voranschreiten des Proletariats, dem Warten auf das Werk des „Prozesses“ gebrochen. Insofern hat Korsch vollkommen Recht, dass damit eine „neue Entwicklungsstufe“ des Marxismus erreicht wurde. Dies war nicht einfach nur der organisatorische Bruch mit dem Reformismus, wie er sich im Verrat von 1914 gezeigt hatte – es war ein viel fundamentalerer Bruch in der marxistischen Methode selbst. Die revolutionäre ArbeiterInnenorganisation kann nicht mehr eine Vereinigung verschiedener „mehr oder weniger marxistischer“ Funktionäre und Strömungen sein, sie muss eine geschlossene Einheit mit klarem methodisch begründeten Programm sein, das sie zur Führung der Revolution, zum entscheidenden Faktor in den Wendepunkten der revolutionären Entwicklungen macht.

Exkurs: Zizek  – Vom Ergreifen des Moments zum Rückfall in die Nachtrabpolitik

Slavoj Zizek macht in seinen „Dreizehn Versuche über Lenin“ (55) die Radikalität des Bruchs deutlich, der auch viele der Bolschewiki, die noch in der Tradition der Zweiten Internationale dachten, noch im April 1917 völlig vor den Kopf stieß: „Man kann das explosive Potential von ‚Staat und Revolution‘ gar nicht hoch genug einschätzen. In diesem Buch wurde das Vokabular und die Grammatik der westlichen Politiktradition abrupt dispensiert“ (56) – wobei mit „westlicher Politiktradition“ die gesamte, in der parlamentarischen und gewerkschaftlichen bürgerlichen Normalität denkende Adaption des Marximus der Zweiten Internationale gemeint ist. Dieser Bruch war nicht nur in Westeuropa heftig gewesen – auch für russische „Sozialdemokraten“ war es verblüffend:

„Als Lenin 1917 in seinen ‚Aprilthesen‘ den Augenblick erkannte, die einmalige Chance für die Revolution, wurden seine Vorschläge von der großen Mehrheit seiner Parteigenossen mit Fassungslosigkeit und Verachtung aufgenommen. Innerhalb der bolschewistischen Partei unterstützte keiner der Führer seinen Aufruf zur Revolution, und die Prawda tat den ungewöhnlichen Schritt, dass sich die Partei und die Herausgeber insgesamt von Lenins ‚Aprilthesen‘ distanzierten. … Bogdanow charakterisierte die ‚Aprilthesen‘ als das ‚Delirium eines Wahnsinnigen‘ und Nadeschda Krupskaja selbst kam zu dem Schluss: ‚Ich fürchte es sieht so aus, als sei Lenin verrückt geworden’“ (57).

Wie Zizek ausführt, war diese radikale Wendung Lenins offenbar auf eine lange Auseinandersetzung mit dem Charakter der Epoche (Imperialismustheorie) und dem darin begründeten Wesen des reformistischen Verrats zurückzuführen, aber auch auf die Erkenntnis, welcher entscheidende Moment mit der Februarrevolution aufzog, der zu einer Wende der Ereignisse nicht nur in Russland, sondern in der imperialistischen „Gesamtkette“ führen konnte.

Auch wenn in der Partei selbst viele noch nicht so weit waren – es war gerade das massenhafte Aufbrechen der sich selbst organisierenden Proletarier und Bauern, das Misstrauen gegenüber den halbgaren Antworten auch der „Marxisten“, was Lenins Thesen außerhalb der Partei so ungeheur populär machte. Hier funktionierte also die revolutionäre Dialektik von den Momenten der Entwicklung des Klassenbewusstseins über die Wechselwirkung zwischen den Polen Partei und Massenbewegung. Erst dieser Konflikt machte die bolschewistische Partei zu dem entschlossenen, bewussten Subjekt, das für den Weg zum Roten Oktober bereit war. Die Althusser’sche Behauptung aus „Für Marx“, die weiter oben zitiert wurde, dass zu den vielen „Überdeterminiertheiten“ der Oktoberrevolution auch gehöre, dass in dieser Periode die Bolschewiki als „stählerne Kette ohne schwaches Glied“ aufgetreten seien, ist also reiner Geschichtsmythos (aus der stalinistischen Mottenkiste).

Dies ist nochmal umso bedeutsamer, als diese Fähigkeit der Entwicklung der revolutionären Subjektivität ja offenbar nach Lenins Tod, nach der Degeneration der Kommunistischen Partei Russlands ab 1923 Schritt für Schritt verloren ging. Die Bürokratisierung des Parteiapparates, die faktische Diktatur über die Sowjets, die Zentralisierung von immer mehr Macht in den Händen des Generalsekretariats etc. führten auch dazu, dass immer weniger Impulse von außen das immer geistlosere Gefüge im Inneren erreichen konnten.

Mit dem Niedergang der revolutionären Praxis der Sowjetführung, ihrem Versagen in der Kominternführung wurde auch das Konzept der „marxistischen“ Politik wieder immer mehr ins Denken der Tradition der Zweiten Internationale zurückgeführt. Letztlich ist der Kampf gegen die „Theorie der permanenten Revolution“ Trotzkis, die eigentlich eine Systematisierung der „Aprilthesen“ in globalem Maßstab darstellte, nichts anderes als die letzte ideologische Schlacht um die Reetablierung der Nachtrabpolitik, mit der das Warten auf die stetig und unaufhaltsam wachsende „Sowjetmacht“, die strategische Beschränkung auf die gerade objektiv mögliche „Etappe“ etc. wieder zum Grundprinzip des Denkens der „Kader“ und der „Führung“ wird. Tragischerweise wurden die Form und die Sprechweise von „Sowjets“ bis hin zum „Marxismus-Leninismus“ beibehalten – der Inhalt war jedoch formelhaft entkernt und auf das Niveau der Diktatur der Stalin-Bürokratie abgesunken.

Diese Degeneration des subjektiven Faktors, die seit 1923 nicht wirklich überwunden werden konnte – auch nicht durch die nie zur Massenkraft gewordenen Versuche Trotzkis und seiner Nachfolger, eine Vierte Internationale zu begründen -, ist das Hauptproblem, dass trotz immer wieder gegebener Krisenperioden und möglicher Wendepunkte der Geschichte ein erneutes „Oktober-Ereignis“ nicht mehr möglich war. Insofern kann nur auf das Eingangsstatement des „Übergangsprogramms der Vierten Internationale“ von 1938 aus der Feder Leo Trotzkis verwiesen werden: „Die objektiven Voraussetzungen der proletarischen Revolution sind nicht nur schon ‚reif‘, sie haben sogar bereits begonnen zu verfaulen. Ohne sozialistische Revolution… droht die ganze menschliche Kultur in einer Katastrophe unterzugehen. Alles hängt ab vom Proletariat, d. h. in erster Linie von seiner revolutionären Vorhut. Die historische Krise der Menschheit ist zurückzuführen auf die Krise der revolutionären Führung“ (58).

Insoferne sind auch die „unorthodoxen“, scheinbar mit dem stalinistischen Schematismus brechenden Ansätze von Althusser oder die auf Gramsci sich beziehenden Theorien im besten Fall eine Rückkehr zu einer „linken“ Methode aus der Periode der Zweiten Internationale. Obwohl sie offenbar die Verfaultheit und Inhaltsleere der „marxistisch-leninistischen Orthodoxie“ zu überwinden scheinen, scheuen sie vor dem radikalen Bruch mit den Methoden des „beschaulichen Marxismus“ – hin zu einer radikalen revolutionären Subjektivität zurück, ein Bruch, der heute sicher nicht weniger „verrückt“ oder „dem Delirium entsprungen“ erscheint als das, was Lenin im April 1917 vertrat. Was bei diesen scheinbar „neuen Ansätzen“ herauskommt, ist bestenfalls eine Variante von Kautskys Transformationsillusionen, vor allem aber eine methodische Entkernung des Marxismus, die ihn jeder revolutionären Dialektik beraubt. Indem sie die Leiche des degenerierten Kommunismus auch noch zum modischen Zombiewesen machen, sind sie jedoch nur ein weiteres Hindernis dafür, dass eine wirklich revolutionäre Alternative aufgebaut werden kann.

Zur Diskussion über Räteherrschaft und die Bedeutung von Sowjets in der sozialistischen Revolution

Die zweite wesentliche Frage für die Aktualität des Modells Oktoberrevolution lautet, wie sehr die Erscheinungen von Rätebewegungen, Rätedemokratie als Alternative zur bürgerlichen Demokratie und die Möglichkeit der Räteherrschaft über die Periode der Oktoberrevolution hinaus in jeder revolutionären Periode grundlegend für eine sozialistische Umwälzung der Gesellschaft sind. Besonders ausführlich diskutiert und dokumentiert wurden diese Fragen in der Periode der Novemberrevolution in Deutschland. Der Grund: Hier gab es das außerhalb Russlands wohl entwickeltste und massenhaft verbreiteteste Beispiel von Rätedemokratie – und aufgrund des höheren ökonomischen Entwicklungsstandes Deutschlands auch mit einem größeren Modellcharakter für entwickelte kapitalistische Länder.

Bekanntlich ging die Hauptauseinandersetzung um die Frage der Doppelmacht zwischen Arbeiterräten und bestehendem bürgerlichen Staatsapparat: ein Punkt, dessen Nicht-Lösung (auch aufgrund der geringen Kraft der noch kleinen KPD) die Rätemacht letztlich in Deutschland scheitern ließ. Für die Fragestellung hier ist aber zunächst interessanter, wie sich insbesondere in der linken Avantgarde die Diskussion über die Realisierung der Rätemacht nach einer Errichtung der proletarischen Diktatur entwickelt hat. Denn auch innerhalb der Vertreter des „reinen Rätesystems“, also derjenigen, die das Rätesystem als unabhängiges Mittel zum Kampf für die Diktatur des Proletariats und zur Zerschlagung der bürgerlichen Herrschaftsapparate sahen, sowie zwischen ihnen und der KPD gab es unterschiedliche Auffassungen vom Weg zur Macht, der Ausgestaltung von Rätedemokratie und dem, wie Räteherrschaft nach der Machtübernahme aufgebaut werden müsse.

Die Entwicklung der Rätebewegung während der Novemberrevolution

Die frühe KPD hatte bis zur Erfahrung der Niederschlagung der Januarkämpfe eine eher spontaneistische Haltung zur Rätefrage – d. h., sie stellte zwar die Losung „Alle Macht den Räten“ in den Mittelpunkt ihrer Agitation, vernachlässigte jedoch den Kampf um die Führung in den Räten bzw. nahm an, dass der sozialdemokratische Einfluss in den Räten durch den Gang der Ereignisse wie von selbst überwunden werden könne. Danach kämpfte sie für „echte“, revolutionäre Räte, die rein auf der Basis von Betrieben gewählt werden, die Produktionskontrolle ausüben, sich gegen jede kapitalistische Regierung wehren sollten. „Alle Gegner der Räte, insbesondere die SPD-Anhänger“ sollten hinausgeworfen werden (59).

Tatsächlich waren die Rätewegungen sehr heterogen. In vielen Gegenden wurden Räte nicht nach dem Betriebsprinzip gewählt, sondern einfach aus SPD- oder/und USPD-AktivistInnen zusammengesetzt. In radikalen, proletarischen Zentren waren sie oft von linken USPD-AktivistInnen und revolutionären Obleuten (dem radikalen Kern der Rätebewegung, der sich aus den Streikleitungen während des Ersten Weltkrieges gebildet hatte) geführt. Auf nationaler Ebene ergab sich jedoch eine SPD-Mehrheit, die sich insbesondere beim ersten Reichs-Rätekongress (16.-21.12.1918) fatal auswirkte. Statt die mit dem Novemberumsturz errichtete Doppelmacht von Zentralrat und Reichsregierung aufzulösen, beschloss er, vor allem durch die Mehrheit in den Soldatenräten, dass die Räte nur als Übergang zu einer nach allgemeinem Wahlrecht bestimmten Nationalversammlung dienen sollten. Die Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung am 19.1.1919 und die Niederschlagung des Januaraufstandes (5. bis 12. Januar) waren entscheidende Momente für die Wiederetablierung der bürgerlichen Ordnung. Der Januaraufstand war sicher wie die Juli-Kämpfe 1917 in Russland das Beispiel, wie ein revolutionärer Aufstand zur Unzeit auf die Tagesordnung gesetzt werden kann. Der politische Rückhalt fehlte noch für eine solch weitreichende Aktion in den Räten. Im Unterschied zu den Bolschewiki vermochte es die gerade erst gegründete KPD jedoch nicht, sich an die Spitze der zum Losschlagen bereiten ArbeiterInnenavantgarde zu stellen und sie davon zu überzeugen, dass die Situation für den Aufstand noch zu unreif war, zu sagen, dass ein eventueller Erfolg des Aufstandes nicht zu verteidigen gewesen wäre, ohne sich zuvor den Rückhalt dafür in den Räten durch die Erlangung von deren Mehrheit verschafft zu haben. Dieser Fehler der KPD hatte nicht nur verheerende Folgen für die Stärkung der bürgerlichen Repressionsorgane. Es kostete auch auf tragische Weise das Leben der wichtigsten FührerInnen, Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts.

Der nach diesen Ereignissen begonnene Kampf um die Revolutionierung der Räte mit den oben genannten Programmpunkten, zusammen mit der USPD-Linken (den Vertretern des „reinen Rätesystems“), war bereits fast zu spät. Es gelang zwar, wichtige Positionen zu erkämpfen und nach langem Hinhalten auch einen zweiten Reichsrätekongress (8.-14.4.1919) zu erzwingen und dort zu verhindern, dass sich die politischen Räte zugunsten der Nationalversammlung auflösten. Doch die Mehrheit der SPD im Zentralrat konnte nicht gebrochen werden, so dass die politischen Räte als Doppelmachtorgane langsam abstarben. Nur während des Kapp-Putsches und in den folgenden Kämpfen erhielten sie noch einmal kurz (bis April 1920) eine wichtige Kampffunktion. Dagegen wirkten die wirtschaftlichen Räte im Sinne der Produktionskontrolle in wichtigen Industriebereichen noch das ganze Jahr 1919 unvermindert fort. Erst im Februar 1920 wurden sie durch die Etablierung des Betriebsrätegesetzes in den Rahmen der bürgerlichen Ordnung zurückgestutzt – auch dies erst nach einem langen politischen Kampf, in dem USPD und KPD zumeist zusammenwirkten (im Januar 1920 bei einer Massendemonstration von USPD und KPD mit über 100.000 TeilnehmerInnen vor dem Reichstag wurde das Feuer eröffnet und Ebert ließ den Ausnahmezustand ausrufen). Trotzdem konnte sich die KPD, besonders nach ihrer Vereinigung mit der linken USPD im Dezember 1920, auch über die Arbeit in diesen zurechtgestutzten Betriebsräten bis 1923 stark verankern, so dass bei der neuerlichen revolutionären Zuspitzung Mitte 1923 tatsächlich wieder die Möglichkeit einer auf Räten (diesmal mit starkem kommunistischen Einfluss) beruhenden ArbeiterInnenregierung gegeben war.

Aus der Geschichte der Rätebewegung in der Novemberrevolution und der Intervention der KPD in diese Bewegung lassen sich Diskussionen um folgende drei zentrale Fragestellungen veranschaulichen:

  • Sind Räte notwendigerweise (anfänglich oder in ihrer Entwicklung) revolutionär, muss um die politische Führung gekämpft werden, wie steht es mit Parteien innerhalb der Räte vor und nach der Revolution?
  • Was sind überhaupt Räte, wie sehr verändern sie sich selbst in ihrer Form im Verlaufe einer revolutionären Situation?
  • Welche Strukturen braucht ein Rätesystem sowohl im geographischen Sinn wie auch in Bezug auf politische und wirtschaftliche Fragen; war die Trennung in der deutschen Rätebewegung zwischen politischen ArbeiterInnenräten und wirtschaftlichen Betriebsräten notwendig?

Der Kampf um die revolutionäre Führung in den Räten

Ein großer Teil der Linken in der Novemberrevolution, anfänglich selbst in Spartakus/KPD, sah zuerst in den Räten selbst die Antwort auf die Frage der Revolution. In der spontaneistischen Tradition von Luxemburg und Pannekoek erwartete man aus der Erfahrung der wirklichen Demokratie der Räte gegenüber der entfremdeten bürgerlich-parlamentarischen Demokratie und der Konfrontation, die den ArbeiterInnen von der Reaktion aufgezwungen werden würde, dass die Proletarier in den Räten die Notwendigkeit der vollständigen Machteroberung und der Errichtung der Diktatur des Proletariats als Räteherrschaft schon von selbst erkennen würden. Luxemburg beharrte auch in der KPD-Programmdebatte zur Frage der Räte darauf, dass die KommunistInnen nur das „Sprachrohr der Massen“ in diesem Prozess sein könnten (60) und die Errichtung der Diktatur des Proletariats nur „das Werk der Klasse und nicht einer kleinen, führenden Minderheit im Namen der Klasse“ sein dürfe (61). Es überrascht daher nicht, dass viel zu spät erkannt wurde, dass sich die Räte im Wesentlichen weiterhin im Rahmen der sozialdemokratischen Hegemonie entwickelten und von sich aus zwar einzelne Schritte vorwärts, aber letztlich qualitativ keinen Sprung zu wirklich revolutionären Räten vollzogen. Als die KPD dazu überging, den politischen Kampf in den Räten aufzunehmen, ja, um die Führung der Räte zu kämpfen, war es schon fast zu spät.

Als dann die Parteiführung Ende 1919 die Niederlage der Rätebewegung konstatiert und den Rückzug auf den politischen Kampf inklusive Beteiligung an Parlamentswahlen antrat, spaltete sich ein beträchtlicher Teil des linken Flügels der KPD ab und gründete später die sogenannte „rätekommunistische“ KAPD (Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands). Das Interessante daran ist, dass einer der führenden Köpfe dieser Abspaltung, Anton Pannekoek (zusammen mit Otto Rühle), die Differenz genau auf der Grundlage der alten spontaneistischen Theorie Luxemburgs begründete. Nicht nur das: Die Niederlage der Novemberrevolution gegenüber dem Sieg der Oktoberrevolution begründete Pannekoek sehr ähnlich wie Gramsci. Das viel entwickeltere bürgerliche System samt Partei- und Gewerkschaftsbürokratie, die entwickelteren bürgerlichen Institutionen etc. hätten sich so fest in die Hirne der ArbeiterInnen gebrannt, dass sie sich auch in der Revolution in ihrer Entwicklung und Entschlossenheit gehemmt gesehen hätten. Pannekoek zieht aber die gegenteilige Konsequenz von der, wie sie Gramsci unterstellt wird (möglicherweise meinte der aber angesichts seiner Räteerfahrungen mit dem „Stellungskrieg“ sogar etwas Ähnliches!): dass die Rätebewegung der einzige Weg zur „Entwicklung des Selbstbewusstseins“ (62), zum Brechen der ideologischen Bevormundung und zur politischen Handlungsfähigkeit des Proletariats sein könne. Trotz des Niedergangs der Rätebewegung sollten KommunistInnen daher vorrangig ihre Weiterentwicklung und Radikalisierung betreiben – und die „Parteiform“ als bürgerliches Element, das selbst an der Fremdbestimmung der Proletarier mitschuldig sei, aufgeben, um sich „räteartig“ zu organisieren. Die „Arbeiter-Unionen“, die die RätekommunistInnen anstelle von Partei- und Gewerkschaftsorganisationen setzten (z. B. AAUD, AAU-E), sollten die Räteform bewahren und bei Bedarf wieder zu Kernen einer neuen Rätebewegung werden. Auch wenn sie zu Zeiten erhöhter Massenaktivität Anfang der 20er Jahre großen Zulauf bekamen, verfielen sie nach dem Abebben der revolutionären Welle nach 1923 in bedeutungsloses Sektierertum.

Auch die größte der linken Strömungen in der Novemberrevolution, die linke USPD, die zumindest wichtige ArbeiterInnenräte, wie in Berlin, anführte, hatte letztlich eine ebenso passive Hoffnung auf den unausweichlichen Marsch der Massen nach links. Die führenden Köpfe, wie der Sprecher der revolutionären Obleute, der Metallarbeiter Richard Müller, oder der spätere USPD-Vorsitzende Ernst Däumig entwickelten das Konzept des „reinen Rätesystems“ (63). Einerseits lehnten sie, anders als die rechte USPD (um Kautsky und Haase), die Koexistenz von Räten und parlamentarisch-bürgerlichem Staatsapparat ab, insofern sollte das „reine Rätesystem“ sich der Doppelherrschaft mit den bürgerlichen Institutionen entledigen. Allerdings stellte man sich dies andererseits zugleich als einen Prozess vor, in dem irgendwann die Mehrheit dafür in den Räten gewonnen werden würde (Däumig stellte auch einen entsprechenden Antrag auf dem ersten Reichsrätekongress, der aber leider abgelehnt wurde). Entscheidend für letzteres hielten Däumig und GenossInnen, dass sich die Räte als „Organe der Zusammenfassung des Proletariats oberhalb der Parteien“ bilden sollten (ähnlich wie Gramsci in seiner Gegenüberstellung von Räten und Partei), dass in den Räten „keine Parteipolitik zu betreiben ist, sondern revolutionäre Arbeiterpolitik“ (64). Das reine Rätesystem sollte also auch „rein“ von Parteien und ihrem Führungsanspruch sein. Leider aber gaben die Mehrheits-Sozialdemokraten ihren Führungsanspruch doch nicht auf!

Ganz offensichtlich wird hier, dass mehr oder weniger bei allen linken Strömungen der deutschen ArbeiterInnebewegung 1918/1919 der dialektische Zusammenhang von revolutionärem Prozess, Herausbildung von Klassenbewusstsein im Proletariat und den Vermittlungsformen von Partei und Räten nicht verstanden wurde. Einerseits wurde ein mechanisch-spontaneistischer Zusammenhang von revolutionärer Zuspitzung, Entwicklung von Klassenbewusstsein und Radikalisierung der Räte angenommen. Andererseits wurde die Räteform selbst abstrakt abgehoben von ihren historisch-politischen Entstehungsbedingungen verstanden und idealisiert, ohne sie selbst auch in ihrer Form als ein grundsätzlich zu veränderndes Kampffeld zu begreifen.

Trotzki steckt dieses Kampffeld im Übergangsprogramm sehr klar ab: Sowjets sind zunächst klar zu unterscheiden von bloßen „Fabrikkomitees“, die ein Element der Doppelmacht in einem Betrieb sein mögen (65). Die Frage der Doppelmacht im ganzen Land, die eine Rätebewegung stellt, entwickelt sich jedoch nicht einfach stetig aus solchen Fabrikkomitees: „Sowjets können nur dort entstehen, wo die Massenbewegung in ein offen revolutionäres Stadium eintritt. Als Angelpunkt, um den sich Millionen von Arbeitern in ihrem Kampf gegen die Ausbeuter sammeln, werden Sowjets vom ersten Augenblick ihres Erscheinens an zu Rivalen und Gegnern der örtlichen Behörden und schließlich der Zentralregierung selbst“. Mit der spontanen Stellung der Machtfrage auf einer viel allgemeineren Ebene ändern sich auch der Charakter und die Zusammensetzung gegenüber den übersichtlichen Fabrikkomitees: „Die Sowjets sind a priori an kein Programm gebunden. Sie öffnen allen Ausgebeuteten ihre Türen. Die Vertreter aller Schichten, die in den allgemeinen Strom des Kampfes hineingezogen werden, finden Eingang in sie. Die Organisation erweitert sich mit der Bewegung und erneuert sich dadurch ständig. Alle politischen Richtungen des Proletariats können um die Führung der Sowjets auf der Basis der breitesten Demokratie kämpfen“.

Die Vorstellung, dass vereinzelte Fabrikkomittees mit Produktionskontrolle in „friedlichen Zeiten“ so etwas wie „sowjetische Keimzellen“ darstellten, geht genauso am Sowjet-Begriff vorbei wie die, dass sich nach dem Niedergang einer Rätebewegung diese durch „Arbeiter-Unionen“ als Keimzellen irgendwie am Leben halten ließen. Sowjets sind Ausdruck extrem zugespitzter revolutionärer Situationen, in denen das herrschende System derart erschüttert ist, dass spontan massenhafter Zustrom zu Basiskomitees der Protestbewegung tatsächlich zu so etwas wie vernetzten Gegenmachtinstitutionen führt. In allen tatsächlich zugespitzten revolutionären Situationen haben sich früher oder später sowjetartige Organisationsformen herausgebildet (was nicht heißt, dass revolutionäre Situationen nur dann bestehen können, wenn es solche Organe gibt – das revolutionäre Moment kann auch vorher niedergehen oder verpasst werden). Und anfänglich waren solche Organe nie ein Ebenbild von Organisationen mit klarem Plan und vollem Bewusstsein ihrer Aufgaben. Revolutionärer Elan, Begeisterung, endlich selbst die unmittelbaren Probleme besprechen und entscheiden zu können, ersetzen zunächst die notwendige Zielgerichtetheit. Jeder der schon mal den Anfang einer Protestbewegung erlebt hat, erinnert sich vielleicht daran, wie eine der üblichen langweiligen Protestversammlungen altbekannter PolitkaktivistInnen plötzlich von einer nicht geahnten Menge an TeilnehmerInnen überrannt wird und plötzlich die „linken“ AktivistInnen von immer radikaleren Vorschlägen aus der Versammlung geradezu überollt werden.

In größerem Ausmaß geschah dies auch in der Novemberrevolution, als die Räte, die ursprünglich aus Streikkomitees der revolutionären Obleute entstanden waren, zu Massenversammlungen wurden – und an allen Ecken und Enden „Räte nach dem Vorbild der Sowjets“ aus dem Boden schossen. Vielerorts hatte das nur bedingt mit betrieblichen Komitees zu tun und es handelte sich oft eher um Stadtteil- oder Gemeindekomitees. Und natürlich wurde nicht nach der Parteizugehörigkeit gefragt oder eine genaue soziologische Untersuchung über den „Proletarierstatus“ gemacht. Wie Trotzki oben richtig anmerkt, ist gerade in diesem ersten spontan nach vorwärts treibenden Moment Demokratie und Offenheit der Räte richtig und erforderlich, um den Klärungsprozess, der dann einsetzen muss, so umfassend und massenhaft wie möglich zu machen. Räte, die „von Anfang an unter kommunistischer Führung“ stehen, in der „keine nicht-revolutionären Arbeiterparteien geduldet sind“, lassen eher vermuten, dass es sich um Strohpuppen gewisser politischer Akteure handelt – dabei entspricht dies nicht nur stalinistischer Methodik, sondern leider auch der selbsternannter „trotzkistischer“ Strömungen. So behauptete etwa Namuel Moreno, dass es keine Demokratie für nichtrevolutionäre Strömungen in Sowjets geben könne, revolutionäre Räte nur kommunistisch geführte Räte sein könnten (66).

ArbeiterInnendemokratie und der Kampf um die Diktatur des Proletariats

Andererseits wäre es auch eine problematische Verallgemeinerung, aus dieser super-demokratischen und offenen Phase der Räte in der ersten Euphorie ihrer Entwicklung ein allgemeines Prinzip zu machen. So etwa das Vereinigte Sekretariat der Vierten Internationale in seiner grundlegenden Resolution „Sozialistische Demokratie und die Diktatur des Proletariats“ (67). Darin wird ganz allgemein erklärt, im Rätesystem herrsche „ArbeiterInnendemokratie mit dem Recht der Massen, zu wählen, wen immer sie wollen, und die politische Organisationsfreiheit für diejenigen, die die Räteverfassung in der Praxis anerkennen (selbst wenn sie bürgerliche oder kleinbürgerliche Ideologien oder Programme vertreten)“. Alles Einschränken politischer Parteien führe „zu systematischer Einschränkung der ArbeiterInnendemokratie“ und tendiere „unvermeidlich zu einer Einschränkung der Freiheit in der Avantgardepartei selbst“ (68).

Die Frage der ArbeiterInnendemokratie derart abstrakt zu stellen, verkennt, dass sich der zugespitzte Kampf um die Macht natürlich auch in den Räten abspielt und zuspitzt, und zwar zwischen denjenigen, die die Diktatur des Proletariats erkämpfen wollen, und denen, die sie erst bekämpfen oder nach der Revolution beseitigen. Die Reife der Revolution in Russland konnte gerade aus der Verschiebung zwischen Menschewiki und Bolschewiki in den Sowjets abgeleitet werden, wobei (69) zumindest die rechten Menschewiki schon im Vorfeld des Oktoberaufstands zu Recht aus den Sowjets gedrängt wurden (bzw. die Arbeit dort aufgaben). Andererseits verhinderten die Mehrheits-SPDler mit aller Macht, dass andere Parteien ihre Mehrheit besonders in den Reichsorganen der Räte in Frage stellten. Die Forderung der KPD im Februar 1919, die SPD aus den Räten rauszuwerfen, war sicher angesichts der realen Kräfteverhältnisse in den Räten verfrüht und konnte wichtige Teile der ArbeiterInnenschaft nur vor den Kopf stoßen – aber früher oder später hätte eine wirklich revolutionäre Rätebewegung ohne die Marginalisierung der SPD in den Räten unmöglich siegreich sein können.

Produktionskontrolle und politische Macht

Schließlich muss noch die Frage der Räte zur Produktionskontrolle, zur Sozialisierung und den daraus folgenden Organisationsfragen behandelt werden. Die zentrale Errungenschaft der Sowjets ist sicher, dass sie eine Form der Demokratie entwickeln, die unmittelbar die Bestimmung über Produktion, Verteilung und Konsum mit einschließt. Doch wird auch dies in den ersten Phasen jeder Rätebewegung zunächst nur die Ebene der ArbeiterInnenKONTROLLE über wichtige Betriebe, Fragen der Verteilung öffentlicher Güter (z. B. Transport), der Gesundheitsversorgung u. Ä. betreffen. Sie wird kaum sofort zur Zerschlagung des bürgerlichen Eigentums und zu einer vergesellschafteten Ökonomie schreiten. Eine Radikalisierung der Rätebewegung wird jedoch immer zur Ausdehnung der Produktionskontrolle in Richtug auf Planung und Vergesellschaftung fortschreiten. Karl Korsch hat in seinem während seiner Rätezeit geschriebenen Artikel „Grundsätzliches zur Sozialisierung“ dargestellt, dass die Entwicklung der Räteorganisation wesentlich dafür sei, dass eine mit der Diktatur des Proletariats eingeleitete Übergangsgesellschaft tatsächlich eine sozialistische Entwicklung einleiten kann. Diese müsse zwischen den Polen „Staatssozialismus“ und „Produzentensozialismus“ vermitteln. Eine Sozialisierung der Produktion ohne ArbeiterInnendemokratie müsse zwangsläufig die Mechanismen des alten Systems und des staatlich-bürokratischen Zwangsmechanismus wiederherstellen und „Bürokratismus, Schematismus, Ertötung der Initiative und der Verantwortungslosigkeit… Lähmung und Erstarrung“ heraufbeschwören. Andererseits ist eine reine „Sozialisierung von unten“, eine sich „organisch aus den Räten“ entwickelnde Vergesellschaftung auch nur eine Quelle von Partikularismus bestimmter Großbetriebe, Verfestigung alter Arbeitsteilungen, ökonomistischer Verengung auf die am besten rätemäßig organisierten Teile der Ökonomie. Korsch spielt hier auf die Ungleichzeitigkeiten in der Entwicklung der Rätebewegung an, die wohl auch viele wichtige gesellschaftliche Bereiche noch nicht erfasse. Zum Ausgleich dieser Ungleichgewichte, ebenso zur Aufrechterhaltung der Disziplin, gerade auch in komplexen industriellen Großfertigungen, ist daher in den ersten Phasen der Vergesellschaftung eine wichtige ökonomische Funktion auch in der rätedemokratisch kontrollierten Neuschaffung einer staatlichen Verwaltung gegeben. Diese steckt sicherlich wichtige Eckpfeiler für die Frage einer arbeiterInnendemokratisch kontrollierten Planwirtschaft ab.

Korschs Artikel ist einer von vielen Beiträgen während der Novemberrevolution zur Frage der „wirtschaftlichen Räte“ – einer Diskussion, die teilweise mit großem formalistischen Aufwand betrieben wurde (z. B. wurde eine Vielzahl von komplexen Organisationsdiagrammen veröffentlicht – wahrscheinlich eine typisch deutsche Form von „Konkretheit“).

Real ergab sich die Aufspaltung von ArbeiterInnenräten und den Betriebsräten (den „wirtschaftlichen Räten“) eigentlich durch den politischen Niedergang der Rätebewegung, der jedoch auf betrieblicher Ebene noch in Form von mehr oder weniger Produktionskontrolle verzögert erfolgte. Während speziell in der USPD und der KAPD Illusionen in den weiteren Fortschritt der „wirtschaftlichen Räte“ und ihre angebliche Fähigkeit, die Vergesellschaftung „von unten“ voranzutreiben, bestanden, betonten Korsch wie auch die KPD die Unmöglichkeit dieses Programms ohne politische Machtergreifung und Errichtung eines proletarischen Halbstaates. Korsch bekräftigte, wie oben gesehen, dass selbst nach der Machtergreifung die politische Initiative und Führung gegenüber den betrieblichen Räten entscheidend zur wirklichen Überwindung der überkommenen kapitalistischen Strukturen seien. Klar ist auch, dass schon für den Kampf um die Macht eine Dominanz der politischen Räte gegenüber dem reinen Betriebsrätesystem erreicht werden muss. Die KPD entwickelte daher zu Recht ein paralleles Modell der politischen Räte, die nicht einfach einzelne Betriebe, sondern Wirtschaftsregionen nach zentralen gesellschaftlichen Tätigkeitsbereichen repräsentierten (nach Delegiertensystemen aus Betrieben und Stadtteilen und Gemeinden). Über mehrere territorale Stufen bis zum politischen Zentralrat sollten Delegierte mit imperativem Mandat gewählt werden. Auch nach Errichtung der Diktatur des Proletariats sollte dieser Zentralrat, stärker die gesamtgesellschaftlichen Interessen vertretend, das letzte Wort gegenüber dem national von den Betriebsräten gebildeten Wirtschaftsrat in wirtschaftlichen Planungsfragen haben.

Conrad Schuhlers Behauptung in der isw-Broschüre „Kapitalismus oder Demokratie“ (70), die Rätebewegung der Novemberrevolution könne kein Vorbild für die heutige Suche nach Alternativen zur parlamentarischen Demokratie sein, da sie die „Menschen außerhalb der Betriebe“ nicht organisiert habe, also eine reine Vernetzung von Betriebsräten gewesen sei, zeugt also vor allem von geringer Kenntnis der Entwicklung der Räte in der Novemberrevolution wie auch der damaligen Diskussionen um die Räte selbst. Schuhlers Alternative, das „territoriale Prinzip“ und Föderation nach dem Vorbild der Pariser Kommune, fällt um Meilen zurück hinter die Entwicklung der Vermittlung betrieblicher Selbstverwaltung und gesamtgesellschaftlicher Rätekontrolle, wie sie während der Novemberrevolution skizziert wurde. Natürlich passt die „immer umfangreicher werdende Gemeinde-Kommunen-Bewegung“ besser zur unmerklichen Transformation der Gesellschaft, bei der ja irgendwie die Machtfrage nicht so heftig auf die Tagesordnung kommt und irgendwie auch Vergesellschaftung von unten wächst. Selbst die KAPD mit ihren „Unionen als Keinmzellen“ der Rätemacht war da wohl realistischer.

Sozialistische Revolution ohne Sowjets?

So wie die Frage der Partei vom bolschewistischen Typ ist natürlich auch der zweite Aspekt, die zentrale Rolle der Sowjets, ein Punkt, mit dem sich das „Modell Oktoberrevolution“ als etwas Vergangenes, für heutige „radikale Politik“ als nicht mehr anwendbar, ausgeben lässt. Hier muss nicht weiter auf die vielen Strömungen eingegangen werden, die mit dem „Abschied vom Proletariat“ und vom „ArbeiterInnenbewegungsmarxismus“ damit natürlich auch keine Verwendung für ArbeiterInnenräte haben können. Ersatzweise klassenunspezifische „Räten“, die nicht mehr ihre Basis in der Produktion haben, können natürlich nicht im Ansatz die gesellschaftliche Macht des Kapitals herausfordern, wozu tatsächliche Sowjets in der Lage sind. Noch viel weniger können sie Grundlage echter Vergesellschaftung und Durchsetzung einer demokratischen Planung des gesamtgesellschaftlichen (Re-)Produktionsprozeses sein.

Slavoj Zizek, der sich in seiner Gesellschaftskritik in der Tradition von Althusser sieht, beschreibt das Problem anders: Zwar sei das Schicksal der Lohnsklaverei so verbreitet wie nie, gleichzeitig aber auch total „verdrängt“ (71) aus der Öffentlichkeit. Dass die Millionen, die in Fabriken arbeiten, in der postmodernen Kultur wieder zu „Nichtsichtbarkeiten“ wie in der klassischen Kultur geworden seien, ist für Zitek der Ausdruck für das Verschwinden des Proletariats als Subjekt. Der besondere Augenblick zwischen Februar und Oktober 1917 in Russland, der eine beispiellose demokratische Massenbewegung und -diskussion hervorgebracht habe, sei der Moment für das „utopische Modell“ der Räteherrschaft gewesen, so Zizek (72). Seither sei das Proletariat als selbstbewusstes Subjekt von der Bühne getreten, wieder in die vielen, von objektiven Strukturen zerstückelten Formen von Subjektivität zerfallen: „Anstatt nach der verschwindenden Arbeiterklasse zu suchen, sollte man besser fragen: Wer besetzt heute ihre Position als Proletariat, wer ist in der Lage, sie zu subjektivieren?“. Insofern sieht Zizek die „TrotzkistInnen“, die er sonst gegenüber allen Linken als die „konsequenten Nachfolger Lenins“ sieht, dem „Arbeiterklassen-Fetisch“ verfallen (73). Zizek will eine „Rückkehr zu Lenin“, zur „genialen Auffassung des Augenblicks“, wie dieser sie 1917 geleistet hat, zu seiner Erfassung des plötzlichen, unverhofften Auftretens massiver Subjektivität. Außer dass „die Revolution kommt“, dass ein neues Proletariat unvermeidlich auf die Bühne träte, dass Kapitalismus und Demokratie am Scheitern seien, lässt uns Zizek aber im Dunkeln, was daraus abzuleitende Handlungsperspektiven wären.

Sicherlich bedeuten die Veränderungen im Produktionsprozess, die weitere Anonymisierung des Arbeitsprozesses und die jahrelange Zerstörung von radikalen Widerstandstraditionen in den produktiven Kernen der ArbeiterInnenschaft, dass die Bildung von Räten heute ganz andere Gestalten und Verläufe annehmen wird als 1917. Die Bildung der zersplitterten ArbeiterInnenschaft zum massenhaft handelnden Proletariat muss viele subjektive Schranken durchbrechen. Aber auch die enorm rasche Radikalisierung der ArbeiterInnenschaft nach 1917, einer ArbeiterInnenschaft in Russland und ganz Europa, die gerade zu Millionen als reines Schlachtvieh im Weltkrieg herumkommandiert worden war, und dies mit Billigung des allergrößten Teils der einzigen PolitikerInnen, denen sie vertraut hatten, war selbst für viele MarxistInnen eine Überraschung.

Und Zizek hat Recht, dass Lenin einer der wenigen war, der das Ausmaß der Dynamik dieser Radikalisierung sehr früh erfasst hat. Aber die Rätebewegung hatte auch den Aspekt, der großen Unzufriedenheit der Massen mit den bestehenden Parteien der Zweiten Internationale eine Bühne zu bieten. Die Räte waren somit auch ein Ausdruck der spontanen Erkenntnis der Massen, dass es einer übergreifenderen, weitaus demokratischeren Organisation ihrer Interessen bedürfe, um mitten in der Krise das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Insofern sind Räte in Zeiten der revolutionären Zuspitzung immer Ausdruck eines Bruchs der Ausgebeuteten mit bestehenden, verkrusteten, systemischen Organisationsformen der Klasse, die zum Hindernis für die Bildung zur „Klasse für sich“ geworden sind. Gerade in der Situation der gegenwärtigen ArbeiterInnenklasse ist es daher um so weniger denkbar, dass der „Augenblick der Revolution“ zur Möglichkeit wird, ohne dass sich vorher massenhaft selbstbestimmte Basisorganisationen gebildet hätten, die Produktionskontrolle, politische Entscheidungen, überregionale Vernetzung, Herausforderung der bestehenden staatlichen Institutionen in so etwas wie einer Rätebewegung vereinen.

Die Atomisierung der heutigen ProduktionsarbeiterInnenschaft, die weiter vorangetriebene Entpolitisierung des Betriebsalltags, die weitere Desillusionierung über die tradierten ArbeiterInnenorganisationen lassen natürlich spontan Organisationsformen von radikalisiertem Protest entstehen, die noch viel weniger „organisch“ aus Fabrikkomitees herauswachsen als in früheren Zeiten. Es wäre wohl eine opportunistische Verklärung, die Platzbesetzungen im Rahmen des Arabischen Frühlings oder der „Empörten“ der spanischen Anti-Krisenproteste als „Vorformen von Räten“ darzustellen. Trotzdem drückt sich auch in ihnen bereits der Bruch mit der bestehenden Form von repräsentativer Politik aus, das Misstrauen gegenüber den traditionellen „OppositionsführerInnen“, der Wunsch nach Formen der direkten, selbstbestimmten, massenhaften Demokratie.

Trotzki hat in seinen Beiträgen zur Entwicklung der spanischen Revolution in den 1930er Jahren klargemacht, wie wichtig es dort war, angesichts einer breiten Protestbewegung, die viele Formen klassenübergreifenden Protestes (katalanischen und baskischen Nationalismus, „Arbeiter- und Bauernblöcke“ etc.) hervorgebracht hat, die Losung des Kampfes um Arbeiterräte als zentrale politische Orientierung zu sehen (74). Dabei ginge es gerade um die Durchsetzung des proletarischen Charakters der Protestbewegung genauso wie um den Kampf um die politische Führung im Proletariat selbst. Deshalb trat Trotzki auch dafür ein, dass in den spanischen Juntas (unabhängige politische Machtorgane, Räte) alle wesentlichen Organisationen der ArbeiterInnenklasse vertreten sein, ja sie sogar dort hineingezogen werden müssten (ebd.). Dies ist wichtig gerade gegenüber den Tendenzen der heutigen radikal-demokratischen Protestformen, die „Alt-Parteien“ und alles Organisierte aus den Basisorganisationen mit allen möglichen Mitteln herauszuhalten. Dies ist nur eine Methode, um die insgesamt weiterbestehende Vorherrschaft reformistischer Organisationen innerhalb der ArbeiterInnenschaft zu befestigen und den echten Kampf um die Perspektive in der Gesamtklasse zu verhindern.

Letztlich geht es darum, das Proletariat aus diesen „Bewegungen des Volksprotestes“, die in vieler Hinsicht nur neue Formen der klassischen „Volksfront“ sind, eigenständig und als die Kraft zu organisieren, die tatsächlich in der Lage ist, das Ganze der bestehenden, krisenhaften Gesellschaft umzuwälzen und auf eine neue Grundlage zu stellen. Insofern hatte schon Trotzki in den 30er Jahren festgestellt, dass „die Volksfront die Hauptfrage der proletarischen Klassenstrategie“ geworden sei (75). Denn in jeder der aktuellen Revolutionen, auch der Oktoberrevolution, begeben sich nicht nur die reformistischen ArbeiterInnenorganisationen in Koalitionen mit bürgerlichen Kräften zur Kanalisierung des Protestes: „Vom Februar bis zum Oktober waren die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre … in engstem Bündnis mit der bürgerlichen Partei der Kadetten, mit denen sie zusammen eine Reihe von Koalitionsregierungen bildeten. Unter dem Zeichen dieser Volksfront befand sich die ganze Masse der Bevölkerung, einschließlich der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte. Freilich nahmen die Bolschewiki an den Räten teil. Aber sie machten nicht die geringsten Konzessionen an die Volksfront. Ihre Forderung lautete, diese Volksfront zu ZERBRECHEN … und eine echte Arbeiter- und Bauernregierung zu schaffen“.

Sowjetfetischismus oder sowjetische Strategie?

Die Abkehr von den „Sowjets“ gibt es aber noch in einer anderen, sehr viel „politischeren“ Form. Unter dem Eindruck der Entstehung „sozialistischer Staaten“ in Osteuropa, Asien und Kuba seit 1945 wurde die Vorstellung, dass „sozialistische Umwälzungen“ ohne Rätebewegung der „Normalfall“ und die Oktoberrevolution die „Ausnahme“ sei, nicht nur in der (post-)stalinistischen Linken verbreitetes Gemeingut. Vielleicht am konsequentesten wurde dies gerade vom „Trotzkisten“ Nahuel Moreno (der eine der größten lateinamerikanischen Strömungen des „Trotzkismus“ begründete) formuliert, als er seinen WidersacherInnen in der 4. Internationale vorwarf, einen „Sowjetfetischismus“ zu vertreten (76).

In der Polemik gegen die oben zitierte Resolution zur „Sozialistischen Demokratie und die Diktatur des Proletariats“ behauptet Moreno, dass der entscheidende Faktor der Revolution die Führung der Massen durch die revolutionäre Partei sei, während die Frage der Sowjets nur eine untergeordnete taktische Frage sei. Sowjets könnten eine Rolle bei der Erlangung der Führung der Massen durch die Partei spielen, doch könne dies auch anders erfolgreich gelingen. Im „Übergangsprogramm“ hatte Trotzki von der unwahrscheinlichen Möglichkeit gesprochen, dass eine von reformistischen ArbeiterInnenparteien (auch StalinistInnen) dominierte „Arbeiter- und Bauernregierung“ unter dem „Einfluss eines außergewöhnlichen Zusammentreffens bestimmter Umstände (Krieg, Niederlage, Finanzkrach, revolutionäre Offensive der Massen usw.)… auf dem Wege des Bruchs mit der Bourgeoisie weiter gehen können, als ihnen selbst lieb ist“ (77). Aus dieser „Ausnahmesituation“, der Überdetermination, die Trotzki nicht ausschließen wollte, macht Moreno nun das allgemeine Modell, dass die Errichtung der Diktatur des Proletariats vor allem über die ArbeiterInnenregierung voranschreitet – im positiven Fall über eine revolutionäre, das heißt für ihn von einer revolutionären Partei geführten ArbeiterInnenregierung, während in Fällen wie in China oder Kuba durch den mangelnden revolutionären Charakter der Führung, die nur durch den Gang der objektiven Umstände zur Diktatur gezwungen sei, eben ein „deformierter ArbeiterInnenstaat“ entstünde (in der Art, wie Lenin den Rückzug zu staatskapitalistischen Maßnahmen in den 1920er Jahren als „Deformation“ bezeichnete).

Diese Revolutionstheorie der „revolutionären ArbeiterInnenregierung“ verkennt die zentrale Rolle der Sowjets für eine wirkliche proletarische Revolution. Während sie die Sowjets zu einer untergeordneten Taktik macht, wird ein tatsächlich spezifisch taktisches Moment – die der Einheitsfronttaktik der Komintern entnommene Losung der „Arbeiter- und Bauernregierung“ – zu einer revolutionären Strategie fetischisiert. Die radikale Pose der „revolutionären Diktatur“ hat dabei die opportunistische Kehrseite, dass alle möglichen „revolutionären Einheitsfronten“ mit reformistischen GewerkschafterInnen, PeronistInnen, GuerillaistInnen, „Arbeiter- und Bauernblöcke“ etc. – die vor allem deshalb „revolutionär“ waren, weil sie mit den selbsternannten „Revolutionären“ zusammenarbeiteten – zu Etappen auf dem Weg zur „revolutionären Arbeiterregierung“, also zur „Revolution“ gemacht werden. Dies ist offensichtlich nur eine in die Terminologie der Komintern gekleidete Wiederauflage von Kautskys „Weg zur Macht“.

Tatsächlich sind die Bildung von Sowjets und der Kampf um ihre revolutionäre Führung nicht einfach eine taktische Frage unter besonderen Bedingungen – die Frage der Sowjets ist für die proletarische Revolution von strategischer Bedeutung. Die von Lenin in „Staat und Revolution“ entwickelte Staatstheorie bestimmt im Kern die Bedeutung der Sowjets für die Zerschlagung des bürgerlichen Staates damit, dass die Diktatur des Proletariats zugleich die Errichtung eines proletarischen Halbstaates sein muss, soll sie eine erfolgreiche proletarische Revolution sein. Je mehr es gelingt, die bürgerlichen Insitutionen, von den Repressionsorganen bis zur Verwaltung und den ideologischen Apparaten, durch die Selbstverwaltungsorgane des Proletariats zu ersetzen, umso größere Chancen bestehen für eine wirkliche, die Produktionsweise in allen ihren Aspekten umwälzende Übergangsgesellschaft Richtung Sozialismus. Je mehr diese innere, nicht bloß formale eigentumsrechtliche Enteignung und Entmachtung der Bourgeoisie durch die eigenständige Bewegung der Klasse voranschreitet, desto größer die Chancen auch für die Abwehr der notwendigen konterrevolutionären Gegenschläge.

Eine Umwälzung der Eigentumsverhältnisse, die ohne diese Selbsttätigkeit vor allem „von oben“, vor allem über „Verstaatlichungen“ abläuft, wird umso mehr Elemente des alten bürgerlichen Staates bewahren und anstelle wirklicher Räte setzen. Alle Erfahrungen, von der Stalinisierung der Sowjetunion über die Umstürze in Osteuropa und der DDR bis zu den Siegen in China, Kuba und Vietnam, zeigen, dass die Formen der Staatlichkeit in diesen Regimen kaum zu unterscheiden waren von ganz gewöhnlichen bürgerlichen Diktaturen. Selbst was sich „Räte“ oder gar „Sowjets“ nannte, war nichts anderes als parlamentarische Staffagen, „Quasselbuden“ ohne Bezug zu den tatsächlichen Problemen der arbeitenden Bevölkerung, die sie angeblich vertraten. Die bürgerliche Form dieser Staaten im Gegensatz zu ihren nach-kapitalistischen Eigentumsverhältnissen war Ausdruck der Abtötung des Lebenselements im Sinne eines wirklichen Übergangs zum Sozialismus: der immer weiter um sich greifenden Selbstorganisation der Arbeitenden, die immer mehr alle Formen von Staatlichkeit überwindet. Dagegen waren die Ausschaltung der Sowjets in der UdSSR bzw. die unter ganz besonderen Umständen möglich gewordenen Umwälzungen durch „bürokratische ArbeiterInnen- und Ba(e)uerInnenregierungen“, die auf militärischen Organen statt auf Räten beruhten, zentral dafür verantwortlich, dass die errichteten ArbeiterInnenstaaten zugleich Diktaturen bürokratischer Schichten über die ArbeiterInnen wurden. Früher oder später musste die ökonomische Krise des blockierten Übergangs und der bürokratischen Misswirtschaft große Teile dieser Bürokratie selbst zu Agenten der Konterrevolution machen. Die bürgerliche Form des Staatsapparates konnte ihre letzte Funktion in den degenerierten ArbeiterInnenstaaten bei der formal legalistischen Durchführung der Restauration des Kapitalismus spielen.

Dies ist kein „Rückwärtslaufen des reformistischen Films“ des Weges zum Sozialismus – denn mit der stalinistischen Konterrevolution, der Zerschlagung der revolutionären Organisationsformen, der revolutionären Partei und der arbeiterdemokratischen Sowjets, war die „Diktatur des Proletariats“ bereits ihres revolutionären Subjekts beraubt. Die ArbeiterInnenklasse herrschte nur noch abstrakt, „objektiv“, über die nachkapitalistischen Eigentumsverhältnisse vermittelt. Nachdem die Krise der bürokratischen Planwirtschaft große Teile der Klasse und der Bürokratie in diesen Staaten keine Perspektive mehr sehen ließ, fehlte jegliches Subjekt zur Verteidigung dieser Art von Staat – es blieb nur die kapitalistische Restauration oder eine neue politische ArbeiterInnenrevolution, die wiederum auch diesen „Arbeiterstaat“, d. h. seine bürokratischen Strukturen hätte zerschlagen müssen, um die nachkapitalistischen Eigentumsverhältnisse zu verteidigen. Insofern haben auch die Aufstände in den degenerierten ArbeiterInnenstaaten, ob in Polen, der DDR, Ungarn oder der Tschechoslowakei sofort auch immer wieder zur Bildung von Streikkomitees und Rätestrukturen geführt. Auch hierin zeigt sich die spontane Tendenz der ArbeiterInnen in revolutionären Situationen, ihre unabhängige, gegen bestehende staatliche Strukturen gerichtete Stoßrichtung – genauso wie die beständige Gefahr, dass solche Räte oder Selbstorganisationsansätze unter reaktionäre Führung geraten können, wenn es keine revolutionären Organisationen gibt, die darin für eine sozialistische Perspektive kämpfen.

 

Endnoten

(1) Schuhler, Conrad: Der Marxismus und das Ende des Kapitalismus, Seite 5 von 8; zitiert wird aus den Gefängnisheften von Antonio Gramsci. In der Ausgabe „Philosophie der Praxis“ (S. Fischer Verlag, Frankfurt/M., 1967) findet sich das Zitat auf Seite 347, im Kapitel „Politischer Kampf und militärischer Krieg“

(2) Schuhler, ebd., S. 6 von 8

(3) In: Engels, Friedrich: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, MEW 21, Berlin/O., 1975, S. 27 ff.

(4) Lenin, W. I.: Staat und Revolution (SuR). Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution, LW 25, Berlin/O., 1972, S. 400

(5) Engels, Friedrich: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring), MEW 20, Berlin/O., 1962, S. 261

(6) ebda., S. 262

(7) Marx, zitiert nach Lenin, Staat und Revolution, a. a. O., S. 427

(8) Lenin, ebda, a. a. O., S. 463

(9) Lenin, ebda, a. a. O., S. 501, 504

(10) Gramsci, Antonio: Philosophie der Praxis, a. a. O., S. 75

(11) ebda., S. 33

(12) ebda., S. 96 f.

(13) ebda., S. 67

(14) ebda., S. 97 f.

(15) ebda., S. 34

(16) ebda., S. 60

(17) ebda.

(18) ebda., S. 86

(19) ebda., S. 346

(20) ebda., S. 328

(21) ebda., S. 332

(22) ebda., S. 349

(23) Althusser, Louis: Für Marx, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M., 1968, S. 113 f.

(24) ebda., S. 114

(25) ebda., S. 115

(26) ebda., S. 116

(27) ebda., S. 117 f.

(28) ebda., S. 126 f.

(29) ebda., S. 128 f.

(30) ebda., S. 129

(31) Croce, Benedetto: Geschichte Europas im neunzehnten Jahrhundert, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M., 1968. Original: Storia d’Europa nel secolo decimonono, Neapel, 1932

(32) ebda., S. 324

(33) Althusser, a. a. O., S. 140

(34) ebda., S. 141

(35) Marx, Karl: Das Kapital. Band I. Nachwort zur zweiten Auflage, MEW 23, Berlin/O., 1971, S. 27 f.

(36 Poulantzas, Nicos: Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, autoritärer Etatismus, VSA Verlag, Hamburg, 2002. Originalausgabe: Paris, 1977, S. 64

(37) ebda., S. 74

(38) ebda., S. 279

(39 ebda., S. 281

(40) ebda., S. 289

(41) ebda.

(42) ebda., S. 286 f.

(43) ebda., S. 174

(44) ebda., S. 292

(45) Lukács, Georg: Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik, Frankfurt/M., 1968; Erstausgabe: Berlin, 1923

(46) Korsch, Karl: Marxismus und Philosophie, London, 1998; Original: Berlin, 1923

(47) Rogowin, Stalins Kriegskommunismus, , Mehring Verlag, Essen, 2006, S. 277 ff.

(48) Lukács, Chvostismus und Dialektik (1925), Áron Verlag, Budapest, 1996, S. 51

(49) ebda., S. 51 f.

(50) ebda., S. 55

(51) Zitiert von Lukács, ebda.

(52) ebda., S. 83

(53) ebda., S. 78

(54) Kautsky, Karl : Der Weg zur Macht, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt/M., 1972, S. 60 f.

(55) Zizek, Slavoj: Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M., 2002

(56) ebda., S. 10

(57) ebda.; historische Bezüge und Zitate jeweils aus: Harding, Neil: Leninism, Durham, 1996

(58) Trotzki, Leo: Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der 4. Internationale. Übergangsprogramm der 4. Internationale. Ende des ersten Abschnitts, in: ders., Das Übergangsprogramm der 4. Internationale. 1938 bis 1940 – Schriften zum Programm, Verlag Ergebnisse und Perspektiven, Essen, o. J., S. 5 f.

(59) Arnold, Volker: Rätebewegung und Rätetheorien in der Novemberrevolution, Hamburg, 1985, S. 113

(60) ebda., S. 148

(61) ebda., S. 152

(62) ebda., S. 158

(63) ebda., S. 188 f.

(64) ebda., S. 190

(65) Trotzki, Übergangsprogramm, a. a. O., S. 28

(66) Karim, Darius (Pseudonym von Nahuel Moreno): Die revolutionäre Diktatur des Proletariats, Bogotá, 1979

(67) Resolution des 12. Weltkongresses der 4. Internationale, 1985. Aus: Warum wir den Sozialismus wollen II, RSB, Die Internationale Theorie, Heft 30, Mannheim, 2006

(68) ebda., S. 33

(69) Arnold, a. a. O., S. 214

(70) Schuhler, Conrad: Widerstand. Kapitalismus oder Demokratie, isw-Report 96, München, 2014

(71) Zizek, Lenin, a. a. O., S. 123 ff.

(72) ebda., S. 11 f.

(73) ebda., S. 185

(74) Siehe: Trotzki, Leo: Revolution und Bürgerkrieg in Spanien 1931-1939, Frankfurt/M., 1975, Band 1, S. 75

(75) ebda., S. 204

(76) Karim, a. a. O., S. 149

(77) Trotzki, Übergangsprogramm, a. a. O., S. 27