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EVG-Urabstimmung: Ablehnung des Schlichtungsergebnisses!

Bahnvernetzung. Vernetzung klassenkämpferischer Eisenbahner:innen, Infomail 1229, 4. August 2023

Nach einem Monat hinter verschlossenen Türen liegt uns nun das Ergebnis des Schlichtung vor, das BuVo und Zentrale Tarifkommission uns nun zur Annahme empfehlen.

Warum wir dafür eintreten mit NEIN zu stimmen:

Viel zu lange Laufzeit!

25 Monate statt der geforderten 12—denken wir alleine daran, was in den

letzten 25 Monaten auf der Welt passierte, zeigt sich, wie fatal diese Laufzeit sein kann

Zu wenig Geld

  • erste Lohnerhöhung erst im Dezember 2023 und nur 200€

  • zweite Lohnerhöhung im August 2024 (210€)

  • dritte Lohnerhöhung schafft Spaltung nicht ab, sondern vergrößert sie teilweise

  • inflationsbereinigt ist der Abschluss noch immer ein Reallohnverlust

  • Gas: 2019-2023: +600% Lebensmittel: 2022-2023: +11%

  • gefordert waren 650 Euro— warum wird immer davon ausgegangen, das nicht zu kriegen?

Kröten, die nicht sein müssen

  • besondere Altersteilzeit von 59 auf 61

  • UBK-Wäsche ins Private ausgelagert

Viel Wind hat die EVG-Verhandlungsführung uns selbst aus den Segeln genommen, insbesondere seitdem das Frankfurter Arbeitsgericht den Warnstreik kassiert hat (was als Sieg im Thema Mindestlohn umgedeutet wurde). Viele sind unzufrieden. Damit, wie es lief, damit, was jetzt rauskam. Eine Ablehnung von – undemokratischen – 75 % kann uns den Wind zurückgeben. Zudem steht die Tarifrunde der GDL vor der Tür, viele ihrer Forderungen – z.B. eine 35 Stunden Woche – würden auch uns etwas bringen, aber die DB wird durch das Tarifeinheitsgesetz dafür sorgen, dass EVG Mitglieder nicht unter den EVG-Tarif fallen, GDL Mitglieder nicht unter den der GDL.

Anstatt uns Gegeneinander aufzustacheln und spalten zu lassen treten wir für die Zusammenarbeit zwischen EVG- und GDL-Kolleg:innen ein, wie wir das im Betrieb sowieso jeden Tag tun. Es braucht den unmittelbaren gemeinsamen Streik von beiden Gewerkschaften, dass kann nur von uns Bahner:innen selbst kommen, weder Burkert, noch Weselsky wollen das.

Auch wenn es diesmal transparenter läuft als 2020 ist das trotzdem nicht genug. Tarifkommission und zu bildende Streikkomitees müssen direkt wähl- und abwählbar sowie rechenschaftspflichtig sein, auf Betriebsversammlungen muss abgestimmt werden, wie gekämpft wird. Annahme / Ablehnung des Ergebnisses nach einfacher Mehrheit! Volle Transparenz: Wir wollen Einsicht in aller Verträge und Verhandlungsstände mit allen Unternehmen und Gewerkschaften.

Nächstes Treffen: 23.08.23 18:00 Uhr im Café Styles (Str. der Pariser Kommune 11)

Anmeldung unter: info@Bahnvernetzung.de




Nein zur Schlichtungsempfehlung

Martin Suchanek, Infomail 1229, 28. Juli 2023

„Einigung im Tarifstreit bei der Bahn absehbar“, verkündet die Tagesschau am 26. Juli. Nach mehreren Verhandlungswochen hinter verschlossenen Türen haben die Vorsitzenden der Schlichtungskommission, Prof. Heide Pfarr (SPD, von der EVG benannt) und Dr. Thomas de Maizière (CDU, von der Bahn AG ernannt), eine Empfehlung veröffentlicht. Diese sieht lt. EVG folgende fünf Punkte vor:

„1. Entgelt-Erhöhung in fast allen Bereichen um 410 Euro. Umgesetzt wird in zwei Stufen mit jeweiligem Festbetrag: Stufe eins 200 Euro im Dezember 2023 und Stufe zwei im August 2024 um 210 Euro.

2. Einmalzahlung, damit unsere Kolleginnen und Kollegen schnell Geld kriegen. Auszahlung von 2.850 Euro als steuerfreie Inflationsausgleichsprämie im Oktober 2023.

3. Strukturelle Entgelterhöhung kommt für fast 70.000 Kolleginnen und Kollegen. Verschiedene Funktions-/Berufsgruppen bekommen durchschnittlich nochmal 100 Euro monatlich dazu.

4. Keine Spaltung, alle Berufsgruppen sind im Tarifabschluss einbezogen. Wir konnten Spaltung durch Ausgrenzung verhindern.

5. Verkürzung der Laufzeit von 27 auf 25 Monate. Das bedeutet, dass die neue Tarifrunde bereits in 20 Monaten startet.“

Dass es bei der Schlichtung selbst zu keiner Einigung kam, lag wohl nicht an der Gewerkschaft EVG. Auf ihrer Homepage redet und rechnet sie das Ergebnis schön, ihre Schlichtungskommission empfiehlt dem Bundesvorstand die Annahme. Das letzte Wort, so heißt es weiter, hätten die Mitglieder, die bis Ende August über das Ergebnis in einer Urabstimmung entscheiden könnten.

Hört sich demokratisch an, ist es aber nicht, wie wir noch sehen werden. Doch zuerst kurz zur Einschätzung des Abschlusses.

Stärken?

Natürlich gebe es lt. EVG-Verhandlungsführer Kristian Loroch auch negative Aspekte der Empfehlung, diese würden aber durch die positiven Seiten eines guten Kompromisses weit überwogen.

„Für uns als EVG sehe ich in der Schlichtungsschlussempfehlung klare Stärken. Hervorzuheben ist, dass in der Laufzeit eine dauerhafte wirksame Entgelterhöhung erreicht wird. Das bedeutet für die allergrößte Zahl unserer Mitgliedschaft ein dauerhaftes Lohnplus im zweistelligen Bereich. Das ist eine Erhöhung, die es in dieser Größenordnung in Deutschland seit Jahrzehnten nicht gab – das haben unsere Kolleginnen und Kollegen mehr als verdient.“ (https://www.evg-online.org/meldungen/details/news/10862/)

Über die grassierende Rekordinflation, die Einkommenserhöhungen innerhalb von zwei Jahren wieder auffrisst, verliert Loroch kein Wort. Auch die ursprüngliche Forderungen – tabellenwirksame (!) 12 %, mindestens aber 650 Euro bei einem Jahr Laufzeit – werden nicht mehr erwähnt. Warum auch? Für die Schlichtungskommission waren schließlich längst nicht mehr die ursprünglichen Forderungen Verhandlungsziel, sondern die bei Privatunternehmen wie Transdev erzielten Abschlüsse (siehe dazu: https://arbeiterinnenmacht.de/2023/07/06/tarifkampf-der-evg-schlichtung-ablehnen/).

Nur so ist zu erklären, warum die EVG eine Laufzeit von 25 Monaten, die damit gerade zwei Monate unter der Forderung der Bahn AG bleibt, als „Erfolg“ verkauft.

Wie viele andere Gewerkschaftsapparate übt sich auch die EVG darin, das Ergebnis erst gar nicht mit den Forderungen direkt zu vergleichen, für die Zehntausende Kolleg:innen in den Warnstreik traten. Wozu auch? Damit würde es ja nur leichter durchschaubar und transparenter. Statt dessen rechnet die EVG die Entgelterhöhungen unzulässig hoch. So verkündet ihre Homepage folgende Zuwächse für ausgewählte Berufsgruppen:

„- Fahrdienstleiter*innen (307) bekommen bis zu 900 Euro mehr // das entspricht ca. 30 Prozent Lohnplus

– Zugbegleiter*innen (508) bekommen bis zu 840 Euro mehr // das entspricht ca. 22 Prozent Lohnplus

– Werkstattmitarbeiter*innen & Instandhalter*innen (107) bekommen bis zu 860 Euro mehr // das entspricht ca. 24 Prozent Lohnplus“.

Unterschlagen wird dabei nicht nur die Laufzeit von 25 Monaten. Würden wir die Zuwächse von 410 Euro auf ein Jahr beziehen, so kämen wir auf 196,80 Euro tabellenwirksame Lohnerhöhung pro Jahr – also nur weniger als ein Drittel der ursprünglich geforderten 650 Euro. Hinzu kommt, dass bei der Berechnung des Lohnplus die Einmalzahlung von 2.850 Euro munter mit den tabellenwirksamen Lohnerhöhungen in einen Topf geworfen wird. Schließlich beziehen sich die drei Beispiele auf Berufsgruppen, die eine über die 410 Euro hinausgehende zusätzliche Einkommenserhöhung erhalten sollen. Das betrifft rund 70.000 Bahnbeschäftigte in Jobs, die nicht nur für die EVG und ihre Verhandlungsmacht strategisch wichtig sind (insbes. Fahrdienstleiter:innen), sondern wo auch Personalmangel herrscht. Für Zehntausende andere Beschäftigte gibt es diesen Zusatzbonus nicht – eine klare Spaltungslinie, die die EVG-Schlichtungskommission stillschweigend akzeptiert.

Nein zur Schlichtungsempfehlung!

Ein solches Ergebnis stellt keinen „guten Kompromiss“, sondern einen frechen und schlechten Ausverkauf dar. Daher rufen nicht nur wir, sondern viele kritische Bahner:innen wie z. B. die „Vernetzung klassenkämpferischer Eisenbahner:innen“ dazu auf, bei der Urabstimmung gegen die Schlichtung und für einen Streik für die ursprünglichen Forderungen zu stimmen.

Dass dabei, wie die EVG-Spitze verkündet, die Mitglieder das letzte Wort hätten, ist auch eine Lüge. Erstens wurden sie nie gefragt, ob sie überhaupt in die Schlichtung gehen wollten. Das entschied der bürokratische Apparat ganz alleine. Er beschloss ohne Befragung, geschweige denn Diskussion der Basis, nach dem Scheitern der Tarifverhandlungen eine „Zwischenrunde“ einzuschieben, in der die Kolleg:innen über Wochen nur eines tun konnten – warten. Diese erzwungene Passivität nützt tragischerweise auch noch der Gewerkschaftsbürokratie. Nach Monaten von langgezogenen, fruchtlosen Verhandlungen, zwei Halbtagswarnstreiks, einem gerichtlich faktisch untersagten Warnstreik (was in einem Vergleich zu einem Sieg umgedeutet wurde) und wochenlangen Schlichtungsgesprächen hinter verschlossenen Türen sind viele unmotiviert, frustriert und teilweise auch nur froh, dass das alles endlich vorbei ist.

Hinzu kommt, dass in der schönen bürokratisch organisierten Veranstaltung namens Gewerkschaftsdemokratie für die Ablehnung der Schlichtung und die Durchführung von Streiks 75 % der Stimmen notwendig sind. Eine einfache Mehrheit reicht nicht – eine Minderheit aber sehr wohl zur Annahme der Schlichtung!

Zudem verfügt der Gewerkschaftsapparat über das Informationsmonopol. Nur er kann alle Mitglieder erreichen, er bestimmt die öffentlichen Verlautbarungen und den Inhalt der „Tarifinformationen“, die mit mehr oder weniger gleicher Einschätzung auch von den bürgerlichen Medien verbreitet werden.

Dass der Apparat und die Führung der EVG die Annahme der Schlichtung empfehlen, sollte aber niemand wundern. Als getreue Sozialpartner:innen wollten sie nie einen Vollstreik für die Forderungen, der Monate dauern und sich womöglich mit der Tarifrunde der GDL überschneiden könnte. Dabei wäre das für alle kämpferischen Beschäftigten – in der EVG und in der GDL – eine Chance, die unsägliche Spaltung, die zuerst den Apparaten, vor allem aber der Bahn AG und den Bahnzerschlager:innen in der Regierung und bei den Unionsparteien nutzt, zu beenden. Ein drohender Ausverkauf und eine zweijährige Laufzeit werden auch diesen anstehenden, entscheidenden Kampf massiv erschweren.

Daher:

  • Nein zur Schlichtung! Erzwingungsstreik für 12 %, mindestens aber 650 Euro bei einem Jahr Laufzeit!

  • Vollversammlungen in den Betrieben, Werkstätten, Abteilungen und Betriebsgruppen zur Diskussion über die Schlichtung und Abstimmung über die Empfehlung!

  • Erstellung von Informationsmaterial für die Beschäftigten, das erklärt, warum die Ergebnisse der Schlichtung abzulehnen sind!

  • Aufbau einer klassenkämpferischen Opposition in EVG und GDL! Aufbau der Vernetzung klassenkämpferischer Eisenbahner:innen!



Warum wir die Schlichtung und ihr Ergebnis ablehnen und für einen gemeinsamen Kampf von GDL und EVG sind.

Bahnvernetzung. Vernetzung klassenkämpferischer Eisenbahner:innen, Infomail 1228, 13. Juli 2023

Die Deutsche Bahn AG hat nach dem Scheitern der Tarifverhandlungen mit der EVG eine Schlichtung vorgeschlagen – der BuVo folgte mehrheitlich der Empfehlung des Vorstandes darauf einzugehen. Das Ergebnis der Schlichtung soll danach urabgestimmt werden.

Wir lehnen das ab und sagen:

  • Nein zur Schlichtung! Das Verfahren ist bereits formal undemokratisch. Am Ende reichen 25 % aller abstimmenden EVG-Mitglieder um das Ergebnis anzunehmen, während es 75% ablehnen müssen, um in einen Erzwingungsstreik zu treten. Kolleg:innen, die unter den EVG-Tarifvertrag fallen, werden ausgeschlossen, wenn sie in der GDL oder in keiner Gewerkschaft sind.

  • Wir fordern den Abbruch des Verfahrens und eine Urabstimmung JETZT und schnellstmöglich über den Erzwingungsstreik – und zwar bei allen Unternehmen, für die verhandelt wurde und wird. Der Transdev-Abschluss kann nicht das Ziel sein – Keine Kompromisse und keine Verschlechterung: 12 %, mindestens 650 Euro, 1 Jahr Laufzeit! Das Schlichtungsverfahren bedeutet weitere Geheimgespräche und Intransparenz hinter verschlossenen Türen. Wir geben in so einem Verfahren nicht nur die Kontrolle an gewerkschaftliche Verhandlungsführer:innen ab, die wir auch schon nicht wählen können, sondern auch an Schlichter:innen aus der Politik, die die immer auch das „Wohl des Konzerns“ im Auge behalten werden.

  • Anstatt uns Gegeneinader aufzustacheln und spalten zu lassen treten wir für die Zusammenarbeit zwischen EVG- und GDL-Kolleg:innen ein. Es braucht den unmittelbaren gemeinsamen Streik von beiden Gewerkschaften, dass kann nur von uns Bahner:innen selbst kommen, weder Burkert, noch Weselsky wollen das.

  • Statt einem undemokratischen Schlichtungsverfahren, das immer auch die Leiden des Managements berücksichtigen muss, brauchen wir einen Streik, der unter unserer direkten Kontrolle liegt. Auch wenn es diesmal viel transparenter läuft als 2020 ist das trotzdem nicht genug. Tarifkommission und zu bildende Streikkomitees müssen direkt wähl- und abwählbar sowie rechenschaftspflichtig sein, auf Betriebsversammlungen muss abgestimmt werden, wie gekämpft wird. Annahme / Ablehnung des Ergebnisses nach einfacher Mehrheit! Volle Transparenz: Wir wollen Einsicht in aller Verträge und Verhandlungsstände mit allen Unternehmen und Gewerkschaften.

  • Binden wir Reisende und Pendler:innen besser ein! Es braucht eine Kampagne unter Fahrgästen und die Forderungen, dass nicht sie mit Fahrpreiserhöhungen die Zeche zahlen. Wir müssen klar machen, dass höhere Löhne für das Bahnpersonal eine höhere Qualität für den Bahnbetrieb bedeutet. Der DGB steht hier in der Verantwortung eine Solidaritätskampagne zu fahren, die allen klar macht, warum der Streik der Bahner:innen unterstützt werden muss! Keine Abmahnung für Kolleg:innen, die wegen bestreikten Züge nicht zur Arbeit kommen! Genauso müssen EVG und GDL Arbeitskämpfe anderer Gewerkschaften unterstützen!



Tarifkampf der EVG: Schlichtung ablehnen!

Leo Drais, Neue Internationale 275, Juli/August 2023

Die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) hat sich in der überaus zähen Tarifrunde mit der DB AG auf eine Schlichtung eingelassen, nachdem sie sich bereits in der Vorbereitung der Urabstimmung über einen Erzwingungsstreik befand. Diese wird auch kommen – das Schlichtungsergebnis soll urabgestimmt werden. Es ist zu erwarten, dass die EVG dann die Annahme empfiehlt, gerade mal 25 % der abstimmenden Mitglieder reichen dafür. Demgegenüber müssten 75 % das Ergebnis ablehnen, sprich für einen Erzwingungsstreik stimmen, damit dieser stattfindet.

Schachzug der Bürokratie

Das Ganze ist ein geschickter Zug der EVG-Führung, die in den letzten drei Monaten viel dafür getan hat, nicht zu streiken, die immer wieder betont hat, Lösungen gebe es nur am Verhandlungstisch, die eine Niederlage vor dem Arbeitsgericht Frankfurt zu einem Sieg umdeutete, die mit Transdev einen Abschluss gemacht hat, zu niedrig, zu lang in der Laufzeit, den sie wie mit dem Zaunpfahl winkend auch bei der DB gern genommen hätte – nur: Nicht mal diesen Abschluss wollte die DB akzeptieren.

Der Abschluss bei Transdev, dem größten privaten Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) nach dem staatlichen der DB AG (Betreiber u. a. der Bayerischen Regiobahn, NordWestBahn, S-Bahn Hannover) beinhaltet eine Laufzeit von 21 Monaten und eine zweistufige Bruttofestgelderhöhung von 290 Euro ab November und 130 Euro ab August 2024; Nachwuchskräfte kriegen die Hälfte. Zusätzlich kommt eine Inflationsausgleichsprämie über 1.400 Euro. Daneben erfolgten Verbesserungen im Bereich der Zuschläge und noch Weiteres. Von den ursprünglichen Forderungen: Laufzeit 12 Monate, 650 Euro in die Tabelle ist dennoch nicht viel geblieben. Andere private EVU folgten dem Abschluss.

Die Bahn provozierte mit einem Angebot von 27 Monaten Laufzeit und einer Erhöhung von gerade mal 200 Euro in zwei Schritten (Dez 23, Aug 24, jeweils 100 Euro). Das „Angebot“ wurde von der Zentralen Tarifkommission (ZTK) abgelehnt und ebenso vom Bundesvorstand der EVG. Somit waren die Verhandlungen gescheitert.

Die Entscheidung ist wahrscheinlich Ausdruck von zwei Aspekten: Erstens kann natürlich eine Gewerkschaftsführung, auch wenn sie sich noch so sehr um die Sozialpartner:innenschaft mit den Bossen bemüht, nicht jeden Scheiß unterschreiben, zumal die EVG im Coronajahr 2020 komplett die Füße stillgehalten und unter dem Deckmantel der Beschäftigungssicherung eine Nullrunde unterschrieben hat – ohne irgendeine Vordiskussion mit der Basis.

Dieses Mal bemühte sich der Apparat von Anfang an, dem ganzen Verfahren einen demokratischeren Anstrich zu geben, natürlich weit ab von einer direkten Kontrolle durch die Mitglieder. Man organisierte Tarifwerkstätten und eine Mitgliederbefragung, beides mit deutlichen Schwächen. Bei Ersteren durfte zwischen drei Hauptforderungen nur eine gewählt werden, bei Zweiterer konnten alle mehrfach abstimmen, jedoch ohne, dass in dem Ergebnis irgendeine Verbindlichkeit lag; die Laufzeit fehlte gleich ganz.

Zudem hat sich in den vergangenen Jahren die Zusammensetzung des EVG-Apparates verändert. Mehr junge Gewerkschaftssekretär:innen und Ehrenamtliche sind abgefuckt davon, wie der Laden läuft. Zudem ist natürlich einerseits allen Gewerkschaftsoffiziellen klar, dass mit einem zu schlechten Abschluss Austrittswellen drohen, zum anderen, und das ist nicht zu unterschätzen, gibt es bei der Bahn anders als für die IG Metall bspw. eine relevante Konkurrenzgewerkschaft mit der GDL. Diese hat ihrerseits mittlerweile ihre Forderungen für die Tarifrunde ab Herbst aufgestellt, darunter eine 35-Stundenwoche für Schichtarbeiter:innen sowie 555 Euro mehr in die Tabelle. Schließt die EVG zu schlecht ab, gibt es für alle Mitglieder immer auch die Möglichkeit, zu ihr zu gehen, und das weiß natürlich der Apparat beider Vereinigungen.

Davon abgesehen ist es natürlich so, dass die Tarifkommissionen bei den unterschiedlichen Unternehmen anders zusammengesetzt sind.

Dann kam die DB mit dem Angebot einer Schlichtung um die Ecke und der EVG-Apparat witterte die Chance: ein guter Sozialpartner sein und gleichzeitig die Mitgliedschaft einbinden. Das Ergebnis der Schlichtung wird urabgestimmt, die Verantwortung über die Annahme der Mitgliedschaft in einem Verfahren überantwortet, das selbst formal undemokratisch ist. Am Ende klopfen sich EVG-Vizevorsitzende Cosima Ingenschay und Co. auf die Schulter und sagen: „Die Mitgliedschaft hat entschieden“, selbst wenn mehr als 50 % das Ding ablehnen sollten. Es scheint demokratisch, aber der ganze Weg dahin und die Abstimmung selbst waren und sind es nicht. Allein schon deshalb muss die Schlichtung abgelehnt werden. Immerhin einige, wenigstens die Vertreter:innen der Jugend, haben dies getan.

Annahme verweigern

Darüber hinaus ist erstens zu erwarten, dass bei der Schlichtung nicht das rauskommt, was ursprünglich gefordert wurde. Zwar gehört es zu den üblichen Ritualen in deutschen Tarifverhandlungen, weit unter den eigenen Forderungen abzuschließen, doch nur, weil es „schon immer so gemacht“ wird, wird es dadurch nicht richtiger. Warum wird nicht eskalierend vorgegangen? Eine DB, die ungestraft einfach mal 2 Monate gar nicht verhandelt hat, hätte es nicht anders verdient, als mit einem Erzwingungsstreik bestraft zu werden, wo mit jeden Tag die Forderung erhöht wird.

Zweitens muss die Schlichtung (und damit ihr Ergebnis) deshalb abgelehnt werden, weil sie nicht nur ein Zugeständnis an die Bahn darstellt, sondern auch, weil die EVG damit von dem Wohlgefallen der Schichter:innen abhängig wird. Diese kann sie zwar selbst mitbestimmen, zum Redaktionsschluss sind diese auch noch nicht bekannt, erfahrungsgemäß sind es jedoch Politiker:innen, die vorgeblich zwar über dem Konflikt stehen, jedoch immer auch das „Wohl des Konzerns“ im Blick behalten (wie die EVG-Spitze selbst auch; schließlich verteidigt sie die DB nicht aus fortschrittlichen Gründen gegen deren drohende Zerschlagung, sondern für den Erhalt des Status quo).

Wir sollten von der Schlichtung nicht mehr erwarten als den Transdev-Abschluss. Wir sollten sie deshalb ablehnen und, weil sie ein undemokratisches Verfahren ist, das am Ende mit der Urabstimmung einen demokratischen Touch erhalten soll. Unsere Mittel für einen Abschluss, der unseren Forderungen entspricht, sind noch nicht ins Spiel gebracht worden: Ablehnung des Schlichtungsergebnis, Durchführung des Erzwingungsstreiks.

Und wenn das Ganze sich schon bis in den Herbst hinzieht, dann liegt der gemeinsame Kampf mit den Kolleg:innen der GDL auch auf der Hand. Immerhin stehen wir täglich zusammen gegen diesen Konzern um Sicherheit und Pünktlichkeit auf der Schiene ein, das heißt, wir können auch zusammen gegen seinen Tarif kämpfen. Wir sollten gegenseitig die Forderungen durch die der höchsten von der anderen Seite ersetzen. Von den Führungen der EVG und der GDL gibt es in unterschiedlichem Maß daran kein Interesse, die Zusammenarbeit wird aus der Basis kommen müssen.

Genauso gilt das für ein Eintreten für wirklich demokratische Tarifrunden: Tägliche Betriebsversammlungen, direkt gewählte und rechenschaftspflichtige Vertreter:innen in der Tarifkommission. Abstimmungen über Annahme und Streik nach einfacher Mehrheit. Kann sein, dass ein solches Verfahren noch Jahre auf sich warten lassen wird. Trotzdem: Der Grundstein für eine Diskussion dazu muss jetzt in der Tarifrunde gelegt werden.

Und noch etwas müssen wir selbst in die Hand nehmen: GDL- und EVG-Chef:innen sind denkbar schlecht darin, der Medienhetze etwas entgegenzusetzen, wenn es zu Streiks kommt. Es wird einfach darauf verwiesen, dass diese rechtens seien – das heißt im Umkehrschluss dann eben auch, ein gerichtliches Streikverbot kampflos zu akzeptieren.

Streik und Reisende

Wie können die Reisenden also mitgenommen werden? Es gibt gleich mehrere Möglichkeiten. Erstens: Einbeziehung durch Erweiterung der Forderungen. Keine Fahrpreiserhöhung, kostenloser Nahverkehr und massive Angebotserweiterung, bezahlt durch die Profite von VW und Co. Zweitens: Aufklärung. Nicht die streikenden Kolleg:innen sind schuld an der Misere, sondern der Konzern und der Staat. Der Streik findet auch dafür statt, dass die Arbeitsbedingungen bei der Bahn besser werden. Verkehrswende braucht Eisenbahner:innen. Von diesen gehen in manchen Bereichen 70 – 80 Prozent in den nächsten zehn Jahren in Rente. Daher braucht es nicht nur einen massiven Ausbau des öffentlichen Verkehrs, sondern auch ein deutlich verbessertes Investitionsprogramm für Neueinstellungen!

Drittens: Gezielter Erzwingungsstreik. Es wäre durchaus möglich, gezielt und schwerpunktmäßig den Güterverkehr der Auto- und Schwerindustrie zu bestreiken und Personenverkehr zeitweilig auszunehmen, verbunden mit einem Streik im Bereich Vertrieb und Fahrkartenkontrolle. Das würde aber einen höheren Organisationsgrad brauchen und vor allem wäre dafür die Voraussetzung, dass wir als Beschäftigte den Streik selbst kontrollieren. Die Ironie wäre dann übrigens, dass der Reiseverkehr auf einmal pünktlicher wäre – in einem vollen, heruntergefahrenen Netz fällt es auf, wenn die Züge fehlen, die die bedeutendsten Industrien des Landes bedienen, also jene, die seit Jahrzehnten für einen chronische Benachteiligung der Schiene verantwortlich sind.




Berliner GEW-Streik braucht einen Kampagnenplan

Martin Suchanek, Infomail 1224, 9. Juni 2023

Zum 14. Mal legten Berliner Lehrer:innen im Kampf für einen Tarifvertrag Gesundheitsschutz vom 6. – 8. Juni die Arbeit nieder. 14 Streiks, an denen sich jeweils Tausende Beschäftigte anschlossen; 14 Streiks, die vom Berliner Senat – zuerst von Rot-Grün-Rot und jetzt von CDU/SPD – ignoriert wurden. Über einen Tarifvertrag könne das Land Berlin leider leider nicht gegen den Willen der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) verhandeln, so ließen bisher alle Senatsparteien verlauten.

In der Tat stellt der geforderte Tarifvertrag Gesundheitsschutz eine fortschrittliche Neuerung für den Bildungssektor dar. Die GEW Berlin fordert darin eine Reduktion der Klassengrößen, um die Beschäftigten zu entlasten und zugleich die Bildung für die Schüler:innen zu verbessern. Natürlich müsste das mit einer massiven Einstellung weiterer Lehrkräfte und verbesserter Bezahlung einhergehen – und genau das wollen weder der Berliner Senat noch die Tarifgemeinschaft der Länder. Um das heiße Eisen erst gar nicht anzufassen, weisen sie jede Zuständigkeit von sich.

Empörung

14 Streiks, die teilweise zwei oder gar drei Tage andauerten, beweisen, dass die Forderung nach einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen, Entlastung der Lehrkräfte und qualitativ besseren Lehrbedingungen ein reales Problem treffen – und zwar von Lehrenden, Lernenden und auch deren Eltern.

Daher beteiligten sich tausende Gewerkschaftsmitglieder seit Mitte 2021, also seit rund zwei Jahren, regelmäßig an den Arbeitskämpfen. Die Sympathie unter Eltern und Schüler:innen ist groß – schließlich sind sie selbst Hauptopfer der Unterfinanzierung des gesamten Bildungssystems.

Ursprüngliche Strategie gescheitert

Doch 14 Streiks werfen bei weiterhin ausbleibender Gesprächsbereitschaft seitens des Senats auch immer drängender die Frage auf: Mit welcher Kampfstrategie können die Forderungen durchgesetzt, ja überhaupt Verhandlungen erzwungen werden? Die CDU hat zwar im Wahlkampf eine Reform des Schulgesetzes ins Spiel gebracht, um der Streikbewegung die Spitze zu nehmen und die Lehrer:innen mit einigen Reförmchen abzuspeisen. Doch nicht einmal das wird bisher ernsthaft angeboten.

Zweitens aber sollten die Lehrer:innen ein solches „Angebot“ nicht ablehnen, jedoch dürfen sie sich davon auch blenden lassen und müssen an ihrem Ziel eines Tarifvertrages festhalten. Eine Reduktion der Klassengrößen per Schulgesetzänderung stellt allenfalls eine Willensbekundung des Senats dar, deren Nicht-Umsetzung sich mit Verweis auf den Lehrer:innenmangel leicht entschuldigen lässt. Ein Tarifvertrag hingegen holt die Entscheidung über Klassengrößen raus aus den verschlossenen Türen der Ministerialbürokratie an den Verhandlungstisch mit den Beschäftigten und bietet ihnen eine einklagbare Grundlage für Entlastung am Arbeitsplatz. Für die streikenden Lehrkräfte muss klar sein: Eine Schulgesetzänderung kann kein Ende ihres Kampfes bedeuten!

Das Ausbleiben jedes Angebots seit zwei Jahren verdeutlicht jedoch auch, dass die ursprüngliche Politik der GEW-Führung gescheitert ist, den Berliner Senat mittels einiger Warnstreiks an den Verhandlungstisch zu bringen und dann einen mehr oder weniger guten Kompromiss auszuhandeln. Ein Tarifvertrag Gesundheitsschutz ist durch befristete Tagesstreiks nicht zu haben. Alles andere bedeutet nur, sich selbst und den Streikenden etwas vorzumachen.

Entwicklung der Bewegung

Aber nach 14 Streiks steht die Frage im Raum, wie es weitergehen kann. Schon bei den letzten Arbeitsniederlegungen zeigte sich, dass die Zahl der Streikenden stagniert, an manchen Schulen sogar abnimmt, während andere dazustoßen. Bei den jüngsten drei Kampftagen vom 6. – 8. Juni stießen die Aktiven zusätzlich auf das Problem, dass sich viele  Gewerkschafter:innen nur an einzelnen Tagen beteiligten.

Generell kann gesagt werden, dass die Bewegung zahlenmäßig stagniert. Sie kann sich einerseits auf eine Schicht von mehreren Tausend zuverlässig Streikenden stützen. Doch die bilden bei rund 35.000 Lehrkräften nur eine Minderheit.

Das bedeutet aber auch, dass die bisherige Taktik, alle ein bis zwei Monate die Arbeit niederzulegen, nicht reicht, um den Senat auch nur zu Verhandlungen zu zwingen. Vom Standpunkt der Bildungsverwaltung und der regierenden Koalition ist es nur folgerichtig, die Aktionen weiter auszusitzen. Sie setzten, nicht ohne Grund, darauf, dass sich die Bewegung totlaufen wird.

Zugleich hat sich in den letzten beiden Jahren die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder, die die Aktionen tragen, deutlich erhöht. Neue, vor allem junge Lehrkräfte wurden in die Bewegung gezogen, auf diese stützen sich viele Streiks, Demonstrationen und Streikcafés in den Bezirken und Kiezen. Letztere sind eine Form von Basisversammlungen aktiver Gewerkschafter:innen, die eine Vernetzung verschiedener Schulen darstellen und damit auch als Mittel zum Aufbau weiterer Basisgruppen und zur Gewinnung neuer Mitglieder dienen. Diese Schicht war bei der Berliner Streikversammlung am 8. Juni besonders stark vertreten, an der über 1.000 Menschen teilnahmen.

Während also die Zahl der Streikenden insgesamt stagniert, so hat sich die Zahl der aktiven, den Kampf vorantreibenden Gewerkschafter:innen erhöht und verbreitet. In diesem, qualitativen Sinne können wir keineswegs von einer Stagnation der Bewegung sprechen, weil sich mit der Vergrößerung der Aktivist:innen auch die Möglichkeiten zur Verbreiterung der Streikbewegung verbessert haben.

Wie weiter?

Dies geht jedoch nicht ohne innere Konflikte. Denn wir müssen auch klar festhalten, dass die Strategie der GEW-Führung in den letzten Monaten immer mehr an ihre Grenzen gestoßen, ja objektiv gescheitert ist. Es braucht eine klare Vorstellung, mit welchen Schritten der Streik ausgeweitet, wie letztlich ein unbefristeter Erzwingungsstreik vorbereitet werden kann.

Indirekt erkennt auch die Führung der GEW dieses Problem an. Angesichts von Monaten der Verhandlungsverweigerung braucht es natürlich Eskalationsschritte wie den dreitägigen im Unterschied zum eintätigen Streik. Doch das allein ist keine Strategie, keine wirkliche Perspektive.

Eine solche setzt nämlich nicht nur ein klares Ziel, den Tarifvertrag Gesundheitsschutz, sondern auch voraus, die notwendigen Kampfschritt offen zu benennen, um so unter den organisierten wie auch den noch nicht organisierten Lehrer:innen und Erzieher:innen deutlich zu machen, welche Kampfformen notwendig sind, um den Tarifvertrag durchzusetzen.

Das wird wahrscheinlich nur mit einem unbefristeten Erzwingungsstreik möglich sein. Das ist sicher mit dem aktuellen Organisationsgrad nicht möglich. Aber um diesen vorzubereiten, muss er auch schon heute klar als Mittel benannt werden.

Kampagnenplan

Vor dieser Frage drückt sich letztlich die GEW-Führung herum. Eine Gruppe von aktiven Gewerkschafter:innen, viele davon junge GEWler:innen, haben daher die Initiative ergriffen und in den Streikcafés, bei der Demonstration und Streikversammlung Flugblätter verteilt und einen Vorschlag für einen Kampagnenplan zur Diskussion gestellt.

Dieser empfiehlt für die ersten Wochen des nächsten Schuljahrs einen fünftägigen Warnstreik. Dieser soll zur Vorbereitung eines unbefristeten Streiks genutzt werden, um die Mobilisierungsfähigkeit zu erhöhen, Streikversammlungen an den Schulen abzuhalten, Mobimaterialien herzustellen und zu verteilen, Veranstaltungen durchzuführen, schwächer organisierte Schulen durch stark organisierte zu unterstützen, kiez- und bezirksweite Demonstrationen durchzuführen. Darüber hinaus sollen auch Erzieher:innen in den Streik einbezogen werden.

Den Kern des Plans bildet aber auch eine Verbreiterung und Demokratisierung der Entscheidungsstruktur durch eine berlinweite Streikversammlung, die über die Strategie der Bewegung und die Politik der Tarifkommission bestimmt. Sie soll auch darüber entscheiden, wie der Streik fortgesetzt wird, falls sich der Senat auch nach der ersten fünftägigen Aktion nicht zu Verhandlungen bereiterklärt.

Damit formulieren die Streikenden ein Konzept zur Überwindung der aktuellen zahlenmäßigen Stagnation. Der Fokus auf Streikversammlungen und deren Entscheidungsbefugnis erlaubt auch eine viele breitere Einbeziehung aller, vor allem der aktiven Träger:innen des Streiks. Natürlich geht es dabei auch um stärkere Kontrolle der bestehenden Strukturen der GEW und der Tarifkommission. Aber das ist letztlich nur ein Aspekt.

Wenn es wirklich einen längeren, letztlich unbefristeten und auch viel breiteren Erzwingungsstreik geben soll, muss die GEW ihre Aktivenbasis vergrößern. Das wird letztlich aber nur möglich sein, wenn diese (a) praktische Verantwortung für den Kampf übernimmt (also Erstellen von Material, Streikposten, Verbindung zu Eltern und Schüler:innen, Kiezversammlungen mit Anwohner:innen usw.) und (b) auch real über die Streikstrategie und die Politik der Tarifkommission und einer etwaigen Verhandlungskommission bestimmt.

Dazu braucht es Massenversammlungen wie die Streikversammlung am 8. Juni. Damit diese über grundlegende Fragen entscheiden können, müssen sie natürlich auch besser vorbereitet und Anträge im Voraus über die GEW verschickt werden. So können Argumente und Gegenargumente über einen längeren Prozess ausgetauscht werden, was einer großen Versammlung wiederum erleichtert, rasch Entscheidungen zu treffen. Diese wären nicht nur viel demokratischer als jene einer wenig an die Basis gebundenen Tarifkommission. Sie würden viel direkter die Mehrheit der Mitgliedschaft zum Ausdruck bringen – und zwar vor allem des aktiven, engagierten kämpferischen Teils.

Wir rufen alle kämpferischen Gewerkschafter:innen auf: Unterstützt die Vorschläge für einen Kampagnenplan, tretet mit den Kolleg:innen in Kontakt!




Deutsche Bahn: Zwischen Tarifkämpfen und Umstrukturierung

Leo Drais, Neue Internationale 274, Juni 2023

An sich kann so ein Eisenbahnsystem eine feine Sache sein, das Rückgrat einer umfassenden Verkehrswende, überall auf dem Kontinent in einem stabilen Netz mit hoher Taktung und für alle da.

Züge werden sicher auf einem Gleis geführt. Eine ganze Reihe an funktionierenden Sicherungssystemen wie Stellwerken oder Zugbeeinflussungen sorgt dafür, dass keine Kollisionen passieren und Weichen und Bahnübergänge sicher befahren werden können. Geschehen einmal menschliche Fehler, greift die Technik ein. Ein gut ausgebildetes Eisenbahnpersonal weiß mit Störungen souverän umzugehen, hat dafür ein widerspruchsfreies und anwendungsorientiertes Regelwerk zur Hand und ist für Reisende überall mit Rat und Tat da.

So faszinierend wie ausgereift.

Und dann noch der bestechende Vorteil in der Klimabilanz. Das System wird flächendeckend mit Strom aus erneuerbaren Energien durch eine Oberleitung versorgt und muss seine Energie daher nicht mitführen. Beim Bremsen wird eine große Menge Strom zurückgespeist, wobei der Energieverbrauch pro Tonne sowieso schon viel geringer als bei Straßenfahrzeugen ist. Durch die geringe Reibung zwischen Stahlrad und Schiene kann ein durchschnittlicher erwachsener Mensch eine 80 Tonnen schwere Lok im ebenen Gleis von Hand verschieben.

Die schöne Welt der Eisenbahn.

Nur, so ist sie nicht.

Sinnbildliche Entgleisung

In der deutschen Bahnwelt ist das alles höchstens teilweise vorhanden, wenn überhaupt. Verspätungen und Ausfälle kennen alle. Weniger bekannt ist, was die Ursachen dafür sind. „Gründe dafür sind Verzögerungen im Betriebsablauf“, eine euphemistische Tautologie, eine schöngerechnete Statistik, ausgefallene Züge gelten nicht als verspätet. Der Streik der EVG Ende März bedeutete für DB Fernverkehr den pünktlichsten Tag seiner Geschichte – wo kein einziger Zug fährt, kann doch im DB-Neusprech auch keiner verspätet gewesen sein?

Die Verzögerung ist doch nicht anderes als eine synonyme Verspätung, aber warum gibt es sie? Da sind die Gleise, die nicht mehr vorhanden sind oder nur noch eingeschränkt befahren werden können. Da sind die Züge, die kaputt sind, ohne Ersatz. Da ist das Personal, das es nicht gibt. Aber auch das sind ja Symptome, keine Ursachen einer privatwirtschaftlich ausgerichteten Bahn im Staatsbesitz. So bleibt man gerade auf einem durchschnittlich soeben noch erträglichen Level, dort festgehalten von Kolleg:innen, die trotz literweise Eisenbahnherzblut die Schnauze voll haben und sich sagen „So geht es nicht weiter!“, und am nächsten Tag geht es doch weiter, irgendwie, vielleicht sogar mal zufällig ganz nach Plan. Der Zusammenbruch des Bahnbetriebs droht nicht an einem Tag X in der nahen Zukunft, er findet täglich statt, mal nur punktuell, dann regional und beim nächsten Herbststurm mal wieder flächendeckend.

Dass es so nicht weitergehen darf, dieser Meinung sind auch FDP, CDU und Grüne. Sie meinen, die Fehler der ersten Bahnreform von 1994 erkannt zu haben und fordern schon länger eine Bahnreform 2.0. Was die SPD im Koalitionsvertrag noch durch Verklausulierung abtun wollte, wurde im April von der Union mit einem Reformpapier wieder in die Debatte getragen. Leider darf man nicht darauf hoffen, dass die Bestrebungen im Bundestag wie alle anderen Absichtserklärungen zu einer besseren Bahn im Tagesgeschäft von Parlament und Autoministerium untergehen. Es scheint, als würde die Bahn ab 1. Januar wirklich von allen Problemen befreit – InfraGo!

Die Ideen der Union einerseits und von FDP und Grünen in der Ampel andererseits sind nicht deckungsgleich, aber teilen eine gemeinsame Motivation: die weitere Trennung von Netz und Betrieb, eine Losung, die bereits bahntechnische Ahnungslosigkeit, dafür politischen Neoliberalismus offenbart.

Das Rad-Schiene-System ist eines, wo kurz gesagt im Zug Triebfahrzeugführer:innen sitzen und diesen fahren und vom Stellwerk aus Fahrdienstleiter:innen diesen lenken. Beide gestalten Bahnbetrieb, netz- und fahrzeugseitig. Kein anderes Transportsystem verfügt über eine innigere Verbindung zwischen Fahrweg und Fahrzeug. Allein schon deshalb ist beide voneinander zu trennen nichts anderes als eine sinnbildliche Entgleisung.

Aber aus neoliberaler Sicht macht diese seit Jahrzehnten Sinn. Denn während es (Großbritannien hat es vorgemacht) kaum möglich ist, die sehr aufwendige und komplexe Fahrweginfrastruktur gewinnbringend zu privatisieren, ohne dass sie binnen kürzester Zeit wirklich unbefahrbar wird, ist das mit Fahrzeugen eher möglich. Immerhin operieren sich gegenseitig im Weg stehend in Deutschland mittlerweile 400 sogenannte Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) auf den Gleisen der bundeseigenen DB Netz AG, wobei hinter vielen dieser EVU auch nur große Monopole oder Töchter anderer europäischer Staatsbahnen stehen.

KaputtGo

Die Ampel sieht vor, ab dem 1. Januar 2024 die Infrastruktursparten DB Netz und DB Service und Station zusammenzuführen – Name: InfraGo, „Infrastruktur gemeinwohlorientiert“, ein Ansatz der im Gegensatz zum Begriff der Gemeinnützigkeit zu nichts verpflichtet.

Das ist sicher sinnhaft, immerhin ist die Trennung zwischen Bahnsteigkante (DB Service und Station) und Gleis (DB Netz) eine Lücke, die Reisende beim Einstieg in den Zug (der dann DB Regio oder Abellio oder Transdev  oder … gehört) zwar mühelos überschreiten, aber innerbetrieblich mitunter unüberwindbar scheint. Diese Infrastruktursparte, zu der DB Energie wiederum nicht gehören soll, obwohl ein Zug so wenig ohne Strom oder Diesel fahren kann wie ohne Gleis, soll zu 100 Prozent im „integrierten DB-Konzern“ verbleiben.

Aber was steht sonst noch im Koalitionsvertrag? Man wolle die DB in öffentlicher Hand weiterführen, man wolle die Struktur und Transparenz verbessern, die Infrastruktursparte dürfe ihre Gewinne behalten, und man beabsichtige, mehr in letztere zu investieren. Außerdem würden die EVU markt- und gewinnorientiert weitergeführt.

Diese Klauseln lassen viel Spielraum. Klar ist jedoch, dass man zwischen einem „Weiter so“, einem „Irgendwie muss es besser werden“ und einem „Da lässt sich doch Geld mit verdienen“ liegt. Am grundlegenden Gedanken – der Staat pumpt Steuergeld in die Infrastruktur, die EVU fahren auf dieser, unterbieten sich und verdienen Geld, das auf Kosten der Reisenden und Beschäftigten in privater Hand (oder der anderer DB-Unternehmen oder Staatsbahnen) landet – wird nichts geändert. Letzteres ist in den vergangenen Jahren im Nahverkehr wiederholt in die Hose gegangen, Stichwort Abellio Baden-Württemberg.

Darüber hinaus lassen die Ideen der Ampel die Tür zu einer Teilprivatisierung anderer DB-Teile außerhalb der Infrastruktur offen, schließen dafür die, durch die von staatlicher Seite her Investitionen ins rollende Material (bspw in eine große europäische Nachtzugflotte) stattfinden sollten.

Die Pläne der Union laufen demgegenüber auf eine offenere Zerschlagung hinaus. Sie will eine Autobahn-GmbH 2.0, sprich die Schieneninfrastruktur in eine GmbH des Bundes überführen. Scheuer weiß eben, wie es geht. Begründet wird dies damit, dass bei einer AG wie der DB der Durchgriff der Eigentümerin ins Geschäft des Konzerns fehle, eine GmbH ermögliche diesen. Der DB-Konzern solle weiterhin ein international tätiger Logistikkonzern bleiben – immerhin ist DB Schenker die Profitperle von dem Laden, der außerdem „im Hinblick auf China“ stark bleiben müsse.

Weder der eine noch der andere Plan wird uns ein Eisenbahnsystem bringen, das dem beschriebenen Verkehrswendetraum aus der Einleitung näher kommt. Weder InfraGo im DB-Konzern, noch eine bundeseigene Schienen-GmbH ändern etwas an den neoliberalen strukturellen Problemen, nichts daran, dass beim gegenwärtigen Planungsrecht und Investitionsstau der Ausbau der Oberleitung noch 175 Jahre dauert, bis das gesamte Netz elektrisch fährt. Es ändert nichts daran, dass das, was 30 Jahre lang zerstört, runtergefahren und entlassen wurde, unter kapitalistischen Bedingungen nicht in ein, zwei Jahren repariert, ausgebaut, eingestellt, ausgebildet ist. Es verkleinert nicht den Managementwasserkopf auf das gesamte Bahnsystem hin betrachtet, wo jedes Unternehmen natürlich seinen eigenen hat. Es ändert nichts an der politischen Bevorzugung der Straße gegenüber der Schiene. Deutschland – Autoland, passend waren die Ex-Chefs der DB Mehdorn und Grube Zöglinge der Autoindustrie, und keiner von beiden hatte vergessen, wer ihn groß gemacht hat.

Und es bleibt vermutlich dabei, dass die Schweiz 5 – 6 mal mehr pro Kopf in die Schiene steckt als die BRD.

Und die Gewerkschaften?

Die unterschiedliche bahnpolitische Ausrichtung von Union und Ampel findet ihren Spiegel in den Gewerkschaften EVG und GDL und passt „zufälligerweise“ zum Parteibuch ihrer Vorsitzenden.

Die „Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer“ (GDL) mit ihrem großen Vorsitzenden Claus Weselsky (CDU) steht für eine Zerlegung des DB-Konzerns, die „Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft“ (EVG) mit dem ehemaligen SPD Bundestagsabgeordneten Martin Burkert an der Spitze der Bürokratie will die DB behalten.

Hinter beidem steht ein politisches Kalkül der jeweiligen und konkurrierenden Apparate. Die DGB-Gewerkschaft EVG ist historisch eng mit dem DB-Konzern verflochten. Der frühere Vorsitzende der Vorgängerin Transnet, Norbert Hansen, ist damals dann auch mir nichts, dir nichts vom Vorstand der Gewerkschaft in den des Konzerns gewechselt. Viele ihrer Mitglieder arbeiten in Büroetagen der DB AG und es ist vor allem dieser Konzern, wo die EVG insgesamt eine Mitgliedermehrheit gegenüber der GDL hat. Zudem gibt es wohl hunderte EVG-Betriebsräte, die ihr Pöstchen eben in einem der vielen DB-Wahlbetriebe besetzen, wo die GDL bisher nicht gut ihren Fuß reinbekommen hat. Logisch, dass da im Apparat die Alarmglocken schrillten, als die FDP und Grünen während der Koalitionsverhandlungen mit ihren Zerschlagungsplänen um die Ecke kamen. Es wurde eine Demo in Berlin organisiert, und die mit dem EVG-Apparat verbundene SPD setzte die oben beschriebenen Klauseln durch. Hauptsache, erstmal regieren! Jetzt machen ihre Koalitionär:innen Ernst und es hängt tatsächlich an der SPD, ob und in welcher Form InfraGo kommt.

Die GDL (Mitglied im historisch konservativen Beamtenbund) rechnet dafür darauf, dass eine Zerschlagung der DB ihren Einfluss im Eisenbahnsektor unterm Strich vergrößern würde. Sie ist in der DB vor allem in Opposition zur EVG und hierin durch härter geführte Tarifkämpfe und ein verbal lauteres Donnerwetter groß geworden. Die von der Transnet Verratenen fanden eine Alternativgewerkschaft, die seither vieles durchsetzten konnte, was die EVG dann nachgetragen bekam. Trotzdem – und hier kommt das von Burkert und SPD mit gebaute und verabschiedete Tarifeinheitsgesetz ins Spiel – hat in vielen der DB-Unternehmen die EVG die Mehrheit oder ihr wurde sie zweifelhaft zugesprochen (S-Bahn Berlin). Heißt: Der Tarifvertrag der EVG gilt, nicht der der GDL. Und es ist was dran, wenn Claus Weselsky der DB eine größere Nähe zur EVG vorwirft. Trotzdem und ganz gleich, ob darin mehr Kritik oder Neid liegt (auch die GDL-Spitze will zuerst Sozialpartnerin sein, auch ihre Führung verbringt mehr Zeit mit Vorständen und Aufsichtsräten als mit den Beschäftigten an der Basis), Weselsky musste die Kränkung erfahren, dass die EVG beim Streik aufgrund einer besseren Organisiertheit in den Stellwerken das schaffte, was der GDL bisher nicht gelang – weitgehender Stillstand auf den Schienen.

Während sich die GDL in den letzten Jahren bei Tarifverhandlungen oft als die kämpferischere Gewerkschaft präsentierte, steht sie bei der Frage der Zerschlagung der DB deutlich rechts von der EVG. Während letztere ein Bündnis mit Bahnvorstand und der SPD in dieser Frage sucht, sekundiert die GDL den Neoliberalen von CDU, FDP und Grünen und der Seite der konkurrierenden Kapitalfraktionen.

Vom GDL-Vorstand gibt es daher erst gar keine Vorbehalte gegen die weitere Bahnprivatisierung. Doch auch die EVG-Spitze spricht nicht wirklich an, was notwendig wäre, um die Eisenbahn stabil einzugleisen, so dass es heißen muss: Nein zur Zerschlagung der DB, aber auch kein weiter so als DB! Keine Kungelei mit dem DB-Vorstand in dieser Frage! Einem technisch untrennbaren System muss nicht nur eine ebensolche organisatorische Struktur entsprechen. Es kommt auch darauf an, wer diese in wessen Interesse kontrolliert und umbaut – in der eines staatlichen, gewinnorientierten Konzerns oder in dem der Beschäftigten und lohnabhängigen Nutzer:innen? Das heißt, eine verstaatlichte europäische Bahn ohne Gewinnausrichtung und unter Kontrolle der Lohnabhängigen und Nutzer:innen muss das Ziel sein!

Dies wäre ein Schritt zu einem integrierten, europäischen Verkehrssystem. Ein solches wird jedoch auf privatkapitalistischer Basis nie zu haben sein, es erfordert nicht nur technische Kompetenz, massiven Ausbau des öffentlichen Verkehrs und dementsprechende Neueinstellungen, sondern auch eine demokratische planwirtschaftliche Reorganisation der gesamten Produktion und Infrastruktur im Verkehrssektor.

Ansatz Tarifrunden

Spricht man diese Vorstellungen aus, treffen sie auf Zustimmung und offene Ohren unter Kolleg:innen, aber in der Folge darauf sofort auch auf Resignation und Fatalismus. Daran tragen beide – GDL wie EVG – ihren Anteil. Ihre Politik läuft darauf hinaus, der neoliberalen Realität eines zerstörten Bahnsystems nicht eine andere mögliche Realität entgegenzuhalten, sondern wesentlich den eigenen Platz in hunderten Bahnunternehmen zu finden und ihn der anderen Gewerkschaft nicht zu überlassen. Gesetzen wird sich sogar verbal gefügt, der Realität sowieso. „Es ist nun einmal so, wie es jetzt ist, die Bahnreform ist lange passiert, es gibt kein Zurück mehr.“ Visionen werden als Träumerei abgetan, nett zwar, aber eben – unrealistisch.

Es ist die Aufgabe aller linken Eisenbahner:innen klarzumachen, dass das Jetzt keine Unvermeidlichkeit darstellt, eine andere Bahn möglich ist, auch wenn sie nicht vom Himmel fällt und es viel Ausdauer dafür braucht. Ansätze dafür sind da. Wer das als Träumerei abtut, für den wird es schwerlich ein Erwachen aus dem gegenwärtigen Albtraum geben können.

Die künstliche Trennung zwischen Netz und Betrieb zu beenden, heißt die Spaltung zwischen den Eisenbahner:innen in zwei Gewerkschaften zu überwinden.

Was jetzt gerade zwar ein gewisses Feuer in die Tarifrunden bringt, ist auf lange Frist und in der täglichen Zusammenarbeit schädlich. Dass die gerade in Tarifverhandlungen stehende EVG-Spitze noch keinen schlechten Abschluss wie ver.di bei der Post oder im öffentlichen Dienst unterschrieben hat, liegt nicht nur daran, dass die Angebote der DB so beschissen waren und der Druck durch die Inflation hoch ist, sondern eben auch daran, dass im Hintergrund eine GDL lauert, die ab Herbst verhandeln und sich entsprechend auf alles konzentrieren wird, was die EVG nicht abschließt.

Darüber hinaus bringt die Spaltung zwischen EVG und GDL jedoch nur ihren Apparaten (beide existieren durch sie) und den Unternehmen was. Beide Apparate haben ein paternalistisches Verständnis ihren Mitgliedern gegenüber: Die EVG schrieb in ihrem letzten Aushang so was wie „Wir verhandeln weiter, es kann jedoch sein, dass wir Euch nochmal brauchen.“ Beide wollen die Kontrolle über die Kämpfe behalten und nicht der Basis überlassen. Beide haben kein Interesse, die der DB vorgeworfene intransparente Struktur bei sich selbst durch direkte Wählbarkeit und jederzeitige Abwählbarkeit aller Funktionär:innen zu ersetzen, führen Tarifgespräche hinter verschlossenen Türen, tätigen Abschlüsse, die unter Umständen für viel Unmut sorgen.

Die drohende Zerschlagung der Bahn – um nicht immer beim verharmlosenden Wort Umstrukturierung zu bleiben – stellt letztlich für die Beschäftigten und Nutzer:innen einen noch grundlegenderen Angriff als die Tariffragen dar. Doch genau für diese sieht das deutsche Recht keine Streikmöglichkeit vor. Das erschwert natürlich objektiv die Kampfbedingungen, zumal die EVG-Führung peinlich darauf achtet, nicht über das gesetzlich Vorgegebene hinauszugehen. Umso dringender ist es, dass klassenkämpferische Gewerkschafter:innen in EVG und GDL das Spiel ihrer eigenen Führungen nicht länger mitmachen und einen gemeinsamen Kampf gegen die sog. Bahnreformen fordern, ein klares NEIN zu jeder Zerschlagung und weiteren Privatisierung. Um diesem Angriff entgegenzutreten, braucht es gemeinsame Belegschaftsversammlungen und die Vorbereitung von Arbeitskampfmaßnahmen bis hin zu unbefristeten politischen Streiks. Eine solche Bewegung bedarf zugleich der Unterstützung der gesamten Arbeiter:innenklasse, aller Gewerkschaften.

Das alles sind Punkte, um eine Opposition gegen festgefahrene und undemokratische gewerkschaftliche Strukturen, aber auch gegen die der Eisenbahn selbst aufzubauen, um überhaupt erstmal wieder die Diskussion darüber zu führen, wie alles anders sein könnte und wie wir konkret – per Bahn – dahin kommen.




Erneuerung der Gewerkschaften – oder des Apparats?

Mattis Molde, Neue Internationale 274, Juni 2023

Es war die fünfte Konferenz dieser Reihe und von der Teilnehmer:innenzahl, die bei weitem größte. “Gewerkschaftliche Erneuerung“ ist ihr Titel. Die erste dieser Art 2011 in Stuttgart hatte noch „Erneuerung durch Streik“ als Perspektive. Das wäre aber etwas zu dick aufgetragen gewesen, angesichts der Tatsache, dass die IG Metall in der Metall- und Elektroindustrie, ver.di bei der Post und im Öffentlichen Dienst mit aller Macht Streiks verhinderten und Reallohnverluste für die nächsten Jahre vereinbart haben.

Abfeiern der Tarifrunden

1700 Teilnehmer:innen in Bochum belegen, dass ein Interesse am Austausch und an einer Diskussion der Zukunft der Gewerkschaften angesichts von Inflation, Krieg und Klimakatastrophe besteht.

Streiks, die mit Erfolgen enden, hätten die Gewerkschaften in Deutschland aber definitiv mehr in Bewegung gebracht, als diese Konferenz.

Bei den großen Tarifrunden im letzten halben Jahr waren Hunderttausende in Warnstreiks und ähnlichen Aktionen beteiligt. Erkämpfte Erfolge gegen die Inflation und Siege gegen Angriffe auf das Streikrecht wären eine reale „better practice“ der Gewerkschaften gewesen, als die vielen kleinen Beispiele von best practice, die in Bochum verklärt wurden. Eine realistische Bilanz der Tarifrunden kam mit ihren zentralen Fragestellungen in Bochum nicht oder kaum vor.

Beim Eröffnungsplenum kam weder bei Hans-Jürgen Urban vom IGM Vorstand, noch bei Heinz Bierbaum, dem Vorsitzenden der Rosa Luxemburg Stiftung (RLS), das Wort Reallohnverlust oder – entwicklung vor. Eine „völlige Kompensation der Inflation“ sei zwar nicht gelungen, so zitierte Bierbaum in dem Beitrag „Gewerkschaftliche Kämpfe im Aufwind“ vor der Konferenz Kritiker:innen aus der IGM. Der folgenden Lobeshymne tat das aber keinen Abbruch:

„Die Resultate, die bislang in den Tarifrunden erreicht wurden, können sich sehen lassen. Den Anfang machte die IG BCE im Oktober letzten Jahres mit einem Abschluss von 6,5 Prozent und einer Ausgleichszahlung von 3.000 Euro mit einer Laufzeit von zwei Jahren. Etwas höher war der Abschluss der IG Metall im November 2022 mit einer Erhöhung von 8,5 Prozent bei einer zweijährigen Laufzeit und einer Zahlung von 3.000 Euro netto zum Ausgleich der Inflation. Allerdings gab es auch erheblich Kritik an diesem Abschluss. Trotz der massiven Warnstreiks sei die Mobilisierung unzureichend gewesen, so dass auch keine völlige Kompensation der Inflation gelungen sei. Auf der anderen Seite ist der Abschluss auf einen breiten Konsens der Beschäftigten gestoßen. Und man muss auch berücksichtigen, dass die Lage in der Metallindustrie äußerst schwierig ist, verursacht nicht nur durch die schwache Konjunktur, sondern besonders auch durch die tiefgreifenden Transformationsprozesse. Sehr bemerkenswert ist der Abschluss bei der Post, die bei einer Forderung von 15 Prozent neben beträchtlichen Einmalzahlungen mit einer Lohnerhöhung von 340 Euro im Schnitt eine Erhöhung um 11 Prozent erreicht hat, die sogar bei den untersten Lohngruppen noch deutlich höher ausfällt. Offensichtlich haben die erfolgreiche Urabstimmung und die Entschlossenheit, auch zu streiken, ausgereicht, um zu diesem Abschluss zu kommen.“

Dasselbe Abfeiern der Tarifergebnisse gab es auch aus dem Munde von Thorsten Schulten vom WSI, dem Institut der Hans-Böckler-Stiftung in der AG „Tarifrunden in Zeiten von Inflation, sozialem Protest und konzertierter Aktion“. Auch die anderen Redner:innen bemühten sich darum, die Tarifergebnisse schönzureden, einzig Jana Kamischke, Vertrauensfrau und Betriebsrätin am Hamburger Hafen vertrat eine kritischere Position.

In einem solchen politischen Rahmen erhalten die an sich richtigen Aussagen, dass es in Tarifrunden insbesondere bei der Post und im Öffentlichen Dienst eine bemerkenswerte Beteiligung von neuen und jungen Kolleg:innen gegeben hatte, eine andere Bedeutung.

Denn das kritiklose Abfeiern der gestiegenen Aktivitäten bedeutet nichts weiter als eine politische Flankendeckung des Apparates. Und die weitgehende Akzeptanz dieser Politik auf der Bochumer Konferenz verdeutlichen leider, dass es bislang gelungen ist, auch diese gestiegene Kampfbereitschaft in die Bahnen der Kontrolle durch den Apparat zu halten. Die Organisator:innen der Konferenz, die selbst aus dem linken Apparat stammen und politisch den Gewerkschaftsflügel der Linkspartei ausmachen, vergaßen dabei nicht zu erwähnen, dass dies ihren „innovativen“ Methoden geschuldet sei und dass es folglich nötig sei, dass diese linken Apparatschiks eine größere Rolle brauchen für die Umsetzung der gemeinsamen Ziele mit rechten Bürokrat:innen.

Die „gewerkschaftliche Erneuerung“, so ließen viele Vertreter:innen der RLS und der verschiedenen Organizing-Initiativen verlauten, das sind „wir“. Und mit dem „wir“ meinen sie nicht die gewerkschaftliche Basis, sondern die hauptamtlichen Kräfte und die als Organizer:innen Angestellten, die letztlich den linken Flügel des Apparates, aber keine antibürokratische Kraft bilden.

Kritik an der Gewerkschaftsführung?

Nur in wenigen Beiträgen von den Podien schimmerte eine Kritik an der derzeitigen Orientierung der Gewerkschaften und ihrer Führung durch.

So kritisierte Frank Deppe im Themenseminar „Die Waffen nieder! Gewerkschaften in Kriegszeiten gestern und heute“ die sozialpatriotische Politik der Gewerkschaften und ihre faktische Unterstützung von NATO-Erweiterung und Aufrüstung offen und eine Reihe von Redner:innen forderte unter Applaus, dass diese Konferenz eine klare Positionierung gegen die Politik wie überhaupt eine Abschlussresolution verabschieden solle, die sich gegen Sozialpartner:innenschaft und nationalen Schulterschluss mit der Regierung wendet. Doch dabei blieb es auch. Die Organisator:innen der Konferenz hatten nie vorgesehen, dass am Ende der Veranstaltung eine politische Resolution stehen solle, die sie zu einem politischen Handeln verpflichten könnte.

Einigermaßen kritische Töne gegen den Apparat und dessen Legalismus gab es nach Abschluss der Konferenz durch Wolfgang Däubler, der auf die Notwendigkeit des Generalstreiks als politische Waffe gegen die aktuellen Angriffe hinwies.

Bezeichnenderweise hielten diese Beiträge nicht Vertreter:innen der Gewerkschaften, sondern emeritierte Professoren. Sie bildeten letztlich nicht mehr als die kritische Filmmusik zum selbstgefälligen Abfeiern der eigenen „Erneuerung“. So werden Beiträge, die eigentlich konkretisiert und gegen die Bürokratie gerichtet werden müssten, noch zum Beleg für die „Offenheit“ und „Selbstkritik“ der gesamten Veranstaltung.

Kritik an den Apparaten fand insgesamt kaum statt. Wurde in irgendeiner der vielen AGen die Aussage der DGB-Vorsitzenden Fahimi angesprochen, die vor einem halben Jahr gefordert hatte, dass auch Betriebe, die Staatsknete als Energie-Beihilfen erhalten, Boni und Dividenden ausschütten dürfen? Wurde der „Aktionstag“ von IGM, IGBCE und IGBAU skandalisiert, an dem die „bezahlbare Energie“ von der Regierung gefordert wurde – nicht für die Arbeitenden, sondern für die Großunternehmen der Stahl-, Alu und Chemieindustrie? Wo wurde die „Konzertierte Aktion“ angegriffen, als Ausdruck der prinzipiell falschen Sozialpartnerschaft, deren verhängnisvolle Rolle sich gerade in den Tarifkämpfen gezeigt hatte?

Schönreden der Klimapolitik

In der AG 4 „Abseits des Fossilen Pfades“, der tatsächlich noch eine Autobahn, eine Highway to hell ist, bemühte sich Stefan Lehndorf, auch noch jede Alibi-Aktion von Unternehmen, Regierung und IGM schönzureden. So gäbe es „Transformations.Workshops“ in den Betrieben, die durch die Produktumstellung von Arbeitsplatzabbau bedroht seien. Ist Transformation – oder Konversion, wie eine Vertreter der „Initiative Klassenkampf und Klimaschutz“ forderte – der Produktion ein gesellschaftliches Problem oder ein betriebliches? Müssten gerade Gewerkschaften, die sich als „Treiber der Transformation“ sehen (Lehndorf) nicht betriebsübergreifend eine Programmatik und Aktionsplanung haben, anstatt nur betrieblich dem Kapital alternative Produkte vorzuschlagen und es seiner Willkür zu überlassen, ob und wo diese produziert werden?

In dieser AG war immerhin – im Unterschied zu vielen anderen – Diskussion zugelassen, nicht nur Fragen, wie z. B. in der AG 16 (Gegen Betriebsschließungen) oder ergänzende Berichte, wie im Forum zu Tarifrunde Nahverkehr. Wo es mal Kritik gab, wurde diese mit Selbstzensur vortragen oder von den Adressat:innen übergangen.

Beispiel Borbet Solingen: Rund 15 Beschäftigte waren zur Konferenz nach Bochum gekommen und zeigten mit Sprechchören ihre Empörung. Auf dem Podium aber saß neben den neuen Belegschaftsvertretern und Aktivisten Alakus und Cankaya der Geschäftsführer der IGM Solingen-Remscheid, Röhrig, der nichts dazu sagte, warum die IG Metall den früheren Betriebsratsvorsitzenden unterstützt hatte, warum sie ein Jahr lang fruchtlose Verhandlungen mitgemacht hatte, ohne einen betrieblichen Widerstand aufzubauen.

„Lösung“ im Kleinformat

Grundsätzlich lag das politische Problem der Konferenz aber darin, dass der Blick auf die Probleme – und somit auf die möglichen Lösungen – selbst im voraus verengt wurde. Und dies ist kein Betriebsunfalls, sondern gewollt, ja erscheint geradezu als Erfolgsgarant. So heißt es im Artikel „Durch Erneuerung in die Offensive“ von Fanny Zeise und Florian Wilde:

„Zu den Erfolgsrezepten der Konferenzen gehört, dass sie nicht ideologisch-programmatische Fragen zum Ausgangspunkt nehmen, sondern die Herausforderungen der tagtäglichen Gewerkschaftsarbeit und das breit geteilte Bedürfnis nach einer Erneuerung der Gewerkschaften. Dadurch kann sie Anschlussfähigkeit über die klassischen linksgewerkschaftlichen Milieus hinaus erreichen sowie eine gewerkschafts- und generationenübergreifende Ausstrahlung entfalten. Wichtig ist dabei auch, dass kritische Positionen nicht sektiererisch und rückwärtsgewandt, sondern solidarisch, vorwärtsgewandt und im Sinne einer Stärkung der Gewerkschaften formuliert werden.“

Das aktive Verdrängen der „ideologisch-programmatischen“ Fragen ist nichts anderes als ein Codewort dafür, die Kritik an der Gewerkschaftsführung und das Herausarbeiten ihrer Ursachen zu tabuisieren. Die Abgrenzung von angeblichem Sektierer:innentum und Rückwärtsgewandtheit ist nur ein Codewort dafür, keine offene Bilanz der Tarifabschlüsse, von Sozialpartner:innenschaft, Standortpolitik und Klassenkollaboration zu ziehen. Die Gewerkschaftsbürokratie erscheint natürlich längst nicht mehr als Agent der herrschenden Klasse in der Arbeiter:innenbewegung, sondern allenfalls als etwas trägerer Mitstreiter.

Mit der Fokussierung auf „tägliche Gewerkschaftsarbeit“ wird die Praxis nicht nur verengt, die reale Politik, die reale Praxis der Gewerkschaften gerät aus dem Blick. Die gesamtgesellschaftlichten, internationalen politischen und ökonomischen Voraussetzungen des eigenen Handeln, aller betrieblichen wie gewerkschaftlichen Fragen erscheinen allenfalls Nebenfragen. Die Krise der Gewerkschaften erscheint im Grund nur noch als Frage der „kreativen“, dynamischen Umsetzung einer eigentlich richtigen Politik. Die Politik und Strategie der Bürokratie bildet kein zentrale Problem gewerkschaftlicher Erneuerung, sondern vielmehr deren Kritiker:innen, deren angebliches Sektierer:innentum und deren Insistierung politisch-ideologischen Fragen wie Krieg und Wirtschaftskrise, auf Kritik der Bürokratie und der Klassenzusammenarbeit.

Damit stehen die Protagonist:innen und die Organisator:innen der Konferenz real – unabhängig davon, was immer sie von sich glauben – fest auf dem Boden des Reformismus der Linkspartei, irgendwo zwischen Bewegungslinke und Regierungssozialist:innen. Politisch wurden die ganzen Trugbilder neu belebt, dass im Kapitalismus „Gute Arbeit-gutes Leben“ möglich bleibt, dass die „Transformation sozial und ökologisch“ vonstattengehen könne, und dass die Gewerkschaften wieder stärker werden, wenn sie nur besser „organized“ werden. Und das angesichts der „Polykrise des Kapitalismus“ (Urban).

Kämpferische Gewerkschaften wird es letztlich nur im Bruch mit Bürokratie und ihrer Politik zu haben geben. Das bleibt offensichtlich die Aufgabe von Linken Gewerkschafter:innen, die mit der Veranstaltung der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften einen der wenigen politischen Lichtblicke in Bochum veranstaltet haben.




TVöD/Bund und Kommunen: Bürokratie redet sich auch die Mitgliederbefragung schön

Mattis Molde, Infomail 1223, 20. Mai 2023

27 % haben sich beteiligt, 66 % haben zugestimmt, also 34 % abgelehnt. Rund zwei Drittel der ver.di-Mitglieder in Bundesverwaltungen, Behörden, kommunalen Einrichtungen und Unternehmen haben also den Tarifvertrag im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen (TVöD/BK) angenommen.

Rund ein Drittel lehnte einen Abschluss, der deutlich unter der Inflationsrate blieb und einem Reallohnverlust gleichkommt, ab. Es durchschaute offenkundig das sozialpartnerschaftliche Spiel der Bürokratie. Zur Einschätzung des Abschlusses siehe: Tarifverhandlungen öffentlicher Dienst: Nein zum Abschluss!

Doch klar, zwei Drittel sind auch genug, um den Abschluss nachträglich zu legitimieren. Zwei Drittel sind Grund genug für die Verantwortlichen in ver.di, dem Ergebnis zuzustimmen, nachdem auch das Störmanöver der sächsischen Nahverkehrsbetriebe ausgeräumt war.

Solche Einwände am Ende eines umstrittenen Abschlusses sind übrigens so häufig, dass sie geradezu als Bestandteil des Tarifrituals bezeichnet werden müssen. Ob inszeniert oder nicht, auch der dreckigste Deal der Gewerkschaftsführung bekommt dadurch am Ende nochmal den Glanz des erkämpften Erfolges.

Und so wie Gewerkschaftsspitzen schon das Verhandlungsergebnis schönredeten und -rechneten, so wird natürlich auch das Ergebnis der Befragung zum Beweis für funktionierende „Demokratie“ umgedeutet.

Was bedeutet das Ergebnis?

Ist es 73 % egal, was rauskommt? Sind sie unentschieden? Zwischen „gut oder schlecht“ oder „schlechter Abschluss, aber was jetzt noch ändern“? Es gibt auf jeden Fall Gründe, sich nicht an der Befragung zu beteiligen, die keineswegs eine passive Zustimmung zum Kurs der Gewerkschaftsführung signalisieren, sondern Ausdruck von Unzufriedenheit sind, verbunden mit der Unfähigkeit, eine bewusste Kritik am Abschluss, am Ablauf der Tarifverhandlungen oder an der Gewerkschaftspolitik allgemein zu entwickeln.

Natürlich bildet die verbreitete Passivität auch der organisierten Gewerkschaftsmitglieder die Grundlage dafür, eine Passivität, die aber aufs Beste und bewusst von der Bürokratie in Gewerkschaft, Betriebs- und Personalräten gefördert wird, die immer behauptet, „für Euch“ zu handeln, was das „statt Euch“ mit einschließt. Nur angesichts dieser Situation liegt Christine Behle nicht falsch, die eine Quote von 27 % eine gute Beteiligung nennt. Schließlich ist die Befragung ja in keiner Weise bindend. Auf das Ergebnis hat, das war immer klar, ihr Resultat faktisch keinen Einfluss. Das niedrige Engagement der Mitglieder ist aber zugleich das, was die Bürokratie gerne will. Sie sollen nur dann und nur so aktiv werden, wie es in ihre Konzepte passt. Außerhalb von Tarifrunden ist für die Masse der Mitglieder im Grunde keine Engagement vorgesehen, das über die Bezahlung von Beiträgen hinausgeht.

Die Befragung als solche ist ja durchaus so gestaltet, dass sie den Einzelnen eine Entscheidung überlässt, die eigentlich der Beratung und Debatte bedarf. So besitzen die Gewerkschaftsführung (und die bürgerlichen Medien!) die Hoheit über die Informationen zum Verhandlungsergebnis. Kritik wird unterdrückt, Alternativen können nicht oder nur in vergleichsweise gut organisierten und aktiven Sektoren diskutiert werden. Für die Masse der Mitglieder findet eine Diskussion faktisch nicht statt.

Wir müssen die Befragung folglich danach bewerten, wie hoch die aktive Unterstützung für die Politik der Führung ausfällt, und die ist mit 17,82 % nicht wirklich berauschend. Mehr als 9 % bewusste Ablehnung stellen ein echtes Potential für eine oppositionelle und kämpferische Bewegung von unten dar. Dieses muss aber organisiert werden.

Das einzelne Mitglied – und als solches wird es ja befragt – kann kaum eine volle Analyse eines Abschlusses durchführen, dessen Inhalt schon ausreichend kompliziert gestaltet worden ist. Schon gar nicht kann es beurteilen, wie die Kampfbereitschaft bundesweit ist und potentiell entwickelt werden kann.

Dazu ist eine Bewegung nötig, die nicht nur Aktive an der Basis vernetzt und den Informationsvorsprung der Bürokratie versucht auszugleichen, sondern die auch eine konkrete alternative Strategie und Taktik in Tarifrunden entwickelt, die von den Interessen der Beschäftigten und nicht denen des Staates und der Arbeit„geber“:innen ausgeht, also letztlich auf einer anderen Politik als der SozialpartnerInnenschaft basiert.

Die – am Beispiel dieser Tarifrunde – für die Kündigung des Schlichtungsabkommens kämpft, das der Gegenseite das Heft des Handelns in die Hand gibt, gegen die Beteiligung an einer „Konzertierten Aktion“ Sturm läuft, bei der die Spitzen der Gewerkschaften Deals mit Kapital und Kabinett ohne jegliche politische Legitimation durch die Basis aushandeln, und die dafür eintritt, dass Mitgliederversammlungen über Verhandlungsergebnisse entscheiden.




Österreich: Solidarität mit den Streikenden in den privaten Bildungseinrichtungen

Flo Kovacs, Infomail 1222, 8. Mai 2022

Im Innenhof eines Unterrichtsstandorts sind Transparente aufgehängt, die allesamt eine zu schlechte Bezahlung beklagen. Beinahe alle der etwa 150 Anwesenden haben entweder eine Ratsche oder eine Trillerpfeife in der Hand, um ein paar Hälse hängen auch selbst zusammengeschweißte Blechtrommeln. Die Stimmung ist ausgelassen. Auf der provisorischen Bühne schwingt der Betriebsrat kämpferische Reden, bevor gemeinsam in die Etagen der Streikbrecher:innen zum Lärm Machen aufgebrochen wird. Zumindest an einem der Betriebe, die am Mittwoch und Donnerstag gestreikt haben, hat es so ausgesehen. Eines unserer Mitglieder war selbst als Streikender vor Ort.

Diese Woche, am 3. und 4. Mai, haben die Betriebsräte in den privaten Bildungseinrichtungen zum ersten Mal in der österreichischen Geschichte zum Warnstreik gerufen. Hier möchten wir uns kurz mit den Hintergründen und Forderungen auseinandersetzen, bevor wir unsere Einschätzung abgeben.

Den freiwilligen Zusammenschluss der „Berufsvereinigung der Arbeitgeber:innen privater Bildungseinrichtungen“ (BABE) gibt es seit 1999, ein gemeinsamer Kollektivvertrag (KV) für diese Vereinigung wird seit 2005 jährlich verhandelt. Wer nicht viel mit der Erwachsenenbildung zu tun hat, wird von den eingeschlossenen Betrieben nur wenige kennen. Hervorzuheben sind die einzelnen Berufsförderungsinstitute (BFI) der Bundesländer, die zur Gänze der Arbeiterkammer und dem Gewerkschaftsbund gehören und einen großen Teil der AMS-Kurse veranstalten, sowie der Verband der österreichischen Volkshochschulen.

Dass ansonsten noch eine hohe Zahl an mittelgroßen bis kleinen Bildungsbetrieben beteiligt ist, hilft nicht bei der Organisierungsrate. Generell ist durch die Zugehörigkeit zu Bildungssektor und Sozialbereich eine schwach ausgeprägte Streikkultur erwartbar. Außerdem befinden wir uns in Österreich, wo es eine solche ohnehin nicht gibt. Das beklagen auch kämpferische Betriebsräte, bevor sie zum Eintritt in die Gewerkschaften aufrufen. Eine weitere Schwäche stellt die Verteilung des Sektors über mehrere Gewerkschaften dar. Zwar deckt die GPA einen großen Teil der Beschäftigten ab, je nach Bereich der Ausbildung – etwa von Deutschkursen bis zu Schweißausbildungen – kann das aber variieren. Deswegen sitzt auch die vida am Verhandlungstisch, während wieder weitere, wie die Gewerkschaft Bau Holz, nur zu den einzelnen Betriebsversammlungen kommen (können).

Diese Aufteilung bildet sich auch in der Streikbereitschaft der einzelnen Betriebe ab. Da steht auf der einen Seite mit dem BFI Wien ein kämpferisches, größeres Haus, das die kompletten zwei Tage ausnützt, für die der ÖGB seine Streikfreigabe erteilt hat. Auf der anderen Seite gibt es Einrichtungen wie die Wiener Volkshochschulen, deren Kurse hauptsächlich am Abend stattfinden, die nur an einem Tag von 11 bis 14 Uhr die Arbeit niederlegen. Der Wille zum Aufbau von Druck durch die Basis ist also nicht durchgängig gegeben.

Ziele und Probleme

Die Betriebsräte fordern eine Lohnerhöhung von 15 % im Vergleich zum Vorjahr. Der damalige Abschluss wird von jenen Betriebsrät:innen, die ihm wohl selbst auch zugestimmt haben, rückblickend als eine Frechheit bezeichnet, als lächerlich niedrig im Vergleich zu den anderen aus dem letzten Jahr. Das überrascht nicht, immerhin ist das alljährliche Theaterspiel zu den KV-Verhandlungen ein fixer Teil der Sozialpartner:innenschaft. Sieht man sich die Vertragsabschlüsse verschiedener Industrien, die letztes Frühjahr getroffen worden sind, an, dann liegen die auch konsequent über den 3,4 % der BABE. Einzelne andere Branchen schlossen noch deutlich schlechter ab, aber daran soll man sich ja besser nicht orientieren.

Neben dem schwachen Abschluss 2022 kämpft die Branche mit zwei weiteren Problemen. Erstens sind gerade die größeren Häuser von den Bildungsmaßnahmen abhängig, die sie für das AMS oder den Integrationsfonds durchführen. Diese sind aber zu nennenswerten Teilen zeitlich begrenzt und bieten keine Möglichkeit mehr zur Vollzeitanstellung, weil die Stundenanzahl schlicht nicht ausreicht. Das bedeutet zwar eine geringere Arbeitszeit, was für manche Lebenslagen sicher gut passt. Wer allerdings noch auf eine Pension hofft, ist nach langer Teilzeitarbeit deutlich stärker von Altersarmut betroffen. Außerdem bietet eine derart befristete Arbeitsweise immer die Gefahr einer Prekarisierung, wie sie gerade bei vielen privaten Sprachbildungsinstituten vorherrscht.

Zweitens wurde im Zuge des KV-Abschlusses 2010 eine neue Gehaltsstufe eingeführt, die für die meisten der seither eingestellten Trainer:innen ein niedrigeres Gehalt bedeutet. In die bis dahin für Trainer:innen (das sind in der Erwachsenenbildung alle, die unterrichten) allgemein geltende Stufe 5 kommen nun bestenfalls solche, die neue Kurse konzipieren und einführen. Für alle anderen gibt es seither die Stufe 4a, deren Einstiegsgehalt bei Vollzeitanstellung aktuell gut 200 Euro darunter liegt. Das bietet eine willkommene Einsparungsmöglichkeit für die Bosse, die nicht alle, aber viele von ihnen natürlich nutzen.

Inspiration

Die Forderung nach 15 % Lohnerhöhung kommt nicht von ungefähr. Die aktuell in den BABE-Einrichtungen geführten Kämpfe orientieren sich stark an den Arbeitskämpfen der letzten Jahre im Sozialbereich. Dieser ist eine ähnlich schwach und kleinteilig organisierte Branche mit historisch nicht vorhandener Streikkultur, die deswegen immer stärker in Richtung Prekarität gerutscht ist. Nachdem über die vergangenen Jahre hinweg immer mehr Streikhandlungen gesetzt wurden, im Zuge derer sich die Branche untereinander vernetzte, gegenseitig stärkte und ein solidarisches Bewusstsein aufbaute, erreichte sie dieses Jahr einen Abschluss mit knapp über 10 % Lohnerhöhung. Der stellt immer noch keine Lösung für die gravierenden Probleme im österreichischen Sozialbereich dar, ist aber zumindest im Vergleich zu anderen Branchen trotzdem eher im oberen Bereich angesiedelt. Und etwas Ähnliches erhoffen sich die Verhandler:innen auch vom nächsten BABE-Abschluss. Dabei bekommen sie auch moralische Unterstützung von den Betriebsrät:innen aus dem Sozialbereich, von denen auch zwei auf der branchenweiten öffentlichen Betriebsversammlung gesprochen haben. Dementsprechend verkünden die Vertreter:innen: „Wenn nicht jetzt, wann dann?“

Was die Verhandlungen bei den BABE etwas interessanter macht, ist auch die andere Seite am Verhandlungstisch. Denn während diese anderswo aus Größen von Wirtschaftskammer und Industriellenvereinigung besetzt wird, sitzen hier auch alteingesessene Gewerkschaftsbürokrat:innen auf der Gegenseite. Das ergibt sich aus der Größe der einzelnen BFIs, die allein dadurch innerhalb der Berufsvereinigung nennenswerte Macht haben. Die rekrutieren, wie es ihre Besitzverhältnisse anbieten, die Führungsetage auch aus den Reihen von ÖGB und AK. Das führt dann dazu, dass Personen, die sich in ihrem eigenen Leitbild als fester Teil der Gewerkschaftsbewegung verstehen, sich gleichzeitig gegen Lohnerhöhungen in der eigenen Branche stemmen.

Und das tun sie bisher sehr erfolgreich. Vom Einstiegsangebot von 9 % Erhöhung hat man sich in den größten Gehaltsgruppen noch kein halbes Prozent hinaufbewegt. In ihren Aussendungen versichern die Betriebsräte, dass sie auf keinen Fall mit einem Abschluss unter 10 % in die Betriebe zurückgehen werden. Ob sie diese Ankündigung wahrmachen, wird sich zeigen. Ein Blick auf die anderen, kürzlich abgeschlossenen KVs stimmt nicht sonderlich zuversichtlich. Da kommt neben dem SWÖ-Kollektivvertag nämlich gerade einmal die Papierindustrie auf ein zweistelliges Ergebnis.

Was können wir erwarten?

Generell offenbaren diese Verhandlungen die doppelte Unzulänglichkeit der modernen Sozialpartner:innenschaft. Zu tatsächlichen Lohnerhöhungen kommt sie nicht, die Reallöhne stagnieren in Österreich seit Jahrzehnten. Außerdem stellt dieser Warnstreik eine Ausnahme dar in einem Sektor, der dieses Mittel wahrscheinlich bisher noch nie in Erwägung gezogen hat. Es ist also schon positiv hervorzuheben, wenn der ÖGB einmal eine Streikfreigabe erteilt und nicht noch schnell ein Abschluss hermuss, um den Warnstreik dann doch zu verhindern. Außerdem fehlt mittlerweile auch in den traditionell starken Branchen, wie der Metallindustrie, die Vorbildwirkung, die dann die anderen Bereiche nachziehen kann. Es müssen also nun andere aufstehen, um in Zeiten der Hochinflation keine starken Reallohnverluste einstecken zu müssen. Ohne eine kämpferische Gewerkschaft, die den Kapitalismus auch angreift, statt ihn entspannt bürokratisch mitzuverwalten, werden tatsächliche Verbesserungen für Lohnabhängige weiterhin unerreichbar bleiben. Es braucht außerdem eine automatische Anpassung der Löhne an die tatsächlich spürbare Inflation, damit Arbeitskämpfe endlich aus der Abwehrhaltung in den Angriff übergehen können.

Direkte demokratische Kontrolle über die Streiks in den einzelnen Betrieben sollte von demokratischen Streikkomitees der Beschäftigten der Standorte ausgeübt werden. Um den öffentlichen Druck zu erhöhen und auch die Öffentlichkeit auf seine Seite zu ziehen, braucht es bei zukünftigen Streikmaßnahmen Streikkundgebungen im öffentlichen Raum. Auch hier hat der Sozialbereich mit tausenden Menschen starken Demonstrationen gezeigt, wie einerseits die Solidarität innerhalb der Beschäftigten auch über Standorte hinaus gestärkt und gleichzeitig breite Solidarität und Aufmerksamkeit in der Bevölkerung geschaffen werden können. Wenn sich die Verhandlungsteams auf einen Kollektivvertrag geeinigt haben, braucht es als Mindestmaß der demokratischen Mitbestimmung eine Urabstimmung darüber.

Obwohl also leider von keinen großen Gewinnen auszugehen ist, gilt unsere Solidarität den Streikenden in den privaten Bildungseinrichtungen. Denn sie sind es, die durch ihre Berufs- und Weiterbildungen zehntausenden Beschäftigten Chance auf bessere Arbeit geben, die migrierten und geflüchteten Personen durch Sprachkurse eine Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen und auch die einzigen, die durch massenhafte Umschulungen eine ökologische Transformation in der Industrie ermöglichen könnten. 15 Prozent Lohnerhöhung sind dafür das Mindeste!




Tarifkommissionen und Demokratie

Mattis Molde, Neue Internationale 273, Mai 2023

Selten sind Gewerkschaften so präsent wie in Tarifrunden. Gerade in Deutschland haben sie wenig Rechte gegenüber den Betriebs- und Personalräten, die Gewerkschaften an den Rand drücken oder hinter denen sich letztere verstecken können. Aber Tarife dürfen Betriebs- und Personalräte im Grundsatz nicht abschließen und schon gar nicht zu Arbeitskampfmaßnahmen aufrufen. Die undemokratische Rechtslage in Deutschland erlaubt faktisch, Streiks nur zum Zwecke von Tarifregelungen durchzuführen und nur gewerkschaftlich organisierte Arbeitskämpfe garantieren ihren Mitgliedern Schutz vor Repression durch die Unternehmen.

Plötzlich unterbricht also eine Tarifrunde das gewohnte Arbeitsleben, die alltägliche Ausbeutung, für die Beschäftigten und für die Gewerkschaftsverantwortlichen ebenso: Wenn sie als Berufsfunktionär:innen in ihren Büros agieren, haben sie fast null Kontakt mit der Mitgliedschaft. wenn sie im Betrieb angestellt, vielleicht auch im Betriebsrat sind, ist ihr Kontakt zur dortigen Führungsebene gerade in den Großbetrieben und in der öffentlichen Verwaltung oftmals deutlich intensiver als zur arbeitenden Mitgliedschaft. In einer Tarifrunde muss also eine direktere Kommunikation und eine andere Entscheidungsfindung her.

Tarifkommissionen und Apparat

Es gibt also Urabstimmungen und Tarifkommissionen, eher neu sind „Teamdelegierte“ und Ähnliches, die aber im Grunde die Rolle ausfüllen, die eigentlich Vertrauensleute spielen sollten. Diese gibt es in den meisten Unternehmen kaum noch. Sie sind der immer stärkeren Entfremdung zwischen Gewerkschaftsapparat und Basis zum Opfer gefallen. Ihre Tätigkeit erfordert Engagement, das selten belohnt wird und von dem sich die Bürokrat:innen und Betriebsratsfürst:innen überwiegend gestört fühlen. Umgekehrt können einzelne engagierte Basisaktivist:innen nur dann etwas bewirken, wenn sie sich vernetzen und aufbauen, um durchzuhalten, auch wenn sich die Bürokrat:innen sehr gestört fühlen.

Tarifkommissionen können zwar auch für einzelne Konflikte gebildet werden, für die bestehenden Tarifstrukturen – eine bestimmte Branche in einem bestimmten Tarifgebiet – sind sie aber sehr beständig, z. B. für die Metall- und Elektroindustrie Bayern. Sie diskutieren vor einer Tarifrunde die Forderungen und beschließen sie. Sie wählen eine Verhandlungskommission, debattieren die Angebote der Gegenseite und beraten das Vorgehen. Sie können Verhandlungen für gescheitert erklären und beim Gewerkschaftsvorstand die Einleitung von Arbeitskampfmaßnahmen, also Streiks, beantragen.

Sie könnten das Herzstück demokratischer, kollektiver Willensbildung im Kampf sein. Sie sind weit davon entfernt. Faktisch sind die meisten etablierten Tarifkommissionen eine von Führung und Bürokratie kontrollierte und sich selbst reproduzierende Struktur des Apparates und vom diesem ausgewählter Ehrenamtlicher.

Alle Gewerkschaften in der BRD regeln die Tarifkommissionen nicht in der Satzung, sondern in Richtlinien. Diese können von Vorständen oder Beiräten beschlossen werden, sie müssen nicht durch den Gewerkschaftstag. Damit ist einerseits sichergestellt, dass die Mitgliedschaft keine Rechte aus diesen Richtlinien erhält. Wegen des Verstoßes dagegen kann man zwar kaum jemanden ausschließen. Allerdings haben sich die Spitzen der Bürokratie abgesichert. Letztlich kommt in wohl keiner DGB-Gewerkschaft jemand in eine Tarifkommission gegen den Willen des Apparates.

Zur Illustration des Mechanismus nehmen wir kurz die Richtlinien der IG Metall zur Hand, wo es heißt: „Die Mitglieder der Tarifkommissionen werden von der Delegiertenversammlung gewählt. Die Vorschläge für die Wahl werden vom Ortsvorstand gemacht.“

Mit anderen Worten: Nur wer aus Sicht der lokalen Chef:innen geeignet ist, darf von den Delegierten gewählt werden – eine Wahl à la Volkskammer der DDR. Wer „falsch“ in der Tarifkommission abstimmt, riskiert seine „Wiederwahl“ beim nächsten Mal. Das erklärt die hohen „Zustimmungsraten“ zu schlechten Tarifverträgen. Andere Gewerkschaften haben ähnliche Richtlinien.

Die Sicherung der bürokratischen Kontrolle stellt daher auch den zentralen Zweck dar, warum Debatten und die Entscheidungsfindung der Tarifkommissionen geheim sind. Nur der Beschluss wird verkündet, meist ohne Abstimmungsergebnis. Welche Alternativen und Minderheitsmeinungen gab es? Welche Argumente dafür und dagegen? Wie hat mein/e Vertreter:in abgestimmt? Darüber erfährt die Mitgliedschaft nichts.

Die übliche Begründung für die Geheimhaltung ist, dass die Gegenseite ja nicht die Chance haben darf, auf einzelne Mitglieder der Tarifkommission Druck auszuüben. Die Bürokratie tut so, als ob sie die radikalen Basisvertreter:innen schütze. In Wirklichkeit kappt sie diese von ihrer Basis. Sie dürfen nichts berichten, schon gar nicht, dass sie möglicherweise einen Gegenvorschlag eingebracht haben, und mit welchen Argumenten und mit wessen Stimmen dieser abgelehnt worden ist. Der/die radikale Basisvertreter:in muss stattdessen die Meinung der Mehrheit präsentieren und verteidigen – nicht nur gegenüber der Öffentlichkeit, sondern gegenüber der Basis, der damit jede Kontrolle und Einflussmöglichkeit auf die Entscheidungen genommen wird.

Verschwiegenheitspflicht

Die Logik der Verschwiegenheitspflicht ist „Einheit im Kampf“. Sie ist völlig richtig, wenn Gewerkschaften als Klassenorganisationen handeln und kämpfen. In den realen existierenden Gewerkschaften, die nicht nur hierzulande durch und durch von einer Bürokratie beherrscht werden, die bürgerliche Agent:innen in den Organisationen der Arbeiter:innenbewegung sind, ist die Verschwiegenheitspflicht nur ein weiteres Mittel zur Kontrolle dieser Organisationen durch die reformistische Führung – ein Mittel, das sie gerade dort braucht, wo sie selbst am stärksten unter den Druck der Massen geraten kann. In einem Tarifkampf herrscht nicht die tägliche Gewerkschaftsroutine, wo es nur in Ausnahmefällen vorkommt, dass Massen sich spontan gegen die Zumutungen und Angriffe des Kapitals mobilisieren, und die Bürokratie nicht nur das Feld beherrscht, sondern sich auch als die Trägerin des Fortschritts und der gewerkschaftlichen Aktivität darstellen kann. Tarifkämpfe, erst recht in Streiks, können außer Kontrolle geraten – aus Sicht der Bourgeoisie und der Bürokratie, die hier dieselbe Sichtweise haben.

Die Rolle der Bürokratie aber ist eine besondere: Sie kann und soll sich nicht der Streikbewegung entgegenstellen wie so viele andere Agent:innen der Bourgeoisie in den Medien und ihren Parteien und natürlich deren Vertreter:innen selbst. Sie soll den Kampf kontrollieren und in ihrem Sinne lenken – von innen heraus. Deshalb braucht sie auch originäre Vertreter:innen des Kampfes in diesen Kommissionen. Einmal, um zu wissen, was die Avantgarde will, und zweitens, um deren Vertreter:innen möglichst gut einzubinden. Es hilft der reformistischen Gewerkschaftsführung nichts, wenn ein solches Organ nur mit eingesessenen Betriebsratsfürst:innen besetzt ist, die ihrerseits den Kontakt zur potentiell spontanen Basis verloren und bei dieser schon lange das Vertrauen verspielt haben.

Wie damit umgehen?

Die Verschwiegenheitspflicht muss bekämpft werden. Das ist ein wichtiger Bestandteil des gesamten Kampfes dafür, dass die Basis die Kontrolle über die gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen und die Gewerkschaften selbst bekommt. Bei Tarifkämpfen müssen sich alle Versammlungen das Recht nehmen, Beschlüsse und Aufträge zu erteilen: die Forderungshöhe, ihre Struktur, die Laufzeit, aber auch die Kampfmittel: Warnstreiks, Tagesstreiks, Vollstreiks. Für den Erfolg im Kampf – nicht nur in einer Tarifrunde, sondern in jedem Klassenkampf – ist es notwendig, dass die Klasse lernt, ihn selbst zu führen. Natürlich sind rein gewerkschaftliche Dispute noch weit davon entfernt, aber sie sind auch eine Form, in ihnen können nicht nur Selbstorganisation und -vertrauen der Lohnabhängigen massiv erhöht, sondern auch das Bewusstsein weiterentwickelt werden.

Gerade weil die Befreiung der Arbeiter:innen nur das Werk der Arbeiter:innen selbst sein kann, wäre es für revolutionäre Politik vollkommen unzulänglich, nur die Vertreter:innen in den Kommissionen (oder im Apparat und in den Vorständen) zu ersetzen. Revolutionäre Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit bedeutet auch, für ein grundlegend anderes Verhältnis von Basis und Führung einzutreten. Selbst, wenn es keinen reformistischen Apparat in den Gewerkschaften gäbe, sondern einen revolutionären, müssten die Entscheidungen über die Kampfführung so direkt wie möglich in den Händen der Basis liegen, die diese Entscheidungen durch aktuell gewählte und jederzeitige abwählbare Delegierte koordiniert. Die Autorität der Führung müsste sich darauf stützen, überzeugende und klare Vorschläge bezüglich der Forderungen und der Kampftaktik vorzulegen und politische und gewerkschaftliche Kämpfe mit Umsicht, Klarheit und Entschlossenheit zu führen.

Die aufgestellten Forderungen und vergebenen Aufträge müssen stets auch verfolgt werden. Vorstände und Delegierte, gerade auch die Tarifkommission, müssen berichten, was damit passiert ist und wie sie sich dabei verhalten haben. Dieser Rechenschaftspflicht versuchen Bürokrat:innen gerne zu entkommen, vor allem, wenn ihnen die Aufträge und Beschlüsse missfallen.

Wenn linke Basisaktivist:innen selbst für eine Tarifkommission kandidieren oder vorgeschlagen werden, ist es wichtig, von vornherein zu erklären, dass sie Rechenschaft ablegen und berichten werden. Dabei ist es wichtig und günstig, das nicht bloß als individuelle held:innenhafte Aktion durchzuführen, sondern von Beginn an die Basis (also die Wähler:innen) in diese Vorgehensweise einzubinden. Die versammelten Streikaktivist:innen z. B. sollen abstimmen, ob sie einen Bericht wollen über die Debatte und Entscheidung der Tarifkommission. Damit wird auch deutlich, dass das „Brechen“ der Verschwiegenheit kein Akt einer Person ist, sondern dem Willen der Mitglieder entspricht.

Die führenden Bürokrat:innen vollführen einen oft geübten Trick: Sie erzählen den frisch Gewählten nach der ersten Sitzung der Tarifkommission, dass es aber Verschwiegenheitspflicht gebe und diese unbedingt eingehalten werden müsse – ein erster Test, ob diese Kolleg:innen empört zurücktreten oder das erste Mal kapitulieren. Beides ist für die Reformist:innen o. k. Was sie nicht wollen, ist eine strukturierte und bewusste Opposition.

Diese ist aber letztlich das, was die kämpferischen Basisaktivist:innen brauchen, wenn sie die – für die oppositionelle Basis – errungene Position verteidigen und dabei nicht kapitulieren wollen. Das Bewusstsein und die mentale Stärke der und des Einzelnen sind wichtig, aber entscheidend ist der Aufbau einer von der reformistischen Bürokratie unabhängigen Kraft. Nur damit kann dem organisierten bürokratischen Vorgehen etwas entgegengesetzt werden.

Eine organisierte oppositionelle Kraft kann auch taktisch das bürokratische Spiel durchbrechen. Immer wieder kommen einzelne Fakten auch aus den Tarifkommissionen ans Licht, die die Tricks und Kungelei des Apparates enthüllen. Denn die Bürokratie hält sich nicht an ihre eigenen Regeln. Sie selbst darf ihr Informationsmonopol nutzen, wenn sie es für opportun hält. Eine vernetzte Basis kann diese Infos sammeln und verbreiten.

Das gilt nicht nur für Tarifkommissionen. Eine beliebte Methode ist es, kritischen Versammlungen zu erklären, dass leider niemand außer ihnen das so sehe, vor allem nicht in anderen Bezirken. Also sollte, um überhaupt ernst genommen zu werden, die Forderung etwas moderater, die Kritik etwas entschärft werden. Auch dagegen ist Öffentlichkeit unersetzbar. Berichte und Beschlüsse aus anderen Gremien und Versammlungen müssen verbreitet werden, gerade damit sich die Mitglieder ein objektives Bild machen können und nicht aufs Informationsmonopol des Apparates angewiesen sind.

Um ernsthaft Tarifrunden unter die Kontrolle der Gewerkschaftsmitglieder zu bekommen, ist nicht nur eine massive Demokratisierung der Gewerkschaften nötig. Es braucht vor allem einen politischen Kampf gegen den Reformismus, die Unterordnung der Arbeiter:innenorganisationen unter die Bourgeoisie und ihren Staat. Für die Tarifkommissionen und Tarifrunden allgemein heißt das:

  • Recht jedes Mitgliedes zu kandidieren.
  • Nur von den Tarifverträgen Betroffene können gewählt werden. Hauptamtliche Gewerkschafter:innen haben also nur beratende Funktion.
  • Rechenschaftspflicht und jederzeitige Abwählbarkeit.
  • Keine Verschwiegenheitspflicht, gewerkschaftsinterne Veröffentlichung der Abstimmungsergebnisse.
  • Öffentliche Tarifverhandlungen, keine Abschlüsse ohne vorherige Diskussion und Beschlussfassung der Mitglieder.